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CoE Shortstories

Kurzgeschichten zur beliebten FF "Children of Elements"
von

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Fynn

„Guten Morgen, du Fledermaus! Hast du gut geschlafen, kopfüber in deiner Höhle?“

Fynn knurrte wütend und versuchte die laut in seinen Ohren gellende Stimme zu überhören.

Doch sein Nachbar gab keine Ruhe.

„Oder hast du heute mit allen Vieren an einem Baum baumelnd geschlafen, wie ein Faultier?“

Lautes Lachen der Dorfjugend übertönte das zweite Knurren, das der Junge von sich gab.

„Hast du vergessen, wie man spricht, Höhlenmensch? Grunz doch mal für uns!“

Seine Anhänger begannen zu knurren und zu grunzen wie Schweine.

Fynn ballte die Fäuste und unterdrückte den Wunsch, sich laut schreiend auf den verhassten Nachbar zu stürzen, der ihm hinterher lief und ihn verspottete, sei Fynn das Dorf vor wenigen Minuten betreten hatte.

Endlich war er an seinem Haus angekommen und ging schnell durch die offene Haustüre, um sie hinter sich zu zuknallen; die Anderen auszusperren.

Laut aufseufzend lehnte er sich gegen das massive Holz und hörte das Gelächter auf der anderen Seite immer leiser werden und schließlich verstummen.

„Fynn? Bist du das?“

„Ja, Mutter. Ich bin wieder da!“

Seine Mutter kam zur anderen Seite des Raumes herein – anscheinend war sie im Stall der alten Stute gewesen.

Sie brachte einen herben Stallgeruch mit herein und hatte ein paar Strohhalme im Haar.

„Schön, dass du wieder da bist.“

Sie sah erleichtert aus. Fynn wusste, dass sie sich Sorgen machte, wenn er zu lange fort war und diesmal war er ganze sechs Tage im Wald geblieben.

„Tut mir Leid, dass ich so lange weg war, aber die Nächte waren so mild und angenehm, dass ich länger als die vorgesehenen drei Tage geblieben bin. Das Laub färbt sich langsam bunt es sieht fantastisch aus!“, meinte der Junge begeistert.

Da lächelte seine Mutter. „Schon gut. Jetzt bist du ja wieder da. Leg erst mal ein Zeug ab.“

Mit diesen Worten verschwand sie wieder durch die Tür, die den Wohnraum mit dem kleinen Stall verband.

Fynn hob seinen großen Lederbeutel auf, den er hatte fallen lassen,, als er die Tür hinter sich zugeknallt hatte und ging in sein Zimmer – ein winziger Raum, der durch eine zweite Tür vom Hauptraum aus zu erreichen war.

Die dritte Tür, die von dort abzweigte, führte in die zweite kleine Nebenkammer des Hauses, in der seine Eltern schliefen.

Er leerte seinen Beutel auf seinem Bett aus, das seine Mutter mit frischen Stroh gefüllt hatte, während er weg gewesen war.

Mit einem leisen Klingen landete Fynns ganzer Stolz neben einer dünnen Decke, etlichen Seilen und seinem ledernen Trinkbeutel auf dem Bett.

Mit einem Lächeln hob er das kurze, robuste Schwert hoch, das er von seinem Großvater vor fünf Wintern geerbt hatte, als dieser mit vierundfünfzig Wintern gestorben war.

Er betrachtete es einen Augenblick voller Stolz – er war der Einzige im Dorf, der so etwas Kostbares besaß.

Der Dorfschmied konnte so etwas nicht herstellen. Er verkaufte und reparierte Sicheln und Jagdmesser, doch die Technik der Schwertherstellung beherrschte er nicht.

Schließlich hängte er das Schwert auf die eigens dafür angebrachte Halterung über dem Bett.

Die Decke schüttelte er aus und legte sie mit den Seilen – nachdem er diese kurz auf Schäden und Abnutzung überprüft hatte – unter das Bett, wo sie bis zu seinem nächsten Ausflug bleiben würden. Die Trinkflasche ließ er einfach auf dem Bett liegen.

Dann lief er zurück zur Haustüre, lugte hinaus und als er sah, dass die Luft rein und sein Nachbar nicht in der Nähe war, rannte er aus dem Haus, durch das Dorf auf die Felder und Viehweiden zu, die sich hinter der kleinen Ansammlung von genau achtzehn Häusern erstreckten.

Dort fand er seinen Vater mit sonnengebräuntem Nacken in der Sonne stehen und mit der alten Stute das Feld umpflügen und für den nahenden Winter bereit machen.

Er stürmte zu ihm herüber, wurde herzlich begrüßt und half seinem Vater bei der Feldarbeit.

„Da bist du ja wieder, mein Junge. Wie war es in den Bergen?“

„Hallo, Vater. Toll! Langsam wird alles bunt im Wald und in den höheren Lagen kann man schon den Winter riechen.“

Der große Mann schüttelte schmunzelnd den Kopf.

„Ich werde nie begreifen warum du lieber unter freiem Himmel oder in einer düsteren Höhle schläfst, als zu Hause in deinem Bett.“

„Ich weiß auch nicht, Vater, ich kann einfach nicht lange in diesem Dorf bleiben. Hier kenne ich schon jeden Winkel, es ist total langweilig und nie gibt’s was Neues zu entdecken.“

„Letzten Frühling haben wir den Brunnen erneuert, das ist doch was Neues!“

„Ach Vater... Ich will die Welt entdecken! Unbekanntes sehen! Zum Beispiel, was hinter dem Wald ist!“

„Vermutlich mehr Dörfer wie unseres. Klein und langweilig, wie du es nennst.“

Fynn antwortete nicht. Die Vorstellung, dass die ganze Welt nur aus kleinen Dörfern und Ackerflächen bestand fand er schrecklich.

„Na, wenn du unbedingt wissen willst, was jenseits des Waldes ist, dann frag doch die Drachenjäger.“

„Drachenjäger?! Hier? In unserem Dorf?!“

Der Vater lachte angesichts der Begeisterung in Fynns Stimme.

„Nein, nicht hier. In der Burg des Fürsten.“

„Ich muss los! Ich muss sie sehen!“, rief Fynn und wandte sich schon um, um davon zu stürmen. Doch sein Vater packte ihn gerade noch am Kragen.

„Ruhig Blut. Sie sind gestern erst eingetroffen und der Fürst gibt ihnen zu Ehren heute Abend ein Fest. Und ob du es glaubst, oder nicht, ein kleiner Bauernsohn wie du ist nicht eingeladen! Vor morgen früh wirst du sie nicht zu Gesicht bekommen. Also bleib hier und hilf deinem armen Vater ausnahmsweise mal bei der Feldarbeit.“

Hibbelig vor Ungeduld blieb Fynn also nichts anderes übrig, als den nächsten Tag ab zu warten und den gerade erst begonnenen so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

Und wie könnte man schneller einen Tag vorbeigehen lassen, als mit harter, körperlicher Arbeit?
 

Am Nachmittag war das Feld, das sein Vater wohl schon seit zwei Tagen beackerte bis zur letzten Erdscholle umgepflügt.

Daheim angekommen schickte ihn seine Mutter sofort wieder los Pilze im Wald zu sammeln. Sie wollte die Leibspeise ihres Sohnes machen. Wahrscheinlich, um ihn dazu zu bewegen, eine Weile zu Hause zu bleiben, anstatt sofort wieder für mehrere Tage in den Wald zu verschwinden.

Also machte sich Fynn wieder auf, das Dorf zu verlassen und in den angrenzenden Wald zu gehen.

Doch er war nicht mehr auf der Hut gewesen und so trat ihm am Dorfausgang erneut sein Nachbar entgegen – dieses Mal, den Elementen sei Dank, alleine.

„Hallo, hallo, Fynn“, begrüßte er ihn, als würden sie sich heute zum ersten Mal treffen.

„Hallo, Alon...“, erwiderte Fynn möglichst ruhig.

„Na, zurück von deinem Spaziergang im Wald? Hattest du dich verlaufen, oder warum bist du so lange fort gewesen? Hast du etwa jetzt schon wieder Sehnsucht nach Dreck und Kälte?“

Fynn musterte den größeren, jedoch um einiges schmächtigeren Gegenüber und wunderte sich nicht zum ersten Mal darüber, dass Alon ihm gegenüber so frech war, obwohl Fynn um einiges kräftiger war als er. Vermutlich wusste er, dass ihm Gewalt zuwider war und er niemals einen Schwächeren angreifen würde.

Jedoch verspürte er wieder dieses Kribbeln in den Fingern, dass ihn jedes Mal befiel, seit Alon einen Wachstumsschub hatte und eine Handbreit größer war als sein Nachbar.

Seitdem hatte er auch angefangen, über Fynns seltsames Verhalten zu spotten – nämlich, dass er es niemals lange im Dorf aushielt.

Und seit dieser Mistkerl auch noch die ersten Stoppeln im schmalen, blassen Gesicht stolz zur Schau stellte, hatten sich ihm die Jüngeren im Dorf angeschlossen.

Gedankenverloren strich sich Fynn über sein viel zu glattes Kinn und instinktiv hob Alon selbstverliebt das eigene.

Fynns Augen verengten sich zu Schlitzen. Das war so ungerecht!

Er war drei Winter älter, also ganze zwanzig Winter alt! Warum dauerte das bei ihm so lange?!

Wütend schubste er Alon beiseite und vernahm ohne jegliches Schuldgefühl dessen Fluch, als dieser hart auf dem Boden landete.

Dann lief er schleunigst in den Wald und versuchte seine Gedanken von diesem Mistkerl und auf sein Lieblingsessen zu lenken, das Mutter ihm heute Abend kochen würde.
 

Doch während er Pilze schnitt und sich die größten und saftigsten rauspickte, entdeckte er etwas, das Alon sofort restlos aus seinen Gedanken auslöschte.

Er hatte schon immer ein Faible für Fußabdrücke gehabt. Rehe, Wildschweine, Hasen, sogar Eichhörnchen. Er kannte all ihre Spuren.

Aber diese, die er gerade entdeckt hatte, als er ein paar Zweige in Bodennähe zur Seite geschoben hatte, auf der Suche nach den leckersten, dicksten Pilzen – diese Spuren waren völlig anders als alles was er je gesehen hatte.

Größer. Tiefer. Und markanter. Deutlich waren die drei großen, langen Zehen und die einzelne, kurze, nach hinten abstehende zu sehen.

Fynn hatte noch nie einen Drachenfußabdruck gesehen, aber er war sich ganz sicher, dass er hier einen vor sich hatte.

Deswegen waren sicherlich auch die Jäger hier! Sie hatten den Drachen bis hierher verfolgt! Hier! In diesen Wald versteckte sich ein echter, lebendiger Drache!

Vor Aufregung hätte Fynn fast den Korb mit den Pilzen fallen gelassen.

Dann raffte er sich auf und folgte im immer düsterer werdenden Wald die Abdrücke im Boden.

Schließlich landete er am Fuße des Berges, der sich mitten im Wald erhob.

Dort oben kannte er sich gut aus. Dort lag auch die Höhle, in der er immer übernachtete, wenn es regnete oder ihm im Wald zu kalt war.

Und er wusste ganz genau, dass es die einzige Höhle dort oben war. Und die Abdrücke führten genau dort hin!

Jetzt war es zu dunkel, um dort oben nach einem Drachen zu suchen, der ihn mit Leichtigkeit zerfleischen konnte.

Er würde morgen mit den Jägern sprechen und sie zu ihrer Beute führen.

Dann würden ihn alle im Dorf bewundern und keiner würde mehr spotten und lachen!

Und die Jäger würden ihn sicherlich mit auf ihre Reisen nehmen als Fährtenleser!

Endlich würde sein größter Traum in Erfüllung gehen und er würde die Welt bereisen.

Er unterdrückte einen Jubelschrei.

Dann ging er nach Hause zurück.

Seine Mutter wunderte sich sehr, als sie den halb leeren Pilzkorb sah und auch die Ausrede, es wären wirklich nicht mehr Pilze im gesamten Wald zu finden gewesen, machte es nicht besser.

Beim Abendessen konnte Fynn kaum still sitzen und rührte vor Aufregung kaum einen Bissen an.

Schließlich schoben seine Eltern sein Verhalten auf die heiß ersehnte Begegnung mit den Jägern – womit sie ja auch Recht hatten.
 

Gleich am nächsten Morgen machte sich Fynn auf den Weg zur Burg des Fürsten.

Heute wollten die Besucher mit den Untertanen des Fürsten sprechen und sie fragen, ob sie etwas merkwürdiges entdeckt hatten und daher war es für Fynn ein Leichtes, zusammen mit den Schaulustigen aus der Burg und dem Dorf in die Nähe der Drachenjäger zu gelangen.

Auch Alon war dort aber das machte Fynn nichts aus, er hatte einen Trumpf in der Hand!

Er drängelte sich so dicht wie möglich an das Podium, das für die Gäste aufgebaut worden war.

Und da waren sie endlich, sieben kräftige, große Männer.

Sie riefen laut um Ruhe und verkündeten danach etwas, das in Fynns Ohren klang und ihm schwindlig werden ließ.

„Wir sind auf der Jagd nach einem blutrünstigen Monster! Einem Drachen!

