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The 31st Hunger Games - Boys Only

von

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Die Ernte

Die Landschaft fegte an den Zugfenstern vorbei wie ein bizarrer Brei aus Ölfarben. Die Sonne stand tief und läutete das Ende dieses Tages ein. Des Tages, an dem vierundzwanzig Familien ihre Kinder verloren hatten, dreiundzwanzig für immer. Bei den Meisten war die Realisation dieser Tatsache wahrscheinlich noch gar nicht vollkommen angekommen, aber spätestens die Kanonenschüsse in wenigen Tagen würden die grausame Gewissheit bringen.

Aber das alles, die Ölfarben außerhalb des Zuges, die trauernden Familien und die anderen Tribute, die wohl gerade versuchten, nicht in dieses Loch aus stummer Verzweiflung gezogen zu werden, das alles interessierte ihn im Moment einfach nicht. Nicht ihn, einen blassen Jungen mit langen, weißen Haaren, die sich am Ende leicht kräuselten, und Augen so rot wie das Blut, das er zweifelsohne in den nächsten Tagen vergießen würde. Stattdessen gingen in seinem Kopf andere Dinge vor sich, er hatte keine Familie zuhause, an die er mit zugeschnürter Kehle denken konnte, keine Freunde, niemandem, bei dem er einen Funken Traurigkeit verspürt hätte, ihn zurückzulassen. In der Stunde nach der Ernte, in der sich die Lieben der Tribute von ihnen verabschieden sollten, hatte er ganz allein da gesessen, auf der weichen, mit Samt überzogenen Couch. Aber etwas Anderes hatte er auch nicht erwartet. Und trotzdem kreisten seine Gedanken um die verschlossene Tür in dem Raum und wie er sich bis zuletzt an die kindische Hoffnung geklammert hatte, dass irgendjemand zu ihm kommen würde, um sich von ihm zu verabschieden. Aber es war niemand gekommen.
 

Vielleicht, dachte er träge, wenn er die Spiele gewinnen könnte und nach Hause zurückkehrte, vielleicht könnte er dann jemanden finden, der die Tür für ihn öffnen würde. Vielleicht… das leise Surren der sich automatisch öffnenden und schließenden Abteiltür riss ihn aus seinen Gedanken, sein Blick fiel sofort wachsam auf die große, breitschultrige Gestalt. Er kannte den Mann gut. Er war oft im Ausbildungszentrum gewesen um den Fortschritt der Tributsanwärter zu protokollieren. Und natürlich kannte er ihn, weil er vor fünf Jahren die Spiele für ihren Distrikt gewonnen hatte. Sein Name war Haleg, er war der Mentor von Distrikt 4.

Aus irgendeinem Grund schien es Haleg schwer zu fallen, seinen Blick für einen längeren Zeitraum auf die beiden Tribute vor ihm zu richten. Er verbarg sein Gesicht lieber hinter einem Klemmbrett, auf dem höchstwahrscheinlich Notizen zu beiden standen.
 

„Feenien Blakemore“, sagte er schließlich leise und sein Blick schoss nur für einen kurzen Augenblick hinter dem Klemmbrett hervor auf den Jungen mit den langen, weißen Haaren und blutroten Augen.

„16 Jahre, keine Familie, Trainingsergebnisse überdurchschnittlich“, er nickte kurz, was wohl seine Form der Begrüßung war. Feenien erwiderte die Begrüßung nicht, aber sein Blick verdüsterte sich etwas. Er musste sich Mühe geben, das Bild der verschlossenen Tür nicht mehr in sein Bewusstsein vordringen zu lassen.
 

„Heb dir diesen Blick für die Arena auf, Fee“, ertönte eine belustigte Stimme direkt neben ihm und er konnte hören, wie sich ein kleines Lachen aus der Kehle ihres Besitzers lösen wollte. Sein Blick flog zur Seite und durchbohrte den Jungen neben sich, seinen Partnertribut, regelrecht, sodass das Lachen schließlich in einem trockenen Husten endete. Es gab nicht viele, die den Mut aufbrachten, ihn bei diesem degradierenden Spitznamen zu nennen. Dafür hatte er gesorgt.
 

„Achja, und du bist…“, Haleg blätterte eine Seite auf seinem Klemmbrett um: „Jacky Lewis, 17 Jahre. Vater und zwei kleine Brüder, Trainingsergebnisse überdurchschnittlich“, beendete er seinen Report. Dass er hier zwei ausgezeichnet ausgebildete Kämpfer vor sich sitzen hatte, schien ihn nicht weiter zu überraschen. Distrikt 4 sorgte schon dafür, dass bei der Ernte kein Kind gezogen wurde, dessen Trainingsergebnisse nicht überdurchschnittlich waren. Schließlich galt es einen Ruf zu wahren.

„Freut mich“, grinste Jacky und Haleg verbarg seinen Blick schnell wieder hinter seinen Aufzeichnungen. Er schien ein wenig überfordert von der Situation. Nun, als Mentor war er in den letzten Jahren auch nicht sehr erfolgreich gewesen. Nicht einer der Tribute von Distrikt 4 hatte es in den vier Jahren unter die letzten Fünf geschafft.
 

„Nun, ähm… wir sollten uns die Aufzeichnung der Ernten ansehen. Damit ihr wisst, mit wem ihr es zu tun bekommt“, brachte der breitschultrige Mann schließlich etwas gehetzt hervor und beeilte sich, den Fernseher an der gegenüberliegenden Wand einzuschalten.

Fee machte sich nicht die Mühe, ein relativ genervtes Augenrollen zu verbergen. Ihr Mentor sollte ruhig wissen, was er von seiner Unfähigkeit hielt. Sich die Ernten der anderen Distrikte anzusehen, stand auch nicht gerade auf der Liste der Dinge, die er in seinen vielleicht letzten Stunden tun wollte. Er legte keinen großen Wert darauf, die ganzen Jungen zu sehen, die dieses Jahr zum Tode verurteilt worden waren. Nicht etwa, weil er Angst hatte, dass es dadurch schwerer würde, sie umzubringen. Sondern viel mehr, weil es ihn wirklich schlichtweg nicht interessierte.
 

Mit müdem, gelangweiltem Blick starrte er auf den Fernseher, wo das Bild des Präsidenten von Panem erschien. Die schlangenartigen Gesichtszüge, sein unverwechselbares Charakteristikum, waren zu einem unheilvollen Lächeln verzogen. Es war kaum zu übersehen, wie sehr er diese „Feierlichkeiten“ jedes Jahr wieder genoss, denn sie demonstrierten seine Macht. Seine unumstößliche Macht über die Bewohner des Landes. Fee konnte ihn nicht leiden. Und das lag nicht einmal daran, dass Präsident Snow jedes Jahr mit so viel Elan die Spiele einläutete.
 

Der Präsident räusperte sich kurz, sein Blick schweifte über die versammelten Bürger des Kapitols zu seinen Füßen. Anstelle der Bürgermeister in jedem Distrikt, übernahm Snow die feierliche Ansprache. Er rezitierte die kurze und dunkle Geschichte Panems, wie sich das Land aus einem Trümmerhaufen erhoben hatte. Wie es gelungen war, eine Revolution abzuwenden und wie deswegen die Hungerspiele eingeführt worden waren. Alles zum Wohle Panems, und dieses ganze Geseier. Er ließ es beinahe so klingen, als machte er Werbung für Waschmittel. Die Hungerspiele – sie reinigen auch Ihr Volk garantiert von jedem aufständischen Gedankengut.

Anders als in den Distrikten konnte man hören, wie ob der Worte des Präsidenten aufgeregter Jubel und Beifall aufbrandete. Die Bewohner des Kapitols waren ganz verrückt nach den Spielen. Wahrscheinlich waren sie die einzigen Menschen ganz Panems, die man nicht dazu zwingen musste, diese Grausamkeit zu verfolgen.

Nachdem er einige Minuten in der Aufmerksamkeit des Publikums gebadet hatte, erhob Präsident Snow erneut die Stimme, um die kleine Besonderheit anzukündigen, die diese Spiele erstmals von allen anderen unterscheiden sollte.
 

„Aufgrund eines Ungleichgewichts zwischen dem weiblichen und männlichen Teil der Bevölkerung der Distrikte haben wir uns dieses Jahr dazu entschlossen, ausschließlich männliche Tribute um den Sieg kämpfen zu lassen. Schließlich liegt uns das Wohl und die Zukunft Panems sehr am Herzen“, endete Snow schließlich mit einem überlegenen Lächeln auf seinen Schlangenlippen, bevor das Bild zu Distrikt 1 wechselte, um die ersten Ergebnisse der Ernte zu präsentieren.
 

Fee bemühte sich, wenigstens den Tributen der ersten beiden Distrikte seine Aufmerksamkeit zu schenken, weil er unweigerlich mit ihnen zusammenarbeiten würde. Das war sozusagen eine Art Tradition. Die Tribute aus den Karrieredistrikten schlossen sich zusammen, um die übrigen, zumeist viel schwächlicheren Tribute auszurotten, bevor sie sich dann gegenseitig meuchelten. Fee war das nur recht. So konnte er sich am Ende wenigstens die Suche nach ihnen sparen.
 

