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Potpourri

Oneshot-Sammlung
von

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Transaktionales Stressmodell

Eigentlich bin ich nicht sonderlich stressempfindlich. Ich leide vor anstehenden Klausuren nicht unter Schlafstörungen, Appetitlosigkeit oder Haarausfall. Ich werde nicht zittrig oder grau oder unausstehlich oder was auch immer. Im Allgemeinen lasse ich mich einfach nicht so sehr von der Welt stressen. Das heißt…mit einer Ausnahme.
 

Jonas.
 

Das war schon immer so, also seit ich ihm das erste Mal begegnet bin. Dienstags und donnerstags bin ich immer zum Nervenbündel geworden. Aber seit wir uns regelmäßig sehen, stehe ich praktisch ununterbrochen unter Stress. Sind wir am Freitagabend verabredet, um im Himmel & Hölle ein Bier zu trinken, fange ich spätestens am Donnerstagvormittag an zu hyperventilieren. Und umso näher dann unser Zusammentreffen rückt, desto schlimmer wird es. Und wenn wir erst voreinander stehen, dann…
 

Ja, dann geht für einige Sekunden gar nichts mehr. Mein Herz setzt ein paar Schläge aus, mein Atem stockt, meine Knie werden weich, meine Ohren summen. Der Gedanke, dass wir tatsächlich miteinander verabredet sind, dass er meinetwegen hergekommen ist, dass wir den Abend gemeinsam verbringen werden, macht mich so wahnsinnig glücklich, dass mir allein vom Denken schwindlig wird.
 

Und natürlich mache ich mir dabei unheimlichen Stress. Schließlich möchte ich, dass er mich mag. Ich möchte ihn davon überzeugen, dass ich nett und klug und witzig und liebenswert bin, möchte ihm zeigen, dass die Zeit mit mir nicht verschwendet ist. Da ist es ganz selbstverständlich, dass ich über meine eigenen Füße stolpere oder ihn ewig mit der sterbenslangweiligen Giraffenfigurensammlung meiner Mutter vollquatsche oder ausgerechnet den Zeichenblock rumliegen lasse, in dem ich fast dreißig Seiten mit fiktiven Aktzeichnungen von ihm gefüllt habe. Oder dass ich…
 

Oh Gott.
 

Zu meiner Verteidigung: Ich stand halt unter Stress. Sehr sogar. So sehr, dass ich für einen Moment die Nerven verloren und mein Gehirn abgeschaltet hab, um ihm eine klitzekleine Auszeit zu gönnen. Und da…ist es einfach mit mir durchgegangen. Ich konnte mich nicht zurückhalten, war nicht mehr Herr meiner Sinne.
 

Theoretisch ist das keine große Sache. So etwas kann jedem mal passieren. Manchmal spielt einem das Bewusstsein einen Streich. Gerade wenn man unter großem Stress steht, kann so etwas leicht geschehen. Davon liest man doch immer wieder in der Zeitung. Jemand befindet sich in einer stressigen Situation – einem Bankraub oder einer Geiselnahme oder einem schrecklichen Unfall – und wenn er dann wieder zu sich kommt, ist er voller Blut und erinnert sich an nichts. So war das auch bei mir.
 

Jedenfalls beinahe. Abgesehen von der Amnesie, denn ich erinnere mich leider noch. Das ist auch der Grund, wieso ich jetzt allein im Bad sitze, anstatt mit ihm zusammen in der Küche. Ich verstecke mich hier und habe den festen Vorsatz, nie wieder heraus zu kommen. Am liebsten würde ich hier drin sterben, um der entsetzlichen Peinlichkeit zu entkommen, in die ich mich selbst geritten habe.
 

Also gut. Folgendes ist passiert: Wir hatten uns zum DVD-Gucken verabredet. Um acht bei ihm. Nur wir zwei, Sherlock Holmes und ein Dessert, das er für uns zubereiten wollte. Schon um vier Uhr nachmittags war ich fix und fertig, so aufgeregt, dass ich wie ein panisches Huhn durch die Wohnung gerannt bin – von meinem Zimmer ins Badezimmer und wieder zurück – und meine beiden Mitbewohnerinnen in den Wahnsinn getrieben habe. Um halb acht saß ich auf dem Fahrrad und fand bei dieser Gelegenheit heraus, dass ich keine zehn Minuten mit dem Rad zu seiner Wohnung brauche. Zwanzig Minuten lang hüpfte ich vor seiner Haustür auf und ab, bevor ich schließlich um Punkt acht und mit hämmerndem Herzen bei ihm klingelte. Der Summer erklang und ich wankte die Treppen hinauf.
 

Er öffnete mir in der zweiten Etage die Tür. Sein Anblick war fast zu viel für mich. Himmel, er sah umwerfend aus. Das denke ich jedes Mal, wenn ich ihn sehe. Aber vielleicht war es diesmal besonders schlimm. Ich musste mich einmal räuspern, bevor ich hallo sagen konnte, und als er lächelte, sackte der Boden unter mir weg.
 

Er zeigte mir sein Zimmer, damit ich meine Jacke und meine Mütze ablegen konnte, und sein Zimmer sah so nach ihm aus, dass ich es kaum fassen konnte. Es ist hell und warm und auf eine reizende Art irgendwie chaotisch und schon die leiseste Vorstellung, mit ihm zusammen auf seinem Bett zu gammeln und fernzusehen, erregte mich bis ins Mark. Eigentlich hätte ich es da schon wissen müssen. Dass etwas Furchtbares passieren würde.
 

Aber ich ahnte nichts. Wie ein Hündchen folgte ich ihm in die Küche, ließ mir von ihm ein Bier geben und versuchte, mir die Küche anzuschauen und nicht ihn. Wir plauderten ein wenig über seinen und meinen Tag und ich bemühte mich nach Kräften, absolut locker und ungestresst zu wirken. Und dann…holte er das Tiramisu aus dem Kühlschrank.
 

„Hast du das selbst gemacht?“

Meine Stimme klang wie das atemberaubteste Hauchen der Ehrfurcht und hallte in meinen Ohren so jämmerlich nach, dass ich fast die Augen geschlossen und geweint hätte. Doch er lächelte nur sein Zuckerwattelächeln und nickte.
 

„Ja, meine Oma hat es mir beigebracht. Ich hoffe, du magst Tiramisu?“

„Oh Gott, ich liebe es. Es ist mein absolutes Lieblingsdessert.“

„Ehrlich? Na, da habe ich aber Glück gehabt.“
 

Ich musste mich an die Anrichte lehnen, um nicht davon zu driften. Dumpf fragte ich mich, wie ein einzelner Mensch nur so entzückend und wunderbar sein konnte, ohne zu Schokoladenflocken zu zerfallen. Ich riss mich am Riemen, obwohl die Küche vor meinen Augen verschwamm und mein Herz zu platzen drohte. Ich trank Bier, um nicht zu quietschen.
 

Es hätte ein schöner, leckerer, entspannter Abend werden können. Doch dann beging ich einen großen, großen Fehler: Ich fragte ihn nach dem Rezept. Man sollte meinen, das wäre eine harmlose, beinahe schon langweilige Frage, deren Antwort kaum mehr Begeisterung in einem normalsterblichen Menschen auslösen kann als die erste Mondlandung. Aber Pustekuchen.
 

Ich weiß nicht genau, was es gewesen ist. Ob die Zärtlichkeit in seiner Stimme, als er über seine Großmutter sprach, oder die schlichte Situation, in der wir gemeinsam in seiner Küche standen und er mir das Familienrezept für Tiramisu verriet. Doch was es auch immer war, es traf mich mit voller Wucht. Mit einem Mal schlug der Stress wie eine Klapperschlange zu und hastig schaltete ich mein Hirn ab, um es kurz zu schonen, und da…geschah es. Es brach einfach aus mir heraus.
 

„Ich liebe dich.“
 

Ach. Du. Scheiße. Scheiße. Scheiße!
 

Gott, wenn ich daran denke, wird mir ganz anders. Ich weiß echt nicht, wie das passieren konnte. Es war der Stress, ganz bestimmt. Mein Herz hat die vorübergehende Abwesenheit meines gesunden Menschenverstandes ausgenutzt und ist mir auf die Zunge gesprungen, um seinen Inhalt herauszulassen. Ohne meine Erlaubnis.
 

Und jetzt hocke ich hier und kann seinen Gesichtsausdruck einfach nicht vergessen. Diese Mischung aus Überraschung und Bestürzung. Diese Sprachlosigkeit in seinen wunderschönen, leuchtenden, blaugrünen Augen.
 

„W… Was?“, hauchte er.
 

Ich starrte ihn an. Fassungslos. Und schlug mir einen Moment später die freie Hand vor den Mund. Doch es war schon zu spät. Meine Worte hingen laut und tosend zwischen uns in der Küche und würden nie wieder unausgesprochen sein.
 

„Oh Gott, es tut mir so leid!“, krächzte ich durch meine Finger, „Es tut mir so leid, entschuldige bitte! Oh scheiße, das wollte ich nicht! Tut mir leid!“
 

Dann verlor ich endgültig die Beherrschung. Ich drehte mich auf dem Absatz um, rannte aus der Küche und in den ersten offenen Raum, der mir in die Quere kam – das Badezimmer. Dort angekommen knallte ich die Tür hinter mir zu und versuchte mir das Leben zu nehmen, in dem ich meinen Kopf einige Male gegen die Wand schlug und mich dabei auf wortgewaltigste Art selbst beschimpfte. Doch es war zwecklos. Ich überlebte und hatte überdies noch Kopfschmerzen. Und hier endet die Geschichte.
 

Inzwischen sitze ich auf dem Toilettensitz, raufe mir die Haare und halte mich an meiner Bierflasche fest. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit seit meiner Flucht vergangen ist. Ich tippe auf mehrere Stunden. Vermutlich hat der Mann, in den ich seit fast drei Jahren unsterblich verliebt bin, schon lange die Wohnung verlassen und schwört in diesem Augenblick, sich nie wieder mit Verrückten einzulassen, die ihre Gefühle einfach nicht im Zaum halten können und sich überdies stundenlang in seinem Badezimmer verbarrikadieren.
 

Ich kann meine eigene Dummheit nicht fassen. Fast drei Jahre lang träume ich ununterbrochen davon, Zeit mit diesem Mann zu verbringen. Und dann, wenn es mir endlich, endlich gelingt, seine Aufmerksamkeit zu erregen, verbocke ich es schon bei unserem sechsten Treffen. Willkommen bei der dämlichsten und aussichtslosesten Liebesgeschichte der Welt. Schauen Sie Emilio exklusiv dabei zu, wie er sich seelenruhig und albern grinsend sein eigenes Grab schaufelt. Ein wahrer Brüller. Ich wünschte, ich wäre tot.
 

Es klopft.

„Emilio? Bist du da drin?“
 

Mein Kopf zuckt so schnell in die Höhe, dass ihn ein stechender Schmerz durchfährt.

„Nein!“, quieke ich, „Nein, ich bin nicht hier drin. Ich… ich bin woanders. Oh Gott…,“

Himmel, ich ertrag‘s nicht. Mein Kopf versteckt sich hinter einem Handtuch.
 

„Hey, komm schon…,“ ich höre, wie sich die Türklinke bewegt, „Mach die Tür auf und komm raus. Das Tiramisu wartet.“

„Tut mir leid, aber ich werde nie wieder rauskommen. Ich werde einfach hier sitzen bleiben und auf meinen Tod warten. Vielleicht solltet ihr euch an zweites Bad anlegen.“

„So ein Blödsinn.“
 

Vorsichtig kommt mein Kopf wieder zum Vorschein. Täusche ich mich oder hat er gerade ein bisschen gelacht? Der Gedanke macht mir Mut.
 

„I…Ich komme nur raus, wenn du mir versprichst, dass du vergisst, was…was grad passiert ist…,“

„Vergessen? Was vergessen? Was ist denn passiert und was machst du eigentlich im Bad? Wollten wir nicht Sherlock Holmes sehen?“
 

Meine Mundwinkel bewegen sich nach oben. Langsam erhebe ich mich vom Klodeckel und schlurfe zur Tür. Ich sammle meine Kraft und drehe den Schlüssel im Schloss. Sie schwingt auf und der Traum meiner schlaflosen und auch schlafvollen Nächte lächelt nachsichtig auf mich hinunter.
 

„Hallo…,“ sagt er sanft.

„Hallo…,“ piepse ich.
 

Ich schlucke und senke den Kopf und hole tief Luft, bevor ich den Blick wieder hebe.

„Es…tut mir so leid…,“ jammere ich verzweifelt.

„Was denn?“

„Na, alles! Das gerade und dass ich mich in deiner Gegenwart allgemein immer so bescheuert verhalte und ständig irgendwo gegenlaufe und dich mit irgendwelchem Scheiß volllabere! Ich bin so peinlich und stressig und blöd, ich weiß wirklich nicht, wieso du dich freiwillig mit mir abgibst.“
 

Er schüttelt den Kopf.

„Hey!“, erwidert er streng, „Sprich gefälligst nicht so schlecht über meinen Stalker.“

Ich gluckse schniefend.
 

„Wirklich nicht,“ fügt er leise hinzu und ich frage mich, wie es möglich ist, so lieb zu lächeln und gleichzeitig so sexy an einem Türrahmen zu lehnen, „Bitte sei nicht so streng zu dir. Ich finde nicht, dass du dich bescheuert verhältst. Im Gegenteil. Ich finde Giraffen wirklich cool und – okay, die Nacktbilder haben mich ein wenig…verunsichert, aber das war echt nicht weiter schlimm. Außerdem… Außerdem genieße ich es, dass du so…so ehrlich und natürlich bist. Du…hast keine Ahnung, wie sehr ich das tue.“
 

Ich kann praktisch spüren, wie meine Augen sich weiten.

„Ist das dein Ernst?“, hauche ich hoffnungsvoll und mein Herz beginnt wieder zu rasen. Sogar fast stressfrei.

Er nickt und lächelt so süß, dass sich mein Inneres zu einem schaumigen Ballon aufbläst.

„Ja.“
 

Verlegen schmunzelnd stehen wir ein paar Sekunden voreinander und schweigen.

„Wollen…wollen wir uns jetzt in mein Zimmer chillen, uns den Bauch mit Tiramisu vollschlagen und Sherlock Holmes schauen?“, fragt er dann.

Ich nicke.
 

„Es gibt nichts, was ich jetzt lieber tun würde.“

Baustellen

„Wunderbar,“ sagt Natascha zufrieden und besieht sich eingehend ihre rechte Hand, „Und den Mittelfinger jetzt blau und…ähm…für den Ringfinger will ich…dieses Pink und den kleinen Finger gelb.“

Ich wende den Blick von Einfach göttlich ab und runzle kritisch die Stirn.

„Bist du dir sicher?“, frage ich, „Das sieht dann doch aus, als hättest du die Finger in einen Tuschkasten getaucht.“

Natascha verdreht die Augen und schüttelt den Kopf.

„Du hast keine Ahnung davon, Momo. Also halt dich da raus. Sonst lackiere ich dir die Zehen, sobald meine Nägel trocken sind.“

Ich schnaube.

„Nur über meine Leiche.“

„Das ist mir eh lieber. Leichen zappeln nicht.“
 

Von links höre ich Charlie leise glucksen. Als ich ihn ansehe, lächelt er stumm in sich hinein, während er behutsam den Nagel von Nataschas Mittelfinger ultramarineblau lackiert.

Es ist wirklich beeindruckend, wie geduldig und gründlich er dabei vorgeht. Ich könnte das nie. Also, eine so kleine Fläche so sorgsam bemalen, dass es hinterher nicht danach aussieht, als wäre Frankensteins Monster mit Pinsel über Nataschas zarte Mädchenhand hergefallen. Ich bin da wohl eher Grobmotoriker.