Wir haben ihn bis hierher verfolgt und brauchen nun Jemanden, der sich hier im Wald auskennt und uns mögliche Verstecke des Drachen zeigen kann! Er ist verletzt, er muss hier im Wald untergetaucht sein! Also, wer meldet sich freiwillig?“

Jetzt! Jetzt würde Fynns Traum in Erfüllung gehen!

Niemand kannte sich so gut im Wald aus wie er!

Gerade, als er die Hand heben und sich als Führer anbieten wollte, ertönte eine laute, sehr bekannte Stimme.

„Ich! Ich stelle mich zur Verfügung! Ich kenne den Wald besser als jeder andere im Dorf!“

Alon! Dieser Lügner! Diese Ratte!

„Gut“, sagte einer der Jäger und steckte die Hand aus, um Alon auf das Podest zu ziehen. „Sehr tapfer, junger Mann.“

„Halt!“, rief da Fynn und drängte sich vor. „Ich kenne mich viel besser im Wald aus als der da! Ich habe mein halbes Leben dort verbracht!“

Der große Jäger, der ihm auf dem Podium am nächsten stand, musterte ihn zweifelnd.

„Du, Junge?“

Junge?! Er war drei verdammte Winter älter als Alon!!

„Ja, ich“, sagte Fynn mit erzwungen ruhiger Stimme.

„Glaubt ihm kein Wort, meine Herren“, mischte sich Alon ein. „Er ist noch grün hinter den Ohren und will dennoch mit den Männern jagen.“

Fynn knirschte mit den Zähnen vor Wut.

„Nehmt mich mit und ich beweise, dass ich nicht lüge und nicht zu viel verspreche!“

„Lass es gut sein, Junge“, antwortete der Jäger, der Alon auf das Podest gezogen hatte. „Vielleicht im nächsten Jahr wenn du etwas älter bist.“

„Ja“, tönte Alon mit aufgesetzter, ernster Stimme, als wäre er der Ältere, Vernünftigere. „Du bist noch zu jung, Fynn, fast noch ein Kind. Du hast ja noch nicht mal Haare auf dem Kinn. Vielleicht darfst du nächstes Jahr mit auf die Jagd.“

Mit jedem Wort brodelte der Hass in Fynn höher, doch was konnte er schon tun? Nichts.

So blieb ihm nichts übrig, als zu gehen, während die Jäger Alon um Rat fragten, wo sie am Besten anfingen zu suchen und die Vorbereitungen für den Aufbruch zu treffen.

Doch etwas verschaffte ihm Genugtuung.

Alon hatte vom Wald keine Ahnung und das würde er nicht lange vor den Jägern geheim halten können.

Und er, Fynn, kannte die Fußabdrücke, die zum Berg führten und niemand sonst!

Er nahm sich vor, abzuwarten, bis die Jäger tief in den Wald vorgedrungen waren und ihm nicht in die Quere kommen konnten, wenn er zum Berg ging und den Drachen auf eigene Faust suchen ging.
 

Er konnte ja nicht ahnen, dass dieser Tag der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft sein würde.

Xankir

Als Xankir aufwachte, ahnte er noch nichts von dem Aufruhr im Clan.

Er blinzelte verschlafen im Licht der matt scheinenden Sanduku-Pflanzen, die in seiner Schlafecke nur hier und da wuchsen, als wüssten sie, dass er hier ruhte und daher nur sehr wenig Licht benötigte.

Der Drache schüttelte den Kopf, dass die Schuppen klirrten und wischte wie zufällig mit dem Schwanz über eine etwas größere Sanduku-Pflanze in der Nähe, die daraufhin aufleuchtete und den Raum stärker erhellte.

Leises Knurren ertönte – jedoch nicht aus Xankirs Maul, sondern eher aus seiner Magengegend und so rappelte sich das Jungtier auf und sah sich in der Wohnhöhle nach seiner Mutter um.

Doch die Wasserkike war nirgends zu sehen.

Also verließ er seine Wohnung und wandte sich dem Großen Raum zu.

Schon bevor er ihn betrat spürte er die wohltuende Wärme und vernahm das leise Gemurmel der Clanmitglieder.

Er war noch noch nicht ganz wach und so merkte er nicht, dass das Gemurmel heute lauter und aufgeregter klang.

So betrat er arglos die große Höhle und sah sich erneut nach seiner Mutter um.

Diese entdeckte er in einer Ecke im Gespräch mit anderen Kiken, ging hin und kuschelte seinen ausgekühlten Körper an ihre warmen Schuppen, woraufhin sie kurz ihr Gespräch beendete und ihn liebevoll beschnupperte.

Dann bemerkte er in der anderen Ecke des Großen Raumes die ausgewachsenen Kiuma des Clans, die sich um Rynd scharten und erst jetzt fiel Xankir die Unruhe auf, die herrschte.

Er löste sich wieder von seiner Mutter, um hinüber zu gehen und sich zu erkundigen, was da los sei.

Doch die Traube um den Clanältesten war zu groß, als dass er etwas von dem Gespräch mitbekommen könnte.

Da löste sich ein Wasserdrache aus der Masse, sah Xankir und trat auf ihn zu.

„Hast du es auch schon gehört? Das ist unglaublich, oder? Diese Menschen!“, rief er aufgebracht.

„Was meinst du, Rorax, was ist denn los?“

„Hast du das etwa nicht mitbekommen? Wo bist du denn gewesen?!“

„Ich habe bis eben geschlafen...“, murmelte Xankir, doch Rorax schien ihn nicht zu hören, er schimpfte weiter.

„Dieses arrogante Menschenpack! Jetzt sind schon wieder Jäger in unser Tal eingedrungen! Wir entwerfen gerade einen Plan, wie wir sie wieder hier fort locken können, ohne, dass sie merken, dass hier ein ganzer Drachenclan lebt. Die werden langsam richtig lästig, ständig muss man auf der Hut sein!“

Wütend schnaubend beendete der blaue Drache seine Schimpftirade.

„Menschen?“, fragte Xankir nach und sah seinen Freund aufgeregt an. „Wo?“

„Wenige Flügelschläge vom Taleingang entfernt. Bald werden sie den Fluss erreichen, wenn sie dem folgen, kommen sie schnell zum Wasserfall und dort gibt es genügend Spuren von uns Wasserdrachen, weil wir dort das frische, sauerstoffreiche Wasser fressen.“

„Und was planen wir, um sie wieder los zu werden?“

„Einige planen, die Menschen einfach in Ruhe zu lassen und die Spuren beim Wasserfall schnellstmöglich zu beseitigen, aber das ist nicht machbar, wenn du mich fragst. Die Erde dort ist so zertrampelt, das können wir nicht vertuschen.

Ein anderer Plan ist, dass ein ausgewählter Drache die Jäger von hier fort lockt, indem er sich ihnen zeigt, so tut, als wäre er verletzt oder erschöpft und sie Stück für Stück aus dem Tal lockt. Immer weiter fort. Und wenn er müde wird, löst ihn ein anderer Drache desselben Elements ab, dann denken die Jäger, sie würden den gleichen Drachen verfolgen. Sie werden denken, dass er jeden Augenblick vor Erschöpfung abstürzt und ihm blind folgen, in der Hoffnung auf gute Beute und Ruhm! Wenn sie weit genug weg sind, fliegt der Lockdrache einfach heim und die Jäger bleiben zurück und gehen leer aus!“

Rorax lachte laut bei der Vorstellung der enttäuschten Menschengesichter.

Xankir konnte nur mit Mühe seine Aufregung unterdrücken.

„Und? Wer wird der Lockdrache sein? Steht das schon fest?“

„Nein, noch nicht. Aber eins ist sicher: ich werde mich bewerben! Ich will diesen dummen Menschen zeigen, wer hier das intelligentere Lebewesen ist!“

Die braunen Augen des Erddrachen glänzten vor Bewunderung, als er seinen älteren Freund ansah.

„Wirklich? Das willst du tun? Das ist doch gefährlich!“

Rorax hob stolz den Kopf und machte sich größer.

„Ach, Unsinn. Für einen Drachen in meinem Alter ist das doch keine Herausforderung!“

„Ich will auch! Ich werde mich auch freiwillig melden!“

Rorax schrumpfte augenblicklich wieder auf Normalgröße zusammen und sah den Jungdrachen groß an.

„Du?“, fragte er ungläubig nach. „Du bist doch noch viel zu klein!“

Sofort verschwand der Glanz in Xankirs Augen.

„Waaas? Ich bin doch nur dreiundsiebzig Winter jünger als du!“

„Nie im Leben lassen die Zee-Drachen dich fliegen!“

„Ich bin doch kein Kijana mehr! Ich kann das genauso gut wie du erledigen! Außerdem kann ich mich viel besser im Wald verstecken! Deine Gabe, unter Wasser zu atmen, hilft dir gar nichts!“

„Dann wäre deiner Logik nach ein Luftdrache am Besten geeignet!“

Xankir wandte sich beleidigt ab. „Wir werden ja sehen, wer von den Zee-Drachen ausgewählt wird!“

In dem Moment löste sich die Traube von Drachen um Rynd auf und die drei Zee-Drachen traten vor, um ihre Entscheidung zu verkünden.

Aphili, die nach Rynd die zweitälteste Kike im Clan war, trat vor und rief mit brüchiger Stimme in den Großen Raum: „Es wurde entschieden, einen Drachen zu entsenden, der die Jäger von unserer Höhle weglockt. Wer meldet sich freiwillig?“

Unruhe entstand. Viele Drachen wandten sich unbehaglich. Keinem – auch nicht den Mutigsten – gefiel die Vorstellung, sich freiwillig von Jägern verfolgen zu lassen.

Alle fürchteten ihre, leider sehr effektiven Wasser.

Doch da trat ein blauer Drache vor, sah die Zee-Drachen entschlossen an und rief: „Ich! Ich melde mich freiwillig!“

Wütend und trotzig sah Xankir Rorax an. Auch ein Funke Neid regte sich ihm, als er seinen Freund so mutig dastehen sah und auch die scheinbar bewundernden Blicke der anderen Clan-Mitgliedern sah. Das war der Schubser, den er gebraucht hatte, um ebenfalls vorzutreten.

„Ich mich auch!“, rief er. Doch seine Stimme klang längst nicht so fest und klar wir Rorax'.

Die Blicke, die nun ihm galten, schienen ihm anderer Art zu sein, als die, die eben noch auf seinem Freund ruhten. Er meinte, dass in ihnen derselbe Ausdruck lag, wie vorhin in Rorax' Augen – Ungläubigkeit.

Jetzt wurde Xankir wütend. Warum traute ihm niemand zu, ein paar Menschen an der Nase herumführen zu können?!

Gerade öffnete er das Maul, um seine Entscheidung zu bekräftigen, da stand seine Mutter plötzlich neben ihm und legte einen Flügel auf seinen Rücken.

„Was sagst du denn da, mein Schatz? Du bist doch noch viel zu jung, um so etwas gefährliches zu tun!“, flüsterte sie ihm zu und drückte ihren blau geschuppten Körper gegen seinen, um ihn dazu zu bewegen, mit ihr in eine Ecke des Großen Raumes zurückzukehren; den Kreis der Aufmerksamkeit zu verlassen.

Doch da trat Rax, der Wächter vor und zog die Blicke der Drachen auf sich.

„Das Zögern der erwachsenen Kiuma hat die Kijana dazu gebracht, zu glauben, ihre Hilfe wäre erforderlich!“

Erst dachte Xankir beschämt und zornig, Rax würde ihn meinen, doch dann sah er, dass der weiße Drache auch Rorax ansah, der wie vom Donner gerührt dastand und seinen Ohren nicht trauen wollte.

„Ich werde gehen, und die Jäger fort locken. Mit meiner Gabe bin ich am Besten dafür geeignet! Und Masada wird mir helfen“, fuhr der weiße Drache fort und nickte seinem Wächter-Kollegen – ebenfalls ein Luftdrache – zu, der daraufhin zu ihm trat.

Seine Worte wurden mit Erleichterung und beifälligem Knurren aufgenommen.

Als Xankir sah, dass Rorax, den Kopf verlegen und auch etwas enttäuscht gesenkt, die Versammlung verließ und sich in eine einsame Ecke zurückzog, ließ er sich endlich von seiner Mutter ebenfalls fort drängen.

Dann schlossen die Drachen einen engen Kreis um Rax und Masada, um die Tapferen zu beglückwünschen und ihnen Erfolg zu wünschen.

Xankir wünschte sich sehr an dessen Stelle zu sein und bewundert zu werden.

Wieso glaubten alle, er wäre noch ein Kijana! Er war schon über fünfhundert Jahre alt!

Er war so aufgebracht, dass er die mahnenden Worte seiner besorgten Mutter gar nicht hörte.

Und überhaupt! Was hatte das Alter mit Geschick und Können zu tun?!
 

Am Abend brachen Rax und ein weiteres Mitglied des Clans, ein großer Feuerkiuma auf.

Der Freuerkiuma sollte sich im Hintergrund halten und nur bei drohender Gefahr einschreiten.

Masada und sein Begleiter waren bereits aufgebrochen und auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt, zu dem Rax die Jäger locken sollte und wo er dann von seinem Freund abgelöst würde.

Xankir befand sich unter den Drachen, die ihn verabschieden und Glück wünschen wollten.

