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Lieben,Leben,Leiden

das leben ist komplizierter als gedacht
von

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Prolog

Prolog:
 

Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde er wäre mir nicht gleich ins Auge gefallen, denn die rasch anwachsende Menge von Mädchen, die sich bei seinem Anblick sofort schmachtend auf ihn stürzten, konnte man ebenso wenig übersehen wie ihn selbst.
 

Er hätte jeden Filmstar locker in die Tasche stecken können und sein Grinsen und Körperhaltung verrieten, dass ihm diese Tatsache durchaus bewusst war.
 

Er war neu an unsere Schule gekommen und keiner wusste viel über ihn, aber genau das war es, das so faszinierend auf jedes weibliche Wesen im Umkreis von 10 km gewirkt hatte. Sein gottgleiches Lächeln und seine umwerfend grünen Augen, in denen man sich leicht verirren konnte wie in einem tiefen Wald am Rande der Stadt, waren aber vermutlich ausschlaggebender für seine Fans ihm ständig hinterher zu laufen, als das Geheimnisvolle, in das er sich hüllte.
 

Ich war nie eines dieser Mädchen gewesen und konnte auch nie wirklich viel mit ihnen anfangen. Meine Art jemanden Anzuschmachten bestand darin aus der Ferne verstohlene Blicke auf das Objekt meiner Begierde zu werfen und, wenn ich mich ganz mutig fühlte, ihm ein unschuldiges Lächeln zu schenken, wenn er meinen Weg kreuzte.
 

Ich war auch nie wirklich verliebt in jemanden.

Denn so etwas wie die Liebe war in meinen Augen entweder nur anderen vorbehalten-wie zum Beispiel diesen kreischenden Mädchen, die auf Konzerten ihrer aktuellen Lieblingsband in Ohnmacht fielen, nur um 1 Monat später für einen anderen Popstar zu schreien- oder es gab sie nur in den großen Hollywood-Blockbustern- die immer etwas überzogen wirkten- oder sie existierte in Liebesromanen aus alten, längst vergangenen Zeiten- die ihrerseits allerdings häufig mit dem Tod endeten.
 

Und so ein Ende stellte ich mir nun wirklich nicht vor. Wer hätte damals schon ahnen können, dass dieses geheimnisvolle Gehabe von ihm nicht nur eine äußerst raffinierte Masche war um Mädchen reihenweise den Verstand zu verdrehen, sondern dass von ihm vielleicht mehr ausging als nur ein hübsches Lächeln.

Der Neue

Der Neue
 

„Klasse, das ist William Macrise. Er ist neu an unserer Schule und wird von Heute ab bei euch am Unterricht teilnehmen.“
 

Kaum hatte Mr. Aucker Williams Namen ausgesprochen war der Östrogenausstoß, der durch die Reihen der weiblichen Schülerinnen ging, in der Luft beinahe greifbar geworden. So gut wie jedes Mädchen lächelte ihn keck an oder gackerte hysterisch drauflos, was die Herren der Schöpfung nervte- und mich- aufs äußerste belustigte.
 

Ich hatte starke Schwierigkeiten nicht vor Lachen auf meinem Tisch zusammenzubrechen und mich danach gackernd auf dem Fußboden wiederzufinden bei dieser Szenerie. Ich bemühte mich noch um Haltung als mich Mr. Auckers Worte aus allen Wolken fallen ließen.
 

„Hinten in der letzen Reihe ist noch ein Platz frei, setzten sie sich doch bitte dorthin. Melody wird ihnen garantiert gerne sagen womit wir uns in letzter Zeit beschäftigt haben.“
 

Erwischt! Ein Eimer mit Eiswasser von den Tiefen der Antarktis mitten in meinem Gesicht hätte mich nicht wacher rütteln können. Ich hatte keine Ahnung von der letzen Stunde, da ich entweder damit beschäftigt war mich mit Frank und Joe, die vor mir saßen, über den Film zu unterhalten, der am Abend davor im Fernsehen lief, oder ich wiedermal weggepennt bin, bei einem sehr spannenden langatmigen Vortrag von Mr. Aucker über irgendein Gedicht der Sturm und Drang-Zeit.
 

„Also, Mr. Aucker, ich finde ja, dass sie das viel …ehm… umfangreicher und wortgewandter widergeben können als ich dazu jemals in der Lage wäre“, versuchte ich mich herauszureden, „Und außerdem, wer wüsste besser über die Sturm und Drang-Epoche Bescheid als sie…sie habe sie ja schließlich selbst miterlebt.“
 

Ich hoffte, dass er den letzten Teil nicht verstanden hatte, da es mir mehr wie ein Flüstern über die Lippen gekommen war. Aber da hatte ich mich leider geirrt. Dieser Mann konnte für seine 55 Jahren noch sehr gut hören und, was noch viel schlimmer war, sich auch noch verdammt gut Dinge merken. Das hatte zur Folge, dass er sich noch daran erinnern konnte, wie ich in der vorherigen Stunde gegen Ende lautstark mit meinem Kopf auf den Tisch geknallt bin- im Vollschlaf versteht sich- und daraufhin etwas zu laut so etwas in der Art heraus geschimpft hatte, wie ein:
 

„Verdammt! Erst unterbricht er einen ständig bei Privatgesprächen und dann wird man auch noch von dem ständig beim schlafen gestört. Das ist doch echt beschissen!“
 

Und nun wollte er mich bloßstellen, da ich offensichtlich Planlos war wovon er jemals gesprochen hatte.
 

Nicht nur, dass ich sehr oft bei ihm einschlief, was eigentlich seit der 2. Stunde bei ihm ständig passiert ist, nein, ich verstehe gerade einmal so gut wie jedes zehnte Wort von ihm, wenn ich Glück habe, und das liegt nicht nur an meiner mangelnden Aufmerksamkeit. Dieser Mann schafft es in einem einfachen 10-Wörter-Satz mindestens 70% Akademie-Vokabular zu verwenden, was sogar bei einer 11. Klasse eines Gymnasiums regelmäßig zu absoluter und vollkommender Ratlosigkeit und Verständnislosigkeit führte.
 

„Diese Tatsache ist mir durchaus bewusst, Ms. Saints. Aber da ich bereits an ihnen mein Wissen über die Epoche der Stürmer und Dränger ausgeführt habe, möchte ich nun von ihnen eine exakte Rezension meines Lehrpensums des letzten Quartals referiert haben.“
 

Da tat er es schon wieder. Wo ich mich noch anfangs über leichte Wörter aus seinem Mund gefreut habe, die jeder Idiot- und auch ich- verstehen konnte, machte er meinen Freudentaumel sogleich wieder mit seinem Fach-chargon zunichte und meine reflexartige Antwort fiel dem entsprechend einfach aus:

„Hä?“
 

„Ach wie schön. Die perfekte Imitation eines Ausrufs des Homo Sapients. Sie könnten wirklich eine sehr gute Arbeit über jene Balz-Rufe und Gedankenäußerungen unserer Vorfahren schreiben, nur leider ist das nicht ganz unsere Epoche gewesen, die uns nun solange beschäftigte.“
 

Eine weitere Lieblingsbeschäftigung seinerseits. Unschuldige und wehrlose Schüler blamieren und beleidigen. Normalerweise hätte ich mich sofort auf ein kleines Wortduell mit einem Lehrer eingelassen, aber nur unter einem besseren Stern. Ich riskierte nämlich in letzter Zeit bereits ein paar Mal zu oft meine große Klappe, was mir neben regelmäßigem Nachsitzen auch tägliche Besuche bei unserer Rektorin einbrachte. Und da ich auch an diesem Tag wieder einen Termin bei ihr hatte, legte ich es nicht noch auf ein weiteres Streitthema an und ließ Mr. Aucker seine kleine Stichelei durchgehen. Aber das würde ich ihm schon noch heimzahlen, irgendwann.
 

Es war ein offenes Geheimnis, dass Lehrer mich nicht besonders gut leiden konnten und mich deshalb bereits beim kleinsten Vorfall in der ersten Schulwoche an einen Einzelplatz in die letzte Reihe verbannten, wo sie mich ignorieren konnten und ich meine Ruhe hatte. Somit waren alle zufrieden.

Die einzigen, die ich dort hinten stören konnte waren Frank und Joe. Aber das schien den Lehrkräften ebenfalls egal zu sein, da die Beiden nicht die hellsten Birnen im Leuchter waren und es unwichtig war, ob sie aufpassten oder sich mit mir unterhielten.
 

Somit war der einzige freie Platz neben mir am Ende des Klassenzimmers, auch der Ursprung allen Übels genannt. Doch das war unserem Neuen noch nicht bekannt. Aber wirklich glücklich war ich nicht einen neuen Banknachbar zu bekommen. So gut er auch aussah, so unangenehm war es auch neben ihm zu sitzen. Ich konnte es noch nie leiden ungeniert angeglotzt zu werden, aber noch schlimmer war es hass- und neiderfüllt mit Blicken getötet zu werden. Ich konnte zwar nie Gedanken lesen, aber diese Blicke der Mädchen waren zu eindeutig:
 

Jedes weibliche Individuum wollte in diesem Moment um jeden Preis meinen Platz haben und ich hätte ihn sofort der meist bietenden verkauft, wenn irgendeine Chance für eine Auktion bestanden hätte.
 

Doch ich saß in der Falle. Mit einer stetig anschwellenden Wut im Bauch und einer wachsenden Paranoia, die nicht nur Verfolgungswahn sondern auch Todesängste einschlossen.
 

Meine Befürchtungen nach dem Verlassen des Lehrers von 16 Mädchen geluncht zu werden machte es mir noch unmöglicher auch nur ein weiteres Wort von Mr. Aucker zu verstehen.
 

Ich hatte nicht bemerkt wie verkrampft meine Finger ineinander verschränkt waren, bis der Grund allen Leidens das Wort an mich richtete.
 

„Hey, kannst du mir vielleicht sagen, was das Problem dieses Lehrers ist? Der scheint ja irgendwie was gegen Schüler zu haben.“
 

Seine Stimme. So etwas hatte ich noch nie in meinem Leben gehört. Dieser weiche Klang eines heranwachsenden Jungen untermalt mit der Rauheit, die einen Mann ausmacht, verschmolzen in perfekter Harmonie zu einer Stimme, die besser zu einem Engel gepasst hätte als sie einem menschlichen Wesen jemals vergönnt gewesen wäre.
 

Verwirrt löste ich meine schmerzenden steifen Finger voneinander und dann passierte es. Ich sah zum ersten Mal in Williams Gesicht und verlor mich prompt auf einem Pfad in den Tiefen seiner strahlend grünen Augen. Ich musste meinen Blick abwenden um überhaupt einen logischen Satz zustande zu bringen. So etwas war mir mit einem Jungen noch nie passiert.
 

„Er hat ein Problem sich anderen Wesen zu öffnen. Speziell mit der Rasse Mensch hat er so seine Schwierigkeiten. Ich glaube, das einzige Lebewesen mit dem er klarkommt ist ein Fisch“, sagte ich meinen Fingern.
 

„Wieso?“, wollte William wissen, ohne sich sein schiefes Grinsen verkneifen zu können.
 

„Weil ihm Fische bei seinen endlos langweiligen Monologen nicht wiedersprechen, reinreden, Fragen stellen oder einschlafen, so wie das den Menschen ergeht, die gezwungen sind ihm zuhören zu müssen.“
 

Und da war es schon wieder. Dieses Lächeln, das er vermutlich einem Gott gestohlen hat. Ich bemühte mich auf die Uhr anstatt in sein Gesicht zu schauen und wurde dabei von dem erlösenden Stundenende gerettet.
 

Doch die zweite Stunde würde ebenso langweilig werden wie die erste, was aber eher am Stoff als am Lehrer liegen würde. Obwohl Mr. Briegle sich für äußerst streng hielt wurde er von uns nur belacht, was ihn regelmäßig an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachte.
 

Geschichte war für mich nie ein spannendes Fach gewesen, doch seit wir uns vorgenommen hatten diesen Lehrer eigenhändig raus zu ekeln wurden die Stunden wieder interessanter.
 

Doch an diesem Tag hielt ich mich in Sachen psychologische Kriegsführung und Psychoterror zurück und beschränkte mich lediglich auf die gute alte Unterrichtverweigerung, was wie immer kollektiv dankbar angenommen wurde.
 

10 Minuten vor Stundenende beschloss ich, dass es genug sei für Heute und ging mit gepackter Tasche aus dem Klassenzimmer. Und da waren sie wieder, die verdutzten Blicke der anderen. Dieses Ritual hat sich bei mir nun schon so eingespielt, dass mir der darauf folgende Gang zur Direktorin so angewöhnt war, wie mein morgendlicher Kaffee. Und wie jeden Tag saß Mrs. Snowler bereits hinter ihrem Schreibtisch im Büro und wartete auf mich.
 

„Ah Melody. Ich dachte schon sie hätten heute vor dem Unterricht bis zum Ende beizuwohnen.“
 

>Welch nette Begrüßung!<
 

„Tja Sybille, ich war so knapp davor gewesen länger zu bleiben, aber ich musste aufs Klo und hatte kein ärztliches Attest dabei, da dachte ich mir, gehst besser gleich ganz raus.“
 

„Ah ja, das ist bei ihnen vermutlich auch besser, vor allem für die Nerven des Lehrkörpers.“
 

Ach ja, wie sehr liebte ich doch unsere Gespräche. Immer war ich in ihren Augen schuld, wenn ein Lehrer mal wieder durchdrehte oder einfach das Handtuch warf.

Dabei lag meine Beteiligung nur bei etwa 95%, wobei die indirekten und Untergrund-Machenschaften so gut wie völlig von mir ausgingen. Nichts passierte an dieser Schule ohne mein Wissen und nur selten etwas ohne meine Zustimmung.

Aber was sollte ich machen? Die anderen wären ohne mich aufgeschmissen.
 

„Um was handelt es sich diesmal?“, fragte Sybille mit monotoner Stimme.

Ihre tägliche Frage. Was sollte ich darauf antworten? Ich hatte- wie so oft- zu viel Ärger bereits bekommen und wusste daher nicht wegen welchem Vorfall genau ich bei ihr antanzen sollte. Ich entschied mich genervt zu schauen und mit gequältem Ausdruck im Gesicht zu antworten.
 

„Ich denke mal es gab wieder Beschwerden über mich. Aber wieso genau ich hier bin weiß ich auch nicht zu sagen.“
 

>Unsere Diskussion kann beginnen.<
 

„Mir wurde berichtet, dass sie mal wieder den Unterricht terrorisiert haben. Was soll ich bloß mit ihnen machen?“
 

>Wie wärs mit dem üblichen? Nachsitzen? Strafarbeit? Putzdienst bei dem Reinigungsteam? Dem Hausmeister helfen?<, dachte ich mir.

Normalerweise fiel ihr immer etwas ein, daher irritierte mich ihre direkte Frage etwas.
 

„Seit wann gehen ihnen denn die Foltermethoden aus?“, fragte ich verwegen grinsend.
 

Doch eine Antwort blieb mir verwehrt. Mir war gar nicht aufgefallen, dass es bereits zur Pause geklingelt hatte, doch was jetzt geschah, darauf war ich nicht vorbereitet.
 

„Entschuldigen sie bitte.“ -Diese Stimme, ich musste mich nicht umdrehen um zu wissen zu wem jene Worte gehörten.- „Ich soll mich bei einer gewissen Mrs. Snowler melden. Ich bin neu hier.“
 

Das Grinsen, das ihm vermutlich über die Lippen huschte, war sogar in seiner Stimme zu hören.
 