Ganz anders Charlie: Er ist so ruhig, so sanft und vorsichtig beim Pinseln, dass mir bei dem Anblick das Herz aufgeht. Aber eigentlich geht mir ja immer das Herz auf, wenn ich ihn anschaue. Es geht mir auf wie ein Hefekloß im Kühlschrank. Auch nach vier Monaten noch.
 

Es ist früher Abend. Also Nacht, wenn man der winterlichen Finsternis draußen Glauben schenken könnte. Natascha, Charlie und ich sitzen bei offener Tür in Charlies Zimmer auf dem Teppich. Und wie man vielleicht schon bemerkt hat, versuche ich Terry Pratchett zu lesen, während Charlie seiner Schwester die Fingernägel lackiert.

Ich muss zugeben, dass ich im Augenblick ziemlich viel Zeit bei Charlie und seiner Familie verbringe. Und das liegt nicht etwa daran, dass meine Mam und ich uns nicht verstehen, im Gegenteil. Tatsächlich verstehen wir uns momentan so gut miteinander wie nie zuvor in meinem Leben. Wann immer wir uns sehen, ist sie wahnsinnig nett zu mir. Und trotzdem…ist es seltsam, mit ihr allein in unserer Wohnung zu sein.
 

Mein Dad, Lenny und Jasmin sind nämlich ausgezogen. Zwei halbleere Zimmer starren mich jedes Mal an, wenn ich durch den Flur schleiche. Sie erinnern mich unablässig daran, dass sechzig Prozent meiner Familie fort sind. Und ich weiß, dass es meiner Mutter genauso geht. Deshalb stürzt sie sich in die Arbeit und ich mich in meine Beziehung mit Charlie.

Vier Monate läuft sie nun schon und inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, einen festen Freund zu haben. Auch meine Eltern und meine Freunde haben sich an die Vorstellung gewöhnt – Lenny und Jasmin haben ja sowieso alles live mitbekommen – und Charlie in ihre Kreise aufgenommen. Das hat mich total erleichtert, muss ich gestehen. Denn zwischenzeitlich hatte ich echt etwas Panik, dass meine Leute ihn – und damit ja irgendwie auch mich – nicht akzeptieren würden. Aber weit gefehlt. Gott sei Dank.
 

Dementsprechend läuft in meinem Leben grad eigentlich alles ziemlich gut. Abgesehen von der Scheidung, die im Verborgenen zwischen meinen Eltern läuft und von der meine Geschwister und ich trotzdem wissen. Und von der Tatsache, dass in diesem ganzen vermaledeiten Winter nicht eine einzige Schneeflocke gefallen ist. Und davon, dass Charlies Wände seit letztem Dienstag unangenehm leer sind.

Das liegt daran, dass ich ihn endlich überreden konnte, all die Bilder von Sofie abzuhängen. Und dass auch nur mit Nataschas wortgewaltiger Hilfe. Aber mal ehrlich, verflucht: Wer sieht es denn bitte gern, wenn der Freund hunderte von selbstgemachten Zeichnungen seiner Ex an den Wänden hat? Eben, absolut niemand! Und ich auch nicht.

Deshalb hab ich ihn drei Monate lang genötigt, die Dinger abzunehmen, und letzten Dienstag hat es dank Nataschas Einsatz endlich geklappt. Das Schreibtischfoto von den Anfängen ihrer Beziehung ist zum Glück schon ewig weg.
 

Nur von einem Bild hat er sich partout nicht trennen wollen: Von einem der Katzenbilder. Es zeigt Findus, Sofies Kater, der – wie mir Charlie anschaulich versichern hat – jede Menge Charakter besitzt und überhaupt megacool ist. Obwohl er nicht mal eine Hose trägt. Aber da ich für Katzen was übrig habe, habe ich schließlich nachgegeben.

Bin ja kein Unmensch, höhö.

Nun ja. Deshalb hängt halt nur noch dieses eine Bild über Charlies Bett. Sonst sind die Wände mehr oder weniger kahl, weswegen sein Zimmer gegenwärtig ein bisschen nach Gefängniszelle aussieht. Und da dies aktuell die einzige Baustelle in meinem Leben ist, an der ich etwas bauen kann, habe ich mir vorgenommen, sein Zimmer bald wieder ein wenig aufzupolieren. Vielleicht mit coolen Postern. Oder wahlweise mit Fotos von mir, die mich im Bikerdress auf einer Harley Davidson oder mit Sonnenbrille auf einer schicken Yacht zeigen. Das wär’s doch mal, oder?
 

„Weißt du, woran ich gerade denke?“, frage ich also an Charlie gewandt und besehe mir aufmerksam seine nackten Wände.

„Wollen wir das wissen?“, erkundigt sich Natascha zuckersüß.

Diesmal ist es an mir, die Augen zu verdrehen und den Kopf zu schütteln.

„Es geht um die Wände, Mann…,“ antworte ich genervt, „Wie man sie wieder schöner machen könnte.“

„Ich bin kein Mann,“ erklärt Natascha zufrieden.

„Sei froh, sonst hätte ich ein anderes Wort benutzt. Irgendwas, das mit Arsch beginnt.“

„So wie Arschbacke?“, grinst Natascha.

„Genau sowas.“
 

„Hee!“, zetert sie Charlie an, „Dein Freund hat mich gerade Arschbacke genannt! Willst du deine Schwester nicht verteidigen?“

Ich schnaube laut.

„Deine Schwester hat angefangen!“

Charlie seufzt nur und lackiert in Seelenruhe den Nagel von Nataschas linkem Daumen rot.

„Ich halt mich da lieber raus…,“ murmelt er, „Macht das unter euch aus.“

Natascha und ich grinsen uns an.

„Er ist klug, oder? Mein Bruder?“

„Auf jeden Fall.“

Charlie lächelt.
 

„Also…,“ nimmt er den Gesprächsfaden dann wieder auf, „Was wolltest du über die Wände sagen, Momo?“

„Was hältst du von Fotos? Großen Fotos von mir? So fünfzig mal siebzig Zentimeter?“, beschreibe ich zufrieden meine Vorstellungen und unterstreiche sie mit ausladenden Armbewegungen.

„Nacktfotos?“, will Natascha kichernd wissen.

„Eher nicht!“, grolle ich schmunzelnd, „Und wieso heißt es eigentlich schwanzgesteuert?“

„Weil muschigesteuert blöd klingt,“ kontert Natascha, „Da fällt mir ein: Wenn du die Fotos machst, möchte ich auch ein paar Abzüge. Ich wette, die werden echt heiß.“
 

Diesmal fällt mir keine schlagfertige Antwort ein. Ich öffne nur wortlos den Mund und klappe ihn dann gleich wieder zu. Wie ein Karpfen.

An diese Seite von Natascha werde ich mich wohl nie gewöhnen. Ich meine, ich finde sie echt cool. Und mit jedem weiteren Tag, den ich sie kenne, finde ich sie cooler. Sie ist smart und einer der witzigsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Wenn sie einer ihrer Geschichten erzählt, die sie immer mit Boah, Leute! einleitet, könnte ich mich kringeln vor Lachen. Und immer, wenn wir uns so zanken wie vorhin, ist es genauso wie bei Jasmin und mir. Wie zwischen Geschwistern halt. Es ist so, als hätte ich eben eine zweite Schwester bekommen.
 

Aber dann…macht sie plötzlich sexuelle Andeutungen in meine Richtung. Und das… machen Geschwister selten. Flirten, meine ich. In diesen Momenten fällt mir wieder ein, dass wir gar keine Geschwister sind. Und dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Peinlich. Sie findet das natürlich zum Schießen. Die dumme Kuh.

Auch jetzt gerade. Da sitzt sie und gackert wie blöde. Charlie verkneift sich ein weiteres Glucksen. Und ich versuche, meine Verlegenheit zu überspielen, indem ich meine Mütze kratze und hastig von meiner Cola trinke. Eine echt imposante Strategie, nicht wahr?

Zum Glück werde ich in dieser Sekunde von der Haustür gerettet. Wir hören alle drei, wie sie aufgeschlossen wird und kurz darauf Miguel und Sandra in den Flur lässt. Die beiden plaudern ausgelassen und lachen wie zwei Kinder. Wie üblich das Traumpaar schlechthin.
 

„Hallo!“, rufen sie euphorisch durch den Flur.

„Hallo,“ rufen wir im Chor zurück.

Einen Augenblick später stehen die zwei im Türrahmen. Ich hab sie heute noch nicht gesehen und irgendwie…wirken sie leicht neben der Spur.

„Und?“, fragen Charlie und Natascha ihre Eltern wie aus einem Mund.

„Alles gut!“, verkündet Sandra und strahlt über das ganze Gesicht.

Eigentlich strahlt sie nicht nur, sie leuchtet richtig. Von innen, so wie ein Glühwürmchen. Und nicht nur sie, Miguel ebenso. Verwirrt blicke ich von einem zum anderen.

„Ist irgendwas?“, erkundige ich mich verdattert.

Miguel reißt seine dunklen Teddyaugen auf.
 

„Habt ihr es ihm noch nicht erzählt?“, fragt er entsetzt.

Charlie und Natascha schütteln synchron die Köpfe und tauschen einen kurzen Blick.

„Nein,“ sagt Natascha lächelnd.

„Wir dachten, ihr würdet es gerne tun,“ fügt Charlie schmunzelnd hinzu.

Sandra und Miguel strahlen noch eine Nuance heller. Erwartungsvoll und absolut planlos schaue ich sie an. Möglicherweise werde ich gleich schneeblind.
 

„Ich…bin schwanger!“, haucht Sandra dann.

Mir fällt die Kinnlade runter.

Ich schnappe nach Luft.
 

„Oh Gott, Wahnsinn!“, bricht es dann aus meinem Inneren heraus und ich erhebe mich eilig, „Ihr seid schwanger? Ich meine, du bist schwanger?! Das ist ja großartig! Herzlichen Glückwunsch!“

Fett grinsend haste ich auf die werdenden Eltern zu, die vor lauter Freude jeden Moment abzuheben drohen, und nehme sie in den Arm. Besser gesagt: Sie drücken mich gleichzeitig so fest an sich, dass ich meine Rippen knirschen hören kann.

„Vielen Dank, Momo!“, quietscht Sandra in der Tonlage eines Meerschweinchens.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr wir uns freuen!“, jubiliert Miguel.

„Oh doch, das kann ich…,“ ächze ich, sobald ich wieder Luft kriege.

Die beiden kichern wie auf Drogen.
 

Ich trete einen Schritt zurück und schaue sie mir an. Wie sie da stehen und leuchten.

Hatte ich erwähnt, dass meine Eltern sich gerade scheiden lassen?

Vielleicht würden Miguel und Sandra mich adoptieren, wenn ich nur verzweifelt genug bettele. Gerade kann ich mir nämlich nichts Schöneres vorstellen, als in dieser Familie aufzuwachsen. Mit Eltern, die beim Gedanken an ihr gemeinsames Kind vor Glück beinahe überlaufen.

„W… Wie lange wisst ihr es denn schon?“, frage ich leicht atemlos.

„Schon drei Monate,“ erwidert Sandra und Miguel nickt gedankenverloren, „Aber da ich ja nicht mehr die Jüngste bin, wollten wir ganz sicher sein, dass es keine Komplikationen gibt, bevor wir es erzählen.“
 

„Wir wissen es auch erst seit gestern Abend,“ wirft Natascha vom Fußboden ein und kann den Vorwurf nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen.

„Und gerade waren wir bei meinem Gynäkologen und haben uns bestätigen lassen, dass alles in bester Ordnung ist,“ fährt Sandra selig fort.

„Das ist ja toll!“, grinse ich, „Und…wisst ihr denn schon, was es wird?“

Miguel schüttelt den Kopf.

„Nein, wir wollen uns überraschen lassen. Und eigentlich ist es uns auch ganz egal, was es wird, solange–,“

„Aber ich will einen Bruder!“, jammert Charlie, der soeben Nataschas letzten Fingernagel beendet hat, laut dazwischen.
 

„Und ich eine Schwester!“, kräht Natascha und hebt in weiblicher Siegerpose die Arme.

„– solange es nur gesund ist!“, beendet Miguel entschieden, aber ewig grinsend seinen Satz.

Ich lächle breit.

„Das ist es ganz bestimmt.“

„Das kann man nie genau wissen,“ erklärt Charlie, bevor seine Eltern mich vor Begeisterung wieder anspringen können, „Dad wird im Bett nämlich zum Raubtier und es kann gut sein, dass das Baby mit Fangzähnen zur Welt kommt.“

„Halt die Klappe, du Wicht!“, droht Miguel scherzhaft, während wir alle giggeln.
 

Jetzt, wo ich es weiß, kommt mir Sandra auch tatsächlich ein wenig runder vor. Aber ich steh ja nicht mehr auf Frauen, da ist es mir wirklich überhaupt nicht aufgefallen.

Und eigentlich ist es auch gar nicht auffällig. Im Gegenteil, so schön wie in diesem Moment, ist sie mir nie zuvor erschienen. Sie badet im Glanz des Glücks. Und schmiegt sich lächelnd an den Mann neben sich, der sie umarmt und sichtbar mit jedem Atemzug liebt.

Ach Gott, ich hör mich an wie ein verkappter Dichter. Aber ich kann meine Augen echt kaum von den beiden abwenden. Wenn ich ihnen so beim Strahlen zuschaue, frage ich mich, wie es mit der Schwangerschaft überhaupt so lange dauern konnte. Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass die beiden im Schlafzimmer…äh…sonderlich inaktiv sind. Aber darüber sollte ich nun wirklich nicht nachdenken!
 

„So!“, sagt Miguel voller Tatendrang und klatscht in die Hände, dass die Funken fliegen, „Zur Feier des Tages gehen wir alle essen. Keine Widerrede, Momo, wir laden dich ein. Was haltet ihr von Mexikanisch?“

„Oh ja!“, rufen seine Kinder im Chor.

„Ich ziehe meine neuen Pumps an!“, verkündet Natascha verzückt und rauscht aus dem Zimmer, wie sie es nur beim Gedanken an Schuhe tut.

„Pumps?! Aber es ist Winter!“, ruft ihr Miguel entsetzt nach.

Er und Sandra grinsen uns ein letztes Mal an und folgen Natascha dann Arm in Arm und glucksend in den Flur. Hinter mir wühlt Charlie in seinem Kleiderschrank.

„Wo ist denn mein blaugestreifter Pulli…? Hab ich den waschen wol– Ah, da ist er ja…,“

Etwas unschlüssig stehe ich im Türrahmen rum. Aus dem Flur kann ich Sandras und Miguels Stimmen und das Geraschel von Wintermänteln hören.
 

„Alles gut?“, fragt Charlie, der plötzlich neben mir steht, und streichelt mir über den Rücken, „Du siehst niedergeschlagen aus.“

Momo, der Held, versucht sich an einem tapferen Lächeln.

„Ja, alles in Ordnung. So ist das eben… Die einen Eltern lassen sich scheiden, die anderen bekommen ein Baby…,“

Charlie betrachtet mich ernst. Ich wende den Blick ab und presse kurz die Lippen aufeinander. Reiß dich zusammen, Momo!

„Tut mir Leid…,“ wispere ich, „Ich gönn es euch ja wirklich total, aber…,“

„Schon gut…,“ flüstert Charlie zurück und lächelt mich zärtlich an, „Ich weiß, was du meinst.“
 

Wir schauen uns an und schweigen zaghaft. Ich glaube, wir wissen beide nicht, was wir sagen sollen. Aber vielleicht gibt es grad auch nix zu sagen.