Die meisten beachteten ihn gar nicht, einige Drachen jedoch, warfen ihm mitleidige oder sogar belustigte Blicke zu.

Fast sofort war die Wut, die im Laufe des Tages abgeklungen war, wieder da und der Erdkiuma bleckte die Zähne und knurrte, was die umstehenden Drachen grinsen ließ.

Er hatte die Schnauze voll! Er würde es ihnen schon zeigen! Die würden ja sehen, was sie davon hatten, ihn nicht ernst zu nehmen!

Seine Aufmerksamkeit kehrte zu den aufbrechenden zurück, als die zurückbleibenden Drachen begannen, ihm Glückwünsche zuzurufen und die Beiden die Flügen ausbreiteten und in die sternklare Nacht starteten.

Ohne, dass er zuvor darüber nachgedacht hatte, spreizte Xankir ebenfalls die Flügel und drängte sich durch die Menge, um Rax zu folgen.

Einige um ihn herum machten Anstalten, ihn aufzuhalten, doch andere lachten nur und meinten, er würde nicht weit kommen, sicherlich hätte er angst im Dunkeln.

Da hatten sie nicht ganz Unrecht, aber das machte Xankir nur noch wütender und er stieß sich vom Felsen ab und folgte Rax und dem Feuerkiuma.

Das Lachen der Anderen wurde schnell leiser und verstummte schließlich im Luftzug, der ihm um die Ohren sauste.

Er beeilte sich, zu den Vorausfliegenden aufzuschließen , doch sie waren bereits in der Nacht verschwunden und er konnte sie nicht finden.

Was sollte er jetzt tun?

Über ihm glänzten die Sterne, doch der Mund war noch nicht aufgegangen und unter ihm war alles in Schwärze getaucht. Schnell verlor er die Orientierung und hätte nicht einmal zum Clan zurückkehren können, wenn er das gewollt hätte!

Plötzlich sah er etwas unter sich glitzern und er entdeckte ein silbernes Band, dass sich durch die Dunkelheit zog – der Fluss!

Er wusste nun auch wieder, wo er war und hatte seine Orientierung wieder gefunden.

Was hatte Rorax gesagt, wo sich die Jäger aufhielten? Am Taleingang! Und von dort aus würden sie dem Fluss folgen, das hatte er gesagt!

Also flog Xankir tiefer über den Fluss auf der Suche nach einem Lagerfeuer. Und tatsächlich, nach wenigen, kräftigen Flügelschlägen den Fluss entlang, entdeckte er einen schwachen Feuerschein im Wald, nicht weit vom Fluss entfernt.

Die Jäger!

Jetzt, wo er sie gefunden hatte, fiel ihm ein, dass er gar nicht genau wusste, was er tun wollte.

Er flog über den Feuerschein hinweg und flog in weiter ausladenden Schleifen immer wieder um das Lager der Menschen herum, auf der Suche nach Rax und seinem Begleiter.

Eine Weile flog er ratlos über sie hinweg – weit genug oben, damit sie das Rauschen seiner Flügel nicht hören konnten – und fragte sich, wo Rax und der Feuerkiuma blieben. Sie tauchten einfach nicht auf!

Inzwischen war der Mond aufgegangen und er konnte weit über die Bäume sehen, doch nirgends war ein Schatten der Beiden auszumachen, er war das einzige Wesen, das in der Luft war.

Während er so Ausschau hielt, bemerkte er nicht, dass mit einem Mal Unruhe bei den Menschen entstand.

Später erst würde Xankir klar werden, dass nicht nur er im hellen Mondschein gut sehen konnte, sondern auch selbst leicht auszumachen war.

Die Menschen spannten ihre Bögen – unbemerkt von Xankir, der immer noch damit beschäftigt war, sich zu überlegen, wie es weiter gehen sollte.

Dann sausten ihm die tödlichen Geschosse um die Hörner und er drehte erschrocken brüllend ab und flog dem Berg entgegen, der sein Zuhause war.

Doch auf dem Weg dorthin drängte sich ein Gedanke in sein entsetztes Gehirn: Er führte sie genau zum Drachenclan!

Die Erkenntnis ließ ihn heftig zusammenzucken und er sackte einige Schwanzlängen in die Tiefe.

Dann fing er sich wieder und drehte um, weg von seinem Heim; weg von der sicheren Zuflucht.

Er blickte sich nach den Jägern um, doch er konnte sie zwischen den Bäumen nicht entdecken.

Trotz seiner Angst sank er noch tiefer über die Wipfel um sie zu entdecken. Er musste sicher sein, dass sie ihm folgten, wenn er das Tal verließ.

Pferdeschnauben, Stimmengewirr und wieder das todbringende Zischen – da waren sie!

Xankir schoss über die hinweg, Richtung Talausgang.

Durch das Sausen des Windes und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren, hörte er gerade noch, wie die Pferde laut wieherten und die Menschen die Tiere antrieben – sie folgten ihm.

Erleichterung und Panik durchströmten ihn zugleich.

Er kannte den Treffpunkt mit Masada nicht! Wohin sollte er die Jäger locken?!

Er riss sich zusammen Erst einmal mussten sie unbedingt aus dem Tal raus!

Er blickte über das Land, fixierte die hohen Berge, die das Tal umschlossen und entdeckte die Lücke zwischen ihnen, die den einzig möglichen Zugang für Menschen bildete. Darauf hielt er nun zu.

Wieder und wieder drehte er den Kopf um sicher zu gehen, dass die Menschen ihm folgten und noch immer verzweifelt nach Rax oder dem Feuerkiuma suchend.

Doch als er nach einer gefühlten Ewigkeit am Ende des Tals angekommen war, war er immer noch der einzige Drache weit und breit.

Also durchflog er die Berge und sah sich dort nach einem Anhaltspunkt um, wo Masada warten könnte.

Doch es war nichts zu entdecken.

Hier war flache Ebene, der Wald lichtete sich schnell und verschwand, in weiter Ferne waren die Spitzen eines anderen Gebirges zu sehen und durch diese Ebene, die nur hier und da von einigen Gebüschinseln durchbrochen wurde, zog sich der Fluss, beinahe gerade, soweit der Blick des Drachen reichte.

Das Schlimmste war, dass die Jäger hier im vollen Galopp reiten konnten und ihn auch in großer Entfernung noch sehen konnten.

Unter ihm spornten die Jäger tatsächlich ihre Pferde an und jagten ihm in vollem Galopp hinterher.

Xankir wusste sich nicht anders zu helfen, als dem Fluss zu folgen und so hoch wie möglich zu fliegen, damit die Pfeile ihn nicht erreichen konnten.

Glücklicherweise wehte dort oben ein kräftiger Wind, und so war es Xankir möglich, mit minimalem Kraftaufwand in der Luft zu bleiben und sich vorwärts zu bewegen, indem er sich einfach wie ein Vogel von der Strömung tragen ließ.

Er war zwar langsamer als die Jäger, doch die merkten nach wenigen Versuchen, dass er zu weit oben war, um getroffen zu werden.

Doch aufgeben wollten sie natürlich nicht, so ließen sie die Pferde einen lockeren Trab laufen und folgten ihm.
 

Der Mond hatte das Zenit bereits überschritten, als das Gebirge, das Xankir in der Ferne gesehen hatte, größer wurde und sie schließlich daran vorbeizogen.

Xankir hatte gehofft, hier Rast machen zu können, doch in den schroffen Felsen gab es keine Möglichkeit, zu landen, geschweige denn sich zu verstecken.

Doch der Wind änderte hier seine Richtung und er musste den Fluss verlassen und am Gebirge vorbeifliegen.

Die Jäger überquerten das Wasser mit Leichtigkeit und ließen ihn nicht aus den Augen.

Als die Sonne schon langsam aufging erstreckte sich unter ihm immer noch die freie Ebene.

Dann zogen unter ihm einige flache Hügel vorbei und wenige Schwanzlängen hinter ihnen begann wieder ein großer Wald, den Xankir überflog. Die Jäger folgten hartnäckig.

Auf der linken Seite tauchte erneut ein Gebirge auf, dass sich schnell als große Gebirgskette herausstellte, an der ihn die Strömung vorbeiführte.

Plötzlich endete diese ohne Vorwarnung in einem Fallwind, der Xankir hinunter drückte.

Er war bereits müde, so weit war er in seinem Leben noch nicht geflogen und der Kampf gegen den Fallwind erschöpfte ihn sehr.

Mit großer Anstrengung konnte er sich aus dem Fall reißen, doch die Jäger hatten ihre Chance gesehen und wieder die Bögen gespannt.

Xankir verspürte einen Luftzug zwischen den Hörnern, dann brannte es höllisch. Er war nicht direkt getroffen, aber der Streifschuss hatte ihn dennoch seine Schuppen verletzt.

Mit letzter Anstrengung setzte er zum Endspurt an und verschwand über einen Felsvorsprung, den die Jäger zu Pferde nicht überqueren konnten. Und zu Fuß würden sie ihn niemals kriegen.

Wütendes, enttäuschtes Gebrüll begleitete ihn ein Stück.

Dann folgte er einer Schlucht, die wieder in den Wald mündete. Hier landete er völlig erschöpft. Doch hier konnte er nicht bleiben, er fühlte sich nicht sicher, bis er nicht in einer Höhle oder einem anderen Versteck Unterschlupf gefunden hatte. So machte er sich zu Fuß auf, durch den Wald, seine Flügel fühlten sich taub an.

Er erreichte den Fuß des Berges, erklomm ihn und stand nach einer Weile in einer Sackgasse, an deren Ende sich ein paar dürre Bäumchen verzweifelt an den Fels klammerten.

Er konnte nicht mehr weiter und legte sich einfach vor sie. Doch dann spürte er einen Luftzug, der von den Bäumen auszugehen schien und entdeckte eine große Höhle hinter ihnen. Er zwängte sich durch die dünnen Stämme und verschwand in der Höhle, um sich auszuruhen und Kraft für den Rückflug zu sammeln.

„Die werden sich wundern, wenn ich wieder Heim komme“, nuschelte er leise, bevor er einschlief.
 

Er erwachte erst wieder, als er ein leises Flüstern und etwas Warmes auf seinen Schuppen fühlte.

Rorax

Masada kam aufgeregt in den Großen Raum gelaufen und fiel vor Aufregung fast über seine Vorderpfoten, als er keuchend stehen blieb; alle Drachen im Raum hatten den Kopf gehoben und blickten ihn an.
 

„Xankir!“, schnaufte er. „Xankir ist wieder da!“

Ein Schrei ertönte aus einer Ecke der Höhle und Wazari, Xankirs Mutter, rannte mit wehenden Flügeln an ihm vorbei.

Auch Rorax, der sich, seit Xankir vor drei Tagen in der Nacht verschwunden war, von seinen Artgenossen abgesondert und furchtbare Vorwürfe gemacht hatte, sprang auf und lief mit den anderen Drachen den Gang zum Eingang des Höhlengeflechtes, das sie ihr Zuhause nannten, hinauf.
 

In dieser Nacht war der Feuerkiuma, der Rax begleitet hatte, bereits nach kurzer Zeit zum Clan zurückgekehrt und hatten mitgeteilt, dass sich im Laufe des Tages wohl eine zweite Schar Jäger zu der ersten gestellt hätte, denn sie hatten im Licht des Lagerfeuers mehr Menschen und Pferde entdeckt, als der Drache, die Jäger entdeckt hatte, am Morgen noch angegeben hatte.

Waren sie zuvor noch der Meinung gewesen, die Dunkelheit in der Nacht zu ihren Vorteil nutzen zu können, um die Menschen einzuschüchtern und vor ihren giftigen Pfeilen in Sicherheit zu sein, so fürchteten sie nun, dass Wächter im Dunkeln lauern könnten, die die Umgebung und den, vom Feuerschein erhellten Nachthimmel bewachen. Da sie nicht wussten, wie viele Menschen zu ihnen gestoßen waren, konnten sie nicht prüfen, ob alle Männer am Lagerfeuer saßen.

Deswegen war Rax bereits auf dem Weg, um Masada ein- und zurückzuholen.

Erst, als sich Wazari am nächsten Morgen besorgt nach Xankir erkundigt hatte – sieh hatte geglaubt, er wäre beleidigt , weil sie ihn bei seiner Bitte um die Mission nicht beigestanden war, und hätte die Nacht bei einem Freund oder im Großen Raum verbracht – hatten sie bemerkt, dass er nicht da war.

Als sich dann auch noch einige Drachen meldeten und von dem Verfall am Abend berichteten, flogen Masada und Rax so schnell sie konnten ins Tal. Doch so sehr sie auch suchten, weder Xankir noch die Jäger waren auffindbar.

Sie vermuteten das Schlimmste.
 

Doch nun waren Rorax und die anderen Drachen beinahe am Eingang der Höhle angekommen und sie hörten Wazaris Freudenschluchzer. Sie hatte den Hals ihres Sohne fest mit ihren Vorderpfoten umschlungen und drückte den Kopf an seine Schuppen.

„Mama! Mama, ist doch gut. Ich bin ja wieder da!“, versuchte Xankir seine Mutter zu beruhigen.

„Ich – ich...!“, brachte seine Mutter nur hervor und begann herzzerreißend zu weinen.