Distrikt 1 stellte Luxuswaren her. Als der reichste Distrikt unter den Zwölf war es ihm ein Leichtes, auch seine Tribute angemessen auf die Spiele vorzubereiten. Zuerst wurde ein Junge mit dunkelgrünem Haar und einem gutmütigen Lächeln gezogen. Er sah nicht gerade wie ein Kämpfer aus, aber der Schein trog leider viel zu oft, gerade was die Spiele anging. Dennoch entsprach das zweite Tribut schon eher der Vorstellung eines erbarmungslosen Mörders: er war groß und kräftig gebaut, hatte silbergraue Haare und, was vielleicht neben seinem siegessicheren Grinsen am Auffälligsten war, ein ungleiches Paar Augen. Das linke Auge war grau, das rechte rot. Fee überlegte unweigerlich, ob es sich dabei um eine kostspielige Mutation handelte, und ob dieser Junge genetisch so verändert worden war, dass er einen klaren Vorteil in der Arena hatte. So etwas war zwar verboten, aber eigentlich war es auch verboten, Tribute für die Spiele auszubilden. Wenn sich also daran keiner hielt, war es vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich.
 

Der erste Name, der in Distrikt 2 gezogen wurde, gehörte zu einem kleinen, schwächlichen Jungen mit tiefschwarzen Haaren. Er zitterte, als er die Stufen der Bühne heraufgeschoben wurde und sofort sammelten sich Tränen in seinen Augen. Ein Raunen ging durch die Menge, als sich daraufhin ein deutlich älterer Junge mit ebenso tiefschwarzem Haar freiwillig meldete, um den Platz des Jüngeren einzunehmen. Es stellte sich heraus, dass sein Name Nathanael war und dass er soeben anstelle seines kleinen Bruders den Weg zum Schafott gewählt hatte. Die Kamera schwenkte auf die Familie des Tributs, eine ältere Frau, umringt von so vielen Kindern, wie man es sich nur in einem Karrieredistrikt erlauben durfte. Sie weinten und hielten sich ganz fest, aber Nathanaels Miene blieb ruhig und neutral.

Dar zweite Tribut des Distrikts hatte ebenfalls dunkelgrüne Haare, aber im Gegensatz zu dem Tribut aus 1 traute man diesem doch durchaus zu, vielleicht schon das ein oder andere Leben auf dem Gewissen zu haben. Also wenigstens zwei halbwegs brauchbare Verbündete, dachte Fee.
 

Die beiden Tribute aus Distrikt 3 waren keine Kämpfer, und noch weniger Mörder. Sie waren zierlich, schwach und unterernährt, so wie der Großteil der restlichen Tribute auch. Wahrscheinlich hätten sie schon Glück, wenn sie den ersten Tag der Spiele überlebten.
 

Dann war Distrikt 4 an der Reihe. Zuerst wurde Jackys Name gezogen und die Kamera fokussierte auf einen Jungen mit kurzen, weißen Haaren, die an den Spitzen blau gefärbt waren. Ein breites Grinsen lag auf seinen Lippen, aber wenn man ihn näher kannte, sah man, dass es nicht echt war. Jacky wandte sich kurz zu seinen Freunden um, erntete einige High-Fives und Schulterklopfer, bevor er schwungvoll auf die Bühne kletterte. Er wusste genau, dass seine Chancen nicht schlecht standen, aber er wusste ebenso, dass das trotzdem noch lange nicht bedeutete, dass er in etwas anderem als einem Sarg zurückkehren würde.
 

Als nächstes wurde Fees Name gezogen und sofort wurden Anfeuerungsrufe laut, auch wenn sich niemand traute, ihm direkt Glück zu wünschen, wie sie es bei Jacky getan hatten. Obwohl Fee weder Freunde noch Familie hatte, sich nicht um Andere kümmerte und am liebsten allein gelassen werden wollte, hatten die Bewohner von Distrikt 4 doch über die Jahre hinweg Notiz von ihm genommen. Das lag natürlich nicht zu letzt an der Tatsache, dass seine Leistungen in der Ausbildungsanstalt kein Geheimnis waren. Aber es lag vor allem auch an seinem Äußeren. Die Worte „schön“ oder „hübsch“ waren viel zu banal um diesen Jungen zu beschreiben. Und Fee wusste um seine Wirkung auf sein Umfeld. Er hatte seinen naturgegebenen Vorteil allerdings nie bewusst ausgenutzt, aber vielleicht war mit den Spielen der richtige Zeitpunkt gekommen, um damit anzufangen. Zumindest war es wahrscheinlich genau das, was sein Mentor ihm in den nächsten Tagen eintrichtern würde. „Es wäre so einfach, sie alle um den Finger zu wickeln“, konnte er ihn beinahe sagen hören. Schließlich wäre Haleg auch nicht der Erste, der ihm etwas Derartiges vorgeschlagen hätte. Aber diese Art von Zwischenmenschlichkeiten war einfach nicht Fees Stärke. Um nicht zu sagen, dass er meisten vollkommen versagte, was die Interaktion mit Anderen anging. Sobald es über handfeste Auseinandersetzungen, Prügeleien und verachtende Blicke hinausging, war er relativ aufgeschmissen. Das war auch einer der Gründe, warum Fee seine Zeit lieber allein verstreichen ließ. Es war so viel einfacher. Wieder schob sich die verschlossene Tür vor sein inneres Auge.
 

Fee schüttelte einmal ganz leicht nur den Kopf, um den Gedanken loszuwerden, während er sich selber dabei beobachtete, wie er die Stufen der Bühne erklomm. Sein Gesicht war eine kalte Maske, einzig der leichte, immer präsente Hauch von Überlegenheit war in seinen Augen erkennbar. Alles andere, was er in diesem Moment gefühlt hatte, hatte er tief in seinem Inneren versteckt. Natürlich hatte sich niemand freiwillig gemeldet, um seinen Platz einzunehmen. Realistisch betrachtet gab es im gesamten Distrikt 4 nur eine Handvoll Leute, die ihm das Wasser reichen konnten. Aber wenigstens die wussten, dass selbst alles überragende Fähigkeiten nicht stärker waren als die Spielmacher.
 

Die Ernten der restlichen Distrikte brachten nur wenige erwähnenswerte Tribute hervor.

Da war ein seltsam katzenartiger Junge aus Distrikt 6, der sich einen Spaß daraus machte, sein Leben aufs Spiel zu setzen, indem er sich über die Autoritäten lustig machte. Wahrscheinlich dachte er sich, dass er ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte. Und das stimmte wohl auch.

Distrikt 7 schickte zur Abwechslung mal einen Tribut in die Arena, welches vielleicht nicht die schlechtesten Chancen hatte: groß, durchtrainiert, gut gebaut und einige Narben an Armen und im Gesicht zeugten von einer belebten Vergangenheit. Dafür schien sein Partnertribut, ein schmalerer Junge mit hellblonden Haaren kaum bemerkenswert, wenn auch ungleich netter anzuschauen.

Dann war da noch ein Tribut aus Distrikt 12, das man wohl besser nicht unterschätzen sollte. Jedenfalls schien sich der Junge nicht viel aus seinem eigenen Leben zu machen und das war meist eine gefährliche Eigenschaft in der Arena.
 

Aber keiner der übrigen Tribute konnte wirklich Fees Interesse erwecken. Bis auf einen.
 

„Fawkes Waters“, las der zweite Zettel, den der Kommentator von Distrikt 8 aus der großen Kugel fischte.
 

Fawkes, ein rothaariger, älterer Junge. Er sah nicht besonders gefährlich aus, nicht, als hätte er in seinem Leben schon einmal übermäßige Gewalt anwenden müssen – oder erfahren. Er sah auch nicht so aus, als wollte er einschüchternd oder besonders siegessicher wirken. Er war einfach nur da. So wie er war, unverfälscht. Und gerade das war es. Die Fähigkeit, sich nicht zu verändern, sobald die Kameras und Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet waren. Nicht irgendeine Mauer oder Wand vor sich hochzuziehen, um sich vor was auch immer zu schützen. Gerade das war der Grund, warum Fee seinen Blick nicht von ihm nehmen konnte. Er sah genau, wie der Rothaarige zögerte, bevor er mit wackeligen Schritten die Treppe hochstieg. Und er sah auch genau, wie die Angst in seinen Augen aufblitzte, wie sein Blick zerstört zu seiner Familie glitt und dort Halt suchte, den sie ihm nicht geben konnte.
 

Schon jetzt konnte Fee ihn lesen wie ein Buch.

Kapitel 2 - One Way Ticket

Fees Gedanken kreisten noch eine lange Zeit weiter um den rothaarigen Jungen aus Distrikt 8. Nur mit halbem Ohr hörte er den Belanglosigkeiten seines Mentors zu. Dass sie sich so früh wie möglich mit den übrigen Karrieros zusammentun sollten und dass sie möglichst am ersten Trainingstag eventuelle weitere Verbündete aussieben sollten.

Haleg schien sehr viel Wert auf eine gute Defensive zu legen. Nun ja, es war ja auch offensichtlich nicht nötig, ihnen irgendwelche Tipps zu geben, was das Töten anging. Darin waren sie schließlich geübt. Im Ausbildungszentrum war es zwar nicht erlaubt gewesen, an noch lebenden Menschen zu trainieren, aber man hatte ihnen doch eine relativ realistische Ahnung vermitteln können. Die Grenzen zwischen ‚noch lebend‘ und ‚tot‘ waren in Distrikt 4 ohnehin fließend.
 

