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Fog

von

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Comatose

Comatose
 


 

„Bella ...? Kannst du uns hören?"
 

Von irgendwoher drangen Stimmen an mein Ohr. Ganz leise, fast kaum zu hören und so dumpf, als würden sie durch eine Art Ventil oder Rohr sprechen. Weder konnte ich sie identifizieren, noch ausmachen, welchen Sinn ihre Worte hatten. Ich konnte nicht einmal sagen, ob sie sich sehr dicht oder doch weit weg von mir befanden.
 

„Bella ... Wenn du uns verstehst, dann ... bitte mach die Augen auf."
 

Die Stimmen fuhren fort und ich ärgerte mich, dass ich sie nicht erkannte; dass ich nicht wusste, was sie mir sagen wollten. Ich verstand jedes einzelne Wort, doch ihr Zusammenhang blieb mir verborgen. Angestrengt versuchte ich das Chaos, das sich in meinem Kopf befand, zu vertreiben.
 

„Wir vermissen dich ... Bitte ... Wach endlich auf, ja?"
 

Ein weinerlicher Ton mischte sich unter die Stimme, die so zerbrechlich und dünn klang. Sie kam mir bekannt vor, doch konnte ich sie nicht zuordnen. Woher kannte ich sie? Wer war das Mädchen, das mit mir sprach?
 

„Hat sie gerade ... Hat sie gerade ihre Finger bewegt? ... Bella?"
 

Je angestrengter ich versuchte, ihre Worte zu verstehen, desto klarer wurde der Nebel in meinem Kopf. Nicht sofort, doch nach und nach ergab eines nach dem anderen Sinn. Und je mehr Zusammenhänge ich erkennen konnte, desto deutlicher wurde auch ihre Stimme. Ganz langsam fügte sich ein Puzzleteil zum anderen. Weitere Geräusche mischten sich zu der Stimme, ein stetes Piepen, ein Pumpen und hin und wieder ein Knacken. Ich wollte die Ursachen dafür sehen und ich wollte wissen, wer zu mir sprach; zu wem diese aufgelöste Stimme gehörte, die plötzlich viel energischer klang.
 

„Oh mein Gott ... Ich glaube, sie macht gleich die Augen auf. Siehst du, Jasper? Ihre Lider haben sich bewegt!"
 

Tatsächlich aber konnte ich meine Augen eigentlich nicht mal einen Millimeter weit geöffnet haben, denn alles, was ich sah, war schwarz und grau. Ich war nur schwer in der Lage, sie ein Stück weiter zu öffnen, aber erleichtert stellte ich fest, dass sich meine Sicht verbesserte. Das Grau ging in ein Weiß über, welches sich nach ein paar kurzen Augenblicken als die Decke des Zimmers herausstellte.
 

„Hol' einen Arzt, schnell! Sie wacht wirklich auf!"
 

Die Umrisse wurden klarer und zu der Zimmerdecke gesellte sich eine weiße Wand, eine Tür, die mit einem dumpfen Geräusch gerade geschlossen wurde, und ... plötzlich auch ein Kopf, der in mein Sichtfeld schoss.
 

„Bella?"
 

Die junge Frau mit den schulterlangen, schwarzen Haaren schaute mich mit glitzernden Augen an, als wäre sie drauf und dran, jeden Moment in Tränen auszubrechen. Auch wenn sie versuchte, diese so gut wie möglich zurückzuhalten. Doch sie verlor den Kampf und ich konnte mitverfolgen, wie ihr eine Träne nach der anderen langsam über die Wange lief. Die Frau, dessen herzförmiges, freundliches Gesicht seltsam beruhigend auf mich wirkte, kam mir bekannt vor. Bilder von ihr und mir schossen durch meinen Kopf.
 

„Du weißt ja gar nicht, wie sehr wir gebetet haben, dass du wieder aufwachst", schluchzte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg, während ein Lächeln ihre Lippen zierte. In mir wuchs das Gefühl, sie irgendwie zu trösten, ihr zu versichern, dass es mir gut ging. Ich wollte ihr irgendetwas sagen und ihr meine Hand auf die Wange legen. Aber meine Arme fühlten sich an wie Blei und bevor ich überhaupt dazu kam, sie zu heben, wurde die Tür schlagartig aufgerissen. Ein blonder Mann in einem weißen Kittel, gefolgt von einem etwas jüngeren ebenfalls blonden Mann, kam ins Zimmer. Auch er war mir auf seltsame Weise vertraut.
 

Erst jetzt wurde mir richtig klar, dass ich in einem Krankenhaus sein musste, und die Geräusche, die ich die ganze Zeit wahrnahm, stammten von den Gerätschaften um mich herum. Ich bemerkte die Schläuche an meinen Armen und unter meiner Nase.
 

Der Arzt setzte sich auf die Bettkante und schaute erst auf die vielen Geräte, ehe er mit Daumen und Zeigefinger meine Lider noch ein bisschen weiter öffnete und mir mit einer stiftartigen, schmalen Taschenlampe erst in das eine, dann in das andere Auge leuchtete. Das Licht blendete. Unweigerlich versuchte ich mich seinen Fingern zu widersetzen und meine Augen zuzukneifen.
 

„Miss Swan, können Sie mich hören?"
 

Obwohl ich antworten wollte, kam kein Ton über meine Lippen, sodass ich gezwungen war, einfach nur zu nicken.
 

„Sehr gut", lächelte der Arzt freundlich. „Ich bin Dr. Cullen. Sie hatten einen schweren Verkehrsunfall und lagen im Koma." Er machte eine Pause, als wollte er abwarten, ob ich auch verstand, was er eben gesagt hatte. Da ich nicht wusste, was genau er nun von mir erwartete, nickte ich abermals.
 

Er tat das gleiche. „Was ist das Letzte, an das Sie sich erinnern können?"
 

Das Letzte, an das ich mich erinnerte? Ich überlegte. Bilder entstanden in meinem Kopf. Orte, Personen, Gefühle. Und alles durcheinander. Ich versuchte, eines nach dem anderen zu ordnen und herauszufiltern, welches der Ereignisse, an die ich mich gerade erinnerte, die jüngsten waren. Aber wie sollte ich ihm diese mitteilen, wenn ich noch nicht mal in der Lage war, meine Erinnerungen in Worte zu fassen? Meine Lippen bewegten sich zwar, doch als ich mich selbst nicht hören konnte, schüttelte ich verzweifelt den Kopf. Ich bekam plötzlich Angst. Angst, dass ich stumm bleiben würde und dass dieser Zustand dauerhaft sein könnte.
 