Xankir war total überrascht und tätschelte hilflos mit einem Flügel ihren Rücken.

Rorax konnte einen erleichterten Stoßseufzer nicht unterdrücken. Er wollte sich schon abwenden und zum Großen Raum zurückkehren, da ertönte ein leiser Schreckensschrei aus Wazaris Richtung.

„Du bist ja verletzt!“

Xankir löste sich aus ihrer Umklammerung und drehte den Kopf weg.

„Es geht mir gut, ist gar nicht so schlimm.“

„Wir müssen das versorgen! Sofort!“

Wazari biss ihn vorsichtig in seinen Flügel und zog ihn mit sanfter Gewalt den Gang entlang.

Keiner der Drachen wagte es, laut zu lachen; sie waren viel zu froh, dass der Jungdrache wohlbehalten wieder heimgekehrt war.

Nachdem Xankir und seine Mutter in ihrer Wohnhöhle verschwunden waren, kehrte Rorax mit den anderen Drachen in den Großen Raum zurück.

Dort beteiligte er sich nicht an den Spekulationen der Anderen, wo der Erdkiuma wohl drei Tage lang gewesen sei und was er alles erlebt habe, sondern legte sich neben den Eingang zur Höhle, um Xankir abzufangen, wenn er ein kam – vorausgesetzt, seine Mutter würde ihm erlauben, die Wohnhöhle heute nochmal zu verlassen.

Dort döste er langsam ein und wachte erst auf, als ein Zischlaut seine Träume störte.

„Psssst! Psssst! Rorax!“, flüsterte Jemand.

Der Drache hob seinen blauen Kopf und erblickte Xankir, der am Eingang stand und offensichtlich nicht den Großen Raum betreten und die Aufmerksamkeit der anderen Drachen auf sich ziehen wollte.

Rorax erhob sich und trat zu Xankir auf den kühlen Gang.

„Können wir vielleicht zu dir gehen?“, fragte sein Freund.

Der Wasserdrache nickte und die Beiden gingen in Rorax' Wohnhöhle.

Seine Tante Aphili, bei der er lebte, seit sein Vater vor zwei Jahren friedlich mit neunzehntausendeinhalb Jahren gestorben war, hielt sich als zweitälteste Zee-Kike des Clanes fast ausschließlich bei Rynd im Großen Raum auf und hatte nur selten Zeit, um sich um ihren Neffen zu kümmern. Seine Mutter gehörte einem anderen Clan an und zwar inzwischen zu alt, um ihren Sohn zu besuchen.

So lagen die Beiden in Rorax' Höhle und Xankir erzählte aufgeregt, was ihm passiert war.

„Ein Mensch?“, rief der blaue Drache entsetzt. „Er hätte dich töten können!“

„Ach was“, winkte Xankir ab. „Fynn ist echt nett. Wir haben uns prima unterhalten.“

„Unterhalten?“

„Ja. Fynn konnte mich verstehen-“, der Erddrache stockte. „Jetzt, wo du nachfragst, finde ich das allerdings auch komisch. Erzählt Rynd nicht immer, die Menschen können uns nicht verstehen? Wie hat Fynn unsere Sprache gelernt?“

„Du kannst ihn ja fragen, wenn du ihn das nächste Mal siehst“, lachte Rorax.

Xankir hörte den spöttischen Unterton in Rorax' Stimme und erwiderte trotzig: „Das werde ich!“

„Das kannst du nicht!“, begehrte Rorax auf. „Er ist ein Mensch! Er ist gefährlich! Wir können Menschen nicht trauen!“

„DU kannst Menschen nicht trauen! Aber Fynn ist mein Freund!“

Wütend war Fynn aufgesprungen und stampfte nun hoch erhobenen Hauptes hinaus.

Von draußen rief er noch: „Du bist ja bloß neidisch, weil du das alles nicht erlebt hast, sondern ich 'das Kijana'!“

Rorax klappte das zornig aufgerissene Maul zu und schüttelte den Kopf bei so viel blindem Vertrauen einem Menschen gegenüber.

Er hatte das ungute Gefühl, dass Xankir seinen neuen Freund bald wieder besuchen würde und beschloss, ihn unauffällig im Auge zu behalten.
 

Die ganze nächste Mondperiode lang wurde Xankir nicht nur von Rorax beschattet, sondern vor allem seine Mutter warf ein scharfes Auge auf ihn.

Doch der grüne Drache fügte sich ohne Probleme wieder in die Gemeinschaft ein und so ließ die Wachsamkeit seiner Mutter im gleichen Maße nach, wie seine Wunde verheilte.

Doch Rorax ahnte, dass diese Sache für Xankir noch nicht erledigt war.

Und er behielt Recht.
 

Trotz der eindringlichen Ermahnungen von Rynd und Wazari, sich nicht mehr allzu weit von der Höhle zu entfernen, beobachtete Rorax Xankir dabei, wie er bei seinen Ausflügen immer näher an den Rand des Tales flog und sehnsüchtig über die Ebene außerhalb der schützenden Berge blickte.

Und eines Tages blickte er sich sorgfältig um – entdeckte den Wasserdrachen jedoch nicht, der sich hinter einem Baum verbarg und ließ tatsächlich mit wenigen Flügelschlägen das Tal hinter sich.

Rorax hatte noch nie in seinem Leben die Berge überquert und fühlte sich dementsprechend mulmig, als er Xankir zögernd folgte. Doch er wollte sich nicht eingestehen, dass er Angst hatte.

Nun musste er sich aber auf ein anderes Problem konzentrieren: Er konnte sich nicht mehr verstecken. Kein Baum, kein Berg, nicht einmal ein Hügelchen durchbrach die flache Ebene unter ihnen.

Der Wasserdrache konnte nur möglichst tief fliegen und hoffen, dass der Erdkiuma sich sicher fühlte und nicht hinter sich blicken würde.

Glücklicherweise war Xankir anscheinend so aufgeregt auf das, was vor ihm lag, dass er nicht daran dachte, was hinter ihm sein könnte.

So kamen sie bald an dem großen Berg vorbei und als die Sonne sich dem Zenit näherte, erreichten sie den Wald.

Rorax blickte sich oft um und beobachtete die Umgebung genau. Wie konnte Xankir nur so unvorsichtig sein? Hier konnten überall Menschen lauern!

Dann blieb dem Verfolger beinahe das Herz stehen.

Der Wald hatte aufgehört und ein kleines Dorf lag, umgeben von Äckern dort am Waldrand.

Und Xankir flog direkt darüber! Ohne Sichtschutz vor den Menschen!

Rorax war bei dem Anblick beinahe aus der Luft gefallen.

Angsterfüllt beobachtete er, wie der Schatten des grünen Drachen über die Häuser und den – Elementen sei Dank – menschenleeren Dorfplatz huschte, ohne daran zu denken, dass er selbst vor den Blicken der Menschen ungeschützt über den Wipfeln der Bäume schwebte.

Dann entdeckte er einen Schatten, der aus einem der Häuser getreten war, die Hand zum Schutz vor der Sonne an den Kopf gehalten und in die Richtung starrte, in der Xankir verschwunden war.

Als Nächstes sah Rorax, wie der Mensch sich in Bewegung setze und das Dorf verließ.

Schon nach wenigen Augenblicken verlor sein Blick den Menschen zwischen den Bäumen.

Er schwebte noch einen Moment lang schockiert über den Bäumen, bevor er sich zusammen und aus der Starre reißen konnte.

Er umflog das Dorf und achtete nun sogar darauf, dass er nicht gesehen werden konnte. Aber als er an der Stelle war, wo der Mensch den Wald betreten hatte, war dieser schon längst verschwunden.

Ratlos versuchte er das Dickicht unter sich zu durchdringen, doch er konnte nichts und niemanden entdecken. Zu landen wagte er erst recht nicht.

Er überflog den Wald und versuchte verzweifelt, den Mensch oder Xankir zu finden.

Da kam er in die Nähe des Berges, der sich nicht weit vom Dorf erstreckte und als er an den felsigen Wänden entlang flog, den Wald unter sich absuchend, hörte er entferntes Keuchen und Steine einen Hang hinab rollen.

Er ließ vom Wald ab und überflog die Berge so hoch, dass er gerade noch erkennen konnte, ob sich etwas in den steinigen Tiefen bewegte. Und tatsächlich, ein Schatten wanderte schnell über einen schmalen Weg zwischen Bergwand und Schlucht.

Er versuchte, dem Schatten zu folgen, doch aufgrund der Höhe, verlor er ihn immer wieder.

Doch tiefer sinken konnte er auch nicht, der Mensch würde merken, dass die Silhouette am strahlend blauen Himmel zu massig für einen Vogel war.

Dann hatte er ihn doch aus den Augen verloren. Er war einfach weg.

Unruhig blieb Rorax in der Luft stehen und suchte den grauen Untergrund ab, doch dort bewegte sich nun nichts mehr.

Langsam, ganz langsam, ließ er sich nun doch tiefer sinken, um Details erkennen zu können.

Nun konnte er einige dürre Bäume ausmachen, die sich an die Bergwand drängten, als hätten sie Angst, den Abhang auf der anderen Seite des Wegen hinab zu fallen.

Doch der Mensch war noch immer nicht zu sehen.

Noch einmal sondiert Rorax gründlich die Umgebung, und als er auch diesmal nichts entdecken konnte, setzte er zum Landeanflug an.

Der Weg war schmal und so war es schwierig für Rorax, heil auf ihm zu landen, ohne mit den Flügeln an die Bergwand zu stoßen, doch er schaffte es mit einiger Mühe.

Er sah sich erneut um.

Nichts.

Es war niemand da. Aber genau hier war der Mensch verschwunden!

Zaghaft rief Rorax: „Hallo? Bist du hier?“

Dann lauter: „Xankir, wo bist du?!“

Dann raschelte es, die dürren Bäume erzitterten und er sah verwundert, wie Xankir sich durch die Stämme schob.

Ein missmutiger Blick traf ihn.

„Was machst du hier? Bist du mir etwa gefolgt?“, fragte der Erddrache.

„Natürlich bin ich dir gefolgt, es war ja klar, dass du dich wieder davon schleichen würdest!“

Ein erschrockener Laut ertönte und er fuhr herum.

Der Mensch!

Er stand zwischen den Bäumen und starrte ihn mit großen Augen an.

Einen Moment lang wollte ihn Panik überwältigen, die er im Anblick des schmächtigen Menschen selbst nicht verstehen konnte.

Doch er kämpfte seine Instinkte nieder und knurrte feindselig: „Wer bist du?“

Der Junge (er sah erst jetzt, dass der Mensch noch lange nicht ausgewachsen war) öffnete den Mund, als wolle er antworten, doch kein Ton kam über seine Lippen.

Er blickte ihn noch einen Herzschlag lang durchdringend an und wandte sich dann wieder an Xankir.

„Warum antwortet er nicht? Ist er stumm?“

Xankir wandte sich nun seinerseits an den Jungen.

„Fynn, warum antwortest du nicht?“

Wieder kam keine Antwort.

„Was hat er denn?“, fragte der blaue Drache. „Ist das normal bei Menschen?“

„Nein, tut mir leid, ich weiß auch nicht, warum er nicht antwortet.“

„Das ist verdächtig. Der benimmt sich komisch, selbst für einen Menschen! Lass uns verschwinden!“

„Nein, Rorax, er ist in Ordnung, glaub mir!“

„Du spinnst doch!“

„Dann glaubst du mir eben nicht“, antwortete Xankir patzig.

„Also, ich weiß echt nicht, warum du solche Angst vor ihm hast, Rorax! Erstens vertraue ich ihm und das müsste dir eigentlich schon genügen und zweitens ist er alleine. Klar sind Menschen gefährlich, aber nur in Gruppen, also verlier nicht gleich deine Hörner vor Angst! So, und jetzt...“

Doch weiter kam Xankir nicht.

Pferdewiehern und das lederne Knarren von Sattelzeug drang aus dem Wald.

Rorax wandte sich so schnell es auf dem schmalen Weg ging um und blickte zum etwa zwei Schwanzlängen tiefen Grund der Schlucht hinunter, der direkt zum Wald führte.

Nun ritten Menschen unter den Bäumen hervor und Rorax' Herz setzte einen Schlag lang aus.

Panik und Wut brodelten in ihm hoch und er brüllte die Reiterschar an.

„VERSCHWINDET!“

Hinter ihm rief Xankir: „Menschen!!“, dann ertönte ein lautes Rauschen und er konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie der grüne Drache am Himmel verschwand.

Rorax war aufgebracht und wütend. Er konnte die Menschenschar nicht aus den Augen lassen, traute aber auch nicht dem Jungen hinter ihm, zwischen den Bäumen.

Er schwang den Schwanz schnell hin und her, um den Jungen zu erwischen, falls er es wagen sollte, sich anzuschleichen.

Dann stieß seine Schwanzspitze an eines der Bäumchen.

Er holte kräftig aus, hoffte, der Junge würde noch immer zwischen den Bäumen stehen und mähte die dürren Stämme nieder. Doch er spürte, dass er keinen weichen Menschenkörper getroffen hatte.

Er konnte nicht länger hier bleiben, von Menschen eingekeilt. Und so spreizte er die Flügel und gab endlich seinen Instinkten nach, die auf Flucht drängten.