Fees Blick wanderte wieder aus dem Fenster, auch wenn man bei der zunehmenden Dunkelheit und der Geschwindigkeit, mit der sie sich fortbewegten, nur wenig erkennen konnte. Er hatte zwar von Anfang an verhindern wollen, auch nur den kleinsten Gedanken an irgendwelche anderen Tribute zu verschwenden, dennoch gab es da einen, der sich nicht an diese Abmachung halten wollte und sich einfach immer wieder durch den trüben Nebel nach vorne kämpfte. Fee fragte sich, ob der Junge aus Distrikt 8 ebenfalls über irgendwelche Fähigkeiten verfügte, die ihm in der Arena helfen konnten. Aber dann erinnerte er sich an dessen Reaktion und Fee war sich ziemlich sicher, dass er wahrscheinlich nicht einmal das anfängliche Gemetzel überleben würde. Irgendetwas störte ihn sehr an diesem Gedanken.
 

Das unangenehme Pieken eines Fingers an seiner Schulter unterbrach seinen Gedankengang und ließ ihn leicht zusammenfahren. Nur den Bruchteil einer Sekunde später hatte Fee die Hand des Störenfrieds gepackt und sein Kopf war wütend zu ihm herumgeruckt.

Jackys allgegenwärtiges Grinsen flackerte leicht, als ihn dieser düstere Blick schon zum zweiten Mal an diesem Tag traf, zumal sich seine Finger gerade anfühlten, als wären sie unter eine Dampfwalze geraten.

„Mann, beruhig dich mal. Es gibt Essen, okay?“, brachte er schließlich gezwungen locker hervor, aber im Nachhinein wünschte er sich, er hätte diesen sozial inkompetenten Jungen einfach auf der Couch versauern lassen. Immerhin hatte dieser seit geraumer Zeit jegliche Konversationsversuche von ihm und Haleg ignoriert. Aber in diesem Moment musste sich Jacky wundern, ob er diese überhaupt mitbekommen hatte, so wie er gerade reagiert hatte.
 

„Lass mich in Ruhe, wenn du nicht willst, dass ich dir das nächste Mal die Finger breche“, zischte Fee ungehalten zurück, bevor er Jackys Hand von sich stieß und sich mit verschränkten Armen wieder dem Fenster zuwandte. Er hörte den anderen Jungen noch ein „Kleiner Irrer“ murmeln, bevor er zu seinem Glück endlich verschwand.

Sie sollten ihn einfach alle in Ruhe lassen, das hatte vorher immerhin auch am besten funktioniert. Fee ließ seine Stirn gegen das Fensterglas sinken, aber die erhoffte Kühle blieb aus. Beheiztes Hightech-Glas. Ein Seufzen kämpfte sich aus der Kehle des Weißhaarigen hervor, aber er ließ es nicht nach außen dringen. Die bevorstehenden Spiele machten ihm mehr zu schaffen, als er sich selbst eingestehen wollte.
 

Zwei Stunden später trieb Fee das flaue Gefühl in seinem Magen doch in den Speisewagon. Er wusste nicht genau, ob es wirklich Hunger war und ob er das Gefühl einfach wegessen konnte, aber in Anbetracht der Tatsachen war es wenigstens einen Versuch wert. Schließlich konnte er sich halbdurchwachte Nächte erst wieder leisten, wenn er die Spiele gewonnen hatte.

Der Esstisch war bereits verlassen, aber eine Mahlzeit stand noch da, von einer gläsernen Haube verdeckt.

Fee schob es auf den Gedankenwirrwarr in seinem Kopf, dass er den kleinen Avox-Jungen erst bemerkte, als dieser eine leichte Verbeugung andeutete. Der Weißhaarige ließ seinen Blick kurz über die zierliche Gestalt gleiten. Blauschwarze Haare, eine fast geisterhaft blasse Haut und so tief blaue Augen, dass Fee unweigerlich dachte, dass dieser Junge wahrscheinlich niemals Worte gebraucht hatte, um zu kommunizieren. Auf seinen Lippen lag ein wohlwollendes Lächeln, als er den Stuhl für Fee zurückzog.

Forschend suchte Fee in den Augen des Kleineren nach einem Zeichen für Spott oder Mitleid. Immerhin musste der Avox ja wissen, dass seine Stunden so gut wie gezählt waren. Aber er fand nichts in diesen blauen Seen, außer entwaffnendem Verständnis. Fee setzte sich langsam auf den Stuhl und beobachtete, wie der Avox-Junge die Haube von dem Essen entfernte, sich abermals kurz verbeugte und dann ein paar Schritte respektvollen Abstand einnahm. Dass allen Tributen ein persönlicher Avox zu freien Verfügung zugewiesen wurde, davon hatte er schon gehört. Aber es war ein wirklich beklemmendes Gefühl, diesen Menschen neben sich zu haben und zu wissen, dass er jeden Befehl zu befolgen hatte, wenn er sein Leben behalten wollte. Fee wusste nicht, ob er so ein Leben aushalten könnte. Wahrscheinlich hätte er längst absichtlich irgendetwas getan, was in seiner sicheren Exekution geendet hätte. Wie zum Beispiel einen Löffel fallen lassen.
 

Die Farbe der Augen des Avox-Jungen erinnerte Fee an Saphire, und weil es ihm zuwider war, diesen in seinem Kopf immer Avox-Junge zu nennen, beschloss er, ihn stattdessen Saphirjunge zu nennen. Natürlich hatte er nicht vor, das jemals laut auszusprechen. Aber irgendwie beruhigte es ihn, für dieses namenlose Wesen einen Namen gefunden zu haben. Hätte der Saphirjunge seinen neuen Namen gekannt, hätte er sich vielleicht auch ein wenig darüber gefreut.
 

Im Nachhinein war Fee dem Saphirjungen dankbar dafür, dass er seine Gedanken zumindest für die Dauer des Abendessens in eine andere Richtung gelenkt hatte. Natürlich waren diese Gedanken nicht sehr viel weniger trübe gewesen, als die an seine eigene Zukunft, aber zumindest hatten sie ihn nicht mit einer solchen Dringlichkeit überschwemmt.

Aber zurück in der kompletten Stille seines Zimmers und eingehüllt in die samtweiche Bettdecke, holten sie ihn wieder ein. Das flaue Gefühl war auch zurückgekehrt und um einiges stärker geworden. Fee starrte in die Dunkelheit über sich und versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass ihm das alles hier egal war. Dass es ihm nichts ausmachte und dass es nur eine weitere Hürde in seinem Leben war. Eine ziemlich große Hürde. Aber entweder, er würde den Sprung darüber schaffen, oder eben nicht. Und dann müsste er sich um die Konsequenzen ohnehin keine Gedanken mehr machen.
 

Irgendwann in den frühen Morgenstunden war Fee endlich in einen wenig erholsamen, leichten Schlaf abgedriftet. Nur um gefühlte fünf Minuten später von einem leisen Klopfen an seiner Zimmertür wieder geweckt zu werden. Natürlich reagierte er nicht. Einmal, weil er aus Prinzip nicht einfach so reagierte, aber auch, weil er sich nicht erinnern konnte, ob es schon jemals einen Morgen in seinem Leben gegeben hatte, an dem er sich derart miserabel gefühlt hatte. Alle Gedanken, die er am vorherigen Tag versucht hatte, zu verdrängen, waren in seinem kurzen Schlaf langsam in die vordersten Reihen seines Bewusstseins gekrochen und klebten da jetzt als eine dichte, unbegreifliche Masse. Sein Kopf pochte unangenehm, seine Gelenke fühlten sich steif an und mit einem leisen Murren registrierte er, wie seine Finger zitterten, als er sich damit die Decke über sein Gesicht zog, um die Außenwelt noch ein paar Stunden länger auszusperren.

Aber die Außenwelt, oder besser gesagt sein Betreuer, wollte da nicht mitspielen. Nachdem auf erneutes Klopfen nicht reagiert wurde, wurde die Tür ganz einfach schwungvoll aufgerissen und ein großer, schlaksiger Mann mit fliederfarbenem Haar tänzelte in den Raum hinein. Fee setzte sich sofort in voller Alarmbereitschaft auf, aber als sein Blick an dieser bizarren Gestalt hängen blieb, die ihn wie die Morgensonne anstrahlte, musste er den Reflex unterdrücken, sich die Decke einfach wieder über den Kopf zu ziehen.
 

„Oh, du bist schon wach, wie erfreulich“, ertönte die sanfte Stimme des Mannes, begleitet von einem leisen Lachen. Er durchquerte mit leichten, federnden Schritten den Raum und öffnete erst einmal eines der Fenster.

„Mit ein bisschen frischer Luft geht das Aufstehen gleich viel leichter“, flötete er und lief ohne weitere Umschweife zu Fees Bett, wo er ihm ganz nonchalant die Decke weg zog. Der darauf folgende düstere Blick des Weißhaarigen wurde allerdings nur belächelt.