„Kein Grund zur Panik. Nach einem Koma ist es nicht ungewöhnlich, dass man am Anfang nicht gleich sprechen kann. Sie sind noch zu schwach, aber mit der Zeit wird sich alles wieder einrenken. Ihr Körper muss sich erst wieder an alles gewöhnen." Seine Worte waren beruhigend und etwas an ihm ließ mich wirklich daran glauben, dass er recht hatte.
 

„Ich werde Ihnen einfach Fragen stellen und Sie nicken oder schütteln dann mit dem Kopf, einverstanden?"
 

Ich nickte.
 

„Gut. Wissen Sie, wie Sie heißen?"
 

Bella.
 

Ja, so hatte mich die junge Frau vorhin genannt. Das war mein Name. Nicht nur, weil sie es gesagt hatte, sondern weil ich es wusste. Ich nickte.
 

„Sehr schön", lächelte er. „Können Sie sich noch an den Unfall erinnern?"
 

Ich dachte nach, aber nichts. Weder, welcher Tag es gewesen sein sollte, noch, was ich gemacht hatte oder wo ich mich gerade befunden hatte. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie sich der Unfall zugetragen hatte, geschweige denn, dass ich an einem beteiligt gewesen sein sollte. Ich schüttelte den Kopf.
 

Dr. Cullen nickte. „Erkennen Sie diese beiden Personen wieder?" Er deutete auf die beiden, die etwas weiter abseits standen und die ich für den Augenblick völlig vergessen hatte. Der blonde Mann hielt die Schwarzhaarige in seinen Armen, die sich immer wieder Tränen aus den Augen wischte. Ich bekam das Gefühl, dass sie jeden Moment hyperventilieren würde.
 

Ja, ich kannte sie. Auch wenn mir ihre Namen gerade nicht einfielen. Ich nickte und hörte gleich darauf ein schwächliches, erleichtertes Aufseufzen. Die junge Frau strahlte mich an, doch als mich der Arzt nach den Namen der beiden fragte und ich verneinte, wich die Freude aus ihrem Gesicht. „Was bedeutet das?", fragte sie den Arzt erschrocken.
 

„Ich werde gleich noch mal wieder kommen", sagte er an mich gewandt, ehe er aufstand und zu den beiden hinüber ging. „Kein Grund zur Panik. Ich denke, Miss Swans Gedächtnislücken sind nur temporär, aber Genaues kann ich erst nach weiteren Untersuchungen sagen. Deshalb würde ich Sie bitten, noch kurz mit in mein Büro zu kommen."
 

Die schwarzhaarige Frau wirkte alamiert und ich kam nicht umhin, mich ebenfalls so zu fühlen.
 

Dr. Cullen geleitete die beiden aus dem Raum. „Ruhen Sie sich noch ein bisschen aus, Miss Swan. Wir sehen uns später", meinte er freundlich, bevor er die Tür hinter sich schließen wollte, doch die junge Frau steckte noch einmal ihren zierlichen Kopf durch die Öffnung. "Alles wird wieder gut, Bella. Du wirst schon sehen. Mach dir also keine Sorgen."
 

Das dumpfe Geräusch signalisierte das Einrasten des Schlosses, als die Tür zugemacht wurde, und ließ mich mit nichts als der Stille im Raum zurück, während mir tausend Fragen im Kopf umherschwirrten.

Caffeinated

BIGTHX an meine tolle Beta, btw :'D
 

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Caffeinated
 


 

Die Sonnenstrahlen, die durchs Erkerfenster brachen, ließen das Nichts vor mir etwas heller erscheinen, die unsichtbare Luft greifbarer wirken. Gleich einem transparenten Band aus trübem Nebel. Jedes einzelne Staubkorn glänzte und tanzte vor meinen Augen und machte mir einmal mehr ihre Schwerelosigkeit klar, während sich mein Körper träge wie ein Stein anfühlte.
 

Es war ungemein entspannend, auf der weichen Bank zu sitzen, die unter dem gesamten Erkerfenster entlangführte, der Stille zu lauschen und dem Treiben auf den Straßen und den Bürgersteigen zu folgen, ohne mit den lärmenden Geräuschen konfrontiert zu werden.
 

Ich ließ mich schon wieder ablenken.
 

Eigentlich wollte ich heute noch ein Dutzend Seiten von dem Buch lesen, welches mir gerade wieder in den Schoß rutschte. Das andere Eden. Ausgefallene Gartenkunst in Amerika. Ich wollte noch etwas Stoff nacharbeiten. Den Stoff, an den ich mich nicht mehr erinnern konnte. Alice hatte zwar gemeint, ich hätte meinen Abschluss bereits in der Tasche, doch wenn sie mir das Zertifikat nicht gezeigt hätte, hätte ich es ihr vermutlich niemals geglaubt.
 

Kurz vor dem Unfall hatte ich angeblich meine Endprüfungen gehabt und während ich im Koma gelegen hatte, waren mir die Ergebnisse zugeschickt worden. Ironisch, dass ich zwar endlich den heißersehnten Titel eines Diplom-Ingenieurs besaß, mich aber nicht daran erinnern konnte, je die Abschlussprüfung geschrieben zu haben. Jeder andere Student würde sich wahrscheinlich glücklich schätzen, sein Studium ohne all diesen Prüfungsdruck erfolgreich beenden zu können. Ich aber nicht.
 

Nachdem ich aus dem Koma wieder aufgewacht war, wurde bei mir eine retrograde Amnesie diagnostiziert. Das bedeutete, dass ich mich nicht mehr an bestimmte Dinge erinnern konnte, die vor meinem Unfall passiert waren. Also auch nicht an die Prüfungen.
 

So gern ich mich darüber gefreut hätte, meinen Abschluss plötzlich mir nichts dir nichts zu besitzen, so sehr quälte es mich auch, mich nicht mehr an das letzte halbe Jahr davor erinnern zu können. Auch wenn mir Alice immer wieder versicherte, dass nicht besonders viel passiert war, wurde ich das Gefühl nicht los, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben. Damals, als ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war ich regelmäßig zu einem Psychologen gegangen, der mir dabei helfen sollte, meine Erinnerungslücken wieder zu füllen. Ich wusste nicht mehr, wie viele Sitzungen wir gehabt hatten. Das Resultat war jedenfalls, dass ich ein schweres Trauma während des Unfalls erlebt haben musste und dass mein Gehirn mir den Weg zu meinen Erinnerungen blockierte. Zu meinem eigenen Schutz. Das musste man sich erstmal auf der Zunge zergehen lassen.
 