Er wandte sich in die Richtung, in der Xankir verschwunden war und folgte ihm, so schnell er konnte.

Kaum hatte er den Berg hinter sich gelassen und das grüne Meer erstreckte sich wieder unter ihm, da entdeckte er weit vor sich Xankir, der mit kräftigen Flügelschlägen floh, als wären alle Menschen der Welt hinter ihm her.

Dann sah er ihn sinken und zwischen den Bäumen landen.

Als er näher heran war, erkannte er, dass es eine Lichtung war.

Er sah blickte sich noch einmal um – was völlig unnötig war, da Menschen nicht fliegen konnten – und landete neben dem zitternden Erdkiuma.

Einen Moment lang standen sie keuchend nebeneinander, dann dreht sich der Blaue zu seinem Freund um und fauchte: „Siehst du, was passiert, wenn man sich mit Menschen 'anfreundet'? Du hättest uns beide beinahe umgebracht!“

Xankir sah ihn verdattert an.

„Du... du glaubst doch nicht,... dass das Fynn war?!“

„Natürlich war das eine Falle von deinem neuen, tollen Freund! Was glaubst du, woher die Reiter kamen und warum sie kamen?!“

Xankir öffnete das Maul, als wollte er etwas sagen, doch dann klappte er es wieder zu und wandte sich von ihm ab.

„Hallo? Ich rede mit dir! Hast du dazu nichts zu sagen? Ich finde, es wäre eine Entschuldigung angebracht!“, rief Rorax wütend.

„Es hat gar keinen Zweck, mit dir zu diskutieren. Ich könnte sagen, was ich will und du würdest Fynn doch weiter verdächtigen. Also lass ich es gleich bleiben“, erwiderte Xankir ruhig.

„Und bevor du jetzt gleich weiter rumbrüllst: Nein, ich werde auch nicht zum Clan zurück gehen. Jedenfalls nicht, solange ich nicht mit Fynn gesprochen habe! Und das wird morgen der Fall sein, heute können wir uns nicht mehr in der Nähe des Dorfes blicken lassen.“

Damit schlenderte Xankir auf den Waldrand zu und begann, an einigen Ästen zu knabbern.

Rorax wollte zornig auffahren, als er sah, wie Xankirs Schwanzspitze zitterte. Er erkannte, dass der Jungdrache nur äußerlich ruhig und gelassen wirkte. Das Geschehene hatte ihn sicherlich sehr geschockt.

Rorax beschloss, abzuwarten und später zu versuchen, seinen grünen Freund zur Vernunft zu bringen. Auch, wenn er nicht viel Hoffnung hatte, den Dickkopf umzustimmen.

Er würde wohl oder übel auf ihn aufpassen müssen. Damit legte er sich hin und schlief bald erschöpft ein.
 

Er wusste nicht, dass dieser ärgerliche Mensch ihn schon bald das Leben kosten würde.

Nexel

„Nexel! Was hast du getan?!“

Der junge, rote Drache wandte den Kopf und sah den alten Zee-Drachen seines Clanes auf sich zukommen.

Dieser war offensichtlich zornig, seine goldgelben Augen blitzten.

„Was meinst du?“, erwiderte Nexel und sah den älteren Feuerkiuma an.

„Was ich meine? Ich meine deine vollkommen unglaubliche, unerhörte Aktion, die Menschen aus dem Dorf zu vertreiben!!“

„Ach das? Nun, es war nötig.“

Dem Zee-Drachen verschlug es die Sprache. Er stand mit aufgeklappten Maul vor dem jungen, dennoch fast zwei Handbreit größeren Jungdrachen und starrte ihn an.

„Es... es war... nötig?!?“, brachte er dann heraus.

„Ja.“

Wieder fehlten dem Zee-Drachen einen Moment lang die Worte.

„Du-“, krächzte er dann, immer noch völlig perplex. „Du bist der Meinung, dass es nötig war, mit deinen Freunden vierunddreißig Menschen aus einem Dorf zu vertreiben, die dort seit jahrzehnten friedlich leben und uns niemals zu nahe gekommen sind? Warum?!“

Nun drehte sich Nexel endgültig zum Anführer seines Clanes um und sah ihn ruhig an.

„Ganz einfach: Sie leben dort, seit fast einem Jahrhundert, unser Clan lebt hier schon seit tausenden von Jahren. Sie vermehren sich ständig, als sie herkamen waren es kaum ein Dutzend Menschen, sie haben sich in dieser kurzen Zeit fast verdreifacht. Sie wurden zu einer Gefahr für uns. Und da es für sie einfacher ist, irgendwo anders neue Wohnstätten zu bauen, als für uns, eine neue Höhle zu finden, die für über vierzig Drachen Platz bietet, war es für alle die beste Lösung, wenn die Menschen verschwinden.“

„Und... und da hast du einfach mal so ihre Äcker, ihre Ernte und einen großen Teil des Dorfes in Brand gesteckt?“

„Es ist niemand zu Schaden gekommen, wir haben ihre kleinen, hölzernen Wohnhöhlen erst angezündet, als alle Menschen draußen waren, um das Feuer auf ihren Äckern zu löschen. Und die Wohnstätten, in denen Nachkommen waren, die nicht mithelfen konnten, das Feuer zu löschen, haben wir vorher mit Wasser überschüttet, sodass sie nicht brennen konnten. Kein Mensch war zu irgendeinem Zeitpunkt in Gefahr. Und nun werden sie ihre Habe und ihr Vieh nehmen und sich neue, unverbrannte Erde für ihre nächste Aussaat suchen.“

Endlich hatte der Zee-Drache seine Sprache wiedergefunden.

„Nexel!! Wir haben über deinen Vorschlag in der letzten Versammlung abgestimmt und er wurde abgelehnt! Wie kannst du es wagen, dich deinem Clan zu widersetzen!“

„Weil es richtig war!“, rief Nesu, ein etwas zu klein geratener Wasserdrache und Nexels Freund seit Kindertagen.

„Genau!“, mischten sich nun auch seine anderen Freunde – insgesamt sechs an der Zahl und alle an dem Vorfall beteiligt – ein und starrten den alten Drachen wütend an.

„Ihr seit noch jung und unerfahren! Ihr solltet auf die alten Drachen hören! Wir hatten unsere Gründe, diesen Vorschlag abzuweisen!“

„Die Alten haben ihr Augen vor dieser offensichtlichen Gefahr verschlossen!“, rief Amanu, eine freche Luftkike. „Wenn es nach euch gehen würde, würden wir unsere Heimat verlassen, wegen so ein paar Menschen und obdachlos werden!“

Nexel schwieg, während seine Freunde zustimmend murmelten und sich an seine Seite stellten.

Der alte Drache wich zurück.

„Was soll das werden? Wollt ihr vielleicht unsere Führung in Frage stellen?!“

„Vielleicht wird es Zeit, dass die Jungen die Führung übernehmen!“, rief ein robuster Feuerdrache, den Nexel zwar nicht als einen Freund bezeichnen würde, der ihn aber anhimmelte und nur zu oft all seinen Vorschlägen zustimmte.

Der Zee-Drache antwortete daraufhin nicht mehr, starrte die jungen Drachen, die ihn herausfordernd entgegenstanden nur noch einen Augenblick an und wandte sich dann ab.

Nexels Freunde deuteten das als Sieg und demnach war die Stimmung ausgelassen und heiter, nachdem der Anführer die Höhle verlassen hatte.

Zweifelsohne würde er sich auf den Weg machen, um den den anderen Drachen des Clanes von dieser bevorstehenden Rebellion zu unterrichten.

Nexel hatte niemals vorgehabt, den Clan zu übernehmen, er wollte ihn nur schützen und war sich sicher, dass er das einzig Richtige getan hatte.

Doch seine Freunde waren scheinbar der Meinung, er würde sich als nächster Clanführer eignen und würden versuchen, dies durchzusetzen.

Der Feuerdrache begriff schlagartig, dass er da etwas ins Rollen gebracht hatte, das er nicht kontrollieren konnte und dieser Clan auf eine Katastrophe zusteuerte.

Im schlimmsten Fall könnte sich der Clan spalten – in Alte und Junge.

Und beide Parteien würden nicht ohneeinander überleben können.

Die Alten würden ihrer Zukunft und die Jungen ihrer Vergangenheit beraubt werden.

Das konnte er nicht zulassen.

Und genauso eigenmächtig, wie er das begonnen hatte, würde er es auch beenden. Zum Wohle des Clanes.
 

Später am Abend, als alle schliefen, schlich sich Nexel aus seiner Höhle und steuerte auf den Ausgang zu.

Dort angekommen holte er tief Luft, genoss die kühle Brise, die den kalten, harten Winter ankündigte und spreizte die Flügel.

Doch gerade, als er abheben wollte, hörte er Stimmen, die von einem höher gelegenen Felsplateau an sein Ohr drangen.

Er lauschte.

„Nexel wird zu einem Problem. Er hat schon immer nur das getan, was er für richtig hielt, aber diesmal ist er zu weit gegangen!“

Der Feuerdrache erkannte die Stimme seine Ziehvaters, der ihm stets gezeigt hatte, dass er ihn nur sehr unwillig bei sich aufgenommen hatte.

„Iru, er ist kein schlechter Drache“, ertönte die Stimme des Zee-Drachens. „Er hat es nie leicht gehabt, ohne seine Eltern.“

„Warum musste sich dieser Dummkopf von seinem Vater auch auf eine Kike aus einem anderen Clan einlassen? ER wusste, dass wir keinen Platz für sie hatten, unser Clan ist so schon zu groß!“

„Keiner kann kontrollieren, wo die Liebe hinfällt, mein Freund.“

„Liebe, na danke“, sein Ziehvater schnaubte abfällig. „Und dann ist er mit ihr fortgegangen und hat seinen Sohn alleine zurückgelassen! Wo war die Liebe in dem Moment, als er Nexel den Rücken zugedreht hat?“

„Es war für sie beide nicht einfach, aber sie wussten, Nexel wäre bei dir unter guten Flügeln.“

„Ich wollte nie ein Kijana! Er war mein bester Freund, er wusste das! Und jetzt? Ich habe ihn falsch erzogen. Er glaubt, er könne einen ganzen Clan alleine führen. Verdammt, er ist doch gerade mal achthundertsiebenundzwanzig Winter alt!“

„Es ist nicht falsch, seinen eigenen Kopf zu haben und das zu tun, was man für richtig hält. Aber er weiß nicht, wo seine Grenzen sind.“

„Er ist arrogant! Das ist was anderes. Und egal, ob er es gut meint, oder nicht, er kann keinen Clan führen! Also, was machen wir jetzt mit ihm?“

Der Zee-Drache antwortete, doch Nexel hörte nicht mehr zu.

Er spreizte ein zweites Mal die Flügel und hob diesmal wirklich ab.

Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, während er durch die Nacht flog.

Nichts von dem, was die Drachen besprochen hatten, war neu für ihn. Er wusste, warum ihn seine Eltern verlassen hatten, der Clan hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht und er verstand seinen Vater. Er hätte dasselbe getan. Weil es richtig war, an seine Ideale zu glauben und Liebe war ein guter Grund um sich nicht von dem beeinflussen zu lassen, was andere für angemessen und richtig hielten.

Und nun war auch für ihn die Zeit gekommen, den Clan zu verlassen. Das Richtige zu tun.

Er hatte nicht lange darüber nachgedacht, was er jetzt tun sollte, wohin er fliegen würde.

Er musste fort von hier, um den Clan zu schützen.

Die anderen Drachen würden nicht weiterhin aufmüpfig sein, wenn er erst einmal weg war.

Ihm wurde erst jetzt klar, dass er einen starken Einfluss auf andere Drachen ausüben konnte. Einen so starken, dass sie sogar schnell vergaßen, darüber nachzudenken, was für Folgen ihr Handeln hatte.

Weil sie ihm vertrauten.

Aber wenn er nicht mehr da war, würden sie wieder beginnen, für sich selbst Entscheidungen zu treffen und es würde wieder Harmonie im Clan einkehren.

Auch, wenn er sich kurzfristig dazu entschlossen hatte, seine Heimat zu verlassen, so war er dennoch nicht ganz planlos, wo er nun hinfliegen sollte.

Die Drachenclans hielten auch über große Distanzen Kontakt untereinander und so wusste Nexel, aus Berichten von vorbeiziehenden Drachen, deren Clans sich aufgelöst hatten oder zu klein für sie geworden waren, dass es einen – für Drachen – sehr großen Clan im Westen des Landes gab, und dieser war sein Ziel.

Er flog so lange er konnte und versuchte, die Pausen so kurz wie möglich zu halten, dennoch war er Tage unterwegs und in den Nächten, die stetig kälter wurden, sah er den Mond, der immer voller wurde, schließlich eines nachts vollkommen rund am Himmel stand und dann begann, wieder abzunehmen.

Die Umwege, die Nexel um Menschenansiedlungen machte, verlängerten seine Reisezeit auf eine halbe Mondperiode.

Er entzündete regelmäßig große Feuer, an abgelegenen Stellen, um kräftig zu bleiben und sich satt zu fressen.
 

Dann, eines Abends, sah er zwei andere Drachen, die über die kahlen Wipfel des Waldes schwebten, den er gerade überflog.