„Ach, gib‘ dir keine Mühe, das haben schon ganz andere versucht. Wie wäre es stattdessen mit einem ‚Guten Morgen‘, mh? Guten Morgen, Feenien.“
 

Fee starrte ihn nur an und ‚Guten Morgen‘ stand sicherlich nicht auf der Liste der Dinge, die er gerne zu ihm gesagt hätte. Er kannte diesen seltsam angezogenen Mann natürlich, er war derjenige gewesen, der mit einem breiten Lächeln seinen Namen am Tag der Ernte vorgelesen hatte. Wie alle Leute vom Kapitol war sein Äußeres gewöhnungsbedürftig. Er trug einen langen, hellen Seidenmantel und seine Haare standen wirr in jede Richtung ab, einige gelockt, andere gekräuselt und ein paar Strähnen umrahmten in sanften Wellen sein makelloses Gesicht. Ein dunkelrotes Kopftuch wurde dazu benutzt, den gröbsten Wirrwarr zurückzuhalten, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Sein Name war Corinth und er war eine kleine Berühmtheit in der Hauptstadt. Jedes Jahr zu den Hungerspielen hatte er freie Auswahl bei den zu betreuenden Distrikten. Die Zuschauer liebten ihn und auch unter den höherrangigen Teilnehmern der Feierlichkeiten war er ein gern gesehener Gast.

Fee kannte nicht viele Leute vom Kapitol, darauf legte er auch keinen Wert. Aber dieser Mann schien auf den ersten Blick all das zu verkörpern, was er an den Menschen aus der Hauptstadt hasste. Und diese schreckliche Heiterkeit, die nicht nur vollkommen unpassend war, sondern auch viel zu gekünstelt wirkte, bereitete ihm noch mehr Kopfschmerzen, als er ohnehin schon hatte.
 

„Du hast zwar bedauerlicherweise das Abendessen gestern verpasst, aber wenn du dich ein wenig sputest, kommen wir noch rechtzeitig zum Frühstück“, sagte Corinth mit unbekümmerter Stimme, und dennoch war Fee sich sicher, dass das weder ein gut gemeinter Vorschlag, noch eine Bitte war, sondern vielmehr eine zu befolgende Anweisung. Und irgendetwas sagte ihm, dass er nicht herausfinden wollte, was passieren würde, wenn er diese Anweisung missachtete. Er musste außerdem sowieso irgendwann aufstehen, bald würde der Zug im Bahnhof des Kapitols einrollen und allem, was danach folgen würde, wollte er auch nicht unbedingt mit leerem Magen gegenübertreten.

Also nahm er die Handtücher und Kleidungsstücke an sich, die Corinth ihm mit einem netten Lächeln entgegenstreckte, stand ein wenig wackelig von seinem Bett auf und verschwand wortlos im Badezimmer. Ein erleichtertes Aufatmen entkam ihm, als er die Tür hinter seinem Betreuer schließen und ihn aussperren konnte. Es schauderte Fee, als er daran dachte, was für seltsame Gestalten ihm in den nächsten Tagen noch begegnen könnten. Er hatte ja schon Probleme im Umgang mit normalen Menschen, aber diese besonderen, oder besser absonderlichen Exemplare schienen auf einer ganz anderen Ebene zu sein.
 

Mit beinahe mechanischen Bewegungen streifte Fee sich seine Schlafkleidung ab und stieg unter die Dusche, während er durch die geschlossene Tür Corinth ein Liedchen pfeifen hören konnte. Wenigstens würde dieser Clown ihnen sicherlich einige gute Sponsoren einbringen, also sollte Fee sich wohl nicht beschweren. Es hätte ihn schließlich auch schlimmer treffen können.

Haleg, sein Mentor, war nicht gerade einer der beliebtesten Sieger, weil er in den Spielen vor fünf Jahren kaum einen Finger gerührt und mehr durch Zufall gewonnen hatte. Wegen ihm würden sie also sicherlich keine Sponsoren an Land ziehen. Es war kein Geheimnis, dass die meisten Leute aus Distrikt 4 ihn für wenig fähig hielten, Fee gehörte schließlich auch dazu.

Natürlich hatte Haleg die gleiche Ausbildung durchlaufen müssen, bevor er für die Spiele ausgewählt worden war, aber Viele waren einfach der Meinung, ihm fehlten ein paar ganz entscheidende Eigenschaften, die für das Überleben in der Arena zwingend notwendig waren. Skrupellosigkeit, Unbarmherzigkeit, ein gewisses Maß an Hinterlist und im besten Fall kein Gewissen. Haleg besaß davon nichts, stattdessen hatte er eine große Portion Glück gehabt. Aber auf Glück konnte man sich leider selten verlassen.

Unweigerlich musste Fee wieder an den Jungen aus Distrikt 8 denken, dem wohl auch nur noch das Glück dabei helfen konnte, heil aus der Sache herauszukommen. Eine seltsame Anspannung ergriff von ihm Besitz, als er daran dachte, dass sie und die restlichen Tribute heute Abend zum ersten Mal aufeinandertreffen würden. Bei der Parade, die eigentlich mehr einer großen Fleischbeschau glich.
 

Es hatte noch nie jemanden gegeben, der es geschafft hatte, ihn derart lange zu beschäftigen. Dabei hatte Fee ihn gerade mal ein paar Sekunden lang gesehen, und trotzdem kehrten seine Gedanken immer wieder zu ihm zurück. Egal, woran er auch dachte, irgendwie führte ihn alles früher oder später zu dem rothaarigen Tribut aus Distrikt 8. Mit einem frustrierten Grollen schob er die Gedanken gewaltsam beiseite. Es gab jetzt wichtigere Dinge, um die er sich Sorgen machen sollte. Sein Leben zum Beispiel.
 

Fee ließ sich absichtlich mehr Zeit, als er eigentlich benötigte, in der stillen Hoffnung, dass es Corinth bald zu langweilig werden und er ihn in Ruhe lassen würde. Aber natürlich passierte das nicht. Als Fee über eine halbe Stunde später aus dem Bad kam, stand sein Betreuer im Türrahmen seines Zimmers und schien gut gelaunt auf ihn zu warten.

„Wunderbar, ich dachte schon, ich müsste dich gewaltsam da raus holen“, sagte er mit einem breiten Lächeln, aber Fee war sich mittlerweile relativ sicher, dass das nicht nur leere Worte waren. Wortlos ging er an dem großen, schlaksigen Mann vorbei aus seinem Zimmer raus, den schmalen Gang entlang in Richtung des Speisewagens. Es gefiel ihm nicht, Corinth in seinem Rücken zu haben, er war ihm einfach nicht geheuer mit seiner penetranten Fröhlichkeit.
 

Fees Laune hob sich etwas, als er im Speiseabteil ankam und den Saphirjungen dort in einer Reihe anderer Avoxe stehen sah. Sogar seine Mine hellte sich ein wenig auf, was allerdings nur bedeutete, dass er nicht mehr so aussah, als wollte er jemanden erdolchen, sondern nur noch so, als wollte er jemandem geringfügig wehtun.

Erst nachdem er einen kurzen Blick mit dem Saphirjungen ausgetauscht hatte, registrierte er die restlichen Anwesenden. Da war sein Partnertribut, Jacky. Außerdem natürlich Haleg, wenigstens besaß er ein gewisses Maß an Pflichtbewusstsein, wenn er schon sonst über wenig herausragende Fähigkeiten verfügte. Er hatte sich mal wieder halb hinter seinem Klemmbrett verborgen.

Keiner der beiden schien Fee eine Begrüßung wert, auch wenn ihm beide einen Gutenmorgengruß zunickten. Corinth tänzelte an ihm vorbei, er schien der allgemein wenig heiteren Stimmung den Kampf angesagt zu haben.
 

Fee hatte sich gerade ebenfalls auf einem der gepolsterten Armlehnstühle niedergelassen, als der Zug zu einem sanften Halt kam, um einen letzten Tankstopp einzulegen, bevor sie die Grenzen des Kapitols überquerten. Die Finger des Weißhaarigen schlossen sich um die warme Tasse mit Kaffee, als ihn eine dröhnende Alarmsirene zusammenfahren ließ. Haleg war bereits halb von seinem Stuhl hochgefahren, zwang sich dann aber, sich ruhig wieder zu setzen. Die Sirene war so laut, dass das Geschirr auf dem Esstisch leise klirrte.

Fee schaute beinahe automatisch zum Fenster, vor dem er eine Reihe weiß gekleideter Männer vorbeirennen sehen konnte. Sein Blick traf sich kurz mit dem von Jacky, bevor beide aufstanden und näher an das Fenster herantraten, um einen besseren Überblick über die Situation zu gewinnen.
 

„Setzt euch wieder hin!“

Obwohl das ein klarer Befehl von ihrem Mentor war, ignorierten ihn beide. Fee blickte kurz über seine Schulter und war etwas verwundert darüber, dass der unbeschwerte Ausdruck auf Corinths Gesicht einem angespannten gewichen war. Umso mehr wollte er jetzt herausfinden, worum so ein großer Aufstand gemacht wurde. Ohne groß zu überlegen, verließ er das Speiseabteil und stemmte sich gegen die schwere Metalltür, die sie aus dem Zug herausführte.

„Kommt sofort zurück!“

Jacky folgte ihm auf dem Fuße und keiner von ihnen kümmerte sich groß um die überforderte und leicht panische Stimme von Haleg. Sie stiegen aus dem Zug, aber sie kamen keine zwei Schritte weit. Sofort waren sie von Friedenswächtern eingekreist und sechs Pistolenläufe zielten auf sie. Dennoch konnte Fee einen guten Blick auf die Szene erhaschen, die sich zwei Wagons weiter hinten abspielte.
 