Meine Eltern…werden niemals wieder zusammen sein. Das muss ich akzeptieren. Doch das Leben geht trotzdem weiter. Diese Familie hier ist der lebende Beweis. Und ich bin dabei. Und vielleicht kann ich am mangelnden Schneefall dieses Jahr nichts ändern und auch die Scheidung meiner Eltern nicht verhindern. Aber ich kann dafür sorgen, dass das erste Wort von Charlies Geschwisterchen nicht Mama, sondern Momo wird.

„Sag mal, was hältst du von Knut?“, frage ich also grinsend.

Knut?“, fragt Charlie verdattert zurück.

„Na, wenn es ein Junge wird.“
 

Charlie schnaubt belustigt und öffnet den Mund, gewiss um mir energisch zu widersprechen, aber Sandra unterbricht ihn aus dem Flur:

„Wo bleibt ihr denn? Wir wollen los, wir haben tierischen Hunger!“

„Wir kommen!“, bellt Charlie und strahlt mich an, „Ich weiß schon genau, was ich esse. Und über Knut müssen wir beide nochmal reden.“

Ich lache auf und schnappe mir meinen Schal von Charlies Bett. Er läuft mir voraus zu seinen Eltern in den Flur und stößt dort beinahe mit Natascha zusammen, die trotz ihrer enorm hohen Pumps wie ein Wirbelwind aus ihrem Zimmer geschossen kommt. Die beiden kreischen und zanken sich lachend. Ich bleibe im Türrahmen stehen und lausche ihnen einen Moment. Und vermisse Lenny und Jasmin ein bisschen. Bis Charlie meinen Namen ruft und Miguel dröhnend Oh happy Day zu singen beginnt.

„Ich komme!“

Since You’ve Been Gone

Noch nie, noch nie in meinem gesamten Leben, habe ich mich je so gefühlt. So, wie ich mich jetzt fühle. Jetzt. Das heißt heute, gestern, vorige Woche, letzten Monat, die Monate davor. Es heißt morgen, übermorgen, nächste Woche, den Monat darauf und die Monate danach.

Seit du fort bist.
 

Ich wünschte, ich würde mich nur schlecht fühlen. Doch es ist so viel mehr als das.

Ich fühle mich nicht einfach schlecht. Ich fühle mich leer. Leer, taub und kalt.

Ich fühle mich tot.

Seit du fort bist.

Und ich weiß, dass ich mich für immer so fühlen werde.
 

Es gibt tausend Filme über dieses Gefühl und zehntausend Lieder. Ich habe mindestens hundert von diesen Filmen gesehen und mindestens tausend von diesen Liedern gehört.

Doch ich hätte niemals gedacht, dass dieses Gefühl wirklich existiert.

Ich hätte niemals gedacht, dass es sich so anfühlen würde.

Und ich hätte niemals gedacht, dass ich mich jemals so fühlen würde.
 

Ich dachte, früher oder später würde es besser werden.

Ich glaubte, dass es irgendwann vorbei sein würde.

Ich war davon überzeugt, dass ich über dich hinweg kommen würde.

Ich war mir so sicher, dass ich dich vergessen würde.

Früher oder später.
 

Doch die Wahrheit ist, dass ich dich nicht vergessen kann.

Nicht einmal für einen einzigen Moment.
 

Du lebst in jedem Atemzug, in jedem Augenblick, in jedem Herzschlag.

Du lebst in jeder Erinnerung, in jedem Gedanken, in jedem Traum.

Du lässt mich einfach nicht los.

Es ist, als würde mich die Wohnung bestrafen wollen, für das, was ich dir angetan habe.

Egal, wohin ich mich wende, du begegnest mir überall.

Kein Wunder. Die Luft riecht noch immer nach dir.
 

Manchmal, wenn ich nach Hause komme und die Wohnungstür öffne, denke ich einen Moment, deine Chucks im Flur stehen zu sehen und mein Herz beginnt zu rasen. Doch dann erkenne ich jedes Mal, dass ich es mir nur eingebildet habe. Sie stehen nicht mehr dort. Sie werden nie wieder dort stehen.
 

Häufig, wenn ich versuche, mich auf irgendetwas zu konzentrieren, glaube ich plötzlich, Wasserrauschen und deine gedämpfte Stimme aus dem Bad zu hören. Jedes Mal stehe ich dann auf und hetze hinein. Nur um dort im Dunkeln zu stehen, vor der leeren Dusche und daran erinnert zu werden, dass dein Shampoo fort ist, genauso wie deine Zahnbürste und dass sie nie wieder zurückkommen werden.
 

Ständig, wenn ich gedankenverloren durch die Wohnung wandere, bin ich überzeugt, dein Lachen aus deinem alten Zimmer wehen zu hören. Ich kann nicht anders, ich muss dann die Tür öffnen und hinein sehen. Doch jedes Mal ist das Zimmer leer. Leer. Leer und kalt.

Alle deine Möbel sind fort und ich habe nie versucht, neue hinein zu stellen.

Wie auch? Kein Gedanke hat die Kraft, neben deiner Erinnerung zu bestehen.

Denn du hast hier nichts zurück gelassen. Nichts, außer deinem Schatten, der noch immer in der Atmosphäre dieses Zimmers lebt.

Es kann dich nicht vergessen. Genauso wenig wie ich.
 

Und immer, wenn ich die Küche betrete, um mir Kaffee zu kochen, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich bin mir sicher, dass du hinter mir stehst und mich ansiehst. Aber jedes Mal, wenn ich mich hektisch umdrehe, ist da nichts. Kein Aschenbecher, keine Zigarettenschachtel, keine benutzte Kaffeetasse. Nichts, nur die leere Küche. Und das verzweifelte Entsetzen, das noch immer ihre Aura prägt.
 

Es gibt Nächte, da kann ich nicht schlafen. Dann stehe ich auf und setze mich in die Küche. Ich sitze an dem Tisch und starre auf den braunen, längst getrockneten Kaffeefleck an der weißen Tapete. Ich habe ihn niemals weggewischt. Ich habe es nicht mal versucht.

Denn es ist das Einzige, was du zurück gelassen hast.

Der einzige Beweis, dass du jemals in dieser Küche gewesen bist.

Der einzige Beweis, dass du jemals hier gelebt hast. Mit mir.
 

So oft habe ich mich gefragt, an welchem Ort du jetzt wohl bist.

So oft habe ich mir die Menschen vorgestellt, mit denen du jetzt deine Zeit verbringst.

So oft habe ich mir das Gesicht des Mannes ausgemalt, der jetzt in deiner Nähe sein darf.

Allein der Gedanke an ihn.

Ich kann es nicht ertragen.

Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du jetzt in den Armen eines Anderen liegst.
 

Ich weiß nicht, wie oft ich schon deine Handynummer gewählt habe.

Hundertmal? Tausendmal?

Doch du bist niemals dran gegangen.

Eigentlich wundert mich das nicht.

Ich bin mir sicher, dass du inzwischen ein neues Handy hast. Bestimmt hat sie dir ein neues besorgt. Diese...
 

Es wäre so leicht, ihr die ganze Schuld zu geben.

Die Schuld dafür, dass du fort gegangen bist.

Doch ich weiß, wer Schuld hat.

Ich kann an nichts anderes denken.

Ich bin schuld. Ich allein.
 

Ich habe alles kaputt gemacht.

Ich habe dich von mir fort getrieben, im Bestreben, dich näher an mich zu ziehen.

Ich habe dir dein Herz gebrochen.

Ich habe dir so entsetzlich wehgetan.

Ich weiß es.

Jetzt weiß ich es.
 

Und deshalb verdiene ich jeden Moment dieser Qual.

Ich verdiene es, dich niemals wiedersehen zu dürfen.

Ich verdiene es, mich ein Leben lang nach dir zu sehnen.

Ich verdiene dieses Gefühl.

Ich weiß es.
 

Ich wünschte nur, ich bekäme die Chance, nur einmal noch in deine Augen zu sehen.

Nur einmal noch deine Stimme zu hören. Dein Lachen.

Nur einmal noch vor dir zu stehen, um dir sagen zu können, wie sehr es mich quält.

Wie sehr ich es bereue.

Wie sehr es mir Leid tut.
 

Seit du fort bist, habe ich nicht mehr gelacht.

Ich habe keinen Grund mehr dafür.

Seit du fort bist, weiß ich nicht mehr, was ich tun soll und warum.

Seit du fort bist, bin ich nicht mehr ich.
 

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass du mich mitgenommen hast.

Doch das ist es nicht.

Denn ich bin nicht bei dir.

Ich bin hier. Ohne hier zu sein.
 

Ich habe aufgehört zu leben.

Seit du fort bist.

Putativnotwehrexzess

Latte Macchiato.
 

Das hat die Frau gesagt. Latte Macchiato. Ganz einfach. Das hast du schon tausendmal gemacht. Das kannst du. Konzentrier dich, du Vollpfosten. Los geht’s.
 

Mir ist schlecht.
 

Denk nicht dran! Komm schon. Erst die Untertasse. Wo sind die nochmal? Ach ja. Richtig. Richtig. Hier links. Hier sind sie. Ganz ruhig. Durchatmen. Nimm dir die Untertasse. Gut so. Okay. Hinlegen.
 

Oh Gott! Was hab ich nur getan?!
 

Hör auf! Nicht dran denken. Du musst deinen Job machen, verdammt nochmal! Also. Jetzt das Glas. Die stehen hier. Okay. Jetzt der Löffel. Löffel… Hier. Ein Löffel. Nein, kein kleiner, pass doch auf, du Riesenesel! Ein großer, einer mit einem langen Stiel. In das Glas hinein. Sehr gut. Konzentrier dich. Die Untertasse, das Glas, der Löffel. Fehlt noch Schokolade auf der Untertasse. Okay. Geschafft.
 

Ich kann nicht, ich kann das jetzt nicht! Mir ist so übel, ich glaub, ich muss spucken…!
 

Wehe! Reiß dich gefälligst zusammen. Wir machen jetzt Latte Macchiato. Es nützt alles nichts. Es wird nicht besser, wenn du dich so anstellst. Atme tief durch und mach weiter, verdammte Scheiße nochmal!
 

Ich hätte das nicht tun dürfen, ich hätte das nicht tun dürfen!
 

Ich WEISS, dass du das nicht hättest tun dürfen! Aber wir haben es nun mal getan, das können wir jetzt nicht mehr ändern. Wir können nur noch abwarten, was als nächstes passiert. Und bis dahin, du dumme Nuss, bis dahin müssen wir uns zusammen reißen und unseren Job machen. Also, mach schon. Beeil dich. Die guckt schon ganz komisch.
 

Aber ich weiß nicht, was als nächstes kommt…
 

DIE MILCH! Schäum die Milch, du erbärmliche Kakerlake. Los doch! Nimm dir eine Kanne. Eine mittlere Kanne. Genau die. Los! Milch rein. Gut. Und jetzt schäumen. Schäumen! An die Düse mit dir, du nichtsnutziger Trottel. Du rettungslos verliebtes, niederträchtiges Stück Scheiße!
 

Niederträchtig? Ich? Ich bin hier nicht niederträchtig! Der ist niederträchtig. Niederträchtig, heimtückisch, falsch. Ich…ich konnte nicht anders. Es ging nicht mehr. Es ging einfach nicht mehr, ich konnte es nicht mehr ertr–
 

Schnauze jetzt! Ich weiß das alles selbst. Achtung, nicht dass die Milch zu heiß wird. Das wär’s ja noch. Pass auf! Gut so. Stopp. Düse abwischen, mit diesem Lappen da. Da, sieh hin! Okay. Hinstellen.
 

Ich wünschte, ich wünschte… Was, wenn er mich jetzt hasst? Wenn er rauskriegt, dass ich das gewesen bin, wird er mich bestimmt hassen. Was wenn ich jetzt alles kaputt gemacht habe? Was, wenn er mir das nie verzeihen wird? Oh Gott, oh Gott. Das halte ich nicht aus.
 

„Emilio?“
 

Vor Schreck schmeiße ich fast die frischgeschäumte Kanne Milch gegen die Wand.
 

„Marion!“
 

Ich schaffe es gerade noch, die Kanne auf die Theke zu stellen, dann falle ich meiner besten Freundin schluchzend um den Hals.
 

„Oh, scheiße… Scheiße, Marion…,“

„Um Himmels Willen! Was ist denn passiert?!“
 

Sie drückt mich ganz fest an sich. Und ich presse die Augen zusammen und spüre, wie mein Körper zittert. Wie ein fremdes Wesen fühlt er sich an. Er zittert so sehr, dass die Zähne davon klappern. Oder vielleicht… Vielleicht klappern auch meine Zähne so sehr, dass mein restlicher Körper davon wackelt. Und mein Herz. Mein Herz rennt so sehr. Rennt schon die ganze Zeit. Ich bin ganz erschöpft davon. Ich wünschte, es würde endlich aufhören damit.
 

„Marion…,“ ich wimmere wie ein Kleinkind, das sich in die Hosen gemacht hat, „Marion, ich…ich hab etwas Böses getan… Was sehr, sehr Böses… Aber es…es war Notwehr!“

„Was? Notwehr? Ich versteh nicht. Was hast du getan?“
 

Ich schniefe. Ich reiße mich zusammen. Ich löse mich von ihr und sehe ihr ins Gesicht. Sie starrt zurück, mit geweiteten Augen. Ich wette, ich schaue nicht anders. Wie dieses Äffchen aus der Werbung, dessen Augen immer größer werden beim Anblick irgendeiner Rechnung oder so. Wie heißen die nochmal?
 

„Ich… Ich bin durchgedreht. Sie…Sie waren hier wie immer und er hat…sie haben rumgemacht, also er und Florian. Und er hat… Florian hat mich so angeguckt, so…so… Und da…da bin ich einfach durchgedreht. Nach dem Frühstück bin ich Jonas hinterher gefahren. Zur Uni. Und da…da habe ich… Er ist weggegangen. Zur Toilette. Und… Und seine Freunde haben mir den Rücken zugekehrt. Und da…da habe ich einen Zettel in seine Tasche gesteckt. In sein Federmäppchen.“
 

„Du… Du hast einen Zettel in Jonas‘ Federmäppchen getan?“

Ich nicke.

„O…kay. Hast du…? Oh Gott, was hast du da drauf geschrieben?!“

Ich starre.

„Emilio, was stand auf dem Zettel?!“
 

Dein Freund betrügt dich,“ hauche ich.
 

Gleichzeitig schlagen wir uns die Hände vor den Mund. Wir starren uns an.

„Ach du Scheiße…,“ flüstert sie durch die Finger, dann nimmt sie sie weg, „Bist du von allen guten Geistern verlassen?!“

Ich nicke. Und quieke wie eine getretene Maus.

„Ja.“
 

Marion rauft sich die Haare. Fassungslos. Ich kann’s ihr nicht verübeln. Eigentlich hat ihre Schicht noch gar nicht angefangen. Sie ist nur meinem Hilferuf per Sms gefolgt und drei Stunden früher ins Teilchen gekommen. Meine beste Freundin. Ich liebe sie so sehr. Habe ich ihr das oft genug gesagt?
 

Etwas regt sich vor der Theke. Wir drehen uns um. Da steht eine Frau mittleren Alters.

„Hallo,“ sagt Marion eine Spur zu freundlich, „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich…ich hatte einen Latte Macchiato bestellt…,“
 

Ach Gott. Das ist die mit dem Latte Macchiato. Die steht da immer noch. Upsi.
 

„Oh. Äh, natürlich. Entschuldigung. Einen Moment,“ Marion schaut sich um.

„Da steht die Milch…,“ piepse ich.