„Ah, Mr. …?“

„Macrise.“

„Jaja danke. Herzlich Willkommen an unserer Schule. Haben sie sich denn schon gut eingelebt?“

„Ja natürlich. Sie haben eine wunderbare Lehranstalt hier.“

„Naja, Anstalt an sich ist eine interessante und treffende Wortwahl. Ich sehe man braucht mich hier nicht mehr. Wenn es euch also nichts ausmacht…“
 

Ich wollte mich gerade aus der Affäre ziehen und hoffte noch, dass der Auftritt des Neuen Mrs. Snowler solange ablenken würde bis ich aus der Gefahrenzone, dem Direktorat, entkommen wäre, doch leider lag ich damit ein bisschen falsch.
 

„Ms. Saints, wo sind ihre Manieren geblieben? Man stellt sich doch jemanden vor und verlässt nicht fluchtartig den Raum…“

„Wir haben uns schon kennengelernt. Wir sind nun in derselben Klasse.“
 

Damit hatte ich nicht gerechnet. Er mischte sich in den Redefluss der Direktorin ein um mir zu helfen? Ihm war wohl nicht klar, dass man die Leiterin dieser Schule besser nicht unterbricht. So etwas konnte fatale Folgen nach sich ziehen. Ich spreche aus Erfahrung.
 

„Wie dem auch sei. Ihre Eltern haben wohl ihre Pflichten nie wirklich ernst genommen, Ms. Saints.“
 

>Das war ein Kommentar zu viel!Sie überschreitet nun eindeutig eine Grenze!<
 

„Lassen sie meine Eltern da aus dem Spiel. Wenn sie ein Problem mit mir haben, geht das nur uns beide etwas an und sonst niemanden!“
 

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass meine Stimme immer lauter wurde. Erst als ich den verdutzen Ausdruck auf dem Gesicht der anderen im Raum sah, wurde es mir bewusst. Doch schämen kam dafür nicht in Frage.
 

„Ich denke zur Beruhigung sollten sie sich die nächste Stunde frei nehmen. Wir wollen doch nicht, dass sie in diesem Zustand wieder in die Klasse gehen. Der arme Lehrer!“
 

Das war doch nicht möglich.
 

>Irgendetwas führt sie im Schilde. So viel steht fest.<
 

„Und wo ist da der Hacken bei der Sache?“ argwöhnisch beobachtete ich, wie sich ein breites, schadenfrohes Grinsen auf ihrem Gesicht breit machte.
 

„Im Gegenzug dazu zeigen sie unserem neuen Schüler hier die Schule.“
 

Das war zu viel verlangt.
 

„Aber…!“, wollte ich protestieren, doch sie schnitt mir das Wort ab.

„Keine Wiederrede! Sonst sehe ich mich gezwungen ihrem Meister…“

„Schon gut, schon gut. Ich machs ja! Aber lassen sie ihn aus dem Spiel. Wie gesagt, das geht nur sie und mich etwas an!“
 

„Schön, dass sie doch noch zur Vernunft gekommen sind, Melody. Mr. Macrise, folgen sie doch bitte Ms. Saints. Sie wird ihnen eine kleine Tour durch unsere Hallen geben. Und viel Erfolg an unserer Schule. Ich hoffe es wird ihnen hier gefallen.“
 

„Vielen Dank Mrs. Snowler. Das hoffe ich auch.“ Er meldete sich nun wieder zu Wort.
 

Doch bevor ich mich von dem übertriebenen Gehabe Sybilles übergeben musste, marschierte ich- mit William im Schlepptau- nach draußen in die überfüllten Flure des Schulgebäudes.

Tour wider Willen

Tour wider Willen
 

„Ist es normal, dass einen die Leute hier ständig anstarren?“
 

>Nein, nur wenn man so gut aussieht wie du<, dachte ich mir.

Ich merkte nicht wie sehr ich mit meiner Antwort zögerte. Erst als er mich misstrauisch beäugte und offensichtlich an meiner geistlichen Gesundheit zu zweifeln begann überlegte ich mir eine passende Antwort.
 

Wieso fiel mir in seiner Gegenwart nur nichts Schlaues ein? Ich gab die Grübelei auf und beschränkte mich darauf ihm überhaupt zu antworten:
 

„Kann vorkommen.“

>Oh Gott wie geistreich<, warf ich mir in Gedanken vor. Sein misstrauischer Gesichtsausdruck zeigte mir, dass auch er eine andere Antwort erwartet hatte.
 

„Na dann.“
 

>Was? Mehr nicht?< Schlagfertigere Worte als diese beiden brachte er nicht zustande? Naja was hatte ich auch groß erwartet.
 

„Na was glaubst du denn? Du bist neu an der Schule. Frischfleisch sozusagen. Da muss man schon mal Blicke der anderen wegstecken.“
 

Na das klang doch schon eher wieder nach mir. Er konnte ein Grinsen nicht vermeiden und- so gerne ich auch mit gelächelt hätte- ich musste mich auf meine Aufgabe konzentrieren.
 

„Also fangen wir mal mit der Höhle des Löwen an, nachdem du unsere Folterkammer von Mrs. Snowler heil überstanden hast“, sagte ich und betrat unsere Aula mit geschätzten 1000 Schülern, davon etwa 60% Mädchen, mit William im Rücken und einer Mischung aus Wut, Scham und Verzweiflung im Bauch.
 

Was jetzt kam war so vorhersehbar gewesen wie der tägliche Sonnenuntergang, aber trotzdem wurde ich von der Reaktion der anderen überrascht:
 

Jedes menschliche Individuum starrte uns an, ohne Ausnahme. Einige tuschelten wild, andere flüsterten hinter vorgehaltener Hand ihrem Nachbarn etwas zu, wieder andere sahen aus als würden ihnen jeden Moment die Augen herausfallen.
 

„Oh man was hab ich mir da nur wieder eingehandelt?“, murmelte ich verzweifelt vor mich hin.
 

Das gibt wieder Gesprächsstoff für die nächsten Wochen, und ich war- mal wieder unverhofft- Mittelpunkt des Getratsches geworden. >Na toll!<
 

Ich bemühte mich William durch die überfüllte Aula zu verfrachten, was einfacher gesagt als getan war. Er bewegte sich keinen Millimeter, als ich bereits ein paar Schritte von ihm entfernt war, kam das Getuschel aus jeder Ecke.
 

>Er sieht aus als wäre er entweder geschockt oder gegen eine Wand gelaufen und verwirrt<, sinnierte ich in Gedanken noch vor mich hin.
 

„Kommst du?“, fragte ich ihn, doch keine Regung ging von ihm aus.
 

>Na super.< Leicht gereizt trat ich auf ihn zu und packte ihn an der Hand- ein Gestöhne ging durch die Reihen, aber das nahm ich schon nicht mehr wirklich wahr- er blickte mir direkt in die Augen und für eine endlose Sekunde lang war ich unfähig mich zu bewegen. Ihm schien es genauso zu gehen.
 

Mein Gehirn setzte aus. Alles um mich herum schien auf einmal völlig Belanglos zu sein, das Getratsche der anderen, das Gestöhne der Mädchen, die abfälligen Blicke einiger.

Ich kann nicht genau sagen was mein Gehirn wieder zum Laufen gebracht hat, aber es erwachte langsam wieder und brachte mich zurück in die Gegenwart.
 

„Gehen wir?“, fragte William und klang dabei etwas heiserer als vorher.
 

„Gerne. Ich denke wir sollten da lang gehen.“ Ich zeigte in Richtung Schulhof. Ich brauchte dringend frische Luft um wieder klar im Kopf zu werden.
 

Als ich mich in Bewegung setzte merkte ich, dass ich immer noch Williams Hand hielt, ließ sie verlegen und erschrocken los und marschierte hinaus an die frische Luft.
 

Sie fühlte sich klar und kühl an, ich hatte keine Jacke dabei und merkte erst jetzt, dass es angefangen hatte zu schneien.
 

>Naja besser als Regen aber trotzdem unangenehm für März.<
 

Ich atmete einmal tief durch und begann zu sprechen.
 

„Also, Herzlichen Glückwunsch. Du hast soeben den Löwenkäfig überlebt.“
 

Er lächelte.
 

„Und das hier ist unser Pausenhof.“ Ich machte eine ausladende Geste, die den gesamten Platz einschloss, und trat hinaus in den herabfallenden Schnee.

Die großen, weißen Flocken blieben in meinen Haaren hängen und schmolzen auf meinen Wangen.
 

„Es ist schön hier“, sagte William mit leicht gedämpfter Stimme.
 

„Ja, hier draußen ist es wirklich angenehm. Besser als die stickige Luft da drinnen.“ Ich nickte in Richtung Schulgebäude.
 

William schritt an mir vorbei und blieb einige Schritte entfernt von mir stehen. Den Rücken zu mir gedreht begann er zu sprechen.
 

„Das habe ich nicht gemeint, obwohl du recht hast“
 

>Was?< Ich war verwirrt. >Was hat er dann gemeint?<

Er antwortete mir noch bevor ich ihn überhaupt danach frage konnte.
 

„Es herrscht bei euch so etwas… Lebendiges.“ Er rang nach Worten.

Was hatte das zu bedeuten?

„Ich verstehe nicht … was du damit meinst“, gab ich verlegen zu.

„Das Gemurmel der anderen, es ist so lebendig“, versuchte er zu erklären.

„Mach dir deshalb keine Gedanken“, wollte ich ihn beruhigen, „ das hört wieder auf. Bestimmt. Sie müssen sich nur erst an dich gewöhnen.“

„Bist du dir sicher?“

„Naja ganz sicher bin ich mir nicht, aber solange du nicht ungewöhnlich auffällst, wird das kein Problem werden.“

Ich versuchte ihn aufmunternd anzulächeln, aber auf seine Antwort war ich nicht vorbereitet gewesen.

„Und was ist, wenn ich das nicht will?“, grinsend drehte er mir sein Gesicht zu.

Ich befürchtete schon ihn missverstanden zu haben, als er sich näherte und direkt vor mir zum Stehen kam.
 

Da war es wieder. Dieses Gefühl der Zeitlosigkeit.
 

Wir standen nur wenige Sekunden so im Schnee, aber dennoch kam es mir wie die Dauer eines ganzen Lebens vor. Ich war unfähig mich zu rühren und ihm schien es genauso zu gehen.

Wir berührten uns nicht, bewegten uns keinen Millimeter und sprachen kein Wort. Und doch war es als ich ihm tief in die Augen blickte für mich ein solch intimer Moment, dass mir fast der Atem stockte.
 

Ich weiß nicht wieso, aber irgendwas an ihm faszinierte mich und jagte mir doch leichte Schauer über den Rücken. Er war nicht bedrohlich und ich verspürte keine Angst und doch beschlich mich eine dunkle Vorahnung auf ein drohendes Unglück.

Mein ganzer Körper kribbelte und die Spannungen zwischen uns waren so intensiv, dass ich fürchtete man könne Blitze zwischen uns aufleuchten sehen.
 

Ich konnte meinen Blick nicht von seinen atemberaubenden Augen lösen, die mich ebenfalls -mit allen Grüntönen dieser Erde- anstarrten.

Ich schreckte vor der Intensität seines Blickes zurück und fiel somit wieder in das Hier und Jetzt.
 

Ein heftiger Luftzug strömte an uns vorbei und wirbelte mir meine durchweichten braunen Haare um den Kopf. Ihm wehten die Schneeflocken direkt in sein Gesicht und er zuckte leicht zurück.

In diesem Moment schaute ich ihm zum ersten Mal ins Gesicht. Ich riss meinen Blick von seinen Augen und betrachtete sein nun stark durchnässtes, verstrubbeltes, dunkelbraunes Haar.
 

Er sah aus als wäre er gerade aus einem Schwimmbecken aufgetaucht, da der herabfallende Schnee mehr einem Regen glich. Ich befürchtete nicht besser auszusehen.
 

„Lass uns reingehen, sonst sind wir am Ende beide krank. Und darauf kann ich gut verzichten.“ Sagte ich und ging in Richtung Eingangstür.

Er folgte mir bereitwillig und wir betraten zum zweiten Mal die große Halle unserer Schule.

Der Unterricht ging bereits für alle –außer uns- weiter. Auf dem Stundenplan stand Latein, aber wir hatten ja die Sondererlaubnis der Direktorin und somit blieb uns diese Tortur erspart.
 

Ich zeigte ihm die ganze Schule, jeden einzelnen Raum von den Biologiesälen bis zum Astronomie-Raum, der leider seid einige Zeit nicht als solcher genutzt wurde und im Moment eher als Abstellkammer für Kleinkram diente.
 

Ich erzählte ihm einige Streiche, die wir veranstaltet hatten um die Lehrerschaft und Mrs. Snowler in den Wahnsinn zu treiben. Wir lachten sehr viel und unterhielten uns ständig.
 

Er erzählte mir von seiner alten Schule. Seine Familie und er lebten zuvor in Venedig, eine wunderschöne Stadt, wie ich fand, da ich selbst bereits einmal vor einigen Jahren mit meinen Eltern dort war.
 

„Am Anfang habe ich mich noch ständig in den kleinen verwinkelten Gassen verirrt, aber irgendwie ich immer wieder zur Rialtobrücke zurückgefunden.“ erzählte er mir mit einem Lächeln auf den Lippen.
 

„Macrise klingt aber irgendwie nicht sehr italienisch, wenn ich das bemerken darf.“

„Tja, Melody, das liegt daran, dass ich ursprünglich aus Irland stamme. Meine Familie und ich zogen vor einigen Jahren von dort weg und reisen seitdem viel umher.“
 

Etwas leicht Melancholisches klang in seiner Stimme mit und ich fand ein solcher Engelsklang sollte sich nicht traurig anhören.

Also wechselte ich schnell das Thema.
 

„Wie alt bist du eigentlich, William? Und hast du Geschwister? Wenn ja gehen sie auch von nun an auf diese Schule?“
 

>Ups. Zu viele Fragen auf einmal.<
 

„ Ich bin 18 Jahre alt, habe drei Geschwister, die ebenfalls hier am Unterricht teilnehmen und wohne ab sofort hier in der Stadt, falls das deine nächste Frage gewesen wäre.“, antwortete er grinsend. „ Und jetzt bist du dran! Selbe Fragen.“, grinste er weiter verwegen vor sich hin.
 

„Also gut. Ich bin erst 17 Jahre alt, Einzelkind und wohne etwas abseits in einem Vorort der Stadt. Wieso seid ihr von Venedig fort und Hier gelandet? Es ist nicht gerade aufregend hier und es passiert so gut wie nie irgendetwas Interessantes!“
 

„Genau das ist es ja. Wir hatten diesen Trubel satt. Ständig Touristen und dieser Lärm immer. Unerträglich sag ich dir! Wenn du mit deiner Familie jemals in einer Touristenbevölkerten Stadt gewohnt hast, weißt du wovon ich spreche.“
 

„Nein, das habe ich nie.“
 

Ich reagierte empfindlich auf das Thema Familie. Zumindest wenn es um meine eigene ging. Ich wollte es mir allerdings nicht anmerken lassen und ging schweigend den Korridor entlang in Richtung Bibliothek.
 

Ich verkroch mich schon immer gerne an diesem Ort um nachdenkend durch die Regale zu schlendern.
 