Ein Junge mit honigfarbenem Haar, der katzenhafte Junge aus Distrikt 6 lag am Boden. Wahrscheinlich hatte er versucht zu fliehen, während der Zug angehalten hatte. Zwei Friedenswächter drückten ihn unsanft auf die Erde, während ein Dritter mit einer Art Knüppel auf ihn einschlug, damit er endlich aufhörte, sich zu wehren. Blut sickerte aus einer Kopfwunde des Jungen, dennoch kämpfte er noch immer gegen die Männer an.

Auch aus den anderen Wagons waren ein paar der Tribute zu sehen. Die meisten standen mit betroffenen Gesichtern hinter den Fenstern, aber ein paar waren ebenfalls nach draußen gekommen. Natürlich wurden auch sie von den Friedenswächtern in Schach gehalten, damit sie sich nicht einmischten. Der dunkelhaarige, kräftige Tribut aus Distrikt 7 überragte die Friedenswächter mit Leichtigkeit, aber auch er konnte nichts gegen die Pistolen ausrichten. Weiter hinten konnte Fee einen Jungen mit langen, blonden Haaren erkennen, wahrscheinlich aus Distrikt 9. Sein Partnertribut versuchte hektisch, ihn wieder nach drinnen zu ziehen.

Und dann waren da noch beide Tribute aus 8. Fawkes Waters und sein Partnertribut, die mit fassungslosem Blick beobachten mussten, wie der Widerstand des katzenartigen Jungen langsam erstarb. Für einen kurzen Moment dachte Fee, die Friedenswächter würden ihn umbringen. Sein Blick flog zu Fawkes und verhakte sich kurz in den dunkelbraunen Augen. Und dieser schien einen ähnlichen Gedanken gehabt zu haben, als er die Waffen ignorierte und plötzlich versuchte, sich an den Friedenswächtern vorbei zu drängen.
 

„Hört endlich auf! Er ist doch schon bewusstlos!“

Erst traf ihn ein harter Schlag in den Magen, der ihn in die Knie zwang. Der zweite Schlag in seinen Nacken ließ auch ihn zu Boden sinken.
 

Ohne, dass Fee es wirklich realisierte, hatte er einen Schritt nach vorne gemacht. Dann ertönte ein Schuss und sein Blick weitete sich erschrocken. Er suchte den Körper des rothaarigen Tributs nach einer Schusswunde oder austretendem Blut ab, und Erleichterung überkam ihn, als er nichts dergleichen fand. Dann wurde er an der Schulter zurückgerissen. Jacky stand direkt hinter ihm und deutete vor ihn auf den Boden, wo sich eine Kugel dampfend in den Dreck gewühlt hatte. Eine weitere folgte so dicht neben seinem Fuß, dass er allein aus einem Reflex heraus noch einen Schritt zurückstolperte.
 

„Zurück in den Zug, sofort!“, donnerte die Stimme eines Friedenswächters und weitere Warnschüsse fielen, um der Anordnung Nachdruck zu verleihen.

Fee konnte gerade noch sehen, wie der zweite Tribut aus 8 und ein dunkelhäutiger, grober Mann Fawkes packten und wieder in das Abteil zogen. Dann schloss sich die Tür vor ihm und für einen Moment hörte er nur sein Herz schlagen.

Kapitel 3 - Das Blatt wendet sich

Kapitel 3 – Das Blatt wendet sich
 

Sein Herzschlag war so laut, es war kaum auszuhalten. Fee musste für ein paar Sekunden seine Augen schließen. Und sofort war das Bild des rothaarigen Tributs aus Distrikt 8 wieder da. Eben hatte er Fawkes Waters zum ersten Mal getroffen und er war so gefangen von allem, was er in seinem Gesicht hatte lesen können. Die schreiende Ungerechtigkeit der Situation hatte die warmen, braunen Augen zum Brennen gebracht. Der kopflose und vollkommen irrationale Versuch, dem anderen Tribut zu Hilfe zu kommen, so dumm er auch war, beeindruckte Fee auf seltsame Weise. Und schließlich der Anblick, wie Fawkes langsam zu Boden sank. Fee erinnerte sich am deutlichsten daran, wie der Impuls in ihm aufgestiegen war, ebenfalls durch die Reihen der Friedenswächter zu brechen und etwas, irgendetwas zu tun. Und es erschrak ihn. Sie waren doch ohnehin fast alle zum Tode verurteilt.

Es dauerte einen langen Moment, bis nach und nach all die anderen Geräusche zurückkehrten. Die Alarmsirene begann wieder in Fees Ohren zu dröhnen und die aufgebrachten und geschockten Worte der Menschen um ihn herum drangen langsam zu ihm durch.
 

„Komm endlich von der Tür weg!“

Jacky zerrte noch immer an seinem Arm, aber Fee weigerte sich, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, bevor er nicht gesehen hatte, was mit dem katzenartigen Jungen aus Distrikt 6 passierte. Er zwang sich, seine Augen wieder zu öffnen, um durch das schmale Fenster der Abteiltür zu beobachten, was draußen geschah.

Einer der Friedenswächter hatte den blutig geschlagenen Körper an dessen Kapuzenjacke hochgehoben und schleifte ihn hinter sich her. Beinahe sah er jetzt wirklich wie ein kleines Katzenjunges aus, das von der Mutter nach Hause getragen wurde – nur das Blut störte dieses Bild. Der Junge war bewusstlos, seine langen, honigfarbenen Haare hingen ihm unordentlich und dreckig über die Schultern. Zwei weitere Friedenswächter folgten der Prozession mit erhobenen Knüppeln, während der Rest der weißgekleideten Männer sicherging, dass die anderen Tribute nicht doch noch auf die wahnwitzige Idee kamen, den Fluchtversuch nachzumachen. Der Tribut aus 6 wurde unsanft zurück in sein Abteil gehievt und zwei Friedenswächter folgten, höchstwahrscheinlich, um den Mentor und Betreuer des Distrikts entsprechend zurechtzuweisen. Dann erstarb die Sirene schließlich.
 

„Verdammt, Feenien!“, grollte sein Partnertribut aufgebracht und unternahm einen erneuten Versuch, Fee von der Tür wegzuzerren, bevor die patrouillierenden Friedenswächter auf ihn und seinen gefährlich düsteren Blick aufmerksam wurden. Fee schob Jackys Hand von seinem Oberarm und kehrte der Abteiltür endlich den Rücken zu. Sein Blick streifte alle Anwesenden kurz - Jacky, Haleg, Corinth - und hörte erst auf zu wandern, als er auf den Saphirjungen traf, der mit einem leichten Lächeln, seinen verstehenden, blauen Augen und einem Glas Orangensaft auf einem Tablett am Ende des Abteils für ihn bereit stand.

Fee ignorierte alle anderen Personen und durchquerte das schmale Abteil. Glücklicherweise hatten sie mittlerweile ohnehin aufgegeben, auf ihn einzureden, aber der Schreck stand allen Beteiligten noch im Gesicht geschrieben. Anscheinend passierte es nicht oft, dass einer der Tribute versuchte zu fliehen, denn selbst Corinths allgegenwärtiges, breites Grinsen hatte einem betroffenen Ausdruck weichen müssen.

Als Fee bei dem Saphirjungen angekommen war, nahm er wortlos das Glas mit der gelben Flüssigkeit an sich und trank einen großen Schluck, wie um den bitteren Nachgeschmack dieses Vorfalls wegzuspülen.
 

„Hoffentlich überlebt er das…“ Jackys Stimme konnte man überdeutlich anhören, wie das Adrenalin langsam und zitternd seinen Körper wieder verließ. Das kleine, typische Grinsen war allerdings noch nicht wieder zu sehen.
 

„Oh natürlich, dafür werden sie schon sorgen“, erwiderte Corinth lachend, auch wenn diesem Lachen jegliche Unbeschwertheit fehlte.

„Schließlich können sie nicht einfach umdrehen und einen weiteren Tribut aus 6 auslosen. Das würde ihre ganze Planung durcheinander bringen und dann noch dieser Aufwand…“

Die lavendelfarbenen Locken wippten leicht, als Corinth einmal kurz seinen Kopf schüttelte. Dann machte er eine auffordernde und einladende Geste in Richtung des Speisewagens, damit sie ihr Frühstück beenden konnten. Keiner folgte ihr.

Fee wusste, dass sein Betreuer Recht hatte. Aber er würde das ungute Gefühl trotzdem nicht loswerden, bis er den katzenartigen Jungen heute Abend bei der Parade sah. Dabei sollte es ihm doch eigentlich gar nichts ausmachen. Er nahm einen weiteren Schluck Orangensaft und strich sich dann in einer leicht frustrierten Bewegung ein paar seiner weißen Haare zurück. Wahrscheinlich machte ihn die Gewissheit, dass er in ein paar Tagen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit tot sein würde, doch ein wenig angreifbar.

Fee hatte immer angenommen, dass er über diesen lächerlichen Ängsten stehen würde, sollte er einmal während einer Ernte gezogen werden. Aber nun, wo das Los tatsächlich auf ihn gefallen war, sah er sich einer beinahe unlösbaren Aufgabe bevor. Und dabei hatte das ganze Spektakel noch nicht einmal richtig begonnen.
 