Mein Kopf schützte mich vor mir selbst.
 

Ich gab zu, dass mich der Grund dieser Blockade, der Auslöser für das Trauma, ein wenig einschüchterte. Vielleicht war es ja wirklich besser, sich nicht mehr zurück zu erinnern. Selbst Alice hatte mir nur grob erklärt, wie der Unfall abgelaufen war. Das alles hinderte mich aber nicht daran, trotzdem in jeder freien Minute zu versuchen, irgendeinen Erinnerungsfetzen wiederzuerlangen.
 

Doch immer wieder das Gleiche. Nichts. Als hätte man mir ein blankes Tuch vor die Augen gehangen.
 

Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, war ein Tag wie jeder andere gewesen, damals in Detroit. Ich hatte mir von einer der Vorlesungen frei genommen und stattdessen eines der kleinen Cafés auf der anderen Straßenseite besucht gehabt. Mein Lieblingscafé. Von dort hatte ich immer einen wunderschönen Blick auf die alten Bauten gehabt, welche die Universität umgaben. Ich hatte ihre Baustile bewundert, die meist aus der Romantik stammten und in der heutigen Zeit renoviert worden waren. Mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger. Alles, was danach geschehen war, konnte ich mir einfach nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Alice und meine Familie hatten mir die wichtigsten Dinge aus diesem fehlenden halben Jahr vor meiner Prüfung nacherzählt. Es war komisch zu hören, was man alles gemacht hatte, wenn man sich selbst überhaupt nicht daran erinnern konnte. Wie bei einem Blackout durch zu viel Alkohol, wenn die eigenen peinlichen Momente am nächsten Tag von anderen wiedergegeben wurden.
 

Mein Blick wanderte durch mein Apartment. Jedes Mal, wenn ich es mir ansah, wunderte ich mich, warum ich ausgerechnet diese Wohnung gewählt hatte. Eigentlich war sie viel zu groß für nur eine Person. Ich wusste noch, dass mir bei der Besichtigung die Aussicht gefallen hatte, und natürlich das Erkerfenster, in dem ich jetzt saß. Außerdem war der Weg zu meinem ersten Job auch nicht weit.
 

Assistentin in einem kleinen Architektenbüro. Die Stelle hatte ich durch Alice‘ Connections bekommen. Mein neuer Chef war wohl ein Bekannter von ihr. Ich war ihr dankbar dafür, auch wenn ich mir viel lieber selbst etwas gesucht hätte. Doch der Arbeitsmarkt erlaubte es mir nicht, mich lange mit der Jobsuche aufzuhalten. Immerhin musste ich meine Miete und meinen Lebensunterhalt finanzieren.
 

Während ich also fünf Tage die Woche arbeiten ging, nutzte ich meine freie Zeit, um das restliche Wissen aufzuarbeiten, das ich vergessen hatte. Meine alte Professorin Mrs. Evenson war so freundlich gewesen, mir eine Liste der fehlenden Themen zu erstellen. Das Meiste hatte ich bereits durch, mir fehlten nur noch ein paar Kleinigkeiten.
 

Natürlich hätte ich das auch sein lassen können, aber ich würde mich einfach nicht wohl fühlen, einen Abschluss in der Tasche zu haben, ohne Kenntnis über den gesamten Stoff. Während des Lernens hatte ich immer wieder gehofft, dass mir das ein oder andere doch bekannt vorkam oder dass ich eine Art Déjà-vu-Erlebnis haben würde. Irgendetwas, das mir sagte, dass ich das wirklich alles schon einmal durchhatte. Aber Fehlanzeige. Mrs. Evensons Liste war wie Neuland für mich.
 

Heute war Samstag.
 

Vielleicht sollte ich eine Pause machen und in dem kleinen Bistro gegenüber einen Kaffee trinken gehen. Natürlich hätte ich mir genauso gut auch zuhause etwas zu trinken machen können. Aber draußen in einem Café zu sitzen und die Sonne zu genießen hatte ein ganz anderes Flair. Selbst wenn es nicht mal zwanzig Meter von mir entfernt war. Ich konnte die Menschen besser beobachten, die Gebäude Chicagos genauer betrachten. Inmitten all der modernen Architektur die älteren Bauwerke bewundern, die den großen Brand 1871 überstanden hatten.
 

Chicago, die Stadt des Blues.
 

Warum war ich noch mal hierher gezogen?
 

Ach ja, weil sich mein neuer Job hier befand. Aber eigentlich fand ich es gar nicht mal so schlecht. Chicago hatte vieles zu bieten: Kunst, Theater, Literatur, Musik ...
 

Musik.
 

Interessant, dass ich plötzlich nostalgisch wurde, wo ich doch noch nie zuvor hier gewesen war. Ich sollte wirklich hinüber ins Bistro.
 

Das Buch, welches immer noch in meinem Schoß lag, legte ich auf die Fensterbank, damit ich es später weiterlesen konnte. Ich ging hinüber zur Garderobe, holte mein Portemonnaie und meine Schlüssel aus meiner Tasche und verließ die Wohnung. Sie befand sich im dritten Stock und da es hier keinen Aufzug gab, musste ich die Treppen nehmen. Ich war kein Freund von Treppen, vor allem nicht im Sommer. Aber was tat man nicht alles für einen Moccacino und ein Baguette mit Curryhähnchen. Hunger hatte ich mittlerweile auch bekommen.
 

Gleich vor dem Hauseingang gab es einen Fußgängerüberweg, auf dem sich zu dieser Uhrzeit glücklicherweise nicht sonderlich viele Passanten tummelten. Als ich ohne Vorwarnung von einem Auto lautstark angehupt wurde, fiel mir vor Schreck mein Schlüssel aus der Hand, während der Adrenalinstoß mein Herz fast zum Aussetzen brachte. Ich wollte dem Fahrer bereits meine Meinung sagen und ihn auf das Ampelzeichen hinweisen, doch meine Worte blieben mir im Hals stecken, als ich feststellte, dass mein Licht bereits wieder rot war.
 

Was zum ...? Hatte ich geträumt? Dabei war ich mir sicher, noch bei Grün herübergegangen zu sein.
 

Leise vor mich hinmurmelnd hob ich meinen Schlüssel auf und hastete auf die andere Straßenseite, innerlich diesen blöden Angeber mit seinem protzigen Volvo verfluchend.
 