„Oh, gut. Ich mach schon weiter. In deinem Zustand führt das sonst noch zur Katastrophe. Hier. Trink ein Glas Wasser.“
 

Ich nicke folgsam. Ich nehme das neue Glas, das sie mir reicht, und halte es unter den Wasserhahn. Marion zieht Espresso.
 

„Oh Gott…,“ wispert sie, „Oh Gott. Das ändert alles. Wow. Wenn er den findet, du meine Güte. Der wird ausflippen. Das gibt ein Riesendrama. Die Frage ist nur, was er dann tut. Das könnte vielleicht sogar gut ausgehen. Aber auch schlecht, du meine Güte. Sogar richtig, richtig schlecht. Wow. Wenn mir einer… Du musst verrückt geworden sein. Obwohl. Vielleicht hat er auch genau das gebraucht. Sonst wär er doch nie drauf gekommen.“
 

Mein Kopf nickt eifrig mit. Marion hat die Angewohnheit, ihre Gedanken laut auszusprechen, wenn sie aufgeregt ist. Das mag ich sehr an ihr. Besonders wenn ich ebenfalls aufgeregt bin. Und das bin ich. Meine Knie und Hände zittern immer noch. Aber mein Herz rennt nicht mehr so schnell. Und ich habe aufgehört, mich in Selbstgesprächen mit Schimpfwörtern zu bombardieren. Das ist eine Angewohnheit von mir, wenn ich aufgeregt bin. Und wenn ich mich schuldig fühle. Ganz besonders schuldig. Doch es ist keine gute Angewohnheit. Es ist eine schlechte. Denn sie macht mich immer so traurig. Von niemandem tun Beleidigungen so weh wie von mir selbst. Manchmal schimpfe ich so sehr mit mir, dass es mich fast zum Weinen bringt.
 

Marion seufzt und stellt das Kännchen mit dem dampfenden Espresso neben die Kanne mit dem allmählich pappenden Milchschaum auf die Theke. Sie dreht sich zu mir hin und legt mir die Hände beruhigend auf die Schultern.
 

„Geht es dir gut?“, fragt sie sanft.

„Einigermaßen…,“ murmle ich.

„Okay. Alles wird gut, hörst du?“

„Marion…,“

„Ja?“

„Wenn er… Wenn Jonas rausfindet, dass ich das war, dann…dann wird er mich hassen…,“
 

Meine Stimme erstirbt. Eine Angst, eine bahnbrechend gewaltige Angst nimmt mir den Atem. Wenn Jonas mich hasst… Wenn der Mann meiner Träume mich hasst, dann werde ich sterben. Das überstehe ich niemals. Nicht bei Jonas. Nicht bei ihm.
 

„Neeeiiin,“ flüstert Marion gedehnt und drückt meine Schultern, „Nein. Niemand kann dich hassen. Du bist ein Lämmchen, ein Engelchen. Du bist etwas Besonderes. Du wärst das Beste, was ihm je passiert ist. Und wenn er tatsächlich so toll ist, wie du mir schon seit hundert Jahren sagst, dann wird er das auch merken. Er wird dich bestimmt nicht hassen, Schatzi.“
 

Winselnd falle ich ihr wieder in die Arme. Sie streichelt meinen Rücken und mein Haar und ich vergrabe mein Gesicht in dem grünen, wild gemusterten Tuch, das sie jeden Tag um den Hals trägt. Ich liebe dieses Tuch. Es riecht nach ihr und ihrem Parfüm. Nur Jonas riecht noch besser. Besser als alles andere auf der Welt. Ach, Scheiße.
 

„Alles wird gut. Alles kein Problem…,“ denkt Marion halblaut vor sich hin, „Eigentlich war das sogar eine sehr gute Idee. Das wird den Blindfisch zwingen, der Sache endlich ins Auge zu sehen. Ja. Ja, ich denke, das war eine wirklich gute Sache. Mach dir keinen Sorgen. Das wird sich alles schon geben. Vielleicht dauert es ein wenig, bis er den Zettel findet und verarbeitet hat, aber… Aber früher oder später kommt alles ins Lot. Nein, er wird dich nicht hassen. Bestimmt nicht. Hallo Stephan.“
 

„Hey, Marion! Was machst du denn schon hier? W… Was issen hier los? Alles in Ordnung?“

„Jaja. Geh nur zu deinen Bagels zurück.“

„Heult Emilio?“

„Nein!“, fühle ich mich gezwungen, ins Tuch zu krächzen.

„Was ist dann los?“

„Er hat Jonas einen Zettel ins Etui getan, auf dem steht, dass sein Freund ihn betrügt.“
 

Ich wimmere in Marions Schulter.
 

„Echt?!“, staunt Stephan, „Du lieber Scholli. Jetzt geht’s richtig los, was? Mann, Mann, Mann. Du hast echt Nerven. Toi-toi-toi, kann ich da nur sagen.“

„Danke,“ erwidere ich dumpf.
 

Ich höre Stephans Schritte wieder davon schleichen und löse mich von Marion. Dass Stephan jetzt Bescheid weiß, kratzt mich nicht besonders. Im Teilchen wissen alle von mir und meiner unsterblichen Vernarrtheit in diesen einen speziellen Gast, dessen Haare nach Steppengras aussehen und der immer Cappuccino trinkt. Mit vier Löffeln Zucker.
 

Und da steht immer noch die Frau mit dem Latte Macchiato. Die Arme. Ganz stumm steht sie nach wie vor an der Theke und wartet. Was muss sie inzwischen von diesem Laden denken? Und von den geisteskranken Kellnern hier?

Marion achtet nicht auf die Frau und ihren halbfertigen Latte Macchiato. Sie leckt sich über die Lippen und faltet konzentriert ihre Hände.
 

„Okay. Folgendes. Wir arbeiten erst mal. Heute wird vermutlich eh nicht mehr so viel gehen. Wir wissen ja auch gar nicht, wann er den Zettel findet und was er dann tut. Ich würde sagen, wir treffen uns heute Abend und machen einen Plan, okay? Wie wir mit der neuen Situation umgehen und an Infos rankommen können. In Ordnung? Ich habe noch ne Menge Schnaps von letztens über, damit können wir uns hemmungslos betrinken.“
 

Schniefend lächle ich sie an. Meine beste Freundin. Was täte ich nur ohne sie?
 

„Das klingt gut. Danke dir.“

„Kein Ding. Und jetzt zu diesem Latte Macc– Ach du Scheiße!“

Was?! Was ist?!“

„Emilio! Gerate jetzt nicht in Panik, aber…er ist grad reingekommen.“

„Was? Wer?“

„Na, Jonas!“
 

Die Frau vor der Theke und ich wirbeln herum. Ich schnappe nach Luft und mein Herz setzt aus, setzt an und RENNT wieder los, galoppiert durch meinen Brustkorb und gegen meine Rippen. Verzweifelt suche ich mit den Augen die Sessel, die Tische, die Gäste ab und da–
 

Da ist er. Mein Gott.
 

Bevor ich richtig nachdenken kann, geben meine Knie nach und schon ducke ich mich im Stauraum unter dem Tresen. Die unterste Schublade der Jämmerlichkeit, du blöde Flachpfeife. Feigling! Du elender Feigling!
 

„Oh, Scheiße, Scheiße, Scheiße! Was tut er? Marion, was macht er? Kommt er her?!

„Nee…,“ zischt Marion zurück, „Er setzt sich ans Fenster. Ach, Gottchen…,“

„Was ist?!“

„Ich glaub, er hat den Zettel doch schon gefunden. Er sieht so traurig aus. Der Arme. Wie ein getretener Hundewelpe.“

„Oh Gott, das ist alles meine Schuld… Weint er? Bitte sag mir, dass er nicht weint!“

„Nein, er weint nicht. Er sieht aber aus, als könnte er jeden Moment damit anfangen.“

„Oh Goooott…,“
 

Ich vergrabe den Kopf in den Armen. Das ist alles meine Schuld. Er ist unglücklich wegen mir. Wegen meiner Tat, meiner egoistischen, unbedachten, niederträchtigen Tat.

Ich bin böse. In meinen Adern fließt der Teufel. Niederträchtig, heimtückisch, falsch. Das bin ich. Nicht nur Florian, diese Schlange. Ich auch.
 

Was? Soll? Ich? Denn? Jetzt? Machen?
 

Erst mal einatmen und ausatmen. Gedanken ordnen, du gehirnamputierter Blödmann. Und dann tu was! Du wollest es doch so. Du wolltest es so sehr, jetzt handle auch. Versteck dich nicht wie ein Kaninchen. Steh auf und…und …und…und…
 

Und bring zu Ende, was du angefangen hast.
 

Ja. Ja. Okay. Gut. Das…das schaffen wir. Das müssen wir schaffen. Das sind wir ihm und uns schuldig. Wir sind so weit gekommen, wir haben so sehr gelitten. Jetzt machen wir keinen Rückzieher. Auf in den Kampf. Mit Gebrüll. Fight! Okay. Alles klar. Los geht’s.
 

Langsam stehe ich auf. Ich atme konzentriert. Ich nicke Marion und der Frau an der Theke zu. Ich bin stark und entspannt und ruhe in mir. Ich stehe zu den Taten, die ich im Irrsinn begehe. Ich schäme mich nicht. Und ich fühle mich auch nicht schuldig.
 

„Ich gehe zu ihm hin,“ erkläre ich mit einer Stimme, die so fest ist, dass es mich selbst überrascht, „Ich gehe zu ihm hin und…und dann werde ich weiter sehen.“

„Hältst du das für eine gute Idee?“, fragt Marion leise und die Frau nickt unmerklich.

„Keine Ahnung. Aber… Aber ich muss. Ich kann doch nicht… Ich meine, ich muss doch… Ich darf ihn nicht… Er ist doch…,“
 

Mein Gestammel macht überhaupt gar keinen Sinn. Aber zumindest Marion versteht mich. Sie nickt und lächelt mir ermutigend zu. Meine beste Freundin.
 

„Du hast Recht. Hol ihn dir, er wartet auf dich. Viel Glück. Und lass dir Zeit, ich kümmere mich solange um die Gäste.“

„Marion?“

„Ja?“

„Ich liebe dich.“

Sie lacht und scheucht mich vorwärts.

„Danke. Aber sag das lieber Jonas.“
 

Haha. Lieber nicht. Nein, lieber nicht. Noch nicht. Einen Schritt nach dem anderen.

Ich gehe langsam durchs Teilchen. An Sesseln, Tischen und Gästen vorbei, auf mein neues Leben zu, das entweder Ozeane voller Glück oder Ozeane voller Unglück für mich bereit hält. Hoffen wir das Beste. Ich habe nix zu verlieren.
 

„Entschuldigung. Könnte ich nun eventuell meinen Latte Macchiato bekommen?“

Die Romantik im Teddybären

Für Deedochan

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Tim würde sich nicht als Romantiker bezeichnen. Eher im Gegenteil. Er hielt sich für so romantisch wie eine Gießkanne. Er war ein Un-Romantiker.
 

Seine Ex-Freundin hatte ihm das damals vorgeworfen.

Du bist so unromantisch!

Na und?! Ich will gar nicht romantisch sein. Romantik ist was für Weicheier!

Und er hatte es genau so gemeint. Für Romantik hatte er kein Verständnis. Zu der Zeit entdeckte er gerade seinen Penis neu für sich und wollte ihn eigentlich gerne alle halbe Stunde benutzen. Dafür hatte freilich sie kein Verständnis. Zwei Wochen nach dieser Auseinandersetzung war ihre große Liebe Geschichte.
 

Diesmal allerdings war es anders. Tim fühlte es überall in seinem Körper. Sein linker kleiner Zeh sprach davon, sein rechtes Ohr, seine beiden Unterarme, sein Mund und vor allem sein Bauch. Es war kaum zu glauben, doch die Romantik lebte tatsächlich. Nach zweiundzwanzig Jahren spürte Tim erstmals seine romantische Ader und er fand es wundervoll.
 

Das Eigenartige war nur, dass seine Art von Romantik nichts mit der Romantik seiner Ex-Freundin gemeinsam hatte. Tim fand Kerzen, Rosenblüten und Sonnenuntergänge immer noch anstrengend – besonders in Kombination. Seine Romantik steckte eher in den kleinen, unscheinbaren Dingen.
 

Zum Beispiel fand er es wahnsinnig romantisch, wenn Vukan für ihn am Flügel spielte. Oder wenn Vukan schon mal Kakao für ihn machte, bevor er überhaupt da war. Und er fand es romantisch, wenn Vukan und er gemeinsam Schach spielten, aber nie wirklich zu Rande kamen, weil sie einander ständig anlächeln mussten. Oder wenn sie sich irgendwo zwischen den Antiquitäten verkrochen, um dort heimlich zu knutschen, bis das kleine Glöckchen an der Tür erklang, das die Ankunft eines neuen Kunden bekannt gab, woraufhin sich Vukan hastig aus seinen Armen befreite und zum Eingangsbereich hetzte, um seinen Job zu machen.
 

Tim war kein Idiot. Er wusste, was los war. Es lag natürlich an Vukan, dem Antiquitätenjungen. Alles war romantisch, wenn er mit Vukan zusammen war. Vukan war die Romantik.
 

In diesem Moment zum Beispiel. Tim konnte die Romantik in all seinen zehn Fingern fühlen, während er Vukan beobachtete. Tim lehnte an einem massigen Eichenschrank und gab vor, seinen Comic zu lesen. Der Laden war verhältnismäßig voll und Amor, der graue dicke Kater, hatte sich mit griesgrämiger Miene unter einem antiken Schreibtisch verkrochen. Vukan kümmerte sich um die Kunden und Tim konnte einfach nicht aufhören, zu ihm hinzuschauen.
 

Er bewunderte Vukans Ruhe und seine Fähigkeit auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kunden und Kundinnen einzugehen. Er war so nett. Hingerissen lauschte er seiner verständnisvollen Stimme, als er zwei unentschlossene ältere Damen in Sachen Nachttischlampe beriet und sich mit schier endloser Geduld ihre persönlichen Wehwehchen anhörte. Es war fast schon romantisch, wie er sich um sie bemühte. Bestimmt waren sie alle verknallt in ihn, wenn sie das Geschäft verließen. So war das schließlich auch bei ihm gewesen. An dem Tag, als sie sich kennen lernten. Das war jetzt drei Wochen her.
 

Und warum auch nicht? Vukan sah phantastisch aus an diesem Tag. Er trug das senfgelbe Shirt mit den Knöpfen am Hals, das sein dunkles Haar und die Sommerbräune seiner Arme betonte. Und bestimmt konnte kein Mensch auf der Welt so aufrichtig lächeln wie er. Es machte Tim ganz schwach.
 

Es war ein besonderer Tag. Ungeduldig wartete Tim darauf, dass die Zeit verging, alle Kunden versorgt waren und der Antiquitätenjunge endlich Zeit hatte, sich ihm zu widmen. Doch als die beiden Damen und ihre auserwählte Lampe zufrieden den Laden verlassen hatten, wollte der Herr mit Hut noch über Bilderrahmen sprechen. Und dann war da noch die hochgewachsene Frau in roter Bluse, die ein Geschenk für ihren Gatten suchte. Und die blonde Frau mit Kinderwagen.
 

Die Minuten verstrichen. Stück für Stück verließen die Kunden den Laden, sie alle mit einem friedvollen Lächeln im Gesicht. Zum Schluss war nur noch die Frau mit dem Kinderwagen übrig. Als Vukan zu ihr ging und fragte, ob er ihr helfen könne, verneinte sie lächelnd.
 