Nur eine Stunde später rollte der Hochgeschwindigkeitszug langsam in den Bahnhof des Kapitols ein, vorbei an dessen jubelnden und grotesken Bewohnern. Feenien brachte es nicht fertig, den Blick länger als einen kurzen Moment über diese seltsamen Figuren schweifen zu lassen. Sie waren so schrill und grell, dass es ihm Kopfschmerzen bereitete. Und sie überschlugen sich fast vor Begeisterung, konnten es nicht abwarten, die Kinder zu sehen, die sich in ein paar Tagen zu ihrem Vergnügen abschlachten würden. Hatten sie denn niemals den verzweifelten Glanz in den Augen der Tribute gesehen? Dieses verräterische Glimmen, das keine Verkleidung und kein Make-up der Welt ganz verdecken konnten? Fee konnte es sehen, ganz deutlich. Er sah es in seiner eigenen Spiegelung im Fensterglas.

Dann hielt der Zug an.

Jacky tauchte neben Fee auf und machte sich offensichtlich dazu bereit, gleich den Kamerateams zu begegnen. Nur einen kurzen Augenblick später war auch Haleg erschienen, er stand direkt hinter ihnen.

„Ihr werdet jetzt ins Erneuerungsstudio gebracht. Dort werdet ihr auf euren Stylisten treffen und ihr werdet für die Parade heute Abend vorbereitet. Macht einfach, was sie euch sagen.“

Halegs Stimme war nachdrücklich, besonders beim letzten Satz. Sowohl Fee als auch Jacky rollten kurz mit den Augen. Klappe halten und mitspielen also. Dass Haleg damit kein Problem hatte, wusste Fee ja nun schon. Ob er sich so einfach daran würde halten können, war allerdings relativ unwahrscheinlich.

Eine Gruppe Friedenswächter eskortierte sie vorbei an den jubelnden Massen, den blitzenden Kameras und aufdringlichen Reportern. Fee würdigte keinen von ihnen eines Blickes, er hielt sein Kinn in einer unnahbaren Geste leicht erhoben und zeigte sich vollkommen unbeeindruckt. Darin war er schließlich gut, das hatte er gelernt.

Die Tribute wurden in ein riesiges, elfenbeinweißes Gebäude geführt. Ein halbes Dutzend gläserner Fahrstühle führte sie ein paar Stockwerke tiefer, wie viele genau vermochte Fee nicht zu sagen, sie bewegten sich zu schnell. Das angenehme Weiß der Wände war einem sterilen, unnatürlich hellen Farbton gewichen, Fenster gab es hier unten keine mehr. Sie befanden sich in einem langen Gang, in dem es, neben den Fahrstühlen, eine Reihe an Türen gab, die von 1 bis 12 durchnummeriert waren.

Die Gruppe der Tribute wurde nach und nach ausgedünnt, als jeweils zwei von ihnen durch die zu ihrem Distrikt passende Tür verschwanden.

Bevor Fee hinter der Tür mit der Nummer vier verschwand, gab er dem Drang nach, seinen Blick doch einmal kurz schweifen zu lassen. Zumindest hatte Corinth Recht behalten, der Junge aus Distrikt 6 schien noch am Leben zu sein, zumindest konnte er fast ohne Hilfe stehen. Aber er sah milde ausgedrückt miserabel aus. Immer noch klebten Blut und Dreck an ihm, aber das war nichts, was man im Erneuerungsstudio nicht beheben konnte. Inwieweit sie aber dazu in der Lage waren, die gebückte Haltung des Jungen zu kaschieren, blieb abzuwarten. Fees Blick wanderte noch ein Stückchen weiter, bis er auf Fawkes traf.

Aber bevor sie Augenkontakt herstellen konnten, hatte sich ein Friedenswächter in Fees Blickfeld geschoben und drängte ihn, weiter zu gehen. Die Tür wurde hinter Jacky und ihm geschlossen und sie befanden sich in einem kleinen Raum mit einem Sofa und ein paar Erfrischungen auf einem Tisch davor. Aber die waren ganz offensichtlich nicht für sie bestimmt, denn die weiß gekleideten Männer schoben sie direkt auf ein weiteres Paar Türen zu. Jacky sah noch einmal zu ihm, bevor er durch eine der Türen trat. Fee erwiderte den Blick nicht und ging durch die andere.

Das gleißende Licht in dem Raum blendete Fee für einen kurzen Augenblick.
 

„Ooooh, du bist niedlich!“, hörte er eine erfreute Stimme, während er blinzelnd versuchte, die tanzenden, bunten Punkte vor seinen Augen zu vertreiben und wieder etwas zu erkennen. Noch bevor sich die Tür hinter ihm schloss, wurde er schon am Unterarm gefasst und in die Mitte des Raumes gezogen. Langsam verschwanden die tanzenden Punkte und Fee blickte in die Gesichter von drei äußerst seltsamen Gestalten. Er bemühte sich um einen besonders düsteren Blick, weil „niedlich“ zu den letzten Wörtern gehörte, die er im Zusammenhang mit ihm selbst hören wollte.
 

„Mach dir nichts draus, der findet alles niedlich“, winkte ein junger Mann mit neongrünen Haaren ab, bevor er sich vorstellte.

„Mein Name ist Loki, freut mich.“
 

Fee wusste nicht genau, was er aus diesem charmanten Lächeln machen sollte, mit dem Loki ihm begegnete. Da schien noch etwas ganz anderes dahinter zu stecken. Aber viel mehr noch irritierten ihn dessen platinblonde Haare. Er war sich relativ sicher, dass sie bis eben noch grün gewesen waren. Fee hatte allerdings nicht viel Zeit, seiner Irritation Ausdruck zu verleihen, weil sich da schon ein seltsam gekleideter Junge direkt vor ihn drängte und ihn mit großen Augen anglubschte.
 

„Aber du bist nun mal wirklich niedlich. Ich bin übrigens Shine.“

Der Träger dieser Stimme schien kaum älter als Fee selbst zu sein. Er war ein bisschen kleiner, was er durch mindestens zehn Zentimeter hohe, abgerundete Plateauabsätze auszugleichen versuchte. Seine langen, gewellten Haare waren in einem Zopf zurückgefasst und in den verschiedensten Blautönen gefärbt. Wenigstens schienen sie nicht die Farbe zu wechseln. Seine Kleidung war so über und über mit Rüschen besetzt, dass es Fee davor graute, in was für ein Kostüm sie ihn zwängen würden.

Die dritte der Gestalten hatte sich bis jetzt nicht vorgestellt und irgendwie machte ihn das für Fee ungleich sympathischer als die anderen beiden Clowns. Auch, wenn er aussah, wie ein Zebra.
 

„Das ist Piano. Er redet nicht viel. Genau genommen gar nicht. Er ist mehr so der stille Einzelgängertyp, weißt du? Aber das ist nicht so schlimm, ich werde schon für genügend Unterhaltung sorgen.“

Fee zweifelte nicht daran, abgesehen davon, dass diese Worte für ihn schon beinahe wie eine kleine Drohung klangen. Shine plapperte unaufhörlich weiter und zauberten ein leises Pochen in Fees Kopf.
 

Loki rieb sich die Hände, während er seinen Blick über Fees Körper gleiten ließ.

„Wir sind dein Vorbereitungsteam, wie du dir vielleicht schon gedacht hast. Aber ganz ehrlich, so viel zum Vorbereiten gibt es an dir offensichtlich nicht“, sagte er mit einem eindeutigen Funkeln in den Augen. Fees Aufmerksamkeit steckte allerdings schon wieder bei dessen Haaren fest – dunkelrot.
 

„Cool, oder? Hab die Coloration selbst entwickelt. Die Farbe ist stimmungsabhängig.“, erklärte Loki mit unverkennbarem Stolz in der Stimme.
 

„Jaaah, und dunkelrot bedeutet Gefahr. Er hat es auf dich abgesehen, also Vorsicht“, kicherte Shine.
 

Ganz großartig, sein Vorbereitungsteam bestand also aus einem geplatzten, blauen Knallbonbon, einem Westentaschencasanova und einem stummen Zebra.

Noch bevor Fee den Gedanken ganz zu Ende denken konnte, tauchte der Blauhaarige wieder vor ihm auf und begann ganz ungeniert damit, die Knöpfe an seinem Oberteil zu öffnen. Fee zuckte augenblicklich zurück und schob die aufdringlichen Hände von sich. Diese drei Personen waren einfach die komplette Reizüberflutung und er fühlte sich leicht überfordert. Bevor er überhaupt reagieren konnte, war Loki allerdings schon hinter ihn getreten und hielt ihn an den Schultern fest.

„Na na, keine Angst. Hier tut dir niemand etwas, zumindest vorerst“, grinste er.

Fee wirbelte herum, er war kurz davor, diesem Idioten klar zu machen, was er von seinem Gerede hielt. Aber da kamen ihm Halegs Worte wieder in den Sinn und sein Blick huschte zu zwei Friedenswächtern, die sich neben der Tür postiert hatten und offensichtlich bereit waren, einzuschreiten. Fee atmete einmal tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Dann machte er ein paar Schritte in den Raum hinein, um aus der unmittelbaren Reichweite seines Vorbereitungsteams zu kommen, und begann schließlich betont ruhig damit, seine Kleidung abzulegen.
 