Eine halbe Stunde und gefühlte tausend Stufen bergauf später saß ich wieder auf meiner Erkerbank, aß mein Baguette und genoß meinen Kaffee, während ich von neuem die Leute auf der Straße beobachtete. Ich hatte meine Bestellung doch mitgenommen. Das Café war überfüllt mit Menschenmassen, als wäre es das einzige dieser Stadt. Ich hätte mich dort nicht wohlgefühlt.
 

Das Klingeln an der Tür riss mich aus meiner Träumerei, in die ich abermals verfallen war. Ich legte alles, was ich in der Hand hatte, zur Seite und ging zur Tür. Erst lugte ich durch den Spion, um zu sehen, wer dort stand. Allerdings konnte ich niemanden erkennen. Merkwürdig. Selbst ein Kind würde ich durch das kleine Guckloch ausmachen können. Stirnrunzelnd öffnete ich die Tür, schaute um die Ecke und bekam in der letzten Sekunde noch mit, wie sich die Tür von Mrs. Carpenter schloss. Ansonsten war niemand da.
 

Beinahe hätte ich meine Tür wieder geschlossen, ohne das Paket auf meinem Abtritt zu bemerken. Es war an mich adressiert. Im ersten Augenblick verstand ich nicht, warum die Post nicht bei mir geklingelt und gewartet hatte, bis ich es persönlich in Empfang nahm. Aber dann fügte sich eins zum anderen, als ich Mrs. Carpenter in meine Überlegung miteinbezog. Ich hatte diese alte Frau von Anfang an nicht leiden können.
 

Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich in die Richtung ihrer Wohnung, während ich das Paket aufhob. Ich traute es ihr zu, es angenommen zu haben, als ich gerade nicht da war. Und nicht jeder Postbote war so ehrlich, seine Lieferungen auch wirklich bei der jeweiligen Person abzugeben, wenn ein Auge zudrücken und Fremden vertrauen einen zweiten Zustellungsversuch ersparte. Ich würde ihr den Hals umdrehen, sollte sie es gewagt haben, das Paket zu öffnen.
 

Ich schloss die Tür hinter mir und ging wieder zum Fenster hinüber, um den Karton genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie es aussah, hatte ihn diese griesgrämige Olga wirklich nicht weiter angerührt. Das Klebeband war noch intakt, obwohl das Paket als solches schon ziemlich mitgenommen aussah.
 

Einen Moment lang betrachtete ich das Adressfeld, einen Absender gab es nicht. Was mir dann aber zu denken gab, war meine Anschrift selbst. Es war nicht die aus Chicago, sondern die aus Detroit. Wer immer mir also etwas zuschicken wollte, wusste offenbar noch nicht, dass ich schon seit einer ganzen Weile umgezogen war.
 

Ich fing an, an dem Klebeband herumzufummeln und eine Ecke nach der anderen langsam abzuziehen, was jedes Mal dieses schlürfende Geräusch hervorrief. Ich mochte das. So blöd, wie es klang, aber ich mochte dieses Geräusch, das dabei verursacht wurde, wirklich.
 

Als ich es endlich öffnete, musste ich kurz blinzeln und noch genauer hinsehen, so seltsam kam mir der Inhalt vor. Vorsichtig holte ich eines nach dem anderen heraus. Ein kleiner Strauß Blumen (bis in die letzte Zelle vertrocknet), Klebestreifen, ein Gutschein für einen Moccacino, ein Miniaturmodell eines 65iger Chevrolet Impala, ein Winkelmesser, ein mechanischer Bleistift, Skizzenpapier, ein Zirkel und ganz unten auf dem Boden ... ein altes Foto von 1913, das schon einen deutlichen Gelbstich hatte und auf dem die Eröffnung der Michigan Central Station zu sehen war, der erste Bahnhof Detroits.
 

Für einen Moment blieb ich still sitzen. Denn auch wenn all diese Dinge merkwürdig waren, so konnte ich doch mit jedem einzelnen etwas anfangen. Ich sah noch einmal in den Karton, um sicher zu gehen, auch nichts vergessen zu haben. Und tatsächlich, ich fand noch etwas. Einen Zettel, der an den Rändern ebenfalls ganz leicht vergilbt aussah. Langsam faltete ich ihn auseinander.
 

Ich stellte fest, dass die Schrift die gleiche war wie die der Empfängeradresse.
 


 

Bella-Bells
 

Wenn du dir die einzelnen Dinge genau angesehen hast, wirst du feststellen, dass dir jedes von ihnen bekannt vorkommt.
 

Der Klebestreifen, dessen Geräusch du so liebst, wenn man ihn von einer Oberfläche wieder abzieht.
 

Die Wiesenblumen, gepflückt von eben der Wiese, auf der du so gerne liegst.
 

Der Moccacino, den du jeden Tag nach oder auch während deinen Vorlesungen trinkst.
 

Der Chevrolet Impala, den du dir ganz sicher in der Zukunft holen wirst.
 

Die Materialien, die du als Architekt fürs technische Zeichnen benötigst (das Reißbrett hat leider nicht hinein gepasst).
 

Und natürlich das Foto von der Michigan Central Station, in die du dich als Kind verliebt hast und seither restaurieren wolltest (Den Abrissbeschluss letztes Jahr hätte ich gern für dich verhindert).
 

Obwohl ich so viel über dich weiß, hab ich dir nie die Chance gegeben, mich wirklich kennen zu lernen. Aber ich will mich nicht länger vor dir verstecken.
 

Ab sofort wirst du also Stück für Stück mehr über mich erfahren und ich hoffe, dass ich mich dir mit jeder einzelnen Neuigkeit ein bisschen näherbringen kann.
 

A.M.
 


 

Das Papier, das ich zwischen meinen Fingern hielt, übernahm das Zittern, das von meinem Körper kam. Unfähig, mich auch nur ein kleines bisschen zu bewegen, starrte ich auf die handgeschriebenen Zeilen, die so romantisch und gleichzeitig so beängstigend auf mich wirkten. Allein schon die Anrede. Nur mein Vater nannte mich so, und in diesem Falle auch nur ‚Bells‘.
 

Wer war die Person, die so viel über mich wusste? Wer besaß die Initialen A.M., die mir rein gar nichts sagten? Hatte ich einen Verehrer oder einen Stalker? Was sollte ich davon halten?
 