„Danke, ich schau mich nur ein bisschen um.“

„Natürlich, sehr gern. Falls sie Hilfe brauchen, wenden sie sich jederzeit an mich.“

„Danke.“
 

Tims Magen machte einen jähen Salto. Eilig steckte er den Comic in den Bund seiner Jeans und wandte sich der erstbesten Antiquität zu, der er ansichtig wurde – einer hübschen Kuckucksuhr, die über seinem Kopf an der Wand hing. Es war Zeit für ihr Spiel, das romantischste Spiel, das Tim kannte.
 

„Und Ihnen, mein Herr, kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“, fragte Vukan.

„Das hoffe ich,“ erwiderte Tim und bemühte sich, seiner Stimme einen überheblichen Klang zu geben, „Diese Kuckucksuhr... Es betrübt mich, dies sagen zu müssen, aber sie ist ganz außergewöhnlich scheußlich.“

„So?“

„Ja, sehen Sie, junger Mann. Dieser Vogel im Inneren... Er sieht mir mehr nach einem Rotkehlchen aus als nach einem Kuckuck. Und die Farbe. Dieses schleimige Kackbraun. Ich frage mich, wer möchte sich so eine Monstrosität ins Wohnzimmer hängen?“
 

Aus den Augenwinkeln sah Tim, wie sich die Frau mit dem Kinderwagen entrüstet zu ihm umdrehte. Vermutlich konnte sie seine Unhöflichkeit nicht fassen. Vukan dagegen presste die Lippen aufeinander, um nicht in Lachen auszubrechen.
 

„Nun, mein Herr,“ antwortete Vukan, sobald seine Maske der Unerschütterlichkeit wieder aufrecht stand, „Darauf würde ich antworten, dass jeder Mensch diese wundervolle Kuckucksuhr nur zu gern aufhängen würde, vorausgesetzt...er ist kein stumpfsinniger Knallkopf mit dem Geschmack einer Abfalltonne.“

„Na hören Sie mal!“, rief Tim, mühsam mit einem Räuspern über ein lautes Prusten hinweg täuschend, „Ich muss doch sehr bitten. Ich bin Dr. Dr. Heinz Irgendwas vom niedersächsischen Bildungsministerium.“
 

Vukans Augen tanzten und seine Mundwinkel zuckten vor Belustigung. Tim fand diesen Anblick zauberhaft. Die blonde Frau hatte sich inzwischen von ihnen abgewandt und sich anscheinend in die Untersuchung eines schlanken Kerzenständers vertieft. Aber Tim war sich sicher, dass ihre Ohren nach wie vor auf sie beide gerichtet waren.
 

„Wenn das so ist, Dr. Irgendwas, dann–,“

„Für Sie immer noch Dr. Dr. Irgendwas.“

„Dr. Dr. Irgendwas, ich hätte von Ihnen mehr Sachverständnis erwartet.“
 

Von einer Sekunde auf die andere hatte Tim keine Lust mehr auf das Spiel. Er wollte jetzt etwas Handfestes. Er verschränkte beide Hände in Vukans Nacken und zog ihn dicht zu sich heran. Er strahlte in Vukans überraschtes Gesicht.

„Alles Gute zum Geburtstag!“, flüsterte er.

Vukan lächelte und tat dann das, was Tim in seiner romantischen Stimmung eine Sekunde später sowieso getan hätte – er küsste ihn auf den Mund.
 

Tim seufzte, ließ die Kuckucksuhr Kuckucksuhr sein und erwiderte den Kuss voller Hingabe. Innerlich schmolz er dahin. Seine Hände umfassten Vukans Schultern und an seiner Hüfte, seinem Rücken fühlte er Vukans Arme. Er fühlte seine weichen Lippen, die Wärme seiner Haut, die Feuchtigkeit seiner Zunge. Yes! Dies fühlte sich saugut an.
 

Kurz darauf stellte Tim fest, dass die blonde Frau sie groß anstarrte. Verlegen löste er sich von dem Geburtstagskind.
 

„Oh,“ stieß sie erschrocken hervor, als sich zwei Augenpaare auf sie richteten, und machte eine ausladende Geste mit dem Kerzenständer, „Tut… Tut mir leid, ich… Also, ich wollte nicht stören. Ich hab mich nur… Es ist aber nicht weiter wichtig, Entschuldigung…“

„Nein, nein!“, unterbrach Vukan sie rasch und Tim wischte sich verhalten grinsend über den Mund, „Bitte, haben Sie eine Frage?“

„Ja, also… Dieser Kerzenständer gefällt mir sehr und ich… Wie viel soll er kosten?“
 

Während der Antiquitätenjunge zur Kasse ging, lachte Tim lautlos in sich hinein. Die Blonde war tatsächlich etwas rot geworden. Er sah dabei zu, wie der silberne Kerzenständer den Besitzer wechselte, und hielt der Frau schließlich die Tür auf, damit sie ihren Kinderwagen hinaus bugsieren konnte. Sie war sehr dankbar und schien es dennoch ziemlich eilig zu haben.
 

Nachdem das Glöckchen verklungen war, trat Tim zu Vukan an die Kasse, sodass sie sich nun gegenüber standen, den Ladentisch zwischen ihnen. Lächelnd stützte er seine Hände links und rechts neben die grimmig dreinschauende Büste. Otto von Bismarck, wie er inzwischen erfahren hatte. Vukan erwiderte sein Lächeln und leckte sich kurz über die Oberlippe. Tim grinste. Er liebte diese Geste. Er fand sie romantisch. Und sexy.
 

„Kaum zu glauben, dass wir inzwischen schon so weit gekommen sind…,“ sagte Vukan leise.

„Du meinst, weil wir inzwischen schon vor Kunden…,“

„Ja, genau. Ich…finde es fast komisch, wie…abgebrüht ich in dieser Hinsicht geworden bin. Das hätte ich irgendwie nie von mir gedacht.“

„Was würde dein Vater dazu sagen?“, gluckste Tim, „Ich weiß aber, was du meinst. Mir geht’s genauso. Am Anfang dachte ich, wir müssten es unbedingt geheim halten. Aber jetzt…fällt es mir irgendwie ganz leicht, dazu zu stehen.“
 

Er dachte einen Moment nach und seufzte dann.

„Andererseits… Ich meine, es ist bescheuert. Ich habe keine Probleme, vor Fremden zu… Also, zu dir und zu uns zu stehen, trotzdem habe ich es aber immer noch nicht meinen Eltern gesagt. Nur meiner Schwester.“

„Und bei mir ist es genau umgekehrt. Meine Eltern wissen Bescheid, aber meine Brüder haben immer noch keine Ahnung. Ich denke, man scheut ein solches Gespräch immer bei den Leuten am meisten, wo man am ehesten Probleme wittert.“
 

„Mhm…,“ machte Tim und streichelte geistesabwesend Bismarcks Glatze, „Was hätte dein Großvater dazu gesagt?“

„Das habe ich mich auch schon gefragt. Die Wahrheit ist, dass ich es wirklich nicht sagen kann. Mein Bauch sagt, dass er nichts dagegen gehabt hätte. Dass er sich für mich gefreut hätte. Mein Kopf ist sich da aber nicht so sicher.“
 

Sie schwiegen einen Augenblick und musterten einander dabei. Tim musste zugeben, dass er ratlos war. Trotz all der Romantik, bekam er seine Gefühle nicht richtig auf die Reihe. Gestern zum Beispiel. Da hatte er einem hübschem Mädchen auf der Straße hinterher geschaut. Ganz automatisch. Einen Moment später hatte er sich gefragt, was eigentlich mit ihm los war.
 

Was war er denn nun? War es normal, einen Kerl zu küssen und einem Mädchen nachzuschauen? Wenn er schwul war, wieso hatte er es vor seiner Begegnung mit Vukan nie bemerkt? Und müsste er dann nicht jegliches Interesse an Mädchen verlieren? Und wenn er nicht schwul war, was war dann das mit Vukan? Wieso fühlte er dann die Dinge, die er fühlte, wenn sie zusammen waren? War er vielleicht bi? Aber warum ließen ihn dann alle anderen Männer kalt?
 

Tim kam einfach nicht dahinter. Gleichzeitig hatte er jedoch auch den Eindruck, dass diese Fragen vollkommen unerheblich waren. Es war eben so, wie es war. Mädchen hin oder her, im Augenblick wollte er nur Vukan. Und da war er sich ganz sicher.

Er lächelte und Vukan, der seinen eigenen Gedanken nachgehangen hatte, lächelte zurück.
 

„Ich habe ein Geschenk für dich,“ wechselte Tim das Thema und grinste. Mit einem Mal war er aufgeregt. Vukans Miene erhellte sich.

„Und wo ist mein Kuchen?“

„Ich hab dir gesagt, dass ich nicht backen kann!“

„Ohhhh,“ machte Vukan enttäuscht.

„Komm schon. Ich kauf dir morgen einen Amerikaner beim Bäcker.“

„Na gut,“ Vukan kicherte.

„Mach die Augen zu.“
 

Das Geburtstagskind tat wie geheißen. Tim betrachtete ihn noch eine Sekunde zärtlich. Dann holte er den schlichten, weißen Umschlag aus seiner linken Hosentasche.
 

„Okay,“ sagte er ernsthaft, „Lass die Augen noch geschlossen. Bevor ich es dir gebe, will ich dir sagen, dass ich lange darüber nachgedacht habe und absolut dahinter stehe. Verstehst du? Nix, was du sagst, wird mich davon abbringen können.“

„Oh Gott,“ antwortete Vukan betroffen.

„Keine Angst,“ Tim schob den Umschlag über den Ladentisch, „Augen auf.“

Der Antiquitätenjunge öffnete die Augen, sah den Umschlag, dann Tim, dann wieder den Umschlag an. Die Anspannung verließ ihn wie pfeifende Luft aus einem Ballon.

„Ist da eine Bombe drin?“
 

Tim lachte und schüttelte den Kopf.

„Mach ihn schon auf.“

Lächelnd zog Vukan den Umschlag zu sich hin und öffnete ihn langsam. Tims Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Vukan schaute in den Umschlag. Sein gespannter Gesichtsausdruck fiel in sich zusammen.

„Was zum Teufel…?“, wisperte er heiser.

Er sah noch einmal hin. Und auf seine Miene trat blankes Entsetzen.
 

„Das ist ein Witz, oder?“, sagte er tonlos und warf den Umschlag auf den Ladentisch, „Nein, Tim. Nein.“

„Vukan, hör zu–,“

„Vergiss es! Das nehm ich nicht an.“

„Vukan…,“

„Nein! Mein Gott, wie viel ist das eigentlich?“

Er schüttelte den Umschlag und drei Geldscheine segelten auf den Ladentisch. Alles

Fünfziger. Vukan erbleichte.
 

150 Euro?!“, rief Vukan wie vom Donner gerührt, „Bist du blöd? Tickst du noch ganz richtig? Was soll ich denn damit?!“

„Jetzt komm mal klar!“, erwiderte Tim erschrocken, mit so viel Ablehnung hatte er nicht gerechnet.

„Ich? Ich soll klar kommen? Du schenkst mir Geld? Warum?!“

„Jetzt beruhige dich, ich erkläre es dir ja,“ antwortete Tim und machte beschwichtigende Handbewegungen, während Vukan sich ungläubig die Augenlider massierte.
 

„Ich hab dir doch gesagt, dass ich lange darüber nachgedacht habe. Ich hab echt ewig überlegt, worüber du dich freuen würdest. Aber seien wir ehrlich, das einzige, was du dir wirklich wünschst, ist dieser Flügel!“

Vukan hob den Blick und Tim lief um den Ladentisch herum, um eindringlich nach Vukans Armen zu greifen. Der Antiquitätenjunge versteifte sich unmerklich und seine Stirn lag in skeptischen Falten. Seine Abwehr tat Tim ziemlich weh.
 

„Komm schon…,“ sagte er sanft, „Lass mich dir helfen. Ich möchte dich unterstützen, damit dein größter Traum wahr wird. Du sparst jetzt schon seit sechs Jahren und manchmal isst du die letzte Woche im Monat nur noch Haferflocken, damit du noch Geld für den Flügel über hast. Du finanzierst dir dein Studium mit zwei Jobs selbst, weil deine Eltern einen Antiquitätenladen besitzen, der zwar genug, aber nicht massig abwirft. Du hast drei Brüder, die alle Klamotten und Essen und was nicht sonst noch alles brauchen.

Mein Vater ist Anwalt, meine Mutter Gymnasiallehrerin. Sie haben nur zwei Kinder und meine Schwester verdient inzwischen schon selbst. Ich habe genug Knete. Mehr als ich ausgeben kann sogar. Also wieso sollte ich nicht meinem Freund unter die Arme greifen, damit er sich das leisten kann, was ihm mehr am Herzen liegt als alles andere?“
 

Endlich erwiderte Vukan Tims Blick.

„Deinem Freund?“, flüsterte er und der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

Tim grinste.

„Naja…,“

Vukan seufzte, ließ den Blick in die Ferne schweifen, dorthin, wo sein wunderschöner Flügel stand und darauf wartete, dass das Geld endlich reichte, um…

„Es klingt brutal, wenn du die Fakten so hintereinander aufzählst.“

„Ich weiß. Tut mir leid.“
 

Der Antiquitätenjunge betrachtete die bronzenen Scheine, die unschuldig auf dem Ladentisch lagen. Dabei fuhr er sich immer wieder mit der Zunge über die Oberlippe. Als wäre seine Verlegenheit diesmal so groß, dass ein einziges Mal nicht ausreichte, um sie fortzuwaschen. Tim schaute gebannt hin und hob die Hand, um an den Knöpfen seines senfgelben Shirts herumzufummeln.
 

„Es fühlt sich nicht gut an, wenn du mir so viel Geld schenkst.“

„Wenn du erst ein berühmter Konzertpianist bist und Geld wie Heu hast, kannst du mich mal groß zum Essen ausführen,“ witzelte Tim.

„Es ist mir ernst, Tim. Das ist wirklich, wirklich viel Geld.“

„Ich weiß. Aber ich will, dass du es hast. Ich will, dass du deinen Flügel kriegst.“

„Solltest du mir nicht eigentlich einen Teddybären schenken?“

„Einen Teddybären?“

„Jaaah. Oder sonst so einen nutzlosen Quatsch. Wie man das halt so macht am Anfang einer… Du weißt schon.“
 

„Oh nein…,“ wimmerte Tim dramatisch und schlug sich die Hand vor den Mund, „Du wolltest einen Teddybären? Wo soll ich denn so schnell einen Teddybären herkriegen? Oh, ich weiß!“

Strahlend griff er in seine rechte Hosentasche und holte einen kleinen Plüschbären heraus. Er war lila und billig und hatte eine pinke Nase. Um seinen Hals trug er eine gepunktete Schleife. Erneut fiel Vukans Gesicht in sich zusammen, diesmal aber eher auf die gute Art.
 

„Happy Birthday, Vukan!“, ließ Tim den hässlichen Teddy mit Qietschestimme sagen.

Vukan schnaubte, lächelte, schüttelte den Kopf und nahm den Bären schließlich entgegen.

„Oh, Tim…,“ murmelte er, während er den Teddy knautschte, „Du bist so blöd.“

„Blöd?“, empörte sich Tim, „Früher hast du mich süß genannt.“

„Früher vor drei Wochen?“

„Ja, damals… Als wir uns kennen lernten.“

„Du bist auch süß. Wahnsinnig süß. Und blöd.“
 

„Also gut,“ Tim lachte.

Lächelnd befühlte Vukan das weiche Fell des Teddybären.

„Er ist ganz furchtbar. Und entzückend.“

„Ich wusste, du würdest ihn lieben. Sein Name ist Manfred.“

„Was?“
 

Tim lachte sich scheckig. Vukan boxte ihn. Dann musterte er ihn abermals ernst, den lila Bären, den er niemals Manfred nennen würde, in beiden Händen haltend.