Er wollte zu ihnen aufschließen und sich danach erkundigen, ob es noch weit zu dem Clan war, dessen Zee-Drache Rynd hieß.

Doch da fiel ihm etwas Seltsames an einem der Drachen auf. Erst dachte er, er hätte nicht richtig hingesehen und es wäre nur ein Rückenzacken gewesen. Doch dann bewegte sich der vermeintliche Rückenzacken und im letzten Licht der untergehenden Sonne erkannte er, dass da ein Mensch auf dem Drachen ritt.

Völlig beschäftigt mit seiner Entdeckung hatte er nicht bemerkt, dass er immer tiefer gesunken war und sein unbeschuppter Bauch beinahe die Spitzen der Bäume streifte.

Da hörte er Geräusche zwischen den Baumstämmen unter sich.

Pferde galoppierten dort unten!

Und dann ertönte eine Stimme – eine menschliche Stimme:

„Los doch, voran, ihr lahmen Krüppel! Lasst die beiden Drachen nicht aus den Augen!!“

Rasch lenkte Nexel seinen Flug in eine steile Spirale in die Höhe. Weit weg von dem Menschen!

Hoffentlich hatten sie ihn nicht entdeckt!

Doch kein Pfeil kam aus dem, nun dunkel gewordenen Wald unter ihm angezischt und keine erschrockenen Rufe drangen zu ihm hinauf.

Und nun stieg ihm auch der penetrante Geruch eines der Männern in die Nase, der sich offensichtlich einparfümiert hatte und er verstand nicht, dass er diesen Gestank nicht schon viel früher gerochen hatte, denn immerhin flog er hinter der Reiterschar und der Wind kam ihm entgegen, hätte ihm das Parfüm also ins Gewicht wehen müssen.

Er kam zu dem Schluss, dass er wohl einfach zu hoch geflogen war, als dass die Fährte der Menschen ihn hätte erreichen können.

Besorgt blickte er den beiden, schnell kleiner werdenden Schatten nach, die doch sehr niedrig über die Bäume flogen.

Mit Erleichterung, aber auch Misstrauen beobachtete er, dass die beiden in der Ferne unbeschadet den Waldrand erreicht hatten und auf einen kleinen Hügel zusteuerten, der sich einsam aus der flachen Ebene dahier erhob.

Er hatte erwartet, dass die Jäger unter ihm – er war sich sicher, dass es Jäger waren, warum sollte denn sonst ein Mensch einen Drachen verfolgen? - die Drachen angreifen würden, dass zumindest einer der beiden Schatten plötzlich aus seinem sanften Schwebeflug gerissen werden und zu Boden fallen würde. Doch die Drachen erreichten den Hügel unbehelligt und landeten.

Unschlüssig, was er jetzt tun sollte, schwebte er noch einen Augenblick über dem Wald, dann entschloss er sich, zu warten, bis es vollständig dunkel geworden wäre, um sich dann zu den Drachen und ihren ungewöhnlichem Begleiter zu schleichen und sie vor der drohenden Gefahr zu warnen.

Er hoffte, dass die Jäger ebenfalls die Dunkelheit abwarten würden, um sich besser an ihre Beute heranschleichen zu können.

Er wandte sich um und flog einen großen Umweg um die Jäger, um sich den Drachen von der entgegengesetzten Richtung zu nähern.

Als er sich dem Hügel von der anderen Seite näherte, war es tatsächlich schon sehr dunkel geworden.

Er sah das Lagerfeuer, an dem er die großen Silhouetten seiner Artgenossen und eine kleinere, menschliche ausmachen konnte.

Er wollte sich ihnen schon nähern, um sie zu warnen, doch da sprang einer der Drachen plötzlich auf und die kleine Menschengestalt hielt mit einem Mal etwas silbern blitzendes in den Händen – ein Schwert!

Erst dachte er, sie wären in Streit geraten und würden sich angreifen, doch dann erschien eine weitere Gestalt im Licht des Feuers und er erkannte, dass der kleine Mensch das Schwert offenbar gezogen hatte, um die Drachen vor dem zweiten Menschen zu schützen, der aus der Dunkelheit aufgetaucht war.

Nexel hielt in der Luft an und beobachtete die Szene aus der Ferne.

Dann erhob sich der eine Drache auf einmal in die Luft, als wolle er vor dem Menschen fliehen, während der andere Drache dem Jäger – es musste einer der Jäger sein – sogar näher kam.

Die zwei Menschen und der, auf der Erde gebliebene Drache schienen zu streiten, dann verschmolz der kleine Mensch plötzlich mit dem Drachen und der Feuerkiuma brauchte einen Augenblick bis er begriff, dass der Mensch den Drachen umarmte und es nur aus dieser Entfernung nach Verschmelzung ausgesehen hatte.

Während der ganzen Zeit flog der zweite Drache unruhig über ihnen hin und her.

Dann konnte er hören, dass der Jäger etwas schrie und im nächsten Moment schwang sich der kleine Mensch mit dem Schwert in der Hand auf den Rücken des Drachen und sie erhoben sich in die Luft.

Sie wandten sich um und flogen etwa in Nexels Richtung davon.

Doch der Jäger brüllte etwas und da waren auch schon die anderen Menschen, die die Drachen verfolgt hatten und kamen mit ihren Pferde heran geritten.

Derjenige, der mit den Drachen gesprochen hatte, saß auf sein Pferd auf und die Reiterschar folgte den Flüchtenden.

Da kam Bewegung in Nexel, er erhob sich noch ein Stück in die Luft und ließ sich dann auf die Reiter hinab fallen, zog sich erst kurz über ihren Köpfen wieder hoch und ließ sein lautestes Brüllen hören, sodass die Reiter fast schon aus den Sätteln fielen, noch bevor die Pferde scheuten und sich aufbäumten.

Als sich Nexel um wandte, waren seine Artgenossen bereits in der Nacht verschwunden.

Aber er hoffte, dass sie ebenfalls auf dem Weg zu Rynds Clan waren und flog wieder nach Westen.

Jedoch nicht, bevor er sich die Jäger, die sich bereits wieder aufrappelten, noch einmal angriff und diesmal sogar Feuer spie, sodass die letzten Pferde, die die Menschen noch davon abhalten konnten, davonzulaufen, nun doch durchgingen und in wilder Panik vor ihm flohen.

So würden ihn die Jäger sicherlich nicht verfolgen können.

Dann schlug er wieder seine Reiserichtung ein und flog trotz der Dunkelheit weiter.

Schon bald überflog er einige Berge und wurde sofort des feinen Geruchs gewahr, der ihm verriet, dass sich hier viele Drachen aufhielten.

Er war endlich da!

Doch wie sollte er die Höhle des Clanes finden?

Da kam ein weißer Blitz aus der Nacht heran geschossen und ein Luftdrache schwebte vor ihm.

„Wer bist du und was willst du hier?“, wurde er gefragt, doch er hörte nur Neugier, kein Misstrauen oder Angst aus der Stimme des Drachens heraus.

„Mein Name ist Nexel, ich suche nach dem Clan von Rynd. Ich möchte Mitglied werden.“

„Oh je, noch einer? Na gut, folge mir.“

Der Luftdrache, der sich als Rax vorstellte, zeigte ihm den Weg und erklärte ihm, dass erst vor kurzer Zeit eine Kike und ihr Kijana aus einem fremden Clan zu ihnen gestoßen waren, die ebenfalls im Clan aufgenommen werden wollte.

Rax führte ihm zum Höhleneingang und riet ihm, gleich in den Großen Raum am Ende des Ganges zu gehen, um sich Rynd vorzustellen.

Er befolgte seinen Rat, doch die Drachen dort, die er fragte, wo er Rynd finde, teilte ihm mit, dass er bereits schlief, er müsse sich bis morgen gedulden.

Also streckte er sich auf dem Stroh aus, dass ihm die anderen Drachen zuwiesen und schlief nach der aufregenden Nacht rasch ein.
 

Er erwachte davon, dass es unruhig im Raum wurde und als er die Augen öffnete, erblickte er eine Drachenansammlung, die sich um zwei Neuankömmlinge drängten.

Dann näherte sich ein alter Erddrache und als die anderen ihm Platz machten, sah er zu seiner Überraschung einen Menschen zwischen einem Erd- und einem Wasserdrachen.

War es möglich, dass es dieselben Reisenden vom gestrigen Abend waren? Es musste so sein, kein Mensch hatte Zutritt zu den Höhlen der Drachen, doch dieser hier wurde zwar misstrauisch beäugt, aber doch geduldet.

Der Mensch wechselte ein paar Worte mit dem alten Drachen und dann erzählte der Wasserdrache anscheinend vom gestrigen Vorfall, denn die Drachen wurden von Minute zu Minute unruhiger.

Doch Nexel schloss erneut die Augen und schlief wieder ein, er kannte die Geschichte ja bereits und dachte nicht daran, sich als Retter erkennen zu geben.
 

Als er das nächste Mal aufwachte, war es nicht die Unruhe im Raum, sondern das leise Jaulen einer Erdkike, die nur ein Stück von ihm entfernt auf und ab lief.

„Was hast du, was ist los?“, fragte er sie, als ihm klar wurde, dass sich kein anderer Drache um sie kümmerte.

„Ach, weißt du, meine kleine Jani ist mit diesem Menschen, Fynn, und seinen Freunden draußen spielen gegangen, aber es ist doch schon so kalt draußen und bald wird es auch noch dunkel! Aber ich kann nicht fort, Rynd möchte mich sprechen, wegen unserer Aufnahme in den Clan...“ Sie sah ihn bittend an.

Nexel seufzte ergeben.

„Also gut, ich gehen sie holen. Weißt du, wo sie hingehen wollten?“

Freudig erklärte ihm die Kike den Weg und er machte sich auf, das Kijana zu suchen.

Am Eingang kamen ihm drei Drachen aufgeregt entgegen gerannt. Verwundert machte er ihnen Platz und fragte Rax, was vor sich ging.

„Menschen! Jäger! Sie sind unten im Tal aufgetaucht! Das ist wirklich gefährlich. Einer davon soll sogar ein Fürst sein, die Späher haben ein Wappen auf seinem Umhang gesehen. Du solltest jetzt nicht raus gehen!“

„Ich muss. Der Mensch und ein Kijana sind noch dort draußen!“

Rax machte den Weg frei. „Beeil dich!“

Nexel hob sofort ab, sah den Fluss schon von weitem und folgte ihm stromabwärts.

Er war sehr neugierig auf den Menschen, der sich das Vertrauen eines ganzen Drachenclans verdient hatte.
 

Hätte er gewusst, dass er, um diesen Menschen zu schützen, schon bald einen anderen Drachen schwer verletzen würde, wäre er vielleicht nicht ganz so neugierig auf ihn gewesen.

Xarix

„Xarix! Xarix, mein Schatz! Jetzt komm doch bitte endlich da raus!“

„Aber Mama… die Menschen…“

„Welche Menschen denn, mein Kind?“

„Die Menschen, die gekommen sind, um uns zu jagen!

„Schatz! Die sind doch schon längst weg!“

„Aber was ist, wenn sie wiederkommen?!“

„Xarix! Du kannst nicht ewig in diesem Erdloch sitzen bleiben! Jetzt komm da endlich raus! Bitte!“

„…“

„Xarix?“

„… ich hab Angst…“

„Das muss du nicht. Ich bin doch bei dir. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Versprochen.“

Da endlich tat sich etwas in dem Erdloch, vor dem die besorgte Kike stand.

Erde bröckelte, leises Schnaufen erklang und ein recht kleiner, weißer Drache kroch heraus.

Vorsichtig blickte er sich um, bevor er sich an seine Mutter schmiegte.

Diese seufzte. „Na endlich. Dann können wir ja jetzt weiterfliegen.“

Sie spreizte die Flügel, um ihren Weg mit ihrem Kind fortzusetzen, der von einer Schar Jäger vor etwa zwei Stunden unterbrochen wurde, die die reisenden Drachen entdeckt und beschossen hatten.

Sie wollte ihren Sohn zum größten Clan bringen, den es in dieser Gegend gab. Sie hoffte, dass sich ihr ängstliches Kind dort sicher fühlen würde.

Es hatte Tage gedauert, um Xarix dazu zu überreden, seine Höhle, geschweige denn den Clan zu verlassen. Als seine Mutter machte sie sich schreckliche Sorgen um ihren Nachwuchs.

Er war schon immer sehr ängstlich gewesen.

Weil er so selten die Höhle verließ, die ihr kleiner Clan aus einem verlassenen Bärenbau gebaut hatte, war er klein und schmächtig geblieben. Er war das einzige Kijana ihres Stammes, daher hatte er auch keine Freunde, die in seinem Jahrtausend geboren waren.

Sein Onkel – ihr kleiner Bruder – hatte sich immer gut um ihn gekümmert, aber er war auch schon weit über dreitausend Winter alt. Kein geeigneter Spielkamerad für ein, gerade mal vierhundert Jahre altes Kind.

Eigentlich war es schon viel zu spät, um noch etwas zu ändern, aber dennoch hoffte die Kike, wenn sie ihn zu gleichaltrigen Drachen bringen würde, könnte er vielleicht etwas von seiner Angst verlieren und mehr raus gehen. An die Sonne, die frische Luft.