Ich meinem Kopf herrschte das Chaos, ich wusste nicht, was ich zuerst denken sollte. Was ich zuerst machen sollte. Nach ein paar Minuten verzweifelter Überlegung, atmete ich erst einmal tief durch, um mich selbst wieder zu beruhigen. Anschließend legte ich alles zurück ins Paket, einschließlich dem Brief, und brachte es zum Küchentresen am anderen Ende des Zimmers. Etwas zu grob stellte ich ihn dort ab und schmiss dabei einen Becher Coffee-to-go um, wobei der Deckel absprang und die Flüssigkeit Boden und Arbeitsfläche bekleckerte. „Verdammt!", fluchte ich leise vor mich hin und machte mich bereits daran, das Unglück aufzuwischen.
 

Aber dann wurde ich stutzig. Warum stand hier überhaupt ein Becher? Mein eigener befand sich immer noch am Erkerfenster und ich war mir sicher, nur einen gekauft zu haben.
 

Der Kaffee war noch warm, es konnte demnach kein alter von mir sein - davon mal abgesehen, dass ich meinen immer austrank. Wo also kam dieser zweite her?

Contradictory

Hey!

Wieder da mit dem nächsten Kapitel. Wie immer vielen Dank für eure Revs :‘D
 

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Contradictory
 


 

„Ich find‘s romantisch", meinte Alice, während sie am Herd stand und Eier in der Pfanne verrührte. Ich lächelte ihr halbherzig zu.
 

„Würde ich auch, wenn nicht dieser leichte Stalker-Duft dranhaften würde."
 

„Ach, komm schon. Es gibt ganz offensichtlich jemanden, der dich sehr mag, aber bisher nur zu schüchtern war, es dir persönlich zu sagen."
 

Elanlos ließ ich meinen Kopf auf den Küchentresen sinken und vergrub mein Gesicht zwischen meinen Armen. „Findest du es nicht gruselig, dass er so viele persönliche Dinge über mich weiß? Zum Beispiel das mit der Central Station. Das wissen nur du und meine Eltern und-" Ich brach ab, während Alice ergänzte: „ ... all die, denen du deinen Traum mit leuchtenden Augen erzählt hast?"
 

„So viele waren das gar nicht und Renée und Charlie wissen das bestimmt eh nicht mehr ... Außerdem hab‘ ich schon seit Jahren nicht mehr davon geredet."
 

Ich bemerkte, wie ein Teller vor mir abgestellt und mit Essen gefüllt wurde. Langsam richtete ich mich wieder auf und blickte auf Rührei mit Speck und Salat. „Ich hab‘ dir bestimmt schon hundert Mal erklärt, dass du nicht so viel für mich sorgen musst, oder?"
 

Alice lächelte. „Ja, aber ich weiß besser als du, dass du in letzter Zeit nicht besonders auf deine Ernährung achtest."
 

„Das stimmt nicht", widersprach ich ihr.
 

„Dein Kühlschrank ist so gut wie leer."
 

„Wenn ich Hunger hab‘, geh‘ ich rüber ins Bistro und hol‘ mir was."
 

„Fast Food ist keine Alternative", meinte Alice streng. Ihre Augen wurden zu Schlitzen und ich seufzte resigniert.
 

„Du bist wie meine Mutter." Nein, eigentlich stimmte das nicht. Es müsste lauten Du bist mehr Mom als meine richtige es je sein würde. Denn die kümmerte sich kaum um mich. Als ich noch klein gewesen war, hatten sich meine Eltern scheiden lassen und ich war bei meinem Dad geblieben. Eigentlich wäre es egal gewesen, bei wem ich meine Kindheit verbracht hätte. Ich schien für beide nicht wirklich existent gewesen zu sein. Jeder von ihnen kümmerte sich um seine eigenen Dinge. Mom hatte ziemlich selten geschrieben, weil sie womöglich voll und ganz mit ihrem neuen Mann zu tun gehabt hatte, und Dad hatte nur seine Arbeit im Kopf.
 

Alice war schon damals die einzige, richtige Vertraute für mich. Ich teilte so gut wie alles mit ihr und sie ließ es sich auch nicht nehmen, ständig nach mir zu sehen. Und nach dem Unfall war es noch extremer geworden. Sie meinte, ich hätte mich stark verändert, sei ruhiger geworden und würde ständig in Tagträumen versinken. Sie hätte keine ruhige Minute, wenn sie sich nicht wenigstens einmal pro Woche persönlich über meinen Gemütszustand vergewissern konnte. Es war also mittlerweile Routine geworden, dass sie jedes Wochenende vorbeikam. Dabei war die Entfernung von Chicago und Detroit nicht gerade ein Katzensprung.
 

„Jasper muss sich ja ziemlich einsam fühlen, so oft, wie du hier bist. In der Armee hat er doch nur am Wochenende Zeit, nach Hause zu kommen, oder nicht?"
 

Alice winkte ab, während sie genüßlich ihren Speck verzehrte. „Das ist kein Problem. Samstag gehört Jasper und mir, Sonntag uns beiden Hübschen. An diesem Tag trifft er sich dann ohnehin mit seinen Freunden. Optimale Zeiteinteilung, und das, obwohl ich so viel mit dem Atelier zu tun hab‘."
 

Ich schmunzelte über ihre Argumentation, obwohl ich insgeheim bewunderte, wie sie alles unter einen Hut bekam. Seitdem sie sich als Künstlerin selbstständig gemacht hatte, arbeitete sie Tag ein Tag aus in ihrem kleinen Farbpalast. Ich beneidete sie um ihr Talent, sie war begnadet in dem, was sie tat. „Wie du meinst. Aber beschwer‘ dich nicht, wenn er dir aus Frust diesen einen Tag auch noch streicht."
 

„Wird er nicht", meinte sie trotzig. „Jasper und ich verstehen uns. Das ist nicht so wie bei dir und ..." Mitten im Satz hielt sie inne, starrte mich kurz an und lächelte dann, bevor sie mit übertriebener Konzentration ein Stückchen Tomate betrachtete. „Merkwürdig. Findest du nicht auch, dass die Form heute irgendwie komisch aussieht?"
 

Mit erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen sah ich sie immer noch an. „Ich und wer?"
 

„Glaubst du, die spritzen die Bioprodukte jetzt auch?"
 

„Alice!"
 

Sie seufzte. Sie wusste, sie hatte keine Chance, meiner Frage zu entgehen. „Du und ... dein Dad", erklärte sie dann endlich, nur um gleich darauf energisch auf mich einzureden. „Ich meine, wann hast du ihn das letzte Mal besucht, seitdem du wieder aus dem Krankenhaus raus bist? Einmal, zweimal oder überhaupt schon mal?"
 