„Ich hoffe es macht dir nichts aus, aber ich muss noch schnell nach einem Buch suchen. Geht ganz schnell versprochen.“, gab ich vor und lief die Reihen mit Büchern ab.
 

William sah sich etwas im Raum um. Es war sehr geräumig hier. Zwei Sofas standen mit mehreren Stühlen, Sesseln und anderen Sitzgelegenheiten um einen alten, kleinen Tisch herum. Die Ecke lud einen jedes Mal zum Verweilen ein und dort fand ich William dann auch nach guten 5 Minuten gemütlich auf einem Sofa sitzend.
 

„Hast du dein Buch bekommen?“

„Was? Ach so, nein leider nicht.“

Ich hatte schon fast wieder vergessen weshalb wir angeblich hier waren. Ich war die ganze Zeit mit meinen Gedanken dabei gewesen, meine innere Gefühlswelt wieder in den Griff zu kriegen.
 

Ich bekam das Bild seiner strahlenden Augen nichtmehr aus meinem Kopf.
 

>Jack!<
 

Ich zuckte bei dem Gedanken zurück.
 

>Wieso habe ich so ein komisches Gefühl bei der Sache?<
 

Irgendetwas stimmte hier nicht, da war ich mir sicher. Ich wusste nur noch nicht was genau es war.
 

Als wir unseren Rundgang beendet hatten, war es bereits 10 Minuten nach Stundenwechsel zum vierten Unterricht und ich musste in Griechisch.
 

„Was hast du für ein Fach, William? Griechisch oder Französisch?“

„Griechisch.“

Damit hatte ich nicht gerechnet. „Ich hätte dich auf Franzose geschätzt. Aber okay. Dann folge mir mal.“
 

„Kriegen wir denn keinen Ärger, wenn wir einfach so in den Unterricht reinplatzen?“
 

Ich musste lachen. „Nein, mach dir darüber mal keine Gedanken. Mr. Gregger macht das nichts aus. Der wird vermutlich nicht einmal merken, dass du neu bist.“, sagte ich und betrat das stickige, kleine Klassenzimmer der Griechen.

Ein ganz normaler Tag?

Ein ganz normaler Tag?

„Da drüben bei Sanny ist noch ein Platz frei. Setz dich einfach zu ihm dazu.“, erklärte ich dem verwundert dreinschauenden William. Ich setzte mich an meinen Stammplatz neben Amber. Dies waren die einzigen Stunden, in denen ich keinen einzelplatz hatte, weil es Mr Gregger nicht störte, wenn man sich unterhielt, was uns allen sehr gelegen kam.

„Hey, wen hast du uns denn da angeschleppt?“, wollte Amber gleich von mir wissen. Ich war mir sicher, dass ich gleich von ihr mit Fragen bombardiert werden würde. Sie war ganz schön neugierig, aber genau deshalb war sie mir so an Herz gewachsen.

„ Hi Amber. Hab ich was verpasst?“, fragte ich sie während ich mich auf meinen Stuhl sinken ließ.

„Nein, wie immer nicht viel gewesen. Aber lenk nicht wieder vom Thema ab!“

„Das ist William Macrice. Er ist neu an unserer Schule und ab sofort bei mir in der Klasse.“

>So das war dann mal die Kurzzusammenfassung. Hoffentlich gibt sie sich damit zufrieden<, betete ich. Falsch gedacht.

„Und wieso kommst du mit ihm 10 Minuten zu spät zum Unterricht? Was habt ihr gemacht?“

„Ich musste ihm die Schule zeigen. Anordnung vom Teufel persönlich.“

„Wow. Du hast immer so ein Glück. Aber in 10 Minuten konntest du ihm nicht viel zeigen.“, sie schaute mich argwöhnisch an.

„Tja wir begannen unsere Tour ja auch schon in der Pause und haben recht getrödelt.“

„Jaja genug der Geheimnistuerei. Erzähl mir alles. Was…“

Aber weiter kam Amber nicht, denn Mr Gregger bemerkte William und legte los.

„Wer bist du denn? Was machst du hier?“

„Mein Name ist William Macrice. Ich bin neu hier und nehme ab sofort an ihrem Unterricht teil.“

„Aha, okay. Und woher kommst du?“

„Ich lebte vorher in Venedig, davor in Griechenland und noch an diversen anderen Orten.“

Seine Stimme klang stark kontrolliert und seine Körperhaltung war auffällig. Irgendetwas machte ihm zu schaffen. Ich wusste nur nicht wieso mich das so interessierte.

„Griechenland? Interessant. Kannst du dann auch die Sprache?“, fragte Mr Gregger neugierig nach.

„Ja etwas. Für eine Bestellung in einem Restaurant und für eine kleine Konversation würde es allemal reichen.“, gab er grinsend zu.

>Naja, somit kann er mehr als die ganze Klasse zusammen. Und wir lernen dieses Zeug jetzt schon seit 3 Jahren. <

Die Stunde zog an mir vorbei ohne mir stark im Gedächtnis zu bleiben.

>Alles so wie immer, eigentlich<, dachte ich wehmütig.

Amber fragte mich alles, was William mir von sich erzählt hatte. Sie redete und redete ohne Punkt und Komma und dann kam ein Satz von ihr, als ich – in Gedanken versunken- vergaß ihr zu antworten.

„Naja ist ja auch nicht so wichtig. Aber der sieht schon zum anbeißen aus. Hey Melody, wenn du ihn nicht willst, ich sag nicht nein.“

„WAS?“

„Na, den würde ich nicht von der Bettkante stoßen.“, kicherte sie leise vor sich hin.

Ihre Worte bewegten, dass ich mir William zum ersten Mal genauer von Kopf bis Fuß ansah. Dass er größer war als ich fiel mir bereits bei unserer kleinen Führung auf. Ich schätzte ihn auf etwa 1,75m groß, das wären dann fast 10 cm Unterschied zu mir. Er hatte einen athletischen Körperbau, klassisch-geschnittenes Gesicht, dunkelbraune Haare, die wellenartig fast seine Schultern berührten. Seine Körperhaltung war ständig angespannt, doch er schien sich gelassen zu unterhalten. Er trug Jeans und einen schwarzen Pullover, der eng an seiner Brust anlag. Ich starrte ihn eine ganze Weile an bis mich Amber aus meiner Versunkenheit herausholte.

„Pass auf, sonst fallen dir noch die Augen raus. Aber ich kann dich verstehen. Der wird von allen Mädchen angeschmachtet. Schau mal.“ Sie deutete auf die Reihe der Mädchen unserer Klasse, die kicherten und ihn ansahen als wäre er ein großes Stück Schokolade. Es beunruhigte mich etwas, dass ich das unerträglich fand. Das Verhalten der anderen ging mir richtig auf die Nerven und genau das machte mir Sorgen. Normalerweise sollte es mir egal sein. Aber bei ihm war es nicht so. ich bekam Angst und mir liefen zum zweiten Mal an diesem Tag Schauer über den Rücken wegen William Macrice. Das durfte nicht sein. Ich erzählte Amber nichts davon, da ich es einerseits selbst nicht verstand und weil ich andererseits noch nicht bereit war die alten Wunden wieder aufzureißen. Es tat einfach noch zu sehr weh und ich wollte nicht, dass die versammelte Klasse Zeuge meines Zusammenbruchs wurde, wenn ich auch nur an das, was damals passierte, dachte.

„Wieso denke ich genau jetzt daran? Er hat doch nichts damit zu tun, oder etwa doch?“, murmelte ich vor mich hin und rätselte noch den Rest der Stunde deswegen.
 

Der Rest des Schultages zog an mir vorbei ohne seine Spuren auf mir zu hinterlassen. Die letzten beiden Stunden verbrachte ich in meinen Gedanken.

Ich nahm nichts mehr um mich herum wahr, überhörte die Fragen der Lehrer und das Getuschel der anderen. Es wurde alles zu einem leisen, summenden Hintergrundgeräusch ohne große Bedeutung. Ich fuhr nach dem Unterricht nicht nach Hause, wie die meisten es taten.

Nein. Ich musste zur Arbeit.

Ich hatte einen kleinen Job in der städtischen Videothek. Es war eher langweilig aber die Bezahlung stimmte und mein Chef war auch in Ordnung. Ich arbeitete dort so gut wie jeden Tag nach der Schule bis abends um acht Uhr, manchmal auch länger. Und an den Wochenenden kam es schon mal vor, dass ich meine Schicht tauschte und bis spät in die Nacht im Laden war.
 

„Hey, na wie war Schule?“, fragte Bob mich, er war mein Vorgesetzter und etwas über 40 Jahre alt, klein, stämmig und sehr freundlich.

„Hey Bob, langweilig, wie immer halt.“

„und gibt’s was neues?“

„Ja, nen Neuen.“

„Oh, und wie ist er so?“
 

> Wieso fragt mich das heute einfach jeder?<
 

„Er scheint ganz nett zu sein.“

Mehr wollte ich für heute auch nicht über die Schule oder sonst irgendwas erzählen und Bob merkte das, also ließ er es dabei bewenden und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Er war ein toller Boss. Unkompliziert und meistens wie ein cooler Onkel für mich. Aber es gab Dinge, die ich ihm niemals erzählen könnte und das wusste er.
 

„Ach Melody, bevor ich es noch vergesse, ich habe den neuen Rückspiegel für deinen Roller gekriegt. Wir können ihn nach der Arbeit gleich montieren. Dann bist du nur noch eine kleinere Gefahr für den Straßenverkehr.“, scherzte Bob.

Mein linker Rückspiegel ging mir letzte Woche bei einem kleinen Unfall kaputt und er hatte sich um einen neuen bemüht.

„Super danke. Wo hast du den denn so schnell aufgetrieben?“

„Och, mein Neffe kennt jemanden, der ein altes Motorrad letztens ausgeschlachtet hat und den Rückspiegel übrig hatte.“

Er war ein Schatz. Einen neuen hätte ich mir nur schwer leisten können.

„Ich schenke ihn dir. Für die Stunden von vor zwei Wochen als wir unser Filmfest hatten und du diese übrigen Stunden nicht aufgeschrieben hast.“, grinste er mir zu.

„Wow, danke Bob. Das hab ich schon wieder voll vergessen.“

„Das hab ich mir schon gedacht. Jetzt aber wieder ran an die Arbeit.“

„Ja, Sir.“

Ich ging erleichtert über eine Sorge weniger an die Arbeit. Im Laden war es an dem Tag ruhiger. Einige konnten sich nicht entscheiden, andere wollten unerkannt bleiben und trugen, trotz Schnees eine Sonnenbrille.

Bob liebte es, wenn der Laden geheizt war, dass es selbst in der Wüste nicht viel heißer sein konnte. Ich fing langsam an zu schwitzen und zog mein Langarmshirt aus. Somit stand ich mal wieder in abgewetzten Jeans und einem schwarzen Trägertop hinter der Theke und fühlte mich wie in den Tropen. Dieses Gefühl wurde durch die vielen Plastikpalmen im Laden und den sandfarbenen Linoleumboden nur noch verstärkt. Bob hatte sich einen kleinen Spaß erlaubt, da ich mich öfters mal über die Hitze beklagt hatte.
 

Und so stellte er genau in meinem Blickfeld einen gemütlichen Klappstuhl, daneben eine noch gemütlichere Hängematte, auf. Im Hintergrund liefen ständig irgendwelche Karibik- Sommer- Lieder und ich verspürte regelmäßig das Bedürfnis mich einfach in den Klappstuhl zu setzen und vom Meer und Urlaub und vor allem einer heilen Welt zu träumen.
 

Heute war auch wieder so ein Tag an dem ich mich am liebsten einfach in meinen Träumen vor der Realität gerettet hätte. Denn die Wirklichkeit sah so aus, dass ich müde und mit einem Kaffee in der Hand in einem überheizten Laden arbeitete, während es draußen immer noch scheite.
 

Ich hatte zu viel zu tun, als dass ich mich im Klappstuhl hätte ausruhen können und so machte ich mich zwischen Putzen und Bedienen daran die vielen verschiedenen Angebote zu sortieren, einzuräumen oder zu studieren. Bobs einzige Forderung bestand darin, dass jeder Mitarbeiter sämtliche Filme kennen musste. Ich hatte mir von Anfang an einen Plan gemacht und schrieb deshalb zu jeden Film eine kleine Inhaltsangabe mit den wichtigsten Stichpunkten und eine eigene Kritik. Somit konnte ich mir das ganze besser merken und kam auch weniger durcheinander.

Kurz vor Schichtende, es war bereits nach 20 Uhr, rief mich Bob noch einmal zu sich und reichte mir zwei DVD’s.

„Würdest du die bitte anschauen und eine Kritik dazu schreiben. Die Kundschaft ist ganz versessen auf diese Kritiken. Bitte bis morgen, ja.“
 

>Was? Zwei Filme mit jeweils ca. 95 Minuten Laufzeit innerhalb von 24 Stunden? Und dazu noch eine annehmbare, vorzeigbare Kritik?<
 

Das war unmöglich. Zumal ich noch nie etwas von den Beiden gehört hatte.
 

„Bob, bitte. Ich muss morgen zur Schule und noch Hausaufgaben machen. Einen Film würde ich schaffen, aber nicht Zwei.“

„Das schaffst du schon. Ich zähl auf dich. Bis morgen dann.“

Das war das Stichwort. Jetzt hatte man keine Antwort mehr zu erwarten. So einfach Bob einem die Arbeit auch machte, manchmal verlangte er ganz schön viel.
 

„Da sitz ich mindestens bis 2 Uhr heute Nacht dran. Verdammt!“, murmelte ich leise vor mich hin und ging dick eingepackt nach draußen in die Kälte zu meinem Roller.

„So. Fertig. Bitteschön Melody. Bob hatte mich gebeten deinen neuen Rückspiegel anzubringen.“

„Danke Karl.“, sagte ich zu meinem Arbeitskollegen, der durchnässt von Schnee und Kälte bei meinem Fahrzeug stand.

„Also dann. Ich muss zurück in den Laden. Komm gut nach Hause. Wir sehen uns morgen wieder in aller Frische. Tschüss.“, verabschiedete Karl sich und ging wieder an die Arbeit. Es war nicht gerade einfach nach Hause zu fahren, aber ich schaffte es irgendwie. Tropfend schloss ich das Haus auf und betrat das dunkle und kalt vor mir liegende Gebäude.
 

Ich machte mir nicht die Mühe das Licht einzuschalten und zog mich müde und nass im Gang aus. Ich zündete den Kamin an und stellte meine nassen Schuhe davor. Die durchweiche Jacke und meine Jeans hing ich daneben auf und setzte mich noch kurz vor das langsam vor sich hin prasselnde Feuer.
 

Ich taute allmählich wieder auf und als sich meine Haut wieder normal warm anfühlte, und nicht mehr wie ein toter Fisch eiskalt war, stand ich auf und ging in die Küche. Während der Tee kochte briet ich mir ein paar Eier in der Pfanne und sah in die Dunkelheit vor dem Fenster in unseren Garten.
 

»Ich erinnerte mich daran, wie meine Mum immer im Garten gearbeitet hatte. Sie pflanzte eine Blume nach der anderen, während der Schweiß auf ihrem Gesicht von der Sonne zum glitzern gebracht wurde. Sie schaute von ihrer Arbeit hoch als ich von der Schule kam, mit einem Strahlen in den Augen und einem Grinsen auf den Lippen.