„Hui“, bemerkte Loki amüsiert, bevor er sich eine knallrote Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Aber bevor Fee wegen dieser kleinen Bemerkung wieder an die Decke gehen konnte, war Shine schon zu ihm herüber gelaufen, bückte sich nach den nun überflüssigen Kleidungsstücken und warf Fee ein etwas versöhnlicheres Grinsen zu, bevor er mit kleinlauter Stimme wieder begann zu reden:

„Mach dir nichts draus, der ist immer so. Aber wir sind auf deiner Seite, wirklich. Wir wollen dir helfen. Damit du der umwerfendste Tribut wirst, den Panem je zu Gesicht bekommen hat.“
 

Fee schluckte alle bösen Worte, die ihm gerade auf der Zunge brannten, herunter. Eine große Wahl hatte er ohnehin nicht. Entweder, er würde dieses Spielchen jetzt widerstandslos mitspielen, oder man würde den Widerstand aus ihm herausprügeln und ihn danach zwingen, mitzuspielen.
 

Nachdem er sich vollständig entkleidet hatte, trat Piano mit einem Maßband an ihn heran, schrieb ein paar Zahlen auf und verschwand damit in einem angrenzenden Raum. Fee wurde noch unwohler, als die einzige Person, vor der er sich nicht am liebsten versteckt hätte, nun auch verschwand und ihn mit diesen beiden Zirkusäffchen zurückließ.

Shine plapperte wieder munter drauf los, denn nachdem jetzt, wie er meinte, das Eis gebrochen war, könnten sie sich endlich voll und ganz auf ihre Aufgabe konzentrieren. Fee widerstand knapp dem Drang, nachzufragen, ob Shines besondere Aufgabe darin bestand, ihm ein Ohr abzukauen, und Lokis vielleicht darin, jeden Quadratzentimeter seines Körpers mit den Augen abzugrasen. Stattdessen biss er sich auf seine Unterlippe, um die Worte zurückzuhalten, und versuchte, alles so teilnahmslos wie möglich über sich ergehen zu lassen.

Er wurde gebadet und gewaschen, mit irgendwelchen Lotionen eingerieben, abgeschrubbt und wieder eingepudert. Seine ohnehin schon blasse Haut war nun fast so weiß, wie das elfenbeinweiße Gebäude, in dem sie sich befanden. Und seine Haare, seine laut Shine wunderschönen Haare, wurden dreimal mit verschiedenen Seifen gewaschen, geföhnt und gekämmt, bis sie sich wie fließende Seide an seinen nackten Rücken schmiegten.
 

Ein leises, erfreutes Quieken kam über Shines Lippen, als er schließlich ihr Werk betrachtete. Dann beeilte er sich, Fee einen hauchdünnen Bademantel um die Schultern zu legen.
 

„Perfekt! Ich geh‘ Seth holen, er wird sicherlich genauso begeistert sein.“
 

Der blauhaarige Junge hopste aus dem Raum, nur um zwei Sekunden später schon wieder aufgeregt plappernd zurück zu kommen, einen größeren, schwarzhaarigen Mann im Schlepptau. Fee hatte gerade genug Zeit, den Mantel mit einem dünnen Gürtel zu verschließen, bevor alle Aufmerksamkeit schon wieder auf ihm lag. Der Mann streckte Fee mit einem hintergründigen Grinsen seine Hand zur Begrüßung entgegen, während sein Blick den zierlichen Körper vor ihm einmal genau abwanderte.
 

„Hey, Kleiner. Mein Name ist Seth, ich bin dein Stylist und… du glaubst gar nicht, wie sehr es mich freut, mit dir zusammen zu arbeiten.“

Fee erinnerte sich nicht daran, sich bewusst dazu entschieden zu haben, diesem einnehmenden Wesen die Hand zu geben, als sich Seths Finger auch schon behutsam um seine geschlossen hatten. Ein seltsamerweise wenig unangenehmes Gefühl ergriff von Fee Besitz, als er sah, wie Seth seine Hand langsam zu seinen Lippen führte und einen galanten Handkuss andeutete.
 

„Wie zahm er auf einmal ist“, hörte Fee Loki etwas eingeschnappt flüstern und Shine erwiderte kichernd: „Seth hat nun mal diese Wirkung auf andere.“
 

Und das war es, was Fee endlich wieder in das Hier und Jetzt zurückholte. Er wand seine Hand aus Seths lockerem Griff, trat einen Schritt zurück und unterbrach den Blickkontakt. Stattdessen ließ er seinen Blick nun seinerseits etwas misstrauisch über den größeren Mann gleiten. Er schien noch nicht sehr alt zu sein. Seine Kleidung war größtenteils schwarz, er trug einen schweren Ledermantel und eine silberne Kette, an welcher ein breites Kreuz funkelte. Er hatte schwarz lackierte Nägel und schweres, ebenso schwarzes Augen-Make-up. Genau genommen sah er insgesamt einer Fledermaus sehr, sehr ähnlich, aber wenigstens hatte Fee bei seinem Anblick nicht das Bedürfnis, die Augen zu schließen und nie wieder zu öffnen. Und das beruhigte ihn, zumindest was sein eigenes Outfit für diesen Abend anging.
 

Ein raues Lachen kam über Seths Lippen, als er die verhaltene Reaktion des Tributes vor ihm genau studierte.

„Folge mir bitte.“
 

Seth führte Fee in den angrenzenden Raum, welcher sich als riesiges Ankleidezimmer herausstellte. Zwei Wände des Raumes waren komplett mit Kleiderständern ausgefüllt, auf denen allerhand schrille und auffällige, aber glücklicherweise keinen Augenkrebs erregende Kostüme drapiert waren. Eine weitere Wand war komplett mit Spiegelglas verkleidet. Vor diesem riesigen Spiegel stand ein weiterer Kleiderständer, auf dem ein dünnes, auf den ersten Blick sehr unscheinbares Kleidungsstück hing. Seth ging geradewegs darauf zu und hob es vorsichtig auf seine Arme, bevor er sich damit wieder zu Fee drehte.

„Das ist dein Outfit für die Parade.“

Dann nickte er Piano und Shine zu, woraufhin diese mit ein paar hauchzarten Stofffetzchen an Fee heran traten, die wohl seine Unterwäsche darstellen sollten.

Mit zweifelnd hochgezogener Augenbraue betrachtete Fee die beinahe durchsichtigen Kleidungsstücke, bevor er jeglichen Kommentar zurückbiss und etwas umständlich versuchte, in das knappe Höschen zu schlüpfen. Ganz objektiv betrachtet machte dieses Kleidungsstück allerdings auch keinen großen Unterschied, Fee fühlte sich damit beinahe noch nackter als vorher. Wortlos zog er auch das Paar feiner Söckchen über, sowie das Paar Handschuhe, das ihm entgegen gehalten wurde. Dann ließ er zögerlich den Bademantel von seinen Schultern gleiten und versuchte die Blicke zu ignorieren, mit denen ihm ein gewisser Jemand die gerade angelegten Kleidungsstücke wieder auszog.
 

„So weit, so gut. Der nächste Schritt könnte allerdings ein wenig kniffeliger werden“, murmelte Seth, bevor er mit dem Kostüm auf den Armen zu Fee hin ging und sich dann vor ihm auf den Boden kniete.

Auch die drei Mitglieder seines Vorbereitungsteams waren wieder an ihn heran getreten, um Seth jetzt dabei zu helfen, Fee sein Kostüm überzustreifen. Mit der größten Vorsicht wurde der Stoff erst über das eine, dann über das andere Bein gezogen und dann langsam nach oben gekrempelt. Die Arme stellten eine besondere Herausforderung dar, weil sich der Stoff offensichtlich kaum dehnen ließ und Fee sich fast eine Schulter auskugeln musste, um das Kleidungsstück anzuziehen. Aber schließlich wurde ein feiner, langer Reißverschluss an seinem Rücken geschlossen und der Stoff hier und da noch ein bisschen zurechtgezupft, bis Seth zufrieden schien.

Das Kostüm lag an wie eine zweite Haut und Fee verstand sofort den Sinn hinter der beinahe nicht vorhandenen Unterwäsche. Jede noch so kleine Erhebung hätte sich unangenehm unter dem Stoff abgezeichnet. Aber obwohl es so eng war, fühlte er sich nicht eingezwängt.

Seth trat einen Schritt zurück und gab den Blick auf die große Spiegelwand frei und erst in diesem Moment sah Fee, was er da eigentlich wirklich anhatte. Er senkte seinen Blick auf seine Unterarme und mit einer Hand fuhr er testend über den Stoff – nur, dass es kein Stoff war. Sein Kostüm bestand aus einer Unzahl winziger, silberner Fischschuppen, die aneinandergenäht worden waren. Und wenn er sich bewegte und das Licht aus verschiedenen Winkeln auf die Schuppen fiel, funkelten sie, als hätte jede von ihnen einen kleinen Stern eingefangen. Mit jeder Bewegung wusch eine sanfte Welle aus Licht über seinen Körper hinweg. Es war ein Anblick, für den man im ersten Moment gar keine passenden Worte finden konnte. Aber unpassende taten es ja manchmal auch:
 

„Hm, sagen wir es so: Es unterstreicht deine Vorzüge.“, grinste ihn Loki von der Seite an und es war offensichtlich, dass er mit ‚Vorzügen‘ nicht Fees düster funkelnde Augen meinte. Aber er hatte Recht, das Kostüm ließ ihn wirklich atemberaubend aussehen, was wahrscheinlich nicht zuletzt daran lag, dass sich seine Figur darunter äußerst vorteilhaft abzeichnete.
 