„Ist das dein Ernst?" Meine Augen verengten sich. „Wie oft war er denn bei mir, als ich noch drin war?"
 

Alice blickte mich mitleidig an. „Ach, komm schon. Wie oft zählt doch nicht, sondern eher, dass er überhaupt da war. Und als ich ihm Bescheid gegeben habe, dass du aufgewacht bist, hat er auch alles stehen und liegen lassen, nur um zu dir zu fahren."
 

„Ja, für insgesamt fünf Minuten, weil er danach wieder zur Arbeit musste." Angenervt verdrehte ich die Augen und schob meinen halbleeren Teller zur Seite. Mein Appetit war mir vergangen. Was musste Alice auch mit diesem Thema anfangen? Mein Kopf pochte. Hoffentlich blieb es dabei und ich bekam nicht schon wieder richtige Kopfschmerzen. In letzter Zeit hatten sich diese nämlich gehäuft und langsam wurde es belastend.
 

„Bella, weißt du überhaupt noch, warum du so sauer auf ihn bist?"
 

Natürlich wusste ich das noch! Ich war sauer auf ihn, weil er sich plötzlich in mein Leben einmischte, obwohl er es all die Jahre kein einziges Mal getan hatte. Ich war sauer auf ihn, weil - Ahhh! Heftige Schmerzen durchzuckten meinen Kopf, ich schlug mir die Hand vor die Stirn. Als wäre ich gerade von einer Abrissbirne getroffen worden oder als hätte sich ein Blitz zwischen meinen grauen Zellen verirrt.
 

„Bella? Alles okay?", hörte ich Alice‘ besorgte Stimme. Sie stand auf und kam auf meine Seite, um mir sanft über den Rücken zu streichen. „Kann ich dir irgendwie helfen? Soll ich dir irgendwas bringen? Soll ich einen Arzt rufen?"
 

„Kopfschmerztabletten. Im Bad", murmelte ich nur und musste mich zurückhalten, aufgrund ihrer schon leicht übertriebenen Panik die Augen zu verdrehen. Alice hastete sofort los. Als würde mein Leben davon abhängen, dabei brummte mir nur der Schädel. Als es an der Tür klingelte, dachte ich, mein Kopf würde zerspringen. Mühsam richtete ich mich auf. Drei kurze Klingeltöne folgten und ich verfluchte den Störenfried stillschweigend.
 

„Ich bin nicht taub. Einmal kli-", sagte ich gepresst, als ich die Tür öffnete, während ich mir den Kopf hielt. Verwirrt starrte ich ins Leere. Ich bekam einen leichten Anflug von einem Déjà-vu, als ich feststellte, dass sich niemand vor meiner Haustür befand. Nur gab es dieses Mal kein Paket auf meinem Abtritt. „Was zum ..." Ich schaute nach links und nach rechts, fand aber niemanden oder gar einen Hinweis auf irgendetwas. Verärgert schloss ich die Tür wieder.
 

„Bella?" Alice stand im Flur, die Packung Tabletten in der einen, ein Glas Wasser in der anderen Hand. „Was machst du da?"
 

„Ich wollte nachsehen, wer an der Tür ist. Hat sich offenbar als Klingelstreich herausgestellt." Mit einem Seufzen nahm ich ihr das Glas und die Tabletten aus der Hand und schluckte gleich zwei davon herunter.
 

„Bist du dir sicher, dass jemand geklingelt hat? Ich hab gar nichts gehört."
 

Stinrunzelnd sah ich sie an. „Wer auch immer da war, er hat nicht nur einmal laut und deutlich den Knopf gedrückt." Wollte sie mir ernsthaft weißmachen, sie hätte dieses nervtötende Geräusch nicht wahrgenommen? Alice zog eine Augenbraue in die Höhe und blickte kurz zwischen mir und der Tür hin und her. Bis sie es mit einem Schulterzucken abtat.
 

„Wie geht's überhaupt deinem Kopf? Immer noch so schlimm?", fragte sie nach ein paar Minuten, als wir zurück zum Küchentresen gegangen waren. „Ja, ist schon deutlich weniger geworden." Das war nur die halbe Wahrheit, denn eigentlich ebbte der Schmerz nur sehr langsam ab. Alice machte sich einfach viel zu viele Sorgen.
 

„Willst du noch?" Ich deutete auf ihren Teller, der so gut wie leer war. Sie schüttelte ihren Kopf, also räumte ich den Tisch komplett ab und ließ heißes Wasser ins Becken, um abzuwaschen. Das Geschirr hatte sich ohne mein Wissen schon wieder zu Mount Everest-ähnlichen Türmen gestapelt. Ich konnte hören, wie Alice sich am Kühlschrank bediente und etwas zu Trinken herausholte.
 

„Ich schau‘ mir noch mal das Paket an", erklärte sie und ging hinüber zum Erkerfenster, wo ich es seit gestern liegen gelassen hatte.
 

„Weißt du, was ich komisch finde? Dass, wer auch immer das hier abgeschickt hat, er getrocknete Blumen statt frische reingelegt hat." Als ich mich kurz umdrehte, sah ich, wie Alice den Strauß vorsichtig herausnahm und ihn ein paar Mal langsam drehte. Man konnte ihn zwischen den Fingerspitzen zermalen, so staubtrocken war er und bei der kleinsten Unachtsamkeit wäre er vermutlich in alle Einzelteile zerbröselt. „Vielleicht hat er sich auch gedacht, dass Frische nicht mehr frisch sein würden, wenn sie bei dir ankommen?", mutmaßte sie, während sie ihn wieder zurücklegte und sich den nächsten Gegenstand nahm. „Natürlich. Wo die Post doch heute immer noch mit der Kutsche transportiert wird." Augenrollend wandte ich mich wieder meinem Abwasch zu. „Was auch immer. Wir werden es erst erfahren, wenn du ihn persönlich triffst."
 

Niemals.
 

„Hm ... Das mit dem Kaffee ... Du musst zugeben, dass das jeder hätte machen können, der dich ein paar Mal da drüben gesehen hat, oder?"
 

Mein Herz pochte auf einmal unerklärlich heftig gegen meine Brust. Von dem zweiten Becher hatte ich ihr noch gar nichts erzählt und als ich mich abermals zu ihr umdrehte, erkannte ich den Gutschein in ihrer Hand. Darauf sprach sie an. Erleichterung machte sich in mir breit, ich beruhigte mich wieder. Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich den zweiten Kaffee noch nicht erwähnt hatte, wo ich wegen dem Paket doch gleich zum Telefon gesprungen war. Ich hatte auch jetzt nicht vor, ihr davon zu erzählen.
 