Und sie konnte die Hoffnung nicht aufgeben, dass er doch noch etwas wachsen und an Gewicht zulegen würde.

Während sie sich in die Luft erhob und sich umblickte, ob Xarix ihr auch folgte, stellte sie sich vor, wie seine matten Schuppen zu glänzen begannen, und endlich den sanften, silbernen Schimmer bekämen, die auch ihre eigenen Schuppen aufwiesen und sie zur schönsten und bewundertsten Kike ihres Clans machte.

Da legte sich plötzlich ein schwarzer Schatten über die Welt und kurz darauf verlor sie die Kontrolle über ihre Flügelmuskulatur.

Blind fiel sie auf den Boden, spürte den Aufprall nicht mehr und hörte auch den Entsetzensschrei ihres Sohnes nicht mehr.

Xarix gellte der eigene Schrei in den Ohren, die Augen hatte er starr auf die seiner toten Mutter gerichtet.

Der Schaft eines Pfeiles war nur noch zur Hälfte zur sehen, der Rest steckte in der schwächsten Stelle eines Drachen – im Auge.

Ihm wurde kalt.

Unglaublich kalt.

Er glaubte, zu Eis zu erstarren.

In seinen Ohren rauschte es, er hörte das Brechen der Äste nicht, oder das Gebrüll der Menschen, die langsam durch die Bäume auf ihn zukamen.

Ein Mann hob einen schweren Schlagstock, gab sich einen Ruck, sprang auf den bewegungslosen Drachen zu und schlug auf seinen Schädel ein.

Gnädige Schwärze und Vergessen umfing Xarix.
 

Als er wieder aufwachte, spürte er noch immer diese Eiseskälte. Sie lähmte ihn, hielt ihn mit Krallen umschlungen.

Und dann erst dieses schreckliche Brummen in seinen Ohren.

Allmählich wurde das Brummen klarer. Einzelne Laute wurden verständlich.

Angsterfüllt öffnete er die Augen.

Alles war verschwommen und er erkannte nur Schemen.

Doch sein Blick wurde klarer und war er sah, ließ ihn erneut gequält aufschreien.

Der Körper seiner Mutter war auf ein riesiges, hölzernes Gestell gebunden worden, das auf Rädern stand. Ihre Flügel schleiften auf dem Boden, ihr Kopf hing in einem unnatürlichen Winkel von dem Gestell herunter.

Doch nicht die unwürdige Behandlung seiner toten Mutter brannte sich ihm ins Gedächtnis.

Die Menschen hatten den Pfeil aus ihrem Auge entfernt. Dieser Anblick würde ihn den Rest seines Lebens verfolgen und presste ihm die Luft aus der Lunge, ließ ihn einen Schrei, wie aus einer anderen Welt ausstoßen.

Sein Körper erzitterte und erst jetzt merkte er, dass ihn nicht nur die innere Kälte unbeweglich machte.

Er selbst war auf ebenso einem hölzernen Gestell gebunden.

Die Menschen um ihn herum sprangen erschrocken zur Seite, als er schrie, nur einer sah ihn ungerührt an und ein leises Lächeln stahl sich auf die dünnen Lippen.

Der Mann drehte sich um. „Bewegung ihr faulen Säcke! Schaffte meine Beute zur Burg! Und dass euch ja niemand sieht!“

Die Männer murrten, nahmen sich jedoch die Seile, die an den Gestellen der Drachen befestigt waren und banden die Enden an ihre Pferde. Dann stiegen sie auf und ritten los.

Mit Erleichterung und Entsetzen erkannte Xarix, dass er und seine Mutter in verschiedene Richtungen gezogen wurden.

Erleichterung, weil er ihren furchtbaren Anblick nicht länger ertragen hätte, Entsetzen, weil ihm klar wurde, dass er sie niemals wiedersehen würde.

Drachen konnten nicht weinen, also trauerte er auf die einzige Art, die einem Drachen möglich war.

Er begann jaulen und zu heulen.

Daraufhin gab der befehlende Mann dem Nächststehenden einen Wink und Xarix wurde wieder bewusstlos geschlagen.
 

Als er wieder zu sich kam, blieb es auch dann Schwarz um ihn herum, als er die Augen öffnete.

Er erschrak zutiefst und glaubte, erblindet zu sein.

Der Drache krümmte sich verzweifelt zusammen – schwere Eisenketten klirrten an seinen Tatzen – und bemerkte erst nach einer ganzen Weile, dass er nicht mehr auf ein Gestell gefesselt war.

Um ihn herum herrschte nicht nur lichtlose Schwärze, sondern auch eine tiefe Stille.

Dann fiel ihm auch auf, dass die Luft sehr alt und abgestanden schmeckte. Sein Atem ging schnell und hektisch.

Er drehte sich um sich selbst, verhedderte sich in den Ketten und stieß gegen eine Wand.

Sofort schossen Sterne an seinen Augen vorbei und ein greller Schmerz schoss durch seinen malträtierten Kopf.

Er sank an Ort und Stelle zusammen und heulte leise.

In der Dunkelheit starrte ihn das eine, glanzlose Auge seiner Mutter an.
 

Irgendwann musste er wohl in einen unruhigen, wenig erholsamen Schlaf gefallen sein, denn er wurde von einem grellen Licht und ungeduldigen, schmerzhaften Tritten in die Seite geweckt.

Er sprang erschrocken auf und sofort wurde ihm schwindlig.

Die Erinnerungen kamen mit einem Schlag zurück und er sah sich panisch um.

Zwei Männer standen in einem rechteckigen Loch, durch das flackerndes, orangerotes Licht drang.

Ihre Gesichter waren dunkel, doch er erkannte den schrecklich lächelnden Mann am Geruch sofort wieder.

Er stank bestialisch.

„Ah… endlich ist das Mistvieh wach“, ertönte diese kalte Stimme, die im Wald den Befehl gegeben hatte, seine Mutter wegzuschaffen.

Die schweren Eisenketten an seinen Beinen krallten sich kalt in seine Schuppen, als Xarix mit einem ängstlichen Zischen so weit von den Menschen zurückzuweichen versuchte, wie es nur möglich war.

Seine Flügel waren ihm an den Körper gebunden worden, sonst hätte er sie wohl instinktiv geöffnet, um größer und bedrohlicher zu erscheinen.

Der stinkende Mann trat auf ihn zu, woraufhin sich Xarix verstört klein machte.

Er presste den Schwanz an seinen Körper und senkte den Kopf so weit es ging, ohne die Menschen aus den Augen zu verlieren.

Genugtuung lag in der Stimme, als der stinkende Mann dem Anderen den Befehl gab, zu gehen.

„A-aber Herr…!“, widersprach dieser verdutzt.

„RAUS!!“, wurde er angebrüllt und schon verschwand er mit schnellen Schritten durch das helle, rechteckige Loch.

Nun war Xarix alleine mit diesem grausamen Mensch.

Dieser trat einen weiteren Schritt auf den weißen Drachen zu und streckte die Hand nach ihm aus.

Xarix kniff die Augen zu und zog den Kopf an seine Seite – wären sie nicht gebunden gewesen, würde er ihn unter seinen Flügel schieben.

Dann lag die Menschenhand auf seinen Schuppen. Ein Schreckensschauer lief durch seinen Körper.

„Was für ein schönes Wesen“, sagte der Mann leise.

Seine Stimme war eiskalt.

„Und du gehörst jetzt mir!“, rief er triumphierend. „Ich besitze einen Drachen! Einen lebenden Drachen!“

Lachen erfüllte den kleinen Raum.

Dann war die Hand wieder verschwunden und Xarix hörte schnelle Schritte.

Ein großer Schatten schob sich vor das rechteckige Loch und schluckte alles Licht.

Dann ein donnerndes Geräusch. Schwärze herrschte wieder und hinter der Tür erklang ein lauter Befehl und mehrstimmiges, angestrengtes Stöhnen, sowie ein metallisch scharrendes Geräusch. Dann entfernten sich viele Schritte und Xarix war erneut mit den Augen seiner toten Mutter alleine.
 

Viel Zeit verging, die Luft wurde merklich schlechter und stickiger, bis endlich wieder das rechteckige Loch erschien.

Doch mit dem Licht und der – nur wenig besseren – Luft, kam auch der stinkende Mann wieder.

Er trat allein ein und warf Xarix etwas hin, das mit einem dumpfen, nassen Klatschen vor ihm landete.

Blutgeruch drang in seine Nase und ließ ihn würgen.

„Guten Appetit!“, sagte die kalte Stimme. „Aber bevor du dein Fleisch fressen darfst, wirst du lernen, zu gehorchen.“

Mit schnellen Schritten ging der Mensch auf Xarix zu und packte ihn grob an seinem Horn, zog ihn zu sich runter und sah ihm tief in die weit aufgerissenen Augen.

Überrascht und erschrocken wollte der Drache zurückweichen. Schmerz schoss erneut durch seinen Schädel, als der Mensch ihn nicht losließ und „Halt still, du Mistvieh!“ fauchte.

Obwohl alles in ihm nach Flucht schrie, zwang sich Xarix still zu halten.

Der Mensch schien verblüfft zu sein. Dann zog er an seinem Horn.

„Sieh mich an!“

Wiederwillig blickte der Drache ihn an.

Der Griff um sein Horn löste sich.

„Leg dich hin!“, ertönte der nächste Befehl.

Xarix legte sich nieder, so gut es seine Ketten erlaubten.

Er jaulte leise, als erneut lautes, kaltes Lachen durch den Raum klang.

„Das ist ja fantastisch!“

Der Mensch lief zum Loch und rief jemanden herein.

„Ja, Herr!“, fragte der Mann unterwürfig.

„Binde den Drachen los!“, befahl der stinkende Mann und wandte sich zum Gehen.

Der Diener öffnete den Mund, doch sein Herr ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Keine Widerrede!! Tu es! Und dann sofort raus hier und keine fasst meinen Drachen an!“

Dann verschwand er und der andere Mensch sah den Drachen misstrauisch an.

Xarix senkte schnell seinen Blick und machte sich erneut klein.

„Jetzt bloß keine Aufregung, mein Großer“, sagte der Mann und kam langsam näher.

Xarix schloss die Augen, als er nach ihm griff. Ein Schlüssel klickte im Schloss und seine Vorderpfote war frei.

Xarix machte einen halten Schritt nach hinten, um den Menschen an seine zweite Vorderpfote zu lassen.

Drei weitere Klicks später hatte der Drache wieder einen Teil seiner Freiheit zurück und der Mensch zog sich vorsichtig zurück.

Doch auf halbem Weg blieb er stehen und sah sich nach dem weißen Häuflein Elend um.

Er zögerte, kam zurück und machte sich an dem ledernen Gurt zu schaffen, der die Flügel an den Körper band.

Dabei murmelte er vor sich hin. „Er hat gesagt losbinden. Also kann er damit auch sehr wohl die Flügel gemeint haben. Soll er sich doch aufregen, wenn er will. Ich habe nur seinen Befehl befolgt…“

Xarix seufzte erleichtert auf, als er endlich wieder die Flügel strecken konnte.

Der Mann wich schnell zurück und verschwand dann hastig durch das Loch.

„Zu machen, zu machen!“, rief er und unter mehrstimmigen, angestrengten Gestöhne, schob sich wieder der Schatten vor das Loch und das Licht schwand.

Dann war es wieder vollkommen still in Xarix‘ Gefängnis. Und seine Mutter kam zurück.

Er streckte die Flügel und kauerte sich in eine Ecke, in die ihn der Blutgeruch des Fleisches folgte und trauerte, bis er einschlief.
 

Das nächste Mal, als der stinkende Herr kam – er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber es kam ihm wie Wochen vor - war Xarix sofort wach. Seine Mutter hatte stets ihn in seine Träume verfolgt.

Das Getrappel von draußen verriet ihm, dass sich die Menschen, die das Loch öffneten oder schlossen entfernten.

Der Mensch blieb am Eingang stehen.

„Komm!“, sagte er, ohne das unberührte Fleisch auch nur eines Blickes zu würdigen.

Steif stand Xarix auf.

Er schüttelte sich, doch die Kälte, die ihn befallen hatte, als er seine tote Mutter gesehen hatte, konnte er nicht vertreiben.

Er lief zögernd auf das Licht zu.

„Schneller!“, befahl der Herr ungeduldig.

Xarix zuckte zusammen und beeilte sich. Vor Angst zitterten ihm die Beine und vom vielen Liegen war er schwach.

Er stolperte und fiel.

Als er aufsah, stand der Mensch über ihm und griff nach seinen Hörnern.

„Bewegung!!“, brüllte er und zog ihn hoch.

Xarix glaubte, vor Angst sterben zu müssen

Er hievte sich hoch und ließ sich vom Menschen mitziehen.

Draußen brannte Feuer an kleinen Stöcken, die an steinernen Wänden befestigt waren.

Noch nie hatte Xarix so eine seltsame, eckige Höhle gesehen. Sogar der Boden war aus gleichgroßen Steinquadern.

Der einzige Weg, der von seinem Gefängnis fortführte, waren seltsam ebenmäßige Stufen, die in die Höhe führten.

Die Luft, die von dort kam stank unglaublich. Schlimmer noch als der Mensch neben ihm, weil es nach Blut und Krankheit und Angst roch.