„Na meine Kleine, wie war dein Tag“, begrüßte sie mich glücklich.

„Toll, Mum. Ich hab eine 2 in der Mathearbeit.“

„Das ist ja super, Schatz.“

Glücklich und zufrieden strahlten wir uns um die Wette an. Ihre Klamotten waren total verdreckt von dem Blumenbeet in dem sie kniete, aber sie war glücklich.«
 

Das Pfeifen des Teekessels riss mich aus meiner Erinnerung und ich wischte mir die Träne von meiner rechten Wange. Das ganze lag nun bereits 1 ½ Jahre zurück.

>Damals als die Welt noch in Ordnung war.< dachte ich traurig und nahm meinen Tee und die Eier und setzte mich an unseren Esstisch. Die beiden anderen Stühle standen unberührt und unbewegt neben mir um den Tisch herum und ich musste wieder an Mum und Dad denken. Sie fehlten mir unheimlich. In solchen Momenten, wenn mir alles zu viel zu werden drohte, hatten sie mir immer Mut gemacht mich weiter durchzukämpfen.

Doch jetzt waren sie weg und ich saß alleine in diesem großen Haus, mit einigen mickrigen Nebenjobs und ohne viel Hoffnung für die Zukunft. Ich hatte noch nicht viel gegessen als das Telefon mich aus meinen Erinnerungen riss.

„Hallo?“

„Hey Melody. Ich bin es, Jennifer.“

„Oh , hi Jen. Was gibt’s denn?“

>Bitte frag mich nicht wie’s mir geht. Bitte frag mich nicht wie’s mir geht.< betete ich insgeheim.

Ich war nicht gut darin ihr etwas vorzulügen. Sie merkte es immer sofort, wenn es mir schlecht ging.

„Ich wollte dich fragen, ob du am Samstag abends mit mir ins Kino gehen würdest.“

„Ich weiß noch nicht, Jen. Du weißt doch, mein Job. Aber ich kann’s versuchen. Vielleicht kann ich mit Karl die Schicht tauschen. Dann hätt ich abends Zeit. Ich sage dir noch Bescheid ok.“

„Das wäre super. Chris, Mary, Thom und ich würden uns echt freuen.“

>Oh nein. Dann war das so ein Abend wieder.<

Mary war in Chris verknallt und Jen in Thom, was bedeutete, dass die beiden sich den ganzen Abend nur mit den zwei Herren beschäftigen würden.

„Ich schau mal was ich tun kann, Jen.“

„Du kannst natürlich gerne noch jemanden mitbringen, wenn du willst.“

Normalerweise nahm ich Amber zu solchen Treffen immer mit. Aber sie hatte dieses Wochenende leider keine Zeit. Irgendein Ausflug mit ihrem Freund David stand bei ihr an.

„Ja, ich wird es mir überlegen. Dann bis morgen, Jen.“

Ich dachte sie wäre fertig doch irgendetwas schien sie noch zu beschäftigen, also fragte ich nach.

„Oder ist noch irgendetwas?“

„Naja… also…ach nein, ist nicht so wichtig. Bis morgen, Melody.“

>Das Freizeichen ertönte und verwirrt legte ich den Hörer auf. Sie wollte noch irgendetwas sagen. Wieso hielt sie sich zurück? Das ist doch sonst auch nicht ihre Art.<

Ich aß den Rest meines Abendbrotes auf und räumte das Geschirr in die Spüle. Nachdem alles abgespült und verstaut war machte ich mich an meine Hausaufgaben. Ich war keine Vorzeigeschülerin, doch das hieß noch lange nicht, dass ich schlecht in der Schule sein musste. Nachdem ich sämtliche Aufgaben erledigt hatte, machte ich mich an die Aufgabe, die Bob mir gegeben hatte.

Ich sah mir die Hüllen der DVD’s genauer an und studierte zuerst eindringlich den Inhalt. Ich hatte die Wahl zwischen `The Breakfast Club´ und `Flashdance´. Beides ältere Filme, wahre Klassiker, keine Frage. Nach kurzer Überlegung entschied ich mich mit Breakfast Club anzufangen. Wenn ich schon einen Film übers Nachsitzen anschauen musste, konnte ich das auch noch vor dem >romantischen Tanzfilm< hinter mich bringen.

Wie jedesmal saß ich mit meinem Tee in einer Decke eingewickelt auf dem Sofa- die Lampen aus, nur ein paar Kerzen spendeten Licht. Das reichte mir jedoch völlig aus um Notizen zu machen.

Ich schrieb mir das wichtigste mit, machte kleine Randanmerkungen und schaute aufmerksam dem Geschehen im Fernseher zu. Der erste Film war zu Ende. Ich schrieb eine allgemeine Kritik und legte dann die zweite Disc ein. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich gut in der Zeit lag.

>Elf Uhr und nur noch ein Film. Das ist zu schaffen.<

Der Film lief an und ich machte mit meiner Arbeit weiter.

Völlig erschöpft ging ich, nachdem der letzte Satz fertig geschrieben war, nach oben in mein Zimmer. Der Kamin war inzwischen wieder fast ausgegangen. Er glühte noch ein wenig und spendete weiter Wärme. Meine Sachen waren inzwischen trocken. Ich war total müde und fiel auf mein Bett, völlig erschöpft.

Ein letzter Blick auf meinen Wecker sagte mir, dass es 2:10 Uhr war. Ich hatte für die letzte Kritik ewig gebraucht und konnte mich kaum noch konzentrieren. Ich verfiel in einen ruhelosen Schlaf und meine Träume setzten wieder ein.

Träume und andere Verletzungen

Träume und andere Verletzungen

 

„Melody, Schätzchen, wieso kommst du schon wieder zu spät? Du weißt doch, dass dein Meister wütend wird, wenn du unpünktlich bist!“

„Ja Mum, ich weiß. Es tut mir ja Leid, aber…“

„Keine Ausreden! Jetzt ess noch schnell was und dann ab mit dir!“

Gesagt, getan. Ich aß schneller als sonst mein Mittagessen – ein Mum- Spezial – auf und machte mich fürs Training fertig. Ich kam gerade noch rechtzeitig am Trainingsplatz an und ersparte mir somit eine Menge Ärger. Jeder, der zu spät erschien wurde vom Meister bestraft. Er war sehr alt und die strengste Person, die es vermutlich auf dieser Welt gab, aber er war auch der Beste seines Faches. Er schickte uns wie immer übers Feld zum Warmlaufen, oder besser gesagt jagte er uns ums Feld herum. Neulinge hatten bei uns keine Chance. Wir trainierten nun bereits alle seit wir fünf Jahre alt waren zusammen. Wir waren ein eingespieltes Team und wie eine Familie. Und unter all den anderen Jungs stand er, der Sinn meiner Existenz, mein Herz.

„Jack!“ rief ich und sprang ihm in die Arme. Er fing mich sicher auf und hielt mich ganz stark an seine Brust gepresst fest. Sein leichter Kuss auf meiner Stirn verursachte ein Kribbeln, das durch meinen ganzen Körper jagte und ich war glücklich ihn zu haben.

„Schatz du wärst beinahe zu spät gekommen. Was war denn los? Zu lange gegessen?“ scherzte er und sein Lachen ließ mein Herz Saltos in meiner Brust veranstalten.

„Ha. Ha. Sehr witzig. Aber nein, ich war noch länger bei einem Lehrer wegen einem Aufsatz und musste mich danach beeilen. Du weißt ja. Mr. Franka redet viel.“

„Ach ja das hast du schon mal erwähnt. Dein Deutschlehrer, die Labertasche.“ lachte er.

„Wieso bist du heute so gut drauf? Ist irgendwas passiert?“

„Nein, meine Kleine. Es ist alles perfekt, “ strahlte er und der Meister begann das Training.

 

Ich wachte weinend und mit Schmerzen in der Brust auf.

>Es wird immer unerträglicher. <

Ich konnte meine Gedanken an ihn tagsüber gut kontrollieren, aber nachts schlugen die Erinnerungen durch Träume in meine Seele Wunden, die klaffend offen lagen und starke Schmerzen verursachten.

Ich lag zusammengekrümmt und vor Schmerzen weinend  in eine Ecke auf meinem Bett gedrängt da und wartete in die unendliche Dunkelheit starrend bis es dämmerte und ein neuer Tag anbrach.

Es war jeden Morgen das Gleiche.

Meine Augen brannten vom vielen Weinen und fanden erst unter der Dusche Linderung. Ich machte mich für den Tag bereit ohne sicher wissen zu können, was dieser für mich bereit hielt. Ich hatte starke Augenringe, da ich nie viel Schlaf fand und dieser dann auch nicht ruhig und erholsam war.

Ich putze mir die Zähne, während ich mein Gesicht im Spiegel betrachtete.

>Ich hasse Spiegel. Irgendwie sind sie ganz schön unheimlich. <

Das grelle Licht des Spiegelschrankes machte meine Haut noch blasser. Ich war früher viel an der Sonne, wurde aber noch nie wirklich braun. Doch jetzt sah ich nicht mehr normal rosig, sondern kränklich blass aus. Die einzigen Farben in meinem Gesicht stachen daher extrem heraus. Die Ringe unter meinen Augen gingen schon ins violette und man könnte denken ich hätte ein paar bei einer Prügelei drauf gekriegt. Die Iris trat grün unter den Lidern hervor, doch hatten diese Augen, dieser Blick, dieses Gesicht und –wie ich befürchtete- diese Person nichts mehr mit dem Mädchen von damals, welches mir im Traum erschien, gemein.

Das Funkeln erlosch aus ihren Augen, der Blick ging ins Leere. Das Gesicht ausgezehrt. Die Person leblos in ihrer Hülle.

Ich konnte diesen Anblick nicht länger ertragen, denn er rief die ganzen Geschehnisse von damals wieder in mir wach.

Und auch jene Gefühle und Empfindungen, die ich geglaubt hatte für immer getötet und verloren zu haben. Ich sammelte meine Sachen für die Schule zusammen und ging hinunter in die Küche. Wie jeden Morgen saß ich mit meinem Kaffee und einer Schüssel Cornflakes auf der Anrichte unserer Küche und schaute aus dem Fenster.

Es hatte die ganze Nacht geschneit und die Straßen waren zu. Ich hatte Bedenken, dass mein Roller anspringen würde und überlegte noch eine Weile, ob ich mich nicht krankmelden sollte. Aber nach so einer Nacht wollte ich nicht noch länger alleine in diesem Haus bleiben. Die Erinnerungen stachen mir in die Brust und ich konnte nur schwer atmen vor Schmerzen. Die Einsamkeit drohte mich zu erdrücken. Bevor sie mich unter ihr begraben konnte eilte ich aus dem Haus. Ich lag noch gut in der Zeit. Doch ob das auch so blieb hing vom Motor meines Rollers ab. Es war eiskalt draußen, doch der Schnee hatte für kurze Zeit ausgesetzt. Ich steckte den Schlüssel in das Zündschloss und versuchte ihn zu starten.

Ein Brummen und…. er erstarb. Ich versuchte es nochmal.

„Einmal ist nicht so schlimm. Das wird schon, “ redete ich mir Mut zu.

10 Minuten und endlose gescheiterte Versuche später gab ich fluchend auf. Mir blieb nichts anderes übrig als loszulaufen.

„Hey Jules. Tut mir leid, aber ich komm nicht rechtzeitig. Probleme mit`m Roller. Muss laufen und das dauert länger. Sag bitte den anderen Bescheid. Danke.“

„Klar, kann ich machen. Pass nur auf. Es ist sehr glatt und ich kenn die Wege, die du immer läufst. Abgelegene Trampelpfade. Bei diesem Wetter tödliche Eiswege.“

„Mach dir um mich keine Gedanken. Ich schaff das schon, “ sagte ich und legte auf. Das Handy noch in der Hand dachte ich über Jules‘ Worte nach. Sie war eine gute Freundin von mir und musste notieren, wer, wann, wieso zu spät kam. Sie hatte mir schon einige Male geholfen und hatte daher einiges bei mir gut. Mir kam Jennifers Angebot von gestern Abend in den Sinn und ich überlegte, ob ich nicht mit Jules hingehen sollte. Das wäre für uns beide sicherlich lustig.

Meine Füße fanden den Weg von alleine und somit musste ich nicht viel auf die Straße achten.

Ich hing meinen Gedanken nach. Die meisten drehten sich um die Schule und den bevorstehenden Unterricht. Auch konnte ich mir die Gespräche mit Sybille Snowler gut vorstellen, da ich zu spät kommen würde.

>Was sie mir wohl dieses Mal für eine Strafe auferlegen wird? So leicht wie gestern werde ich nicht noch einmal davon kommen. <

Ich dachte an den gestrigen Tag.

Die Blicke der anderen.

Die Sprüche der Lehrer.

Den neuen Schüler.

William.

An ihn hatte ich bereits nicht mehr gedacht. Nach meinem Albtraum schien er aus meinem Gedächtnis gelöscht worden zu sein. Mir kam seine Erscheinung wieder in den Sinn.

Sein Gang.

Sein markantes Gesicht.

Das alles waren nur fade Erinnerungen. Nichts stach aus dem Grau meiner Gedanken heraus. Nichts bis auf seine Augen.

Diese Augen.

Der durchdringende und fragende Blick.

Diese Tiefe und das Gefühl, sich im endlosen Grün dieser strahlenden Augen zu verlieren.

Mir liefen Schauer über den Rücken, wie die letzen Male davor, als William Macrise mir in die Augen sah und wir uns anstarrten, in völliger Bewegungsunfähigkeit.

Ich schüttelte mich, um dieses Gefühl des Unbehagens loszuwerden, passte nicht auf meine Füße auf und fiel über eine hervorstehende Wurzel auf eine vereiste Fläche. Ich sah mich um und merkte erst jetzt wie weit ich bereits gekommen war. Ich schaute an mir herunter als ich mich aufrichtete und bemerkte den größer werdenden Flecken an meinem linken Knie und die Schürfwunden an meinen Händen. Mir tat der Kopf etwas weh, da ich auf meiner linken Seite unsauber gelandet war. Ich stand auf und der Schmerz in meinem linken Bein durchfuhr meinen Körper. Ich ignorierte das Ziehen und lief weiter. Es war nicht mehr weit und etwa 5 Minuten später betrat ich das Klassenzimmer für Musik.

„Es tut mir leid, aber der Motor streikte und ich musste laufen.“

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich keine 25 Minuten gebraucht hatte. Das hieß der Unterricht hatte vor einer viertel Stunde begonnen.

„Ist schon okay. Es waren einige zu spät heute. Sie bluten ja. Ist etwas passiert? Geht es ihnen gut?“ fragte Mrs. Sanderson besorgt.

„Schon okay. Bin nur hingefallen und ungünstig gelandet.“

„Ungünstig? Das ist ja fast eine Platzwunde an ihrer Stirn“ Gehen sie besser mal zur Krankenschwester.“

„Stirn? Was? Wo?“

Ich stürmte zum Waschbecken und sah in den Spiegel. Eine dicke Blutspur zog sich über die linke Gesichtshälfte. Die Wunde war nicht sehr groß, aber Kopfverletzungen bluten bekanntlich immer stärker als andere. Und da machte diese keine Ausnahme. Ich ließ den Wasserhahn an und wusch mein Gesicht schnell ab, um den Schaden genauer zu untersuchen. Es stellte sich heraus, dass es nicht so schlimm war, wie befürchtet und ich musste nicht zur Krankenschwester.