„Vermutlich hast du Recht", lächelte ich nervös. Sie sah mich kurz überrascht an, bevor ich den Blick abwandte und ihn wieder auf mein Geschirr richtete. Der Kaffee und das Paket mussten nicht unbedingt miteinander zusammenhängen. Ich konnte mir zwar bisher nicht erklären, wie wer-auch-immer in meine Wohnung gelangt war, doch dass das mit der Post am selben Tag passiert war, hatte ich auf einen simplen Zufall reduziert.
 

„Hast du für den Impala denn auch so eine tolle Erklärung?", schmunzelte ich nach ein paar Minuten.
 

„Zufall?" Ich hörte das Grinsen in ihrer Stimme. „Vielleicht wünscht er sich selbst so ein Auto und will, dass du dir eins besorgst."
 

„Bestimmt", antwortete ich argwöhnisch, aber nicht ganz abgeneigt.
 

„Oder ihm gehört bereits so ein Auto und er sieht euch beide schon zusammen darin herumfahren." Jetzt grinste sie definitiv noch breiter. „Stand in dem Brief nicht was davon, dass du in Zukunft damit unterwegs sein wirst?" Sie kramte im Karton herum, bis sie den Zettel gefunden hatte. Eine kurze Pause trat ein. „Ah, okay. Ich nehm‘ doch Möglichkeit Eins. Hier steht ... den du dir ganz sicher in Zukunft holen wirst. Obwohl ... Vielleicht hat er zwar selbst einen, will aber, dass du dir trotzdem deinen eigenen kaufst?"
 

Ich fing an zu lachen. Alice‘ Fantasie war einfach nur ... wunderbar. Ich wusste, warum ich ihr davon erzählt hatte. Sie konnte all meine Sorgen zunichte machen, egal, wie abstrus ihre Ideen manchmal auch sein mochten. Dafür liebte ich sie.
 

„Wirklich, Bella", trotzte sie. „Das war mein Ernst!"
 

„Ich weiß." Lächelnd sah ich sie an. Erst schien sie misstrauisch, doch dann erwiderte sie es.
 

Ich machte mich daran, die letzten paar Geschirrstücke zu waschen, als ich hinter mir ein nachdenkliches Seufzen hörte. „Hmm ... Irgendwie kommt mir die Schrift bekannt vor."
 

„Wirklich? Woher?" Hoffnung flammte auf. Wenn Alice wusste, wem sie gehörte, konnte sie mir auch sagen, ob das Paket harmlos war oder nicht, und ob ich mich darauf einlassen konnte. Obwohl sie mich sowieso schon fast soweit überzeugt hatte.
 

„Keine Ahnung, ich kann mich nicht mehr erinnern." Dieses Mal erklang ein frustriertes Seufzen und ich ließ die Schultern hängen.
 

„Sagen dir die Initialen denn was?"
 

„Natürlich", kam prompt ihre Antwort. Ich riss die Augen auf. „Ernsthaft?"
 

„Amber Morgan. Wir sind zusammen in der Junior High gewesen. Das Biest hat mir ständig meine selbstgebastelten Voodoopuppen geklaut. Du musst dich doch auch noch an sie erinnern. Kurze, blonde Haare, Sommersprossen bis zum Zeh, blaues Auge, nachdem ich mir meine Puppen wiedergeholt hab ... Neidisches Miststück."
 

Normalerweise hätte ich darüber gelacht, zumal sie wirklich toternst darüber sprach - Alice musste auf Außenstehende manchmal wirklich furchteinflößend wirken -, doch im Moment half es uns keine Spur weiter. Ich stöhnte. „Ich meinte eigentlich irgendeinen männlichen Bekannten oder Verwandten ungefähr in meinem Alter, dessen Schrift vielleicht der im Brief ähnelt."
 

„Da fällt mir nur Andrew Monaghan ein. Ein Cousin dritten oder vierten Grades. Aber der ist liiert, soweit ich weiß", zuckte sie mit den Schultern. „Und wie er schreibt, weiß ich nicht, ich hab ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Aber vielleicht ist es ja gar kein Mann, der dahintersteckt." Sie grinste über beide Ohren, während ich ihren Kommentar unbeantwortet ließ.
 

Für eine Weile blieb es still zwischen uns, jeder hing seinen Gedanken nach und ab und zu hörte ich Alice, wie sie weiter im Karton kramte, während ich die Teller und Tassen abtrocknete.
 

„Bist du sicher, dass das alles ist, was im Päckchen war?"
 

„Ja, bin ich. Wieso fragst du?" Ich stellte die sauberen Teller zurück in den Schrank, bevor ich mich zu ihr umdrehte. „Hast du noch was gefunden?" Sie antwortete nicht gleich, stattdessen starrte sie in den Karton, während eine ihrer Hände darin verschwunden war.
 

„Alice?", hakte ich nach. Erst jetzt schien sie mich zu bemerken, als sie sich fragend zu mir umwandte. „Wie bitte?"
 

„Ob du noch was gefunden hast." Eigentlich war ich mir sicher, nichts weiter entdeckt zu haben, aber wer wusste schon. Vielleicht hatte sich noch irgendwas in einer der Ecken versteckt gehabt.
 

„Nein, nichts gefunden. Nur ein bisschen Schmutz, der sich unter dem Wattezeug versteckt hat. Ich hab's versehentlich für was anderes gehalten", winkte sie amüsiert ab.
 

Meine Augen verengten sich. Das war nicht das Lächeln, das sie mir sonst zeigte. Ich hielt in meiner Arbeit inne und stützte mich mit beiden Händen auf dem Küchentresen ab. „Sicher?"
 

„Sicher."
 

Behutsam legte sie alles wieder zurück. Dann nahm sie den Karton und kam zu mir, stellte ihn vor sich ab und bettete ihre Hände auf die Öffnung. Sie atmete tief durch, bevor sie mich direkt ansah. „Darf ich mir den hier mitnehmen und Jasper zeigen?"
 

„Wozu?"
 

„Ihm fällt eventuell noch was dazu ein. Wer weiß."
 