„Das mit dem Geld… Ich finde das nicht gut. Aber ich…,“ seine Stimme verklang.

Tim nickte.

„Okay. Denk einfach in Ruhe darüber nach. Ja?“

„In Ordnung.“
 

Sie schwiegen eine Weile. Tim bemerkte Amor, der mit aufgestelltem Schwanz aus dem Antiquitätenlabyrinth gewatschelt kam und gurrend durch die Tür hinterm Ladentisch verschwand. Essenszeit.
 

„Ich habe noch nie einen Teddybären geschenkt bekommen,“ sagte Vukan in die Stille hinein. Sein Lächeln war sehr liebevoll, als er den hässlichen Teddy ansah.

Tim strahlte. Er war erleichtert, dass der Bär Vukans Lächeln zurückgebracht hatte. Danke, Manfred. Vukan hob den Kopf und grinste.

„Ich glaube, ich nenne ihn Tim.“

„Wen? Den Teddy?“

„Ja. Oder hättest du etwas dagegen?“

„Nee. Mach ruhig,“ Tim schmunzelte, „Irgendwie…fände ich das richtig romantisch.“

Elf

„Es ist wirklich ganz einfach. Und es macht Spaß, du wirst schon sehen.“

„Ich will das nicht lernen…,“

„Komm schon. Denk mal ein bisschen nach. Wenn du dein Leben lang nur an Autos schraubst, rostet dein Hirn sonst irgendwann noch ein.“

„Hallo?! Ich denke über viele Dinge nach.“

„Zum Beispiel?

„Äh, übers Kochen, über Cleo, über Geister und ihren seelischen Ballast. Und falls es dich interessiert, auch über Reparaturen muss man manchmal nachdenken.“
 

„Okay. Und wann hast du das letzte Mal mit Zahlen gedacht?“

„Heute Nachmittag? Im Supermarkt?“

„Du meinst sowas wie 1,99 plus 2,99?“

„Genau. Sind übrigens 4,98.“

„Wow. Du Held. Ich bin echt schwer beeindruckt.“

„Vielen Dank.“

„Na looos. Bitte. Ich erklär’s dir auch ganz langsam.“

„Boah. Also gut. Wenn‘s dir so viel bedeutet.“
 

Jasper strahlte. Wir lagen nebeneinander auf dem Bett. Draußen war es bereits dunkel und Cleo war schon lange unten. Wir hatten zum Abendessen selber Pizza gemacht und mein Bauch war so voll, dass ich etwas seitlich liegen musste, um überhaupt atmen zu können. Jasper erklärte mir Sudoku. Dieses japanische Zahlenspiel, an das ich bisher kaum einen Gedanken verschwendet hatte. Aber Jasper liebte dieses Spiel, er konnte Stunden damit verbringen und er löste selbst die schwierigsten Rätsel in einem Tempo, dass es mich gruselte.
 

Für den Anfang hatte mir Jasper eins der leichtesten – Kategorie Extrem Harmlos – aus seinem Rätselheft herausgesucht. Während er mir die Regeln erläuterte, fixierte ich das schwarzweiße Gitter mit den vereinzelten Zahlen träge. Mein Gehirn schien nur langsam zu arbeiten. Kein Wunder, ich war gerade mit Verdauen beschäftigt. Schläfrig blendete ich Jaspers Stimme aus und versank in der liebevollen Betrachtung seines hübschen Profils. Ich mochte es, ihn von der Seite anzusehen – seine gerade Nase, die vollen Lippen, der anmutige Bogen, den seine dichten Wimpern beschrieben. Meine Fresse, es hatte mich ganz schön erwischt.
 

„Hast du kapiert?“, fragte Jasper, nachdem seine Erklärungen beendet waren.

„Mhm…,“ brummte ich und erwachte widerstrebend aus meinen Träumereien.

„Sehr gut. Hier ist der Kuli. Versuch es einfach mal und wenn du nicht weiterkommst, dann sag Bescheid.“
 

Aufmunternd lächelte er mich an. Ich schnaubte, schüttelte den Kopf und nahm den Kuli entgegen. Grinsend wandte sich Jasper wieder einem seiner unzähligen Texte zu, die er für ein Ding namens Referatsausarbeitung lesen musste. Mühsam riss ich mich von seinem Anblick los, seufzte und zwang mich zur Konzentration. Mit gerunzelter Stirn beugte ich mich über das Zahlengitter und versuchte mich an die Regeln zu erinnern, die er mir vor dreißig Sekunden dargelegt hatte. Nach reiflicher Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass in das mittlere Kästchen ganz links ganz sicher eine 2 gehörte. Ich krakelte sie hinein und musterte mein Werk stolz. Dann hatte ich keine Lust mehr.
 

Frustriert kratzte ich mich am Kinn und warf Jasper einen raschen Seitenblick zu. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen, in der rechten Hand einen neongelben Textmarker und im Mund einen Bleistift, auf dem er geistesabwesend herum kaute, während er sich konzentrierte. Noch so eine Sache, die ich an ihm mochte.
 

Ich rechnete zurück. Wir kannten uns jetzt seit zehn Tagen. Nur eine Sekunde im menschlichen Raum-Zeit-Gefüge also. Trotzdem schien mir der vorletzte Mittwoch schon ewig her zu sein. Wir hatten bereits sieben Nächte zusammen verbracht, um die zwanzig gemeinsame Mahlzeiten eingenommen und so viele Zungenküsse ausgetauscht, dass ich das Zählen längst aufgegeben hatte. Er benutzte wie selbstverständlich meine Dusche, in meinem Kühlschrank fanden sich inzwischen ganze drei verschiedene Sorten Marmelade – Himbeere, Heidelbeere und Aprikose – und in meinem Bad hatte er vor einigen Tagen eine Zahnbürste, ein Duschgel und ein Töpfchen Haarwachs deponiert. Und selbst Cleo wunderte sich kein Stück mehr über seine Anwesenheit. Es war fast schon lächerlich schnell mit uns gegangen. Schnell, aber schön.
 

Während ich so in Erinnerungen schwelgte, füllte ich lächelnd das Sudoku weiter aus. Allerdings auf meine Art: In jedes freie Kästchen malte ich ein Herz und in jedes zweite Herz schrieb ich ein winziges J hinein. Als Jasper neugierig auf mein Kunstwerk schielen wollte, schirmte ich das Rätselheft rasch mit dem Arm ab. Er lachte mich an, mein süßer Herzensbrecher, und nannte mich einen Kindskopf. Das musste er gerade sagen.
 

„Fertig!“, rief ich, nachdem jedes schwarzweiße Kästchen pflichtbewusst ausgefüllt war.

„Schon?“, erwiderte Jasper beeindruckt und beugte sich zu mir, „Du bist ja ein Natur–,“

Er unterbrach sich und begann zu glucksen. Seine Augen leuchteten mich an wie Sterne.

„Awww! Du bist ja sowas von blöd!“, quietschte er.

„Boah,“ brummte ich, „Na danke.“

Ich wollte noch weiter knurren, doch Jasper warf seinen linken Arm um meine Schultern und küsste mich auf den Mund. Ich ließ Sudoku Sudoku sein und erwiderte seinen Kuss eifrig, fühlte dem vertrauten Prickeln nach, das durch meinen Magen huschte. Inzwischen waren wir schon richtig gut im Knutschen.
 

Jasper ließ Textmarker und Bleistift aufs Laken fallen und rollte sich wie ein schnurrendes Kätzchen so auf den Rücken, dass sein Gesicht direkt unter mir lag und unsere Zungen sich bequem erreichen konnten. Beim Küssen machte er seine putzigen, schmachtenden Geräusche und ich bekam Lust, ihn auf der Stelle aufzufressen. Hingebungsvoll küsste ich seine Lippen, sein Kinn, seinen Hals. Mit einem Knistern des Rätselhefts bog Jasper seufzend seinen Kopf zurück und entblößte seine Kehle wie ein sich unterwerfender Wolf. Zärtlich saugte ich an dieser weichen Haut und spürte seinen stetig pochenden Puls an meinen Lippen. Ein lebendes Wesen. Ein sehr hübsches, reizvolles lebendes Wesen wohlgemerkt.
 

Schließlich löste ich mich von ihm und lächelnd musterten wir einander. Ich streichelte ihm über die Wange und das Haar aus der Stirn, während er seine rechte Hand unter den kurzen Ärmel meines T-Shirts pfriemelte, um die Muskeln an meinem Oberarm zu streicheln.
 

Von oben blickte ich auf sein Gesicht hinab und beobachtete, wie sein Lächeln allmählich verblasste und einem nachdenklichen Ausdruck wich.

„Tonda?“, sagte er und es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.

„Mhm?“

„Findest du mich eigentlich sexy?“
 

Ich starrte ihn an.
 

„Wie bitte?“, brachte ich hervor, „Ist das eine Fangfrage?“

„Nein!“, erwiderte er empört, seine Wangen färbten sich rosa, „Ich will es einfach wissen. Sag schon. Du… Du darfst auch sagen, wenn es nicht so ist.“

Ich war fassungslos. Hastig blätterte ich die Karteikarten meines Gedächtnisses durch, auf der Suche nach einer Situation, in der ich ihm das Gefühl gegeben haben könnte, ihn nicht von Kopf bis Fuß zu begehren.

„W… Wie kommst du denn darauf?“, wollte ich wissen, nachdem ich mir sicher war, dass es niemals eine solche Situation gegeben haben konnte, „Natürlich finde ich dich sexy. Wie verrückt sogar. Das musst du doch merken.“
 

„Ehrlich?“, hauchte Jasper scheu, seine Stimme getränkt von Hoffnung.

„Jaah!“, antwortete ich nachdrücklich und lachte beinahe, „Na klar. Die ganze Zeit.“

„Schwörst du es?“

„Ich schwöre es.“

Erleichtert atmete Jasper ein und aus, jetzt konnte er auch wieder lächeln.

„Dann ist ja gut…,“

„Du machst mich echt fertig,“ brummte ich, „Wie kommst du nur auf sowas?“
 

Verlegen biss Jasper sich auf die Unterlippe.

„Es ist nur, weil…,“

„Weil was?“

„Weil… Wir haben jetzt schon so oft in einem Bett geschlafen. Und du hast nie versucht…,“

„Nie was versucht?“

Er warf mir einen genervten Blick zu.

„Du hast nie versucht, mich zu vögeln!“
 

Diesmal blieb mir richtig die Spucke weg.
 

Manchmal machte dieser Junge mich wahnsinnig. Du hast nie versucht, mich zu vögeln. Da lag er unter mir, benutzte dieses Wort und starrte grimmig zu mir hoch, mit einem blitzenden Vorwurf in den Augen. Ich hatte keinen Schimmer, welches Argument ich zuerst zu meiner Verteidigung anbringen sollte. Ich konnte nicht glauben, dass ich gerade eben noch Sudoku gespielt hatte.
 

„Verdammte Axt…,“ leitete ich ein, um meine Sprachlosigkeit zu überspielen, „Wir… Wir kennen uns erst zehn Tage lang. Zehn Tage!“

„Na und?“, herrschte Jasper mich an und das Funkeln in seinen Augen erinnerte mich schrecklich stark an seine verstorbene Großmutter, „Mit Karius hast du gleich in der ersten Nacht geschlafen.“
 

Ich schloss die Augen und stöhnte, hob mich von ihm herunter und ließ mich neben ihn auf den Rücken fallen. Mit beiden Händen rieb ich mir über das Gesicht, während das Knistern der Papiere auf dem Bett mir verriet, dass auch Jasper seine Position änderte. Als er sprach, kam seine Stimme von weiter oben.
 

„Du und Karius habt euch innerhalb einer Woche durch die gesamte Wohnung geschlafen. Das hast du mir selbst erzählt. Du… Du hast nie genug von ihm gekriegt. Und bei mir… Wir knutschen immer nur, nie mehr als das. Obwohl wir ständig in einem Bett schlafen. Du hast nie irgendwas versucht. Ich hab dich noch nicht mal nackt gesehen. Deshalb dachte ich, dass… Dass du mich vielleicht nicht so…so anziehend findest wie ihn…,“
 

Er verstummte. Langsam nahm ich die Finger von den Augen und linste zu ihm hinüber. Er hatte sich aufgesetzt und musterte nun seine Finger, die an einem Loch in seiner Jeans knibbelten. Er sah geknickt aus.
 

„Daran liegt es nicht,“ flüsterte ich.

Trotzig hob Jasper den Blick.

„Ehrlich nicht,“ betonte ich entschieden.

„Woran liegt es dann?“, wollte er wissen und das verärgerte Funkeln kehrte in seine Pupillen zurück, „Dass du den blöden Karius immer und überall ficken konntest, von mir aber geflissentlich die Finger lässt!“
 

„Oh Gott!“
 

Der blöde Karius. Ich hätte ahnen müssen, dass sein Schatten über Jasper und mir schweben würde. Ich hätte ahnen müssen, dass Jasper seine Anwesenheit in dieser Wohnung noch spüren konnte. Spätestens als er mir Anfang der Woche mitgeteilt hatte, dass er den Namen Marius ab sofort nicht mehr aussprechen würde. So wurde Karius geboren – eine Satire auf meinen Ex, von der man Zahnschmerzen bekam. Aber was konnte ich nach zehn Tagen auch anderes erwarten? Schließlich hatten Marius und ich vor zwei Wochen noch auf genau diesem Bett gelegen und genau diese Dinge getan, die Jasper sich vermutlich vorstellte. An die ich jedoch kaum mehr zurück dachte. Seltsam. Konnte es sein, dass ich schneller über Marius hinweg kam als Jasper?
 

Welch Ironie. Schließlich war Jasper der Grund dafür, dass ich meine gescheiterte Beziehung zu Marius – und besonders ihr katastrophales Ende – so rasch überwand.
 

„Tonda,“ unterbrach Jasper meine Überlegungen leise.

„Mhm?“

„Woran denkst du?“

Ich nahm die Hände vollständig vom Gesicht und legte sie mir auf die Brust. Aufmerksam betrachtete ich Jaspers Miene, die sowohl Kummer als auch Groll ausdrückte.
 

„Nachdem Marius gegangen war, war ich echt niedergeschlagen,“ erzählte ich ihm, „Ich hab mir gesagt, dass ich fertig damit bin. Nie wieder Gefühle, sagte ich mir. Ich dachte, dass es einfach nie klappen würde und ich mich endlich damit abfinden müsste. Und dann kamst du. Und statt jahrelang beim Therapeuten zu sitzen, habe ich nur einen Vormittag mit dir in der Küche verbracht und…alles war wieder gut. Du hast mir geglaubt, Jasper.

Was ich damit sagen will, ist: Sex hin oder her – du hast mir schon am ersten Tag mehr bedeutet, als Marius mir in all den Wochen je bedeutet hat. Geht das in deinen kleinen Holzkopf rein?“
 

Jasper gluckste. Er neigte den Kopf und nickte. Seine Wangen hatten wieder Farbe bekommen und er lächelte auf seine schnucklige Art, die mich schon letzte Woche sofort für ihn eingenommen hatte.
 

„Okay…,“ wisperte er schmunzelnd und nickte, „Okay…,“

„Gut.“
 

Wir grinsten einander an. Ich atmete tief aus und spürte die Erleichterung durch meine Venen rieseln. Es wurde wirklich Zeit, dass Marius diese Wohnung endgültig und auf Nimmerwiedersehen verließ. Er und der ganze – zugegebenermaßen – großartige Sex, den wir hier miteinander gehabt hatten. Ich wollte Jasper gerade fragen, ob wir das nächste Sudoku gemeinsam lösen wollten, als…
 

„Aber das ist noch keine Antwort auf meine Frage, wieso wir noch keinen Sex hatten.“
 

Meine Fresse. Der Junge ließ nicht locker. Dort saß er und hatte sich an dem Thema festgebissen. Um seine Lippen spielte ein herausfordernder Zug und seine Mundwinkel zuckten belustigt. Ich seufzte tief.
 