Seth hatte ihn in einen Fisch verwandelt. In einen relativ hinreißenden Fisch zwar, aber Fee wusste trotzdem nicht, ob er damit glücklich sein sollte oder nicht, wobei glücklich in seiner Situation ohnehin relativ war. Aber wahrscheinlich hätte es ihn wesentlich schlimmer treffen können und wenigstens musste er sich nicht halb nackt vor den Bewohnern Panems präsentieren.
 


 

Die verbleibenden Minuten bis zum Beginn der Parade vergingen schneller, als es Fee lieb war. Gemeinsam mit Jacky wartete er in dem Raum, den sie vorhin passiert hatten. Seinen Partnertribut hatte man in ein ähnliches Kostümchen gesteckt, aber während sich auf seinem eigenen dunkelrote Highlights befanden, waren es auf Jackys dunkelblaue.

Jegliche Versuche, eine Unterhaltung zu starten, prallten wieder an Fees eiskalter Mauer ab, sodass es Jacky bald zu doof wurde und er sich stattdessen an den Leckereien gütlich tat, die noch immer auf dem Tisch vor der Couch standen.

Fee hingegen hatte keinen Appetit. Und jetzt, wo er nichts zu tun hatte, außer zu warten, wanderten seine Gedanken wieder in eine ganz bestimmte Richtung. Und zwar vier Türen weiter, wo die Tribute aus Distrikt 8 in einem wahrscheinlich ganz ähnlichen Raum ebenfalls darauf warteten, für die Parade abgeholt zu werden. Eine seltsame Unruhe ergriff von ihm Besitz, als er sich erneut bewusst machte, dass er gleich zum ersten Mal wirklich auf Fawkes treffen würde, und zwar mit der Möglichkeit mehr auszutauschen, als nur einen geschockten Blick. Fee schüttelte den Kopf und versuchte, seine wirren Gedankengänge zu sortieren. Er wollte ja nicht einmal irgendetwas mit irgendjemandem austauschen, abgesehen davon, dass er es auch gar nicht konnte. Für solche Gedanken war einfach kein Platz in diesem Spiel. Aber egal, wie oft er sich das klar machte, seine Gedanken drifteten immer wieder zurück zu dem rothaarigen Tribut aus Distrikt 6.
 

Glücklicherweise wurde er ein paar Momente später aus seinem Zwiespalt gerissen, als zwei Friedenswächter den Raum betraten und Jacky und ihm bedeuteten, ihnen nach draußen zu folgen. Seth und sein Partner, der offensichtlich für Jacky zuständig war, schlossen sich dem kleinen Grüppchen an. Es schien, dass diesmal nicht alle Tribute auf einmal nach oben gebracht wurden, zumindest konnte Fee außer ihnen und den Tributen aus Distrikt 3 keine weiteren auf dem Gang erkennen. Wieder betraten sie einen der gläsernen Fahrstühle, welcher sie nun allerdings nicht nur aufwärts, sondern auch seitwärts durch das ganze Gebäude fuhr. Als der Fahrstuhl endlich anhielt, traten sie hinaus in eine weiträumige, düstere Halle, die mit ein paar dutzend Scheinwerfern ausgeleuchtet wurde und in der zwölf Wagen mit jeweils zwei prächtigen, weißen Pferden davor, aufgereiht waren. Vor dem ersten und zweiten Wagen standen bereits die Tribute aus den jeweiligen Distrikten und deren Stylisten, die noch ein paar letzte Änderungen an deren Aufmachungen vornahmen. Ein Raunen ging durch alle Anwesenden, als die Friedenswächter Fee, Jacky und ihre Stylisten zu den Wagen von Distrikt 4 brachten. Fee bemerkte erst einen Augenblick später, dass dieses Raunen wohl ihnen galt, weil sie unter dem vielen Scheinwerferlicht wahrscheinlich wie zwei übergroße Glühwürmchen aussahen.

Gerade, als sie bei ihrem Wagen angekommen waren, betraten die Tribute aus Distrikt 7 und 8 die Halle und Fees Kopf wandte sich sofort in deren Richtung. Die Friedenswächter, die das Grüppchen begleiteten, versperrten die direkte Sicht auf die Tribute. Mit seinem Blick folgte er jedem einzelnen Schritt des Rothaarigen, bis er kaum zehn Meter entfernt vor Wagen Nummer 8 stehen blieb. Und als die uniformierten Männer endlich ein paar Schritte zurück traten, dauerte es nicht einmal einen Augenaufschlag, bis sich Fees Blick mit dem von Fawkes traf. Der Rothaarige schien beinahe ein wenig perplex zu sein, wegen dem Anblick, der sich ihm bot. Und auch Fee nutzte die Gelegenheit, um endlich einen etwas genauen Blick auf Fawkes zu werfen. Er war ein bisschen größer als er selbst und in seine roten, zerzausten Haare waren kleine Zöpfchen geflochten. Sein Stylist hatte ihn in einen eleganten, weißen Anzug gesteckt. Das war vielleicht nicht besonders einfallsreich, aber es verfehlte seine Wirkung dennoch nicht. Fawkes tauschte abwesend ein paar Worte mit dem anderen Tribut aus 8 aus, bevor er sich auf einmal wieder in Bewegung setzte.
 

Fees Herz begann wieder schneller zu schlagen. Fawkes kam direkt auf ihn zu. Das war nicht geplant gewesen, Fee wusste doch nicht, wie man in einer solchen Situation reagieren sollte. Alles, was er konnte, war Leute vor den Kopf stoßen und sie an seiner Mauer aus Eis abprallen zu lassen. Aber gerade das wollte er diesmal nicht. Fee hatte keine Zeit mehr, sich zu überlegen, was er tun sollte, denn im nächsten Moment stand Fawkes fast direkt vor ihm und sah ihn mit einem Funkeln in den Augen an, das Fee entgegen aller Erwartungen nicht zu deuten vermochte. Jedenfalls nicht mit seinem aufgewühlten Verstand, der noch immer verzweifelt versuchte, sich eine Strategie zurechtzulegen.
 

„Hey. Du bist doch Feenien, oder?“, fragte der rothaarige Junge, nachdem er sich einmal kurz geräuspert hatte. Ein kleines, etwas verlegenes Lächeln lag auf seinen Lippen.
 

Fee öffnete seinen Mund einen Spalt breit, um etwas zu erwidern, aber da war nichts. Stattdessen drehte er seinen Kopf ein Stück weg und unterbrach den Blickkontakt. Die Geste kam wahrscheinlich viel abweisender bei Fawkes an, als er sie eigentlich gemeint hatte.
 

„Ähm, also… ich bin Fawkes. Ich…“ Fawkes ließ den Satz unbeendet, er war offensichtlich viel zu irritiert von der Wandlung, die auf einmal durch den Körper des Kleineren ging.

Fee wusste nicht, wie er reagieren sollte, also tat er einfach das einzige, was er konnte. Er zog jede einzelne schützende Mauer hoch, die er hatte, zwang seinen typischen überlegenen und unnahbaren Ausdruck zurück auf sein Gesicht und warf dem Rothaarigen einen eiskalten Blick zu. Er konnte förmlich sehen, wie das schüchterne Lächeln langsam aus Fawkes‘ Gesicht bröckelte, erst durch einen irritierten und dann leicht frustrierten Ausdruck ersetzt wurde. Auch er schien seine Taktik jetzt geändert zu haben.
 

„Ich dachte, in diesem Jahr würden nur männliche Tribute in den Spielen antreten, aber ganz offensichtlich habe ich mich da getäuscht.“
 

Fees Hände ballten sich zu Fäusten, als er diese spöttischen Worte hörte. Eine leichte, wütende Röte zog sich über seine Wangen. Aber gleichzeitig fiel auch jedes bisschen Unsicherheit von ihm ab, denn in diesem Gebiet kannte er sich nur zu gut aus.
 

„Ganz offensichtlich ist das nicht der einzige Bereich, in dem du Defizite aufweist“, gab er leise zischend zurück und er fühlte sich um so vieles wohler, als Fawkes ihn daraufhin feindselig anfunkelte.
 

„Das wird sich zeigen“, knirschte der zurück, bevor er sich wieder abwandte und aufgebracht zurück zu seinem Wagen stampfte.

Auch Fee wandte den Blick endlich ab, es wurde ohnehin Zeit, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren.
 

Wie schnell sich das Blatt doch wenden konnte.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Hatschepueh
2013-06-29T19:37:28+00:00 29.06.2013 21:37
Das erste Kapitel ist recht vielversprechend. Ich würde gerne mehr lesen allerdings hasse ich unbeendete FFs und hier gibts schon länger kein neues Kapitel mehr... Also wenn du die FF beenden oder zumindest weiter führen würdest würde ich gerne die anderen Kapitel auch lesen.


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