Ich nahm den Erste- Hilfe- Kasten hervor und klebte ein Pflaster auf meine Stirn. Da ich meinen Scheitel genau auf der Seite hatte konnte man die Verletzung sehr gut sehen, leider!

Ich wusch mir das Blut von den Händen. Die Schürfwunden waren nicht so dramatisch. Man musste sie nicht behandeln, geschweige denn beachten.

Mein Knie machte mir am meisten Sorgen. Ich spürte, wie das Blut bereits mein Bein hinuntergelaufen war und seine Spuren hinterlassen hatte. Ich krempelte das Hosenbein hoch und sah das Unglück. Mein gesamtes Bein war übersät mit Blutspuren und die Wunde hörte nur mäßig auf zu bluten. Ich säuberte zuerst einmal meine Wade, damit diese wieder einigermaßen normal aussah.

Danach wendete ich meine Aufmerksamkeit auf mein schmerzendes Knie. Ein Pflaster würde da nicht reichen.

> Zuerst mal muss der Dreck raus. <

Also war auswaschen angesagt. Diese Schmerzen waren auszuhalten. Aber was danach folgte würde mehr wehtun als alles andere.

Desinfizieren!

Autsch!

Ich nahm das Fläschchen aus dem Kasten und träufelte etwas auf ein Stück Watte. Davor hatte ich Angst. Ich wollte keine Schwäche zeigen. Nicht vor den anderen.

Doch ich konnte es nicht.

Mein Knie brannte bereits jetzt wie Feuer und diese Flüssigkeit würde es nur noch verschlimmern. Es half alles nichts. Ich musste es tun. Meine Hand zitterte heftig, bis sie jemand von hinten packte und festhielt.

„Kann ich dir helfen?“

„William? Nein danke. Schon okay. Ich schaff das schon alleine.“

Mein Herz schlug schneller. Ich hatte Angst.

„Aber du zitterst doch schon. Komm, kurz und naja nicht gerade schmerzlos, aber dann ist es schneller vorbei.“

Ich hatte keine Wahl. Er hielt meine Hand ganz fest in seiner und drückte sich leicht von hinten gegen mich, um mir besser über die Schulter schauen zu können. Mein Bein hatte ich angewinkelt an das Waschbecken gelehnt, um es besser reinigen zu können. Doch dadurch saß ich nun in der Falle. Ich konnte mich nicht vom Fleck rühren.

Die Schmerzen hörten nicht auf und das Pochen wurde heftiger, nicht nur das in meinem Knie.

Mein Herz raste fast aus Angst vor den bevorstehenden Schmerzen. Williams linker Arm umfasste meine Taille, um mich zu stützen, da mein anderes rechtes Bein nun unerbittlich zitterte und ich drohte den Halt zu verlieren. Seine rechte Hand um meine Rechte geschlossen führte er die mit Desinfektionsmittel getränkte Watte langsam an mein Knie.

Mein Herz raste fast aus Angst vor den bevorstehenden Schmerzen. Williams linker Arm umfasste meine Taille, um mich zu stützen, da mein anderes rechtes Bein nun unerbittlich zitterte und ich drohte den Halt zu verlieren. Seine rechte Hand um meine Rechte geschlossen führte er die mit Desinfektionsmittel getränkte Watte langsam an mein Knie.

Meine Atmung, erst viel zu schnell vor Angst, setzte mit einem Mal aus, als die kühle Flüssigkeit die offene Stelle an meinem Knie  in Brand setzte. Vor meinen Augen zuckten weiße Blitze und der Schmerz lähmte meinen Körper. Ein stummer Schrei glitt über meine Lippen und ich geriet ins Wanken. Doch William hielt mich fest. Er drückte mich nun noch stärker an sich, als er mein Schwanken spürte. Mein Denken war vom Feuer in meinem Bein betäubt. Nur noch die Wärme von Williams Körper war da. Ich spürte nichts außer dieser Tatsache. Ich hörte nichts außer seinem Atem an meinem linken Ohr. Gleichmäßig und ruhig.

Dieser Rhythmus beruhigte mich und mein Körper begann wieder zu arbeiten.

Seine Muskeln um mich spürend fühlte ich mich sicher und geborgen. Die Schmerzen ließen langsam nach und mein Gehirn war in Alarmbereitschaft.

„Danke, aber das wäre nicht nötig gewesen, “ meine Stimme zitterte noch und klang heiser.

„Nichts zu danken. Es war mir ein Vergnügen.“

„Oh das kann ich mir gut vorstellen. Anderen Schmerzen zu bereiten macht ja so viel Spaß, “ der Sarkasmus tropfte nur so aus meinen Worten. Er legte die nun blutverschmierte Watte beiseite und nahm eine Mullbinde aus dem Koffer.

„Halt ganz still, dann ist es schneller vorbei, “ sagte er und wickelte den Mull auf.

„Ich kann das schon alleine, danke. Ich brauche deine Hilfe nicht!“

„Sicher?“ er zog eine Augenbraue nach oben. Seine Stirn legte sich in Falten, als ich zu schwanken begann.

„Ja ich bin mir sicher. Ich bin schon ein großes Mädchen und brauche keine Hilfe von anderen.“

„Na dann ist es ja gut, dass ich nicht „andere“ bin, “ sagte er grinsend und packte mein Bein. Der Schmerz durchzuckte mich wieder und die Tränen rannen nun endgültig über mein Gesicht.

„Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.“

Seine Stimme klang wie Samt und seine Worte hüllten mich ein.

Jack

Ich sah ihn vor mir. Im Spiegel hinter mir stand nicht länger William. Diese Augen gehörten nicht William. Sie gehörten Jack. Er hielt mich in seinen starken Armen, den Kopf an meinen Hals gelegt und lächelte mich an. Eine Träne rann über meine Wange, doch ich konnte meinen Blick nicht abwenden.

Da stand er.

Umarmte mich von hinten wie früher und wärmte mich.

Wir mussten nichts sagen.

Wir hatten uns.

„Geht es ihnen gut, Melody? Wollen sie nicht lieber doch zur Krankenschwester?“ riss mich Mrs. Sanderson aus meinen Gedanken.

„Ich denke es geht schon wieder. Sieht vermutlich schlimmer aus, als es tatsächlich ist,“ antwortete William.

„Danke Mr Macrise, aber ich habe Ms Saints gefragt und ich denke… „

„Schon okay Mrs. Sanderson. Es geht schon.“

Ich wischte mir verstohlen die Tränen weg und versuchte Mrs. Sanderson anzulächeln, um sie zu beruhigen. Es funktionierte besser als gedacht und sie ließ William und mich wieder alleine.

Sie setzte sich an den wunderschönen Flügel, der im vorderen Teil des Zimmers stand und spielte das Stück noch einmal, welches sie bereits bei meiner Ankunft und Verarzten gespielt hatte. Es war ein wunderschönes Stück aus der Romantik.

>Welch herrliche Ironie in dieser Situation doch herrscht.<

Ich drängt William von mir weg, sodass ich mein Bein herunternehmen und ausstrecken konnte. Es zog und pochte heftig, aber wenigstens konnte ich mich nun wieder frei bewegen und war nicht länger gefangen zwischen dem Waschbecken und Williams Körper.

Ich drehte mich zu ihm um und mir wurde schwindelig. Ich hielt mich am Beckenrand fest und stöhnte leicht.

„Ich denke jetzt lässt du mich dir doch helfen, oder?“

Ich antwortet nicht, da sich der Raum immer noch leicht drehte.

„Ich nehme das als ein ja,“ sagte er und kniete sich vor mich nieder.

Mir stockte der Atem, mein Herz setzte aus und eine Flut von Bildern überrollte mich.

Sonnenuntergang

Waldrand

Die Stadt vor uns

Jack vor mir

Niedergekniet

Metall

Tränen

Schmerzen

Alles wirbelte um mich herum, bis ich das Gefühl hatte, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ich hing an einem endlosen schwarzen Loch und hielt mich am Rand fest, um nicht in die Tiefe zu stürzen.

„Soll ich dich doch besser zur Krankenschwester bringen? Du bist ganz blass.“

William riss mich aus der Tiefe und auf den harten Boden der Gegenwart zurück.

„Mir geht`s gut, danke.“

„Wie du meinst.“

Mein Herz weinte und meine Seele blutete, so oft hatte ich nun an Jack denken müssen. Die Erinnerungen überrollten mich und trafen mich unvorbereitet. Die Schmerzen in meinem Bein und das leichte Schwindelgefühl ausgelöst vom Blutverlust und der kleinen Kopfwunde waren kein Vergleich zu den Schmerzen, die mich bei jedem kleinsten Gedanken an ihn durchzuckten. Ich senkte den Kopf. Mein Kampfwille war gebrochen und ich fiel zurück in das schwarze Loch, umringt von Schmerzen.

Mir wurde wieder einmal schmerzhaft bewusst, wie allein ich in Wirklichkeit war. Ich hatte alles verloren und kämpfte mich alleine durchs Leben. Mir war nichts mehr geblieben. Ich wollte nur noch eines tun.

Meinem gebrochenem Herzen in die Dunkelheit folgen.

Mein Körper schwankte heftig und ich wurde in die Gegenwart zurückgeworfen. Das Waschbecken in meinem Rücken spürend sah ich auf den Mann herab, der sich um mein Knie kümmerte. Ich zwang mich genau hinzusehen und atmete erleichtert auf, als ich William vor mir sah. Er sah zu mir auf, als er den Verband befestigte und lächelte mich zögernd an. Vorsichtig streiften seine Finger über den Verband und er erhob sich schließlich elegant. Mein Blick hing an der Stelle, an der Williams Finger noch vor wenigen Sekunden waren.

„Ist es zu fest?“ Seine Stimme klang unsicher. Verwirrt schaute ich auf und mein Blick blieb an seinen Lippen hängen. Ich traute mich nicht ihm in die Augen zu sehen.

„Nein, es ist in Ordnung.“ Ich klang heiser und angeschlagen. „Danke für deine Hilfe, William.“ Ich musste seinen Namen einfach laut aussprechen, um meinen Gedanken Halt im hier und jetzt zu geben. „Ich denke ich schulde dir etwas.“

„Mhm. Ich komm garantiert darauf zurück.“

„Okay. Ich denke wir sollten uns besser an unsere Plätze setzen. Den Anderen fallen die Augen gleich heraus, wenn wir hier noch länger herumstehen. Und nochmal vielen Dank für deine Hilfe,“ versuchte ich lächelnd zu antworten, um mein Verhalten freundlicher wirken zu lassen. Doch irgendwie sah ich eher gequält als freundlich aus.

>Naja, einen Versuch war’s wert.<

„Da hast du vielleicht Recht.“

Ich wollte gerade zu meinem Platz gehen, als er mich noch einmal am Arm packte. Er schaute mir direkt in die Augen und sprach so leise, dass nur ich es hören konnte.

„Ich werd es mir merken, versprochen.“

Er grinste mich verwegen an, während er zu seinem Platz bei Jimmy in der ersten Reihe zurückging. Mein Herz pochte mir in den Ohren, als ich mich auf meinem Platz am anderen Ende des Klassenzimmers- und somit so weit weg wie möglich von William- sinken ließ. Ich bewahrte Haltung, während mich geschätzte 25 Augenpaare anstarrten.

>Was für ein perfekter Start in den Tag< dachte ich mir. > Aber… Wieso hat ausgerechnet William mir geholfen? Na das kann ja was werden.<

Zurück ins Leben

Zurück ins Leben
 

„Was war los? Erzähl mir alles!“, forderte Amber sofort als wir das Klassenzimmer von Chemie zur Pause verließen.

Amber war in meinem Jahrgang und nur in wenigen Stunden bei mir in der Klasse, aber der Vorfall in der ersten Stunde hatte sich unter den Mädchen herumgesprochen wie ein Lauffeuer im australischen Busch. Amber hatte im Raum neben uns ebenfalls Chemie gehabt und somit war es nicht verwunderlich, dass sie mich rechtzeitig abfangen konnte, bevor ich mich irgendwohin zurückziehen konnte, ohne dass man mich vor Pausenende finden konnte.

„Naja…also…ehm...“, stammelte ich – noch nach einer Ausrede suchend- herum.

„Versuch dich nicht herauszureden, junge Dame! Ich weiß, dass du heute ausnahmsweise mal nicht in der Pause zur Frau Direx musst. Also, wenn du nicht willst, dass ich die Informationen aus dir heraus kitzle, rück besser gleich mit der Sprache heraus.“
 

„Junge Dame? Ich glaub du vergisst, dass ich älter bin als du, Fräulein!
 

„Lenk jetzt bloß nicht vom Thema ab. Ich warne dich Melody.“
 

„Amber, du musst mir gar nicht drohen. Dafür gibt es nämlich keinen Grund. Es war absolut nichts Erzählenswertes.“
 

„Nichts Erzählenswertes? Ich seh doch ganz deutlich dieses riesen Pflaster auf deiner Stirn. Und den Blutfleck an deiner Jeans ist auch nicht zu übersehen, ganz zu schweigen von deinen Händen.“
 

>Na super, ihr entgeht aber auch gar nichts. <
 

„Das ist doch schnell erzählt. Ich war auf dem Weg zur Schule unachtsam, bin gestolpert und unglücklich gelandet. Punkt.“

Ich versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen um meine beste Freundin nicht auf dumme Gedanken oder Fragen zu bringen.
 

„Du bist doch unverbesserlich. Wo soll das noch mit dir hinführen…“, murmelte Amber vor sich hin, aber anscheinend war das Thema so für sie gegessen. Oder ihr war einfach nur klar, dass ich nicht mehr zu dieser Sache sagen wollte.

Wir durchquerten die überfüllte Aula, um zur Mädchentoilette zu gelangen, als uns der Weg versperrt wurde.
 

„Hallo? Was soll das denn hier werden? Wir wollen hier durch also verschwindet ihr kleinen Gören!“, schimpfte ich die Gruppe von Mädchen an, die sich zu einer scheinbar undurchdringlichen Mauer zusammengeschlossen hatten.
 

„Ehm, Hallo? Was wird das hier?“
 

Keine Reaktion.
 

>Ich hasse das! Wieso wissen solche kleinen Kinder nicht mehr, dass man vor Älteren Respekt zu haben hat. <
 

„Hey, Melody, beruhig dich. Das sind doch noch kleine Mädchen.“, versuchte Amber mir zu erklären, aber meine Geduld war für heute bereits genug gereizt worden.
 

„Ich krieg heut noch die Krise, Amber, ich schwör’s dir!“
 

„Apropos Krise. Der Grund für diese Mädchenversammlung wird dir nicht gefallen.“
 

„Wieso, was ist denn….“ Doch weiter kam ich nicht, denn genau da sah ich es auch.
 

„Wieso war mir das jetzt klar?!“, spottete ich sarkastisch. „Und ich dachte noch unsere Schule sei relativ groß. Aber da hab ich mich wohl geirrt. Oder was sagst du dazu, Amber?“
 

„Reg dich doch nicht gleich auf, Mel. Das ist doch verständlich. Er ist neu, sieht gut aus und ist –wie man so hört- noch zu haben. Perfekt für diese Mädels da.“
 

„Ja und er ist Ire, noch ein weiterer guter Grund“, gab ich höhnisch zurück. „Findest du es nicht auch merkwürdig wie „Ire“ und „Irre“ sich ähneln?“, zwitscherte ich Amber sarkastisch zu.
 