Sogar nach Tod.

Er wollte dort nicht rauf, auf keinen Fall!

Doch der Mensch zog ihn unbarmherzig weiter.

Er stieg langsam die Stufen hinauf, der Gestand wurde immer untererträglicher, wenn er einen Magen gehabt hätte, hätte sich im dieser sicherlich umgedreht.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus und hielt die Luft an, solange er konnte.

Sie hatten das obere Ende der Stufen erreicht und vor ihnen erstreckte sich ein schmaler Gang, der links und rechts mit seltsamen, dünnen Metallröhren gesäumt war, die so eng nebeneinander befestigt waren, dass nicht einmal ein Mensch hindurch passen würde.

Hinter diesen Metallröhren waren dunkle Felle gespannt, als würden die Menschen nicht wollen, dass Xarix sah, was dahinter war.

Doch er konnte nicht verhindern, dass er dumpfes Stöhnen hörte und leise Klagelaute.

Anscheinend befanden sich Menschen hinter diesen Stäben. Kranke Menschen, so wie es sich anhörte.

Xarix kam zu dem Schluss, dass dies der Ort sein musste, an dem die Menschen ihre Kranken brachten, um sie zu heilen.

Hier auf dem Gang war es zwar kalt, aber hinter den Fellen war es bestimmt warm.

Schon hatten der Mensch und der Drache die andere Seite des Ganges erreicht.

Weitere, gleichmäßige Stufen führten nach oben, doch Xarix sah Licht und frische Luft wehte ihm entgegen, je näher sie dem Licht kamen.

Gierig sog er sie auf und hatte es so eilig, endlich die Sonne wieder zu sehen, dass er nicht merkte, dass sich der Mensch im Laufe nach etwas bückte, dass auf der Treppe bereit lag und es aufhob.

Erst, als dicht neben ihm das Klirren von Eisenketten erklang, wandte er sich verwundert dem Mann zu.

Dieser nutzte die Gelegenheit und streifte Xarix einen dicken, breiten Lederkragen über den Kopf. Bevor der Drache begreifen konnte, was geschah, hatte sich der Mann auf ihn gestürzt und sich auf seinen Rücken geschwungen, die Eisenketten, die mit dem Lederband befestigt waren fest in den Händen u und presste mit seinem ganzen Gewicht den Drachen zu Boden.

Xarix konnte in seinem geschwächten zustand kaum laufen, geschweige denn fremdes Gewicht tragen und knickte ein.

Der Mann schwang daraufhin ein Bein über die runden, weichen Rückenzacken und saß auf Xarix wie auf einem Pferd.

„So, mein Tierchen“, sagte er zufrieden. „Trag mich hinüber zum Haupthaus. Und denk nicht mal daran, fortzufliegen!“

Xarix jaulte vor Schmerz, doch er stemmte sich gehorsam hoch.

Die letzten Stufen, die auf eine offene, mit Steinen gepflasterte Fläche führte, waren reinste Folter für den geschwächten Drachen.

Zitternd und schnaufend stand er vor der großen, steinernen Felswand, die – wie alles, was er bisher hier gesehen hatte – seltsam glatt, ebenmäßig und schlichtweg unnatürlich aussah.

Sie war eckig und der Mensch befahl ihm, sich nach links zu wenden.

Er schleppte sich um die Ecke und entdeckte Holz, da in der Felsmauer eingewachsen zu sein schien.

Der Mensch lenkte ihn dort hin und wies ihn an, das „Tor“, wie er das Holz nannte, zu öffnen und hindurch zu gehen.

Trotz seiner Schmerzen und Angst war Xarix überrascht und erstaunt, als er das „Tor“ mit der Schulter eindrückte, es widerstandslos nach innen schwang und das hohle Innere offenbarte.

Er trat ein und seufzte unendlich erleichtert auf, als der Mensch von seinem Rücken glitt und schleunigst das Tor wieder schloss und verriegelte.

Xarix sah sich um.

Alles wirkte so fremdartig und seltsam und… leer.

Er fragte sich, ob hier noch andere Menschen lebten und wo sie wohl waren.

Der Mensch zog ihn an den Eisenketten weiter, einen breiten, langen Gang entlang, der von Feuer erhellt wurde, das an der Wand brannte.

Irgendwo musste also ein Feuerdrache sein, der all die Lichtquellen hier entzündete.

Das gab Xarix Mut.

Der Gang endete und durch ein weiteres, offenes Tor gelangten sie in einen großen Raum.

An den Steinwänden waren mehrere kleine Holztore eingelassen. Alle waren schlossen.

Auch hier war kein weiterer Mensch zu sehen.

Der Mann zog ihn zur gegenüberliegenden Seite, wo Stufen in die Höhe und in einen weiteren Raum führten.

Kaum hatten sie diesen betreten, ertönte von unten eine herrische Stimme.

„Ihr dürft nun wieder die Türen öffnen und weiterarbeiten.“

Nach einem Augenblick der Stille, klapperte Holz und viele menschliche Stimmen erklangen.

Die Gegenwart von so vielen Menschen machte Xarix ganz unruhig und er begann zu zittern.

„Aber unser Fürst hat bei Strafe verboten, dass sich jemand dem Thronsaal nähert! Ihr seid gewarnt!“

Xarix‘ Begleiter wandte sich zur rechten Seite und sie gingen weitere Stufen hinauf, bis sie scheinbar am höchsten Punkt angekommen waren, denn von dem Raum aus gab es keine weiteren Stufen.

Es war ein hoher, langer Raum, an den Steinwänden links und rechts standen längliche, flache, hölzerne Gegenstände und seltsam metallische, menschenähnliche Gegenstände, die leblos und stumm an der Wand standen.

Am oberen Ende des Raumes war die Steinwand durchsichtig und ein großer Felsvorsprung befand sich dahinter.

Vor der durchsichtigen Wand stand ein einzelnes, seltsames Ding, auf das der Mensch ihn zu zog.

Kurz davor ließ er die Ketten los, nahm ihm das Lederband ab und setzte sich auf das Ding.

Xarix vermutete, dass er wohl darin ruhte.

„Hör zu“, begann der Mensch. „Ich will dich nicht länger einkerkern, das scheint dir nicht zu bekommen. Du bist dünn und schwach geworden und ich brauche starke Drachen. Also, du tust, was ich dir befehle und dafür darfst du hier im Thronsaal bleiben. Tust du es nicht, sperre ich deich wieder in das Verließ und lasse dich dort verrecken. Ich denke, du verstehst.“

Xarix dachte nicht lange darüber nach.

Alles war besser, als in das schwarze Loch zu seiner toten Mutter zurück zu kehren.

„Ich habe verstanden“, sagte er und wunderte sich darüber, dass er nach all dieser langen Zeit überhaupt noch sprechen konnte.

Der Mensch sprang plötzlich auf und haute ihm mit der Faust schmerzhaft auf die Nase.

„Wag es nicht noch einmal, mich anzufauchen!!“, schrie er.

Xarix machte sich verängstigt klein.

Der Mensch verstand ihn nicht! Besser, er sprach nicht mehr mit ihm.

So schnell der Mensch wütend geworden war, so schnell beruhigte er sich auch wieder.

„Gut. Fangen wir an zu üben.“

Die nächsten Stunden lang gab der Mensch Befehle und Xarix befolgte sie.

Er ließ ihn rechts laufen, links laufen, mit den Flügeln schlagen und sich hinlegen. Er sollte die länglichen, hölzernen Gegenstände an den Wänden – sie hießen „Tische“ – hochheben, herumtragen und abstellen.

Irgendwann hatte der Mann genug und ließ ihn allein.

Er schloss das Tor, zu den Stufen nach unten führte und Xarix legte sich erschöpft nahe der durchsichtigen Wand auf den Boden und beobachtete, wie die Sonne immer tiefer sank, bis er einschlief.
 

Er schlief so fest, dass er nicht hörte, wie der Mensch später noch einmal zurückkehrte und sehr zufrieden wieder ging, als er ihn so friedlich sah.

Auch dass das Tor kurz darauf ein weiteres Mal leise geöffnet und geschlossen wurde, bekam er nicht mit.

Erst, als sich eine warme Hand auf seine Schuppen legte, wachte er mit einem leisen Knurren auf.

Er wandte sich um und starrte den kleinen Menschen an, der da vor ihm stand und nun erschrocken gegen den hölzernen Gegenstand stolperte, den die Menschen zum Ruhen nutzten.

„Wer b ist du?“, fragte er verdutzt.

Da sprang der Junge plötzlich auf ihn zu und Xarix wich zu Tode erschrocken zurück.

Der Junge raste zur durchsichtigen Wand, etwas klackerte und auf einmal befand er sich auf der anderen Seite.

„Hey! Warte!“, rief Xarix und sprang ihm hinterher.

Anders als bei dem Jungen zerbarst die Wand mit lautem Klirren, als er sie passieren wollte und er rannte panisch einfach weiter.

Da tauchte ein roter Drache auf und stürzte sich aus der Luft auf ihn und verbiss sich in seinen Nacken, drückte ihn zu Boden.

Doch die panische Angst verlieh Xarix ungeahnte Kräfte. Er peitschte seinem Gegner den Schwanz ins Gesicht und kam frei.

Dann, ohne nachzudenken, stürzte er sich seinerseits auf den roten Drachen und kratzte und biss ihn, als ginge es um sein Leben.

In seinen Ohren rauschte es und er konnte nicht klar denken.

Plötzlich knallte etwas gegen seinen Schädel und er verlor sein Bewusstsein.
 

Als er wieder zu sich kam, stand der grausame Mann neben ihm und schlug auf ihn ein.

„Du wolltest also fliehen, ja? Du hast Freunde, die dich retten wollten! Ich stecke dich in das tiefste Loch, das ich finden kann, du Biest! Und da kannst du dann krepieren!“

Xarix sprang auf, stieß den fluchenden Mann beiseite und rannte auf das Ende des Felsvorsprungs zu.

Er stieß sich ab und flog, so schnell er konnte, fort von diesem schrecklichen Ort.

Freunde! Freunde, hatte der Mensch gesagt!

Der Drache hatten ihn angegriffen, aber es war ein Drache! Sicherlich war das nur ein Missverständnis gewesen! Sie würden ihn gewiss mitnehmen, wenn er sie nur einholen könnte!

Er flog so schnell er konnte, die Verzweiflung gab ihm Kraft.

Alles war besser, als bei dem Menschen zu bleiben.

Da! Dort war er! Es waren sogar zwei Drachen! Den Elementen sei Dank!

„Halt! Bleibt hier! Halt!“, rief er, so laut er konnte.

Einer der beiden Drachen drehte sich um und kam zurück.

Erleichterung durchflutete Xarix. Alles würde gut werden.

Dann öffnete der entgegenkommende Drache sein Maul und…

Die gesamte Welt verwandelte sich in eine Hölle.

Er schrie gequält auf, alles bestand nur noch aus rotem, purem Schmerz.

Dann… kam die verhasste Schwärze zurück.

Er spürte am Rande seines Bewusstseins, dass er fiel und hart landete.

Er wälzte sich vor Qual.

Erst eine gefühlte Ewigkeit später ließ das Brennen langsam nach.

Keuchend lag er auf dem Boden. Blind. Eine weitere Ewigkeit lang.

Dann erhob er sich langsam. Blickte sich um. Versuchte, die Schwärze und den Schmerz zu durchdringen.

Ein Teil der Welt wurde hell. Ein sehr, sehr kleiner Teil.

Er wollte schreien. Rufen, ob ihn jemand hören konnte.

Doch es ging nicht. Sein Maul war wie zugeklebt.

Er versuchte mehr, als nur verschwommene Schemen zu erkennen.

Blickte hinauf zum kleinen hellen Fleck am Himmel – dem Mond.

Doch sein Blick war seltsam klein. Beengt.

Vorsichtig tastete er mit der Pfote sein gepeinigtes Gesicht.

Wo einst Schuppen waren, befand sich nun eine glatte Masse. Sein rechtes Auge bestand nur noch aus einem Wulst unter dieser Masse.

Er holte tief Luft und spürte, dass er nur noch durch sein linkes Nasenloch atmen konnte und als er durch sein Maul atmete, spürte er, dass auch hier nur von der linken Seite Luft hineinströmte.

Er bekam Panik.

Er hatte Schmerzen, war ganz allein, konnte kaum sehen!

Er wollte nicht allein bleiben, aber wohin sollte er sich wenden? Die Drachen hatten ihn angegriffen! Zwei Mal!

Ihm blieb nur eine Möglichkeit

Zurück zum Menschen. Vielleicht würde er Mitleid haben und ihm helfen.

Er sog tief Luft ein und witterte den furchtbar stinkenden Mann. Er konnte also noch nicht allzu weit weg sein. Wenn der Mensch weiterhin auf dem Felsvorsprung stehen bleiben würde, könnte Xarix mit seiner Nase den Weg zurück finden.

Sein Gesicht schmerzte und spannte unerträglich. In ihm brannte eine Kälte, von der er nicht wusste, ob er sie jemals wieder abschütteln könnte.

Langsam und schwankend setzte er sich in Bewegung. Dem Gestank entgegen.
 

Und hoffte, dass die Menschen doch nicht so grausam waren, wie er bisher erfahren hatte.



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