„Also schön,“ brummte ich, „Auch dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung: Ich bin mir ziemlich sicher, dass du noch Jungfrau bist, und ich wollte dich nicht bedrängen.“

Diesmal war es Jasper, der mich wortlos anstarrte. Verdutzt beobachtete ich, wie er knallrot anlief, als hätte ich ihn bei etwas Oberpeinlichem erwischt.

„Oh…,“ machte er nur erstickt.

„Ja. Deswegen habe ich mich zurückgehalten. Ich wollte dich nicht überfordern, dich selbst entscheiden lassen, wann du wie weit gehen willst. Außerdem – und das sage ich nochmal, weil es meiner Meinung nach durchaus ein Punkt ist – kennen wir uns erst seit zehn Tagen. Seit zehn Tagen! Da ist es doch nur legitim, dass wir noch nicht Nägel mit Köpfen gemacht haben. Wir haben ja noch nicht mal das obligatorische Sind-wir-jetzt-eigentlich-zusammen-Gespräch geführt.“
 

Jaspers Kopf zuckte hoch.

„Natürlich sind wir zusammen!“, entrüstete er sich, „Was dachtest du denn?“

„Oh,“ machte diesmal ich, „Okay. In Ordnung. Gut, dass wir darüber gesprochen haben.“
 

So schnell kann’s gehen: Zack! – vergeben.
 

Jasper hörte auf, mich böse anzufunkeln. Er wandte sich ab und begann, sich andächtig an den Lippen herumzufummeln, als würde er an einem kniffligen Problem arbeiten. Er sah wirklich peinlich berührt aus. Langsam setzte ich mich auf und schob mein Gesicht so nah an seins heran, dass meine Stirn mit einem dumpfen Geräusch an seine stieß.

„Hey…,“ flüsterte ich mit tiefer Stimme und schaute ihm so eindringlich in die Augen, dass er gar nicht anders konnte, als meinen Blick zu erwidern, „Ist es dir etwa unangenehm, dass du noch Jungfrau bist? Das ist nix, wofür man sich schämen muss. Wir haben alle mal als Jungfrauen angefangen.“
 

„Boah, Tonda!“, jammerte er und schlug mir mit einem ungeduldigen Zungenschnalzen vor die Brust. Ich steckte die Prügel klaglos ein, weil ich mein Lachen nicht mehr länger unterdrücken konnte. Allerdings würgte ich es ab, sobald ich sein gequältes Gesicht sah.

„Hey…,“ sagte ich erneut und legte die Hand auf seine schmale Schulter, „Es ist dir doch nicht wirklich peinlich, oder?“

„Doch!“, stieß er hervor und seine grünbraunen Augen schienen Funken zu sprühen, „Ich meine, nein! Ich meine, doch! Es ist nur, weil… Weil du tausend Männer im Bett hattest und ich keinen einzigen.“

Tausend!“, prustete ich.
 

„Ich habe außer dir nur einen anderen Kerl geküsst. Nur einen einzigen! Im Schwulenreferat vom AStA. In meinem ersten Semester. Das war noch vor dem Outing vor meiner Familie. Und als der mehr wollte, bin ich schnell weggelaufen.“

„Es ist völlig okay, wenn man–,“

„Sonst hatte ich noch mit niemandem was – mit niemandem, niemals, null. Ich hatte noch nie eine feste Beziehung, ich habe überhaupt keine Erfahrung und du total viel, weil du tausend Männer im Bett hattest, und ich werde bestimmt grauenhaft schlecht sein und ich will jetzt endlich auch Sex haben!“
 

Mit offenem Mund lauschte ich seinem Ausbruch. Ich hatte eigentlich viel Erfahrung im Zuhören, schließlich diente ich seit Jahren als persönlicher Kummerkasten der hiesigen Geisterwelt. Doch hier stieß ich an meine Grenzen. Da ich nicht wusste, welche von Jaspers dramatischen Sorgen ich zuerst zerstreuen sollte, stürzte ich mich auf die einzige Information, die ich ihm hundertprozentig voraus hatte.
 

„Ich hatte nicht tausend Männer im Bett.“

„Wie viele waren es dann?“, rief Jasper sofort, packte mich an den Armen und fixierte mich so energisch, als wäre diese Frage die wichtigste, die je in der Geschichte der Menschheit gestellt worden war.

„Ähhh…,“

„Zwanzig? Dreißig?“, seine Augen weiteten sich, „Fünfzig?“

„Nein, nein, nein!“

„Wie viele?“

„Warte, warte. Wenn du »im Bett« sagst, meinst du dann–,“

„Analverkehr natürlich!“, verdeutlichte er, von heftigen Handbewegungen untermalt, „Oder nein! Alles! Wie viele hast du geküsst? Nur geküsst erst mal.“

„Oh Gott…,“ stöhnte ich, „Lass mich eben nachzählen.“
 

Es vergingen einige schweigende Sekunden, in denen ich in Gedanken mein bisheriges Leben durchging und die Männer zählte, die ich geküsst hatte.

„Wie sieht’s mit Frauen aus?“, fragte ich nach einer Weile kleinlaut.

„Du hast Frauen geküsst?“, schnappte Jasper, seine Empörung hielt ich für leicht übertrieben, „Hast du etwa auch mit welchen geschlafen?!“
 

„Najaaa…,“

„Mein Gott…,“ er rieb sich die Stirn, „Ja, Frauen auch.“

„Okay. Also… Ich habe in meinem Leben vier Frauen geküsst.“

„Vier? Und mit wie vielen warst du im Bett?“

„Mit zweien.“

„Und dann?“, wollte er wissen.

„Naja, dann habe ich eben festgestellt, dass ich noch lieber mit Männern schlafen würde.“
 

„In Ordnung,“ sagte Jasper und schien sich gegen das Unvermeidliche zu wappnen, „Und?“

Ich seufzte.

„Ich habe – dich nicht mitgerechnet – siebzehn verschiedene Männer geküsst.“

„Siebzehn?“, quiekte Jasper, „Und mit wie vielen hattest du Sex?“

„Mit… Warte… Rechnest du Blowjobs in Clubtoiletten dazu?“

Er schlug mich abermals.

„Ja!“

„Okay, okay. Dann sind es zwölf. Und mit neun von denen hatte ich außerdem richtigen Analverkehr. Zufrieden?“
 

Das war Jasper offenbar nicht. Im Gegenteil, er sah zutiefst schockiert aus.

Neun…,“ hauchte er, „Neun verschiedene Männer…,“

„Das sind eigentlich gar nicht so viele…,“ wimmerte ich, vor meinem inneren Auge stand die Zahl wie eine dechiffrierte Katastrophe, „Manche Männer haben mit viel mehr Kerlen Sex. Das ist doch nicht mal zweistellig.“

„Aber fast!“, rief Jasper, „Neun Männer! Neun! Damit steht es neun zu null für dich…,“
 

Er verstummte, senkte den Kopf und winselte. Hilflos strich ich ihm übers Haar.

„Aber das sagt doch gar nix über die Qualität der Beziehungen aus,“ bemühte ich mich, ihn zu trösten, „Manche davon waren sowas von überflüssig, ganz ehrlich. Außerdem… Außerdem bin ich drei Jahre älter als du und habe mich schon mit achtzehn geoutet. Das heißt, ich hatte viel mehr Zeit zum Rummachen. Und ich bin mir absolut sicher, dass du nicht schlecht sein wirst. Ich habe eher Schiss, dass ich deinen Erwartungen nicht gerecht werde und du dann total enttäuscht bist.“
 

Jasper hob den Blick und schaute mich an. In seinem Blick lag etwas Unheimliches, das die Haare auf meinen Armen sträubte. Langsam hob er die Hände, legte seine Arme um meinen Hals und kam mir sehr nahe – so nahe, dass mein Atem kurzzeitig ein wenig stockte.
 

„Lass uns jetzt sofort Sex haben, Tonda.“
 

Dieser Abend entwickelte sich zur reinsten Nervenprobe für mich. Bemerkenswert, wie viele Plackereien man auch ganz ohne die Einmischung von Geistern haben konnte. Zum wiederholten Male erstarrte ich sekundenlang wie vom Donner gerührt in atemloser Verwirrung. Dann kamen die Wörter zurück und mit ihnen ein nagendes Bedürfnis, das ich jetzt seit exakt zehn Tagen konsequent ignorierte.
 

„J… Jetzt?!“, stammelte ich und fragte mich gleichzeitig, ob ich bei diesem anhaltenden Völlegefühl überhaupt zum sportlichen Teil von anständigem Geschlechtsverkehr imstande sein würde.

Doch Jasper teilte meine Bedenken offenbar nicht im Geringsten. Er nickte nur, seine Augen blitzten ganz dicht vor meinen. Er schob sich noch näher an mich heran, so nah, dass kein Blatt Papier mehr zwischen uns passen würde.

„Ich will dich, Tonda,“ flüsterte er, „Ich will dich jetzt gleich.“
 

Du meine Güte. Meine Fresse. Verdammte Axt.
 

Er machte es mir wirklich nicht leicht. Aber noch hatte ich meine fünf Sinne beisammen. Ich schluckte schwer, dann packte ich meine verbliebenen Gehirnzellen, packte seine Oberarme, drückte ihn entschieden von mir fort und sah ihm streng ins Gesicht.

„Jasper? Warum zum Teufel hast du es so eilig damit?“

Er erstarrte. Wäre dies ein Anime gewesen, dann hätte ich live dabei zusehen können, wie ihm die Röte langsam vom Hals aufwärts ins Gesicht stieg. Wie bei einem Thermometer, das in einen Becher heißen Tee gehalten wurde.

„W…Was meinst du?“, fragte Jasper und versuchte ein Lachen vorzutäuschen.
 

Ich sparte mir die Antwort und zog nur eine Augenbraue hoch. Das Geräusch, das Jasper daraufhin machte, kam einem ausgewachsenen Fauchen erschreckend nahe. Er entriss sich mir so abrupt, dass ich richtig zusammenfuhr.

„Du bist… Du bist blöd!“, schimpfte er und funkelte mich abermals auf diese großmütterliche Weise an, „Warum sollte ich es wohl eilig haben? Ich steh halt auf dich! Ich finde dich sexy und – wie du vorhin noch ausgiebig betont hast – findest du mich auch sexy. Wieso also warten?“
 

Beschwichtigend hob ich die Hände.

„Jetzt komm mal wieder runter. Ich freue mich ja, dass du mich sexy findest,“ sagte ich und das tat ich wirklich ganz außerordentlich – obwohl ich das eigentlich schon wusste, seit er mir einmal mit glasigen Augen gesagt hatte, wie heiß ich wäre, als ich nass und nur mit Handtuch um die Hüften aus dem Bad gekommen war, „Aber ich gehe davon aus, dass wir uns auch in einem Monat noch sexy finden werden.“
 

„Ich habe aber keinen Monat mehr!“, schrie Jasper verzweifelt.

Mir klatschte eine wahre Lawine in den Magen.

„Was soll das heißen, du hast keinen Monat mehr?“, keuchte ich, während mich kurzzeitig eine Angst packte, die ich so noch nie gefühlt hatte. Aber Jasper winkte sofort ab.

„Ich werde nicht sterben, falls es das ist, was du jetzt denkst.“

Die plötzliche Angst wurde von einer Erleichterung ersetzt, die mich einige Herzschläge lang schier überwältigte. Ich atmete die Luft, die ich unwillkürlich angehalten hatte, seufzend aus.

„Was ist es dann?“, wollte ich weiter wissen, „Sag bloß, du willst schon wieder Schluss machen?“
 

Das wär’s ja noch – die kürzeste Beziehung aller Zeiten: zehn Minuten.
 

„Blödsinn,“ zischte Jasper und schüttelte den Kopf.

„Also warum?“

Doch statt mich endlich mit einer sinnvollen Antwort zu erfreuen, warf er sich unvermittelt der Länge nach von mir und presste das Gesicht in eins der Kissen.

„Hmpf hpf…,“ machte er.

„Wie bitte?“

Sein Gesicht tauchte wieder auf.

„Ich sagte, vergiss es! Ich will nicht darüber reden. Ich schlafe jetzt. Gute Nacht.“
 

Ein Blick zum Wecker teilte mir mit, dass es erst viertel vor zehn war. Außerdem hatten wir unser gemeinsames Zähneputzen-Ritual noch nicht vollzogen. Und eine vernünftige Antwort hatte ich auch noch nicht erhalten. Von Schlafen konnte also keine Rede sein.

Ich legte den Kopf schief und betrachtete Jaspers braunen Haarschopf im Kissen, das Stück nackte Haut am Rücken, das sein hochgerutschtes T-Shirt entblößte, und seinen Hintern, der sich verheißungsvoll unter dem Stoff seiner karierten Schlafanzughose wölbte. Ich streckte die Hand aus und ließ meinen Zeige- und Mittelfinger auf Erkundungstour gehen.
 

Wie ein Spaziergänger stapfte meine Hand seine Wade hinauf, seinen Oberschenkel entlang und über seine rechte Pobacke rüber. Bei seinem Rücken angekommen, fuhr meine Hand unter das hochgerutschte T-Shirt und streichelte über Jaspers warme Haut. Ich kitzelte ihn dort ein kleines bisschen und strich dann langsam höher, spürte seiner Wirbelsäule nach. Ich hatte fast seine Schulterblätter erreicht, als Jasper sich entschied, dass er doch noch nicht schlafen wollte. Er fuhr hoch wie eine angriffslustige Klapperschlange.

„Hör auf!“, schnappte er, „Das darfst du nicht. Mir erst einen Korb geben und mich dann wieder anmachen. Das ist echt unhöflich.“

Ich musterte sein entrüstetes Gesicht und lächelte.
 

Meine Fresse, wie gern ich ihn hatte.
 

„Sag mir, was los ist, Schätzchen…,“ sagte ich zärtlich, „Ich bin doch jetzt sein Freund.“

Jasper schniefte und winselte. Dann brach es aus ihm heraus:

„Ich habe am dreiundzwanzigsten Mai Geburtstag!“

Stumm blinzelte ich. Die Tragweite dieser Information blieb mir verborgen.

„Ja und?“

Erneut schien meine mangelnde Auffassungsgabe Jaspers Nerven zu strapazieren. Er setzte seine Was-geht-nur-in-deinem-Kopf-vor?-Miene auf.

„Dann werde ich vierundzwanzig, Tonda! Hast du schon mal was von einer vierundzwanzigjährigen Jungfrau gehört?!“
 

Jetzt war ich es, dessen Nerven arg strapaziert wurden. Ein paar Sekunden lang kämpfte ich schweigend mit meiner eigenen Was-geht-nur-in-deinem-Kopf-vor?-Miene, dann siegte mein gutes Benehmen und ich beschloss, ihn nicht auszulachen.

„Aber… Was redest du da?“, erkundigte ich mich entgeistert, „Das ist doch Schwachsinn. Jeder Mensch hat sein eigenes Tempo und man sollte–,“

„Blablabla!“, schnitt Jasper mir wütend das Wort ab, „Werd erwachsen, Tonda. Das sind doch nur Floskeln, die man den kleinen Mädchen erzählt. Ich hab jetzt lange genug gewartet. Ich will mit vierundzwanzig keine Jungfrau mehr sein. Ich will jetzt auch endlich Sex haben. Ich habe solche Lust drauf, ich will endlich wissen, wie sich das anfühlt.“
 

Herausfordernd und mit geröteten Wangen vor Erregung fixierte er mich. Als ich nichts entgegnete, fuhr er fort:

„Und ich war noch nie so nah dran. Ich meine… Jetzt, wo ich endlich einen Hengst habe.“

Verständnislos glotzte ich ihn an. Einen Moment war ich versucht, mich umzudrehen, ob hinter mir vielleicht ein Pferd stand. Als es mir endlich dämmerte, richtete ich fragend einen Daumen auf mich. Jasper gluckste belustigt und ich war erleichtert, dass damit auch die Anspannung und der Ärger aus seinem Gesicht verschwanden.