„Der war schlecht, Melody. Außerdem sei nicht immer so gemein. Du weißt doch: Wahnsinn und Genie liegen nah beieinander!“
 

„Ja aber Genies brauchen meiner Meinung nach immer einen Psychiater, da sie immer irgendwelche Probleme haben. Und so ein Seelendoktor braucht häufig selbst einen Seelenklempner.“, lachte ich fröhlich und triumphierend. Darauf fiel ihr garantiert nichts mehr ein. „Ein ewiger Teufelskreis von Irren, wenn du mich fragst, Amber.“
 

„Na da hast du vielleicht Recht, aber du stehst doch auf verrückte Typen, oder irre ich mich da jetzt?“ Nun war Amber dran triumphierend zu grinsen.
 

„Gutes Argument. Aber leider nicht ganz auf dem neusten Stand. Ich stand auf verrückte, ausgeflippte Typen. Stand! Vergangenheitsform!“
 

„Alte Gewohnheiten wird man nicht so schnell los, wie du weißt.“
 

„Aber manchmal muss man das Alte hinter sich lassen, um nach vorne blicken zu können.“, murmelte ich vor mich hin.
 

Amber bemerkte meinen trauriger werdenden Blick und tat das, was sie immer tat, wenn sie merkte, dass irgendwas mit mir nicht stimmte. Sie zog mich von der Öffentlichkeit weg – in diesem Fall auf die Mädchentoilette- und nahm mich ganz fest in die Arme. Es war ein gutes Gefühl von ihr umarmt zu werden. Es gab mir wieder die Geborgenheit und Ruhe zurück, die mir so oft fehlte.
 

„Wie oft heute?“
 

Ich musste nicht nachfragen, um zu wissen wovon Amber sprach.
 

„Sehr oft.“, antwortete ich mit belegter Stimme.

Wieder zog sie mich an sich heran und hielt mich einfach nur fest.
 

„Es wird alles wieder gut. Beruhig dich. Ich bin ja da.“, sagte sie sanft und klang dabei wie eine besorgte Schwester. Und das war sie auch für mich. Sie war wie eine Schwester. Amber hatte damals alles miterlebt und mir in der schwersten Zeit meines Lebens zur Seite gestanden. Dafür war ich ihr unsagbar Dankbar.
 

„Willst du darüber reden?“, sie drängte mich nie zu etwas und das schätze ich so sehr an ihr.
 

„Ich weiß nicht mehr weiter. Ich verstehe das alles einfach nicht… Wieso…Wieso jetzt…das ergibt doch keinen Sinn…“ ,stammelte ich vor mich hin.
 

„Schhht.. ganz langsam und ruhig. Was ist passiert? Hast du wieder einen Traum gehabt?“
 

Ich nickte.
 

„Okay. Was war es für einer?“
 

„Erinnerungen“, stammelte ich.
 

„Eine Erinnerung? War es eine von seinem… naja… war es der Tag an dem er…“
 

„Nein, so eine Erinnerung war es nicht. Es war eher was ganz banales. Ich habe von einem Training geträumt. Ich kam zu spät von der Schule und Mum hat mit mir geschimpft, aber ich kam trotzdem noch rechtzeitig zum Trainingsplatz….“
 

Und so erzählte ich ihr von meinem Traum und wie ich schließlich wieder weinend aufgeschreckt bin. Sie hörte mir aufmerksam zu und überlegte schließlich eine Weile.
 

„Was glaubst du? Bedeutet das etwas?“
 

„Was meinst du, Amber?“
 

„Naja, ich meine, dass du von einem der Schönen und guten Zeiten träumst, hat doch sicher irgendwas zu bedeuten, oder?“
 

„Ich weiß es nicht. Ich denke aber eher nicht. Das war sicher nur Zufall.“
 

„Wenn du das sagst…“
 

„Dieser Unterton gefällt mir nicht, Amber! Was willst du mir damit sagen? Dass es etwas zu bedeuten hat, dass ich gerade jetzt von den glücklichen Zeiten träume?“
 

„Gut geraten, Schwester. Überleg doch mal. In den letzten 1 ½ Jahren hast du fast nur schlecht geträumt. Vielleicht hält das Schicksal es nun für angebracht dir wieder ein wenig Freude ins Leben zu bringen. Du hast bereits lange genug gelitten.“
 

„Aber wieso jetzt?“
 

„Wieso nicht? Es wird langsam Zeit, dass du wieder in dein Leben zurückkehrst.“
 

„In mein Leben zurückkehren? Ich lebe doch mein Leben. Ich bin noch am Leben, wie du weißt.“
 

„Nein bist du nicht!“
 

>Okay, das verwirrt und irritiert mich jetzt. Ist Amber verrückt geworden? <
 

„Was meinst du denn jetzt damit? Ich steh doch vor dir. Ich atme, gehe, esse, lebe.“
 

„Ja das tust du. Aber du hast keine Freude mehr daran. Du bist wie ein lebloses, laufendes Wesen. Du zeigst deine wahren Gefühle nicht. Nimmst häufig nichts mehr um dich herum wahr, weil du dich in deinen Gedanken einschließt und du lachst nicht mehr.“
 

„Oh halt, das stimmt nicht. Ich lache doch. Oft sogar.“
 

„Melody, ich bitte dich, mach dir doch nicht selbst was vor. Dein Lachen habe ich seit über 1 ½ Jahren schon nicht mehr gehört. Wo hast du mein geliebtes Melody-Lachen gelassen? Dieses unbeschwerte, von ganzen Herzen und ganzer Seele kommende Lachen. Wo ist es, Melody?“
 

Ihr glitzerten Tränen in den Augenwinkeln und ich konnte sie nicht länger anlügen oder mich vor der Wahrheit verstecken.
 

„Ich weiß es nicht mehr, Amber. Ich weiß es nicht…“
 

Jetzt war ich dran sie in die Arme zu schließen. Tränen liefen uns beiden über die Wangen und ich begriff erst in diesem Moment, dass Amber mit allem Recht hatte. Ich hatte mich vor meinem Leben versteckt. Und vielleicht war dieser Traum wirklich ein Zeichen, dass sich etwas änderte… ändern musste.
 

„Sieh und Zwei mal an. Wie die alten Omas heulen wir hier rum.“, sagte ich lächelnd.
 

„Ja, manchmal sind wir schon wie Zwei so alte Kaffeetanten.“, scherzte Amber.

Wir trockneten unsere Tränen und ich entschuldigte mich bei ihr.
 

„Ich wollte nicht, dass du… ich meine, ich wusste nicht, dass ich…“
 

„Schon okay. Ich weiß wie schwer es dir fällt dich zu entschuldigen. Aber ich nehm sie gerne an.“
 

Wir traten durch die Tür des Mädchenklos in die Aula zurück und Amber begrüßte mich strahlend mit einem „Willkommen zurück im Leben, Mel.“
 

„Hey Süße, wo warst du denn? Ich hab dich überall gesucht.“ David kam auf uns zu und zog Amber an der Taille zu sich heran. Die beiden waren gerade mal 3 Monate zusammen und immer noch wie am ersten Tag total ineinander verschossen. Die Zwei waren ein wunderschönes Paar. Es versetzte mir häufig einen Stich das offensichtliche Glück der beiden zu sehen. Aber ich war mir sicher, dass es zwischen ihnen etwas sehr ernstes war. Den Blick Davids, wenn er Amber ansah, dieses Strahlen seiner Augen, wenn er ihre Hand hielt. Da sprach die pure, reine Liebe aus ihm. Ich beneidete die Zwei um ihr Glück. Sie mussten sich keine Sorgen machen, brauchten keine Angst vor irgendjemanden zu haben und mussten nicht ständig auf der Hut sein. Sie konnten sich einfach gehen lassen, wenn sie zusammen waren. Amber gab David einen leichten Kuss und stöhnte genervt auf?
 

„David, wie oft hab ich dir schon gesagt, dass ich diesen 5-Tage-Bart, den du da bereits gezüchtet hast, schrecklich finde. Der kratzt so furchtbar.“
 

„Aber Liebling, der sieht doch gut aus.“
 

>Oh nein, bitte nicht schon wieder! <
 

So sehr sie sich auch liebten, so sehr diskutierten sie nun schon über diesen Streitpunkt. Zugegeben, dieser Bart – wenn man das schon einen Bart nennen kann; das waren nur ein paar Stoppeln – konnten ganz schön nervig sein, aber sie sollte sich nicht so beschweren, er war ansonsten ein recht anständiger junger Herr. Knackige 18 Jahre und eine tolle Rückansicht. Und sein Charakter war äußerst Gentleman-like. Kurz um: er war ein cooler Typ.

Ich ließ die beiden mal weiter argumentieren und machte mich auf die Suche nach Jules. Ich wollte mich nochmal bedanken wegen heute Morgen und sie auf den Kinoabend einladen, über den ich auch noch mit Jenifer sprechen wollte.

Wieder kam ich an dieser Mädchenmenge vorbei. Mein Blick schweifte über die Gesichter. So gut wie jede Altersgruppe war vertreten. Von 11jährigen kleinen Mädels über 16jährige aufgetakelte Tussis bis hin zu 19jährigen Abschlussmädels. Alle waren ganz aufgeregt und kicherten wie wild. Die älteren wollten aufreizend und sexy wirken, was bei manchen so aussah, als hätten sie schlimme Verstopfung, so verzerrten sie das Gesicht.
 

>Und das alles nur wegen einem Typen. Lächerlich. <
 

Die sexy-gequälten Gesichtsausdrücke waren kein Vergleich zu dem genervt-gequälten Blick einer Person. Die Ursache dieser Massenversammlung sah alles andere als zufrieden in seiner Hauptrolle aus. Die meisten Jungs hätten diese Gelegenheit genutzt und mit irgendeiner lange zurückliegenden Geschichte aus ihrem Leben prahlen.
 

Aber William schien eher so als wollte er überall in diesem Moment sein, außer an seinem momentanen Standort. Meine Schadenfreude war größer, als alle anderen Empfindungen in diesem Moment. Wer so gut aussah, musste damit rechnen umringt zu werden. Gleichzeitig missfiel mir diese Tatsache etwas.
 

>Moment, was denk ich denn da? Nein, nein, nein! <
 

Aber darum konnte ich mich nun nicht kümmern. Ich musste zu meinen Mädels. Ein letzter Blick auf die Horde und…. William bemerkte mich.
 

>Mist<
 

Sein Blick –zuerst überrascht, dann erleichtert- wurde zu einem stummen Hilferuf. Er flehte mich förmlich an ihm da herauszuhelfen. Doch ich konnte nichts tun. Ich bedeutete ihm, dass ich weiter musste.
 

>Leider<
 

Seine Augen weiteten sich. Das konnte nur ein entsetztes „WAS?“ gewesen sein. Ich lächelte ihm zu, zuckte unschuldig und entschuldigend mit den Schultern und winkte zum Abschied.

Wenn Blicke töten könnten, wäre ich soeben tot umgefallen.

William blickte mir voller Wut nach, aber ich hatte was Besseres zu tun und so suchte ich nach Jules. Stattdessen lief ich geradewegs in Jenifer hinein.
 

>Naja, auch nicht schlecht. < dachte ich mir.
 

„Hey, Jen, wegen Samstag…“

„Oh nein, sag bloß nicht ab, bitte! Du musst mitkommen!“
 

„Keine Sorge, ich komm mit. Ich wollte nur noch einmal fragen, wann es denn losgehen soll.“
 

„Oh gut. Es ist eine frühere Vorstellung. Sie fängt schon um 19 Uhr an. Und der Film geht etwa 2 Stunden.“
 

„Okay das passt ja super. Dann muss ich nicht auch noch eine Vertretung fürs `Prisondance` finden.“
 

„Du willst danach noch arbeiten?“
 

„Klar. Die brauchen mich hinter der Bar.“
 

„Du bist echt komisch.“
 

„Danke. Bin ich gerne und stolz drauf.“
 

Wir mussten lachen. Da kam mir Ambers Sorge um mein Lachen in den Sinn. Sie hatte Recht. Dieses Lachen war noch Galaxien von meinem unbeschwerten, wahren Lachen entfernt, aber immerhin ein Anfang.

Ich sag mich in der Halle noch etwas um und entdeckte Jules schließlich bei einer ihrer Nachhilfeschülerinnen. Sie war eine der besten Schüler bei uns, wirkte aber nie wie ein „typischer Streber“. Sie trug moderne Klamotten, ging oft feiern und machte bei so gut wie jeder unserer Aktionen mit. Sie war eine total Nette und wurde von beinahe jedem gemocht. Und sie hatte bei mir einen Stein im Brett. Sie half mir schon häufiger aus dem Schlamassel und ersparte mir somit einige Sitzungen bei Mrs. Snowler. Und daher hatte sie wegen heute Morgen auch wieder einen Gefallen gut.

Ich lief zu Jules rüber, nicht ohne einen kurzen Blick auf Amber und David zu werden, die –wie so oft- küssend in einer Ecke standen.
 

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Jules mich überrascht.
 

„Was?“, fragte ich überrumpelt, da ich mit meinen Gedanken bei diesem Bild der beiden Verliebten hängen geblieben war.
 

„Naja, du hast so ein Lächeln gerade, wie meine Mum immer hat, wenn sie meine Schwester und ihren Mann sieht.“‘
 

„Bitte was? Entschuldige aber das musst du mir genauer erklären, denn ich weiß absolut nicht wovon du sprichst .“ Natürlich wusste ich es genau, aber zugegeben hätte ich es um kein Geld der Welt. Ich kannte Jules` Schwester nur flüchtig, wusste aber genau, wie Sie und ihr Mann sich verhielten .
 

>Wie Zwei hyperaktive Teenager .<
 

Die beiden waren so ineinander verliebt, dass sie bereits nach 1 Jahr Beziehung heirateten. Meiner Meinung nach etwas zu überstürzt, aber so waren die beiden eben. Und nun, nach fast 4 Jahren Ehe, sind sie immer noch wie bei ihrem ersten Date: total verrückt nacheinander.
 

„Naja, du kennst doch meine Mum. Total Sentimental. Bei ihr kochen die Emotionen immer schnell über. Und immer, wenn sie meine Schwester und ihr offensichtliches Glück sieht, strahlt sie, wie es nur eine stolze Mutter tun kann. Und genau so hast du eben geschaut. Sag mir jetzt bitte nicht, dass du mir ein Kind verschwiegen hast, dass soeben irgendwas tolles gemacht hat, worauf du nun ganz stolz bist. Das wäre nämlich echt ein Schock jetzt. Du bist immerhin erst 17. Obwohl du weißt, dass wir dich alle unterstützen würden.“
 

„Wohohohoho Stop! Ich bin und war nie schwanger, das weißt du!“
 

Sie kicherte drauf los.
 

„Ja, ich weiß. Sollte nur ein kleiner Spaß sein.“
 

„Nicht witzig!“
 

„Doch, finde ich schon.“
 

Ich schaute sie leicht böse an. Aber so richtig sauer konnte ich nie auf sie sein.
 

„Bist du jetzt sauer auf mich ?“, fragte sie mich unschuldig und machte ihren allseits gefürchteten Schmollmund. Dem konnte keiner widerstehen. Und so musste ich loslachen.
 

„Nein, ich bin nicht sauer. Aber nur unter einer Bedingung.“
 

„Toll, und die wäre?“
 

„Du kommst am Samstag mit ins Kino. Jen, Mary, Thom und Chris gehen auch. Um 19 Uhr ist da so eine Vorführung und ich würde mich sehr freuen, wenn du mitkommst.“
 

„Samstag? Musst du da nicht arbeiten?“
 

„Nein, ich hatte in letzter Zeit so viele Überstunden gemacht, dass er mich sicher eine Stunde früher gehen lässt.“
 

„Und was ist mit dem anderen Job? Brauchen die dich nicht hinter der Bar?“
 

„Doch, aber ich hab die 2. Schicht. Muss also erst ab 22 Uhr kommen. Und bis dahin ist der Film ja schon aus.“
 

„Du bist ja echt ein Workaholiker, oder?“
 

„Naja, ich muss arbeiten und Geldverdienen, ich hab ja keine andere Wahl..“
 

„Oh tut mir leid, das hab ich voll vergessen. Wie dumm und rücksichtslos von mir.“
 

„Ist schon okay.“
 

„Wie kommst du damit zurecht? Dieser Druck von allen Seiten. Und das alles ganz alleine und auf dich selbst gestellt zu überstehen. Das ist Stärke, Melody!“
 

„Wohl eher Gewohnheit. Aber zurück zum Thema. Kommst du Samstag nun mit?“

Jules ließ sich ganz schön viel Bedenkzeit. Nach geschätzten 5 Sekunden sagte sie fröhlich zu.
 

„Das ist ja super. Ich freu mich schon .“ ,sagte ich und mein Blick huschte zu Amber hinüber, die mir mit wedelnden Armen zu verstehen gab, dass irgendwas überaus wichtig sei und ich sofort meinen Hintern zu ihr schwingen sollte.

„Ehm Jules, ich glaube Amber will irgendwas von mir. Ich denke ich sollte schnell zu ihr rüber gehen und fragen…“

„Klar, sie scheint ganzschön aufgeregt zu sein. Geh nur und grüß sie von mir. Wir sehen uns im Unterricht.“

„Ja okay, danke. Bis dann“, sagte ich und ging gemächlichen Schrittes auf meine beste- aufgeregte- Freundin zu. Ich verlangsamte mein Tempo noch ein wenig, als ich sah, dass die mein Schneckentempo zur Weißglut brachte. Ihre Nachricht musste brennend interessant sein, also ging ich noch etwas langsamer. Amber platze fast vor Aufregung. Ich genoss jede einzelne- langsame- Bewegung und ihre hyperaktive Körpersprache darauf.

„Hättest du nicht noch ein bisschen langsamer laufen können? Schnecken hatten kaum Schwierigkeiten dich zu überholen“, schimpfte Amber mit mir, als ich sie- in Zeitlupe- erreichte.

„Reg dich nicht so auf. Das gibt Falten“, scherzte ich.

„Das war nicht witzig!“

„Doch fand ich schon. Was ist denn los? Hat David dir einen Heiratsantrag gemacht, oder warum bist du so aus dem Häuschen?“

„Nein soweit sind wir noch nicht. Aber jetzt reiß dich zusammen. Es ist was total Wichtiges.“

„Okay, komm wieder runter, sonst hyperventilierst du noch. Was ist passiert?“

„Du bekommst riesen Ärger.“

„Was? Wieso? Was ist geschehen? Wie kommst du da auf einmal drauf?“, fragte ich aufgebracht.

„Okay, jetzt solltest du mal wieder einen Gang zurückschalten.“

„Nur wenn du mir dein Theater erklärst!“

„Ja okay. Also, halt dich besser fest.“

„Nein und jetzt spuck‘ s schon aus!“ Jetzt war ich angespannt. Was brachte Amber so aus der Fassung?

„Es ist schrecklich. Tut mir leid, dass ich es dir ausgerechnet jetzt sagen muss, aber du musst es wissen, bevor dich Snowler kriegt.“

„Wovon sprichst du Amber?“, fragte ich verwirrt.

„Dein Meister ist hier.“

Meine Augen weiteten sich vor Schreck und ich hatte das Gefühl unter Wasser getaucht worden zu sein. Der Lärm der Schüler drang nur noch gedämpft an meine Ohren. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte mich vor Schreck nicht mehr bewegen und bekam nur noch schwer Luft. Die blanke Panik zeichnete sich auf meinem Gesicht ab. Amber`s Lippen formten die Worte „Es tut mir leid“, doch ich konnte es nicht hören. Ich versank immer tiefer, rang verzweifelt nach Atem, doch es war Hoffnungslos. Ich ertrank in meiner Angst und Panik. Ich wurde blasser als eine Leiche und schwankte- einer Ohnmacht nahe- heftig. Mir gingen tausend Gedanken durch den Kopf.

>Was machte er hier?

Wieso war er gekommen?

Wieso jetzt?

War irgendwas passiert?

Etwas Neues von meinen Eltern?

Wollte er mich nun endgültig für mein Fehlverhalten bestrafen? <

Jemand verpasste mir eine schallende Ohrfeige und ich konnte wieder klarer denken.

„Danke, David, das tat gut, aber wenn du das noch einmal machst schlag ich zurück, verstanden?“

„Klar, ich wollte dich nur wieder in die Gegenwart zurückholen. Du warst ganzschön weggetreten.“

Ich merkte erst jetzt, dass ich saß. Der Stuhl war unbequem. Ich hätte mich lieber auf dem Boden zusammengerollt und mich meiner Verzweiflung hingegeben. Aber das konnte ich jetzt nicht. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren.

„Okay, ruhig bleiben. Wann ist er gekommen? Und wo ist er jetzt?“, fragte ich kühl-aufgeregt Amber.

„Er ist vor etwa 2 Minuten durch die Tür gekommen und direkt zu Mrs Snowler. Mel, warum ist er hier? Was ist passiert?“

„Das wüsste ich auch gerne“, murmelte ich auf die Tür blickend durch die mein Meister vor wenigen Momenten gekommen war, „Obwohl ich mir nicht sicher bin ob ich es überhaupt erfahren möchte.“

Fragen nach Vergangenem

Fragen nach Vergangenem
 

Die Glocke läutete und wir mussten in unsere Klassen zurück. Es stand Mathe auf dem Plan, doch mit meinen Gedanken war ich wiedermal wo anders. Ich war besorgt wegen der Sache mit meinem Meister. Es bedeutete nichts Gutes, wenn er persönlich hier auftauchte. Im Gegenteil, es konnte nur etwas Schreckliches passiert sein. Aber was könnte mir noch furchtbares widerfahren? Ich hatte bereits die Drei wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren. Es konnte unmöglich noch Schlimmer kommen.
 

„Ist alles okay bei dir?“, fragte mich William besorgt, „Du siehst etwas ängstlich aus. Ist irgendwas passier?“
 

„Nein, mir geht’s gut. Alles okay.“ Oh Mann, was für eine riesen Lüge.
 

„Tja, ich bin allerdings etwas enttäuscht von dir.“
 

„Was? Wieso? Was hab ich denn getan?“
 

„Nichts. Das ist es ja. Du hast mir vorhin nicht geholfen. Ich dachte ich hätte noch einen Gefallen gut bei dir“, grinste er mich an. Sein amüsiertes Lächeln stand im totalen Kontrast zu seinem Vorwurf.
 

„Tut mir leid, William. Aber es war was Wichtiges. Deshalb konnte ich nicht helfen. Außerdem hätte ich gegen diese Streitmacht von Mädchen alleine wenig ausrichten können.“
 

Seine Gesichtszüge waren entspannt. Er wirkte sehr ruhig. Dieser Frieden, der von ihm ausgestrahlt wurde, beruhigte auch mich wieder ein wenig. Meine Angst wich ein bisschen und meine Muskeln entspannten sich wieder leicht- ich hatte nicht gemerkt, dass sie die ganze Zeit über angespannt und in Alarmbereitschaft gewesen waren, seitdem Amber mit diese unbehagliche Neuigkeiten übermittelt hatte.
 

„Wovor hat du eigentlich Angst, Melody ?“
 

>Wieso wollte er das wissen. Und vor allem: WOHER weiß er das?< , fragte ich mich.
 

„Angst? Ich? Wie kommst du darauf? Ich habe keine Angst.“
 

„Naja, du siehst recht ängstlich aus. Und ich frage mich einfach, wovor du Angst haben könntest. Ich meine, dein Ruf ist hier überall bekannt. So gut wie jeder hat Respekt vor dir. Vor wem oder was könnte also jemand wie du Angst haben?“
 

„Mein Ruf ?“, schnaubte ich verächtlich, „Wie ist denn mein momentaner Ruf?“

Es waren so viele Gerüchte im Umlauf, dass ich die Übersicht schon vor einer halben Ewigkeit verloren habe.
 

„Och, nichts dramatisches. Nur, dass du seit du – was hat Jimmy gesagt… ach ja – seit du 5 Jahre alt bist Kampfsport betreibst. Und, dass man sich besser nicht zu sehr reizen sollte, da du zwar über eine enorme Ruhe verfügst, diese aber bei bestimmten Themen nicht wirklich beherrschst. Und, dass du es nie leicht hattest und deshalb nie Schwäche zeigst.“
 

„Wow, das klingt ja nicht gerade nach dem netten kleinen Mädchen von nebenan.“
 

Also war mein aktueller Ruf nicht besonders nett.
 

>Naja, mir soll’s recht sein. Hab ich meine Ruhe. Und die, die mich kennen, kennen auch die Wahrheit. Also kann mir dieser Ruf egal sein.<
 

Obwohl es mich wunderte, warum Jimmy nur diese starke, abweisende Seite von mir erwähnt hat.
 

„Aber Jim hat auch noch gesagt, du seist immer für einen da, wenn es einem schlecht geht. Du sorgst dich sehr um andere und passt auf, dass ihnen nichts passiert. Du bist zwar ein Rebell und lässt dir von niemanden etwas vorschreiben, aber trotzdem kannst du nett sein.“ , fügte William grinsend hinzu.
 

„Klingt irgendwie nach gespaltener Persönlichkeit, wenn du mich fragst“ , lachte ich amüsiert.
 

Wer konnte schon ahnen, dass diese Gerüchte alle der Wahrheit entsprachen.
 

„Ja so klingt das. Und irgendwie haben sie doch recht, oder?“ , fragte William lachend.
 

„Was willst du damit sagen? Dass ich ein Psycho bin? Sei besser vorsichtig, was du sagst, Junge!“ , ich warf ihm einen warnenden Blick zu, worüber er nur noch mehr lachen musste.
 

„Nein, so meinte ich das nicht. Aber jeder hat doch so seine zwei Seiten. Die zwei Gesichter.“
 

>Super, der klingt ja wie Sigmund Freud< dachte ich mir.
 

„Die zwei Gesichter? Was bist du? Psychologe?“
 

„Nein, aber mein Großvater hat mir das mal erzählt. Er sagte, Menschen hätten zwei Gesichter. Das eine war das, welches sie der Öffentlichkeit zeigten. Dieses Gesicht kann bei manchen das genaue Gegenteil von dem anderen Gesicht sein. Dem wahren Selbst. Und das wiederum ist das andere Gesicht. Es ist das unter der Maske für die Öffentlichkeit. Dieses Wahre zeigen wir nur vor denen, die uns nahe stehen, denen wir vertrauen. Mein Großvater sagte immer zu mir, ich solle versuchen unter die Masken der Menschen zu schauen. Bei den meisten ist so etwas ganz einfach. Sie geben sich nicht besonders viel Mühe sich groß zu verstellen, da sie keinen Grund dazu haben. Aber bei dir ist es schwer dein wahres Wesen zu erkennen.“
 

Ich war total durcheinander.
 

>Wo hab ich das schon mal gehört?<
 

Mir fiel es nicht ein. Doch dann wusste ich es wieder. Das gleiche hatte Jack einmal zu mir gesagt. Er nannte es meine schützende Gabe, die mir im Kampf wichtig und lebensrettend sein könnte. Ich konnte unerbittlich und unbarmherzig zu meinen Gegnern sein, doch zu meinen Leuten warmherzig und mitfühlend. Ich konnte somit leichter und besser mein privates Leben vom Training trennen. Auch der Meister hatte mir einmal so etwas gesagt.

Der Meister.

Jetzt fiel es mir wieder ein.

Die Person, die sich im Moment bei Mrs. Snowler befand.

Der Grund meiner Angst.

Ich hatte ihn völlig vergessen.

Ich wurde wieder blasser.
 

„Melody? Ist alles in Ordnung? Du siehst wieder so…“
 

„Du sagtest, dein Großvater hat dir das erzählt?“, unterbrach ich ihn. Ich wollte nicht hören wie ich im Augenblick aussah.
 

„Ja. Er ist vor fast 5 Jahren gestorben.“
 

„Das tut mir leid, William. Du vermisst ihn sicher.“
 

„Jeden Tag.“ Er sah traurig auf seinen Tisch.
 

„Ich kenn das Gefühl. Es ist schrecklich.“ , versuchte ich ihm mein Beileid nahezubringen. Ich kannte das Gefühl sehr wohl. Mir passierte so etwas schließlich vor 1 ½ Jahren ebenfalls.
 

„Ich weiß. Ich hab davon gehört. Deine Eltern und dein Freund starben doch vor gut eineinhalb Jahren, oder? Das muss noch viel schlimmer sein.“
 

„Das ist es auch.“ Mehr konnte und wollte ich dazu nicht sagen.
 

„Es tut mir leid“ , flüsterte William.
 

„Schon okay“ , hauchte ich zurück.
 

Das war das Ende unserer Konversation. Die Stunde ging zu Ende und kein Zeichen des Meisters.

Die nächste Stunde verging ohne irgendeine Nachricht.

Mit jeder Minute wurde ich nervöser, was zur Folge hatte, dass ich absolut nichts von Geographie mitbekam.

Ich war mir hinterher nicht einmal mehr sicher, ob unsere Lehrerin -Ms Arger- überhaupt aufgetaucht war.

Die letzten beiden Stunden waren Englisch und Physik, das würde noch ein langer Tag werden, dessen war ich mir sicher.

Draußen hatte es bereits wieder angefangen zu schneien, was meine Laune auf den Gefrierpunkt brachte.
 

"Good Morning Ladies and Gentlemen", begrüßte uns Ms Jokitch. "I've got a special project for you, YEAH!"

Sie war noch jung und äußerst begeistert von ihrem Job. Fast jede Stunde gab es neue "special projects" von ihr. Ich brauchte mir keine Gedanken zu machen. Mein Englisch war sehr gut. Das war ein Fach, bei dem ich in meinem Gebiet war. Ich konnte mich also beruhigt zurücklehnen, obwohl mir die Sache mit dem Projekten jedes Mal schwer im Magen lagen, da sie immer etwas mit uns selbst und einer Art Selbstoffenbarung zu tun hatten. Und auf einen Seelenstripptease konnte ich vor der Klasse hier gut verzichten.
 

Ms Jokitch konnte sehr enthusiastisch sein, was die meisten von uns häufig nur noch lächerlich und überzogen fanden.

"Okay, you'll work together in groups of 2. So that means you can do this with your neighbour, so we can solve this problem faster."
 

>Was für eine schlaue Idee mal wieder.<
 

Geschätzte 16 Leute stöhnten aus. Und darunter war keine männliche Stimme auszumachen. Mir war klar, dass das sicher was mit meinem Banknachbarn zu tun haben musste.