„Ja, damit bist du gemeint.“
 

Hengst. Meine Fresse aber auch.
 

„Ich habe mir dich ausgesucht,“ wisperte Jasper, als ich immer noch keine Anstalten machte, das Wort zu ergreifen, „Mir dir habe ich keine Angst davor.“

Ein wenig schief und ganz und gar liebreizend lächelte er mich an. Ich seufzte schwer.
 

Gott und ich wussten, dass ich beileibe kein Heiliger war. Mein Körper entsprach der Standartvorstellung eines sechsundzwanzigjährigen Mannes, der auf bestimmte Stimulationen entsprechend reagierte. Mein Geist war schwach, mein Fleisch war sündig und so weiter. Selbstverständlich hatte ich schon oft darüber nachgedacht. Allein im Bett, manchmal auch mit ihm neben mir, unter der Dusche und hin und wieder auch bei der Arbeit, wenn ich unbehelligt unter einem kaputten Auto lag. Ich könnte ihn jetzt einfach küssen, ihn aufs Bett drücken, ihm die Kleider vom Leib reißen und ihm ganz genau zeigen, wie es sich anfühlte, mit einem Mann zu schlafen.
 

Aber ich tat es nicht. Weiß der Geier wieso. Vielleicht, weil ich mir unser erstes gemeinsames Mal anders vorgestellt hatte. Wenn wir es endlich taten, wollte ich, dass wir es taten, weil wir beide so ungeheuer scharf aufeinander waren, dass wir gar nicht anders konnten als miteinander zu schlafen. Und nicht nur, weil uns sein verdammter Geburtstag im Nacken saß.
 

Ich seufzte erneut und streckte dann die Arme nach ihm aus.

„Komm her zu mir. Na, komm schon.“

Er wimmerte. Dann setzte er sich in Bewegung und krabbelte auf allen vieren in meine Arme. Gurrend wie ein Täubchen schmiegte er sich an mich, bettete seinen Kopf in meine Armbeuge und ich hielt ihn, wiegte ihn wie ein kleines Kind und ich strich ihm dabei sanft übers Haar. So saßen wir eine Weile, von meiner Nachttischlampe beleuchtet.
 

„Wir werden heute Nacht nicht miteinander schlafen,“ stellte Jasper irgendwann leise fest, „Oder?“

Ich schüttelte den Kopf und küsste sein Haar.

„Nein, heute Nacht nicht. Aber wenn es dir so verdammt wichtig ist, dann verspreche ich dir, dass wir es auf jeden Fall vor deinem Geburtstag tun werden. Auch wenn ich so ein Versprechen bescheuert finde.“

Jasper hob seinen Kopf und schaute mich kläglich an.

„Und was, wenn du in zwei Wochen die Nase voll von mir hast?“

„Das halte ich zwar für unwahrscheinlich, aber in diesem Fall verspreche ich, dass ich dann zum Abschied nochmal mit dir schlafen werde. Bevor ich dich dann endgültig rauswerfe.“
 

Er boxte mich, doch ich fing seine winzigen Fäustchen auf und barg sie in meinen eigenen, beträchtlich größeren Händen. Liebevoll drückte ich meine Lippen auf seine Fingerknöchel.
 

„Hör zu,“ begann ich, „Ich bin dagegen, dass wir aus Zeitdruck den ganzen Weg auf einmal gehen. Aber wenn du das Tempo anziehen willst – ja, gerne. Da bin ich sogar unbedingt dafür. Du willst mich nackt sehen? Nichts leichter als das, ich habe nix zu verbergen. Du willst rummachen bis der Arzt kommt? Kein Thema, ich habe den Notruf in der Kurzwahl.“

Jasper prustete gegen unsere verschlungenen Hände und einige Augenblicke lachten wir leise über meinen lahmen Witz.

„Du meinst wohl bis der nächste Geist kommt.“

„Hast Recht, das ist viel wahrscheinlicher. Was ich meine, ist, dass wir uns nicht stressen sollten. Dann wird’s bestimmt nur halb so gut, wie es sein könnte, wenn wir uns einfach ein wenig mehr Zeit geben.“
 

„Bis zum dreiundzwanzigsten Mai.“

„Ja, bis zum dreiundzwanzigsten Mai. In Ordnung?“

Jasper seufzte ergeben. Und nickte.

„Ja. In Ordnung.“

Ich nickte ebenfalls. Und grinste.

„Alles halb so wild. Ich meine, jetzt…wo du einen Hengst hast…,“



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Kommentare zu dieser Fanfic (18)
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Von:  Deedochan
2014-05-15T08:11:33+00:00 15.05.2014 10:11
"Du meine Güte. Meine Fresse. Verdammte Axt." :D hihi.
Das hab ich vermisst. Danke für das süße Kapitel.

Als das Gespräch auf M(K)arius kam, hab ich echt die Augen verdreht. Das ist so das typische, unreife "ich bin eifersüchtig auf deinen EX Gehabe", das eigentlich keiner leiden kann, obwohl in allen von uns diese Eifersucht steckt XD
Und... Jasper ist wirklich noch unreif, was aber irgendwie total niedlich ist :P

Danke noch mal :D Hat mir den stürmischen, kalten, verregneten Grindstag verschönert :D

glg
Bussis
Deedo
Von: abgemeldet
2014-05-14T07:15:19+00:00 14.05.2014 09:15
Ahh, die beiden sind so, so süß ^^ Einfach richtig lieb. Das wärmt einem das Herz :) Ihre Unterhaltungen sind so...na ja, unterhaltsam XD Und genial.

Hmm, irgendwo verstehe ich Jasper ja, aber ich finde es auch echt schade. Also, dieser Druck, keine Jungfrau mehr zu sein. Und wenn man es dann macht passt es auch niemanden XD Es ist so verkorkst. Eigentlich sollte einem das alles egal sein und man sollte nur nach sich gehen, aber das kann halt manchmal schwer sein ^^ Ich finde es jedoch super, dass Tonda es nicht gemacht hat.

Unter einem Auto O____O Bei der Arbeit. Das ist ja mal ein...interessanter Platz dafür XD

"Er fuhr hoch wie eine angriffslustige Klapperschlange."
Diesen Satz mochte ich am liebsten XD Wobei ich sie alle mochte ^^ Du schaffst es immer, einfach die passendsten Worte zu finden! Es ist immer echt schön zu lesen :)

Alles Liebe!
Von:  Deedochan
2013-12-09T17:02:23+00:00 09.12.2013 18:02
JIPI :D Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich gerade bin. 1. hast du wirklich über die beiden geschrieben und 2. ist es SOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO unglaublich lustig und süß und und und geworden :D 3. sollte ich gerade lernen und konnte es nicht über mich bringen, bis zum WE zu warten, um die Story zu lesen.
Dankeschön - ich fühle mich furchtbarst geehrt
außerdem: Es freut mich, dass bei den anderen beiden Kommentatoren das Pairing auch so gut angekommen ist bzw. sie sich auch so freuen, über die 2 zu lesen.
:D Btw: Ich muss mich Ur's Kommentar voll und ganz anschließen. Ich habe so sehr gelacht bei dem Absatz über seinen "neu entdeckten Penis", dass mein Freund mich gefragt hat, ob bei mir "eh alles in Ordnung ist"? XD
Danke, danke, danke! Fühl dich geknufft, geknuddelt und geknutscht

Bussls,
Deedo

P.S.: Gibt es diesen "hässlichen" Teddy wirklich zu kaufen (ICH! MUSS! IHN! HABEN!) oder ist er (leider) nur deiner Fantasie entsprungen? ^.~
Von:  Ur
2013-12-09T05:46:36+00:00 09.12.2013 06:46
> Für Romantik hatte er kein Verständnis. Zu der Zeit entdeckte er gerade seinen Penis neu für sich und wollte ihn eigentlich gerne alle halbe Stunde benutzen. Dafür hatte freilich sie kein Verständnis. Zwei Wochen nach dieser Auseinandersetzung war ihre große Liebe Geschichte.

Ich lache jetzt seit gut drei Minuten über diesen kleinen Absatz und möchte eigentlich gern weiterlesen, aber meine Augen tränen :'D

> Bestimmt waren sie alle verknallt in ihn, wenn sie das Geschäft verließen.

Ein sehr schöner Satz! Und so wahr! Ich wäre auch in Vukan verknallt, wenn ich einen Tag da mit ihm drin gesteckt hätte! *^*

> „Diese Kuckucksuhr... Es betrübt mich, dies sagen zu müssen, aber sie ist ganz außergewöhnlich scheußlich.“

Ich fürchte, ich kann keine konstruktiven Dinge sagen, außer, dass jeder Satz mein Lieblingssatz ist und ich die beiden drücken und dann zum Sex unter die Dusche schicken will *schmacht* (Ich musste total an Peters verstellte Stimme bei 'Nicht die Bilder!' denken, als ich diesen Satz gelesen hab xD)

> „Komm schon. Ich kauf dir morgen einen Amerikaner beim Bäcker.“

AHHH, DIE LIEBE! Es macht mich so zufrieden *^*

> Er war lila und billig und hatte eine pinke Nase. Um seinen Hals trug er eine gepunktete Schleife.

Es ist einer dieser nutzlosen Kommentare, wo ich einfach nur mit jedem Wort deine Zeit mit Quietschen verschwende, aber meine Fresse, dieser hässliche Teddy ist wahrscheinlich mit Abstand das romantischste, was ich seit langem 'gesehen' habe!

Ich bin durch und eine Pfütze aus plüschiger Liebe und Einhornglitzer. TAUSEND LIEBE FÜR DIE BEIDEN! Und für dich natürlich. Dich liebe ich am allermeisten! Danke fürs Lesevergnügen, das versüßt mir die Schlafstörungen sehr <3


Von:  Arisa_abukara
2013-12-08T22:36:49+00:00 08.12.2013 23:36
NYHAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA!!!!!! QAQ
OMG is das NIEDLICH!!!!
ich lieg hier und tu nichts ahnend mit meinem Handy spielen und dann krieg ik ne Nachricht das du n' neues Kapitel hast!!!
Ich hab mir auf dir Lippen gebissen um net vor freude zu quietschen!! Q/////////Q
Die Story alleine war schon niedlich! Und jetzt noch dieses Extra...ich krieg nen herzkollaps! x////////x
Ich liebe deine Schreibweise! Ich musste die ganze Zeit über nur grinsen und hab sogar Tränen in den Augen gehabt!
Ouw ich liebe die zwei nur ♥♥♥
Was laber ich da! Ich liebe i-wie alle deine charas!! ♥♥♥♥♥♥
Isch lübe disch qwq

Schreib bitte weiterhin so wundervolle Kapitel!
*liebe grüße und liebe und bewunderung dalass*
Oh gott ich sollte aufhören zu schleimen...aber das ist alles die wahrheit!!! *//////////*
Von:  Deedochan
2013-04-25T11:08:40+00:00 25.04.2013 13:08
Haha :D Ich fühle mich mit der Frau am Tresen sehr verbunden ^.~ Als wäre ich sie und hätte die Szene durch ihre Augen mitbekommen. Super :D Meine Lieblingsstelle: "DIE MILCH! Schäum die Milch, du erbärmliche Kakerlake. Los doch!" Ich bin fast vom Schreibtischsessel gefallen vor lauter Gekicher :P
Von:  Alucia
2013-04-18T03:34:32+00:00 18.04.2013 05:34
Das war echt traurig schön.
Ich finde es perfekt gelungen.

Von:  Arisa_abukara
2012-11-01T21:19:41+00:00 01.11.2012 22:19
*A*
ich weiß nicht was ich schreiben soll..
bei dir gehn mir IMMER die argumente aus!! >_<
okii, ich versuchs trotudem .A.

also sehr süße geschichte (<- toller anfang ich weiß :'D)
diese zwei verschiedenen welten, da geht eine familie auseinander und da die heile kleine welt einer perfekten familie <3
und der name...momo...göttlich!! ich dacht erst ich hab mich verlesen! XD
da musste ich jetzt die ganze zeit über an momo aus avatar denken *A*
wär jetzt noch wer gekommen der hieß appa...ich hät dich abgeknutscht!! xDD

ein nachwuchs zu bekommen ist echt eas tolles! (eigene erfahrung)
aber die werden sich noch beklagen wenn der kleine/die kleine da is 8D

momo ist fair, er gönnt ihnen wirklich das familien sein, aich wenn seine so "kaputt" ist :)
das macht einen richtigen freund aus, zwar is er traurig aber er bleibt realistisch (zwar auch pessimistisch aber egal xD)
ich wünsch den zwei süßen in meiner fantasie noch viel spaß...höhö (<- das war auch zu geil xDD)

lg~ (~=w=)~
Von:  Arisa_abukara
2012-11-01T19:54:02+00:00 01.11.2012 20:54
OH MEIN GOTT!!
WIESO HAB ICH DIESES FF NICHT FRÜHER GESEHEN??! Oo
...
*räusper*
doofe tastatur einstellung xDD

aaalso~
boah ich freu mich grad so riesig das ich mir meine alten GB einträge angeguckt hab x3
ich bin sofort wiedrr her gekommen und was seh ich??
ein neues FF von dir!! *-*

echt toller schreibstiel, ich find den genial, bei mir klappt der nicht xD
deine beschreibungen/vergleiche sind auch hammer
schockflocken!! ich wär fast dahin geschmolzen, ich liebe schokolade <3

Emilio ist ja ein ganz putuiger, so süß und dann das auch noch mit den aktbildern, zu gail xDD
als er seinen fehler erwähnte, dachte ich erst was unanständiges, sowas wie halt...nee das sag ich jetzt nicht, sonst denkste ich bin übelst pervers! x"D

ganz ehrlich? bei dir kann ich immer nur was gutes bis sehr gutes schreiben!
hach~ bin einfach ein zu großer fan~ <3
ich schleim zwar übelst aber das mir egal, ich steh voll auf deine FFs <3 <3 <3 <3

ganz dolle grüße und mach weiter so!! :*
Von:  Kaoru
2012-07-21T19:05:13+00:00 21.07.2012 21:05
Boah, da bekommt man ja Zahnweh. Ist das knuffig *.* Armer Emilio, ich kann ihn gut verstehen... da hat er endlich einen Draht zu Jonas und dann hat er solche Angst davor, etwas falsch zu machen, dass er nur Blödsinn anstellt. Die Giraffensammlung geht ja noch (süße Idee im Übrigen - wie kommt man auf so etwas?), aber dass mit den Aktzeichnungen ist schon... peinlich?! Arber Jonas hat schon recht - das macht ihn auch natürlich und liebenswert. Und Überraschung! Nicht zuletzt deswegen wird es auch nicht beim Tiramisu-Naschen bleiben, zumindest nicht ewig^^

Und Sherlock *.* Hach ja... Hoffen wir mal, dass sie überhaupt etwas von der Serie (wie ich hoffe) mitbekommen werden^.~

Ur hatte absolut Recht - die OS-Sammlung war überfällig und es kann ruhig noch mehr kapitel mit den beiden geben, ihr erster Kuss würde mich interessieren. Hat Emilio einen Herzinfarkt erlitten? Stell ich mir sehr niedlich vor^^

Bis zur nächsten~


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