Mir wäre es ja auch lieber gewesen mit jemand anderen zu arbeiten, aber das Leben war nun mal nicht immer fair.
 

"Okay Class this is the topic. You'll have to play a scene out of your daily life with your partner in front of the class. Deadline is in one week."

Ein Raunen ging durch die Reihen.
 

"Ist das nicht ein wenig kurzfristig?", meldete ich mich zu Wort. "Ich meine wir haben gerade 4 mal die Woche Englisch und müssen nebenbei auch noch für andere Sachen lernen oder etwas tun. Können wir da nicht auf 2 Wochen raufgehen?"
 

"Nein, 2 Wochen sind zu viel. Ich kann euch 8 Tage höchstens geben, Melody, tut mir leid."

"Okay, wie lange muss diese Szene dann bitte sein?"

"About 10 minutes."

Und schon waren wir wieder im englischen. Wir redeten die meiste Zeit englisch bei ihr, aber wenn es um wichtige Dinge ging oder es schnell besprochen werden musste, musste das deutsche herhalten.

"Okay, let's get together in groups and start working."
 

"Na toll, was sollen wir da bitte machen? 10 Minuten können verdammt lange sein", sagte ich verzweifelt William zugewandt.

"Eine Szene aus dem Alltag,mhm, das könnte schwierig werden", grübelte William.

"Ach, was du nicht sagst!", war meine spöttische Bemerkung dazu nur.
 

Meine Nerven waren wegen der Sache mit dem Meister ohnehin schon zum zerreissen gespannt und drohten jeden Moment zu brechen.
 

"Vielleicht sollten wir damit anfangen, wie unser Tagesablauf an sich aussieht. Willst du anfangen?", fragte er.

"Was wird das? Ne Erzählstunde? Aber die Idee ist nicht schlecht", gab ich grinsend zu, "Suchen wir am besten lauter Fakten und Anhaltspunkte zusammen."

"Gut, also Ladies first würde ich mal sagen"
 

>Womit soll ich da bitte anfangen? Zu viel braucht er ja auch nicht von mir wissen. Das allgemeine BlaBla wird reichen.<
 

"Na also Schule haben wir ja beide täglich."

>wie geistreich von mir -.- <

"Danach bin ich im Bob´s, die Videothek, oder eher der Multimedialaden. Da komm ich abends um 8 Uhr etwa raus, fahr nach Hause, mach mir was zu essen, Hausaufgaben und ab ins Bett. Und das unter der Woche jeden Tag."

"Also von Montag bis Freitag?"

"Bis Samstag. Aber da hab ich die Frühschicht."

William zog verwirrt eine Augenbraue nach oben.

"Also von 10 bis 15 Uhr. Dann bin ich abends aber im Prisondance .

"Was ist das denn? Klingt gefährlich", grinste er verwegen.

Ich musste lachen. "Nein, gefährlich ist da nichts. Das ist unser Nachtclub hier in der Stadt. Ich steh da am Wochenende hinter der Bar."

"Wow, hast du überhaupt mal frei?"

>Ich nehm mir nicht gerne frei, da hat man nur Zeit zum nachdenken und das versuche ich so gut es geht zu vermeiden. Nachdenken lässt einen nur erinnern. Erinnern an Dinge die zu sehr schmerzen< Aber das hätte ich nie zugegeben.

"doch, ich hab Samstag Nachmittag frei und Sonntag bis 19 Uhr auch."

"Wow, so viel frei? Wird dir da bei all der Zeit zum Ausruhen nicht langweilig?" spottete er sarkastisch.

"Ich arbeite nunmal gerne. Bob und die anderen sind wie eine Familie für mich."

"Naja, ich hab noch keinen festen Tagesablauf. Wir sind ja erst vor einer Woche hier angekommen."

"Hm, das ist logisch. Hast du dann irgendwelche Gewohnheiten?"

"Ich bin viel an der frischen Luft, wenn du das meinst. Die ist auf der ganzen Welt gleich. Dann fällt einen der Umzug leichter."

"Kann ich gut nachvollziehen. War ich früher auch oft."

"Und jetzt schaffst du das nicht mehr, was? Ist ja logisch bei dem Terminplan."

"Nicht jeder hat das Glück Eltern zu haben, die das Geld verdienen gehen, während man selbst nur zur Schule zu gehen braucht!", gab ich gereizt zurück. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.

"Bitte verzeih mir. Ich habe nicht nachgedacht."

"Offensichtlich!"
 

Ein betretenes Schweigen herrschte daraufhin zwischen uns. Ich war noch immer sauer wegen seiner Bemerkung über meinen Arbeitsplan,als er das Schweigen brach.

"Hast du niemanden mehr, der sich um dich kümmert?"

"Doch, Bob und Karl sind immer für mich da. Oder Stephen, der Besitzer und mein Boss vom Prisondance . Die passen auf mich auf."

"Meoldy, ich meinte Verwandte. Hast du da noch welche?", fragte er sachlich und mit ruhiger Stimme.

Ich sah betreten und traurig zur Seite.

"Nein, es gibt niemanden mehr. Nur noch mic", antwortete ich mit fester Stimme.

"Hast du keine Großeltern mehr? Tanten, Onkel, irgendwen?"

"Nein!"

"Woher weißt du das so sicher? Sie können nicht alle gestorben sein."

William klang verwundert.

"Meine Eltern waren beides Einzelkinder. Daher habe ich keine Onkel und Tanten", gab ich nüchtern zurück.

"Und deren Eltern? Was ist mit ihnen passiert?"

"Ich schätze mal sie sind tot."

Ich hasste dieses Thema. Damit hatte ich bereits als kleines Mädchen abgeschlossen. Alle behaupteten meine Großeltern seien vor meiner Geburt gestorben und damit habe ich immer gelebt. Da gab es nichts zu hinterfragen.

"Du schätzt? Also weißt du es nicht sicher?"

"William, was soll diese Fragerei? Wir sollten uns auf Englisch konzentrieren."

Ich wollte einfach nur das Thema wechseln.

"Das tun wir doch."

Ich sah ihn zweifelnd an.

"Wir sollten am besten alle Fakten zusammentragen und dann daraus etwas machen. Und dazu sollten wir soviel wie möglich von einander erzählen bis und etwas passendes einfällt. Findest du das nicht auch?"

Für mich klang das nach einer schlechten Ausrede für seine Neugierde.

>Was soll's. Spiel ich eben mit.<

"Ja klingt plausibel." >Tut es nicht aber egal.<

Er grinste zufrieden.

"Also gut, was ist nun mit deinen Großeltern?"

"Ich weiß es nicht sicher. Mir wurde immer wieder gesagt, dass die Eltern meines Vaters vor meiner Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Und meine Mutter ist ohne ihre Eltern aufgewachsen. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt woraufhin ihr Vater zur Flasche griff und 5 Jahre später am Alkohol schließlich starb."

"Wie ist er gestorben? Nur durch Alkohol oder hatte er einen Unfall?"

"Sowas ähnliches. Er hatte sich wie so oft in seiner Stammkneipe betrunken und ist sturzbesoffen nach Hause getorkelt. Es regnete heftig in der Nacht und als er nur noch eine Straße vom Haus entfernt war, stürzte er in einen Graben, stieß sich den Kopf und ertrank dann in dem sich angestauten Wasser am Straßenrand. Seine Leiche wurde am nächsten Tag gefunden und meine Mutter kam in ein Heim. Mit 15 Jahren lernte sie meinen Vater kennen und als sie beide Volljährig waren heirateten sie und zogen zusammen. Ein Jahr später kam ich zur Welt. Die Eltern meines Vaters sind etwa 2 Monate nach der Hochzeit meiner Eltern gestorben. Sie fuhren von einem Restaurant nach Hause, wobei sie auf einer Schnellstraße von einem entgegenkommenden LKW angefahren wurden. Der Fahrer des Lasters war kurz hinterm Steuer eingeschlafen und auf die andere Fahrbahn gekommen. Meine Großeltern starben sofort, der Fahrer des Trucks überlebte leicht verletzt."

"Oh man, das ist echt eine traurige Geschichte", sagte William mitfühlend, "Sind deine Eltern auch bei einem Unfall ums Leben gekommen?"

"Ja, in gewisser Weise schon", sagte ich verhalten.

Ich weiß nicht, was mich dazu bewegte, aber aus irgendeinem Grund wollte ich William davon erzählen.

"Sie waren auf dem Weg in ihre zweiten Flitterwochen. Es war eine Reise in die Karibik für 3 Wochen, aber sie kamen dort nie an. Das Flugzeug hatte einen Betriebsschaden und stürzte vor der Insel ins Meer. Nur 5 Menschen überlebten wie durch ein Wunder dieses Unglück. Etwa 10 Leute gelten bis heute als vermisst. Darunter auch meine Eltern", ich schluckte meine Tränen hinunter.

"Warte! Heißt das, sie sind vielleicht noch am Leben?"

"William, ich bitte dich. Das ganze ist 1 1/2 Jahre her. Sie sind nicht mehr am Leben."

"Woher willst du das wissen?", fragte er aufgeregt.

"Wenn sie noch am Leben wären, hätten sie sich doch bei mir gemeldet oder? Sie sind schließlich meine Eltern."

"Vielleicht leiden sie nach dem Absturz unter Gedächtnisverlust. So etwas kommt doch häufiger vor."

"Dann hätte sie doch irgendwer irgendwo gesehen und bei der Polizei gemeldet. Und die hätten mir dann was anderes gesagt, als sie an der Türe klingelten und mir die Nachricht vom Verschwinden meiner Eltern überbrachten", sagte ich mit belegter Stimme.

Mir waren die Worte der Beamten in die Seele eingebrannt. Ich werde nie vergessen können, wie es an diesem nebelverhangenen Donnerstagabend bei mir an der Haustüre gegen 18:52Uhr geklingelt hatte.

Ich kam gerade aus dem Bad, da ich erst um 18:30Uhr vom Training nach Hause gekommen war, als ich im Bademantel die Eingangstür öffnete und zwei Polizisten davor standen. Mir schwante nichts Gutes, als sie ihre Mützen abnahmen und mich mit ernster trauriger Miene mit "Ms Saints?" begrüßten.

"Ja, die bin ich. Ist etwas passiert?" Mir gingen tausende Gedanken durch den Kopf und doch fand keiner Halt in meinem Denken.

"Melody Saints? Die Tochter von Gregory und Rose Saints?, fragte der rechte Polizist noch einmal.

"Ja das bin ich. Was wollen sie hier?", fragte ich nervös.

"Sind ihre Eltern auf dem Weg in die Karibik mit der Airline GreatHeaven geflogen, Ms Saints?, fragte nun der linke Beamte.

"Ja gut möglich, dass das Flugzeug so heißt, wieso?"

Ich bekam Panik. Was war hier los?

"Das Flugzeug der Linie GreatHeaven hatte einen Getriebeschaden erlitten und ist etwa 15 Meilen entfernt von der karibischen Insel St. Martin ins Meer gestürzt."

Mir stockte der Atem.

"Wo sind meine Eltern?", flüsterte ich, da ich Angst vor der Antwort hatte.

"Wir bedauern ihnen mitteilen zu müssen, dass Beide als vermisst gelten. Sie wurden nicht bei den Trümmern der Maschine aufgefunden. 8 weitere Passagiere werden noch vermisst. 5 überlebten das Unglück. Aber die restlichen Passagiere hatten leider nicht so viel Glück", erklärte mir der rechte Polizist.

"Ihre Eltern werden von der hiesigen Polizei gesucht und ihnen wird umgehend Bescheid gegeben, sobald wir etwas neues wissen, Ms Saints."

Versicherte mir der linke Polizist.

Ich stand völlig unter Schock. Mein Gehirn brannte durch und ich folgte meinen Instinkt. Was die Beamten von sich gaben nahm ich wie durch eine Schleierwolke undeutlich wahr. Ich nickte nur zum Abschied und als der Streifenwagen verwunden war, rannte ich an den einzigen Ort, der mir jetzt noch Halt geben konnte.

Ich rannte zu Jack.

Er wohnte mitten in der Stadt. Doch es war mir alles egal in dem Moment.

Ich rannte Barfuß und im Bademantel die fast 3 Kilometer in die Stadt zu Jack´s Wohnung. Es war eiskalt und nass vom Nebel und als mir Jack die Tür öffnete konnte man nicht mehr zwischen den Nebelspuren und meinen Tränen unterscheiden. Er nahm mich in den Arm und führte mich in die Wohnung. Ich weinte fast 2 Stunden lang ohne Pause an seinen Hals geschmiegt. Ich brachte kein Wort heraus.

Als der erste Schmerz überwunden war legte sich eine Leere über mich, die alles in Watte hüllte. Ich erzählte Jack von dem Vorfall.

Seine Mum brachte mir ein paar warme Decken, eine heiße Wärmflasche und einen heißen Tee. Ich bemerkte die Kälte nicht doch meine Zähne klapperten heftig.

"Ich denke du solltest die Nacht lieber hier bleiben, Meoldy", schlug Jack´s Mum vor.

"Mum, denkst du etwa ich lasse sie in diesem Zustand alleine zurück in dieses Haus? Nein, sie bleibt den Rest der Woche hier"" gab Jack zur Antwort.

"Jack? Ich bin müde." Ich fühlte mich unglaublich schlapp, doch hatte ich Angst die Augen zu schließen.

"Ich bring dich ins Bett. Du schläfst solange hier, bis es dir besser geht, okay", beruhigte mich Jack.

Ich nickte nur und wollte aufstehen, aber ich hatte keine Kraft mehr. Jack spürte das und trug mich in sein Zimmer. Er legte mich sanft auf seinem Bett ab und wickelte mich ordentlich in die Decken ein. Mein Gesicht brannte vom weinen salziger Tränen. Jack verließ das Zimmer und kam mit einem nassen Waschlappen und frischem Tee zurück. Er setzte sich auf die Bettkante und wischte mit dem Lappen die Reste der Tränen von meinem Gesicht. Die Kälte des Wassers linderte die Schmerzen und das Brennen etwas. Jack legte sich zu mir ins Bett, nahm mich in die Arme und streichelte beruhigend über meinen Rücken. Er strich die nass verklebten Haare von der Stirn und hauchte einen Kuss auf die Stelle, an der meine Strähnen festgeklebt waren.

"Bitte lass es nur ein schlechter Traum sein", hauchte ich bevor ich schließlich einschlief und in einen traumlosen Schlaf verfiel.
 

"Da hast du vielleicht Recht. Es tut mir leid das Thema angeschnitten zu haben, Melody."

"Schon okay, William. Es wollten schon viele die Geschichte vor dir hören und ihnen habe ich das wesentliche auch erzählt", sagte ich mit versucht gelassen klingender Stimmte, "Trotzdem fände ich jetzt einen Themenwechsel ganz gut."

Ich versuchte ihn aufmunternd anzulächeln, was neben seinem Grinsen kläglich aussah.

"Okay, und was schlägst du vor?"

Ich überlegte eine Weile. Mein Denken war noch mit der Vergangenheit blockiert und der drohende Nervenzusammenbruch rückte immer näher. Ich erinnerte mich wieder an all die Schmerzen und dachte nur

>Was auch immer der Meister mir antun wird, nichts wird an jene Schmerzen auch nur im entferntesten herankommen.<
 

Das machte mir wieder etwas Mut, doch bevor ich überlegen konnte, was ich William fragen könnte läutete es zu Physik.



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