Ich überlegte kurz, weil ich absolut keine Ahnung hatte, was das bringen sollte, zuckte dann aber mit den Achseln. „Meinetwegen, auch wenn ich bezweifle, dass er da weiterhelfen kann." Alice war ja schon immer der Typ Mensch gewesen, der den unkonventionellen Weg bevorzugte.
 

„Einen Versuch ist es wert." Sie schnappte sich das Paket und marschierte Richtung Garderobe.
 

„Wo willst du hin?"
 

„Oh, verdammt. Das hatte ich ganz vergessen dir zu sagen. Jasper hat mich gebeten, heute ein bisschen früher nach Hause zu kommen. Ich glaube, er hat irgendetwas geplant." Das Leuchten in ihren Augen sagte alles und ich kam nicht umhin, ein bisschen zu schmunzeln. „Verstehe."
 

Eilig zog sie ihre Jacke über, schlüpfte in ihre Schuhe und hängte sich ihre Tasche um die Schultern, bevor sie den Karton in ihre Hände nahm. Ich legte das Geschirrtuch beiseite und umarmte sie ganz fest. Auch wenn ich wusste, dass ich sie nächsten Sonntag wieder sehen würde, so war es hin und wieder ganz angenehm, einmal die Woche ein bisschen Leben in dieser großen Wohnung zu spüren. Wenn ich allein war, schien mich die Stille manchmal erschlagen zu wollen.
 

„Bis dann", lächelte ich, bevor sie aus der Tür trat. Als ich diese hinter ihr schließen wollte, hielt sie unerwartet mit der Hand dagegen. „Ach, und Bella. Wegen dem hier", sie deutete auf das Paket, „falls das nicht das Einzige war und noch mehr solcher Dinge auftauchen, sag mir bitte Bescheid, ja? Ich glaub‘ zwar nicht daran, aber man kann nie wissen."
 

„Ähm, ich hätte ... das sowieso getan. Ich versteh‘ nicht ...", stotterte ich verdutzt.
 

Alice schüttelte nur den Kopf. „Um auf Nummer sicher zu gehen, damit wir, falls nötig, rechtzeitig Maßnahmen ergeifen können."
 

„Maßnahmen? Aber vorhin hast du doch noch alles daran gesetzt, mich von den guten Absichten dahinter zu überzeugen." Ich war es ja gewohnt, ab und zu von ihr mit Widersprüchen konfrontiert zu werden, aber so extrem und abrupt wie heute war es lange nicht mehr - wenn überhaupt.
 

„Ja, heutzutage weiß man nie, was sich hinter solchen Dingen verbirgt. Vielleicht war ich vorhin ein bisschen zu blauäugig gewesen. Ich hab‘ nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass das auch ein Wolf im Schafspelz sein könnte. Mittlerweile gibt es so viele verrückte Leute, die sich wer-weiß-was einfallen lassen, um so unschuldige Dinger wie dich hinters Licht zu führen. Vorsicht ist besser als Nachsicht, findest du nicht auch?" Ihre blassblauen Augen bohrten sich förmlich in die meinen.
 

„Schon. Ich bin nur etwas überrumpelt. Du hast deine Meinung in nicht einmal einer Minute um hundertachtzig Grad gedreht", erklärte ich ihr meinen Standpunkt.
 

Alice blickte mich entschuldigend an. „Ich weiß, tut mir leid. Vielleicht irre ich mich ja auch und es ist doch jemand, der dich einfach nur kennen lernen will. Aber um das herauszufinden, sollten wir einfach abwarten, einverstanden?"
 

„Wie du meinst." Dabei hatte sie mich vorher wirklich schon soweit gehabt, zu glauben, ich hätte einen romantischen Verehrer. Alice‘ Intuition war nur leider meistens richtig. Das einzige Problem dabei war ihre Sprunghaftigkeit.
 

„Also dann. Wir sehen uns." Sie gab mir noch einen Kuss auf die Wange, ehe sie auf den Flur trat, mir noch einmal winkte und dann aus meinem Sichtfeld verschwand, als ich die Tür zumachte.
 

Sobald das Schloss mit einem metallenen Geräusch einrastete, realisierte mein Körper auf der Stelle das Alleinsein. Die Trägheit ergriff wieder Besitz von mir. Wie jedes Mal, wenn Alice weg war.
 

Langsam ging ich zurück zur Küchenzeile und trocknete das letzte bisschen Geschirr ab. Die Stille, die mich auf unangenehme Weise umhüllte, ließ mich ab und an ein paar müde Seufzer ausstoßen.
 

Es war so ruhig hier. Es sollte hier aber nicht ruhig sein. Den Fernseher oder das Radio anzuschalten, vermochte ich aber auch nicht. Es war nicht das, was ich brauchte; was mich wieder ausfüllte. Auf unerklärliche Weise fühlte ich mich nur halb existent, als würde mir etwas Essentielles fehlen. Ich hatte das Gefühl, dass mich der Verlust meiner Erinnerungen nicht mehr zu einem vollwertigen Menschen machte.
 

Als Alice mich wegen dem Päckchen ermutigt hatte, hatte ich etwas in mir aufflammen gespürt. Etwas, nachdem ich mich scheinbar unbewusst sehnte. War es das, weshalb ich mich manchmal so unerfüllt und verloren fühlte? Weil ich eigentlich jemanden suchte, in dessen Zuneigung ich mich verlieren konnte? Wenn dem so war, konnte ich genauso gut auch nach draußen gehen, um endlich mal neue Leute in dieser Stadt zu treffen. Bisher war ich aber nicht in der Lage dazu gewesen. Zur Arbeit zu gehen war kein Problem. Einkaufen, Besorgungen erledigen ebenfalls nicht. Doch bewusst rausgehen und Spaß haben ... Das war nicht das, wonach ich suchte.
 

Ich wollte meine Erinnerungen zurück. Ich wollte wissen, warum sich mein Bewusstsein so herausgelöst und unbefriedigt anfühlte.
 

Das Klingeln des Telefons riss mich aus meiner Trance. Es erklang nur zweimal, ehe sich der AB einschaltete und ich meinen selbstgesprochenen Text hörte. Hatte ich den Anrufbeantworter wirklich so eingestellt, schon nach kurzer Zeit anzugehen?
 

Das Piepen ertönte und mit einer unerwarteten Nervosität lauschte ich, in der Hoffnung auf eine Nachricht.
 

Mir blieb die Luft im Hals stecken, als ich die Stimme vernahm, und etwas in meinem Unterbewusstsein regte sich. Ich kannte sie und doch erkannte ich sie nicht.
 

Hey Bella.
 

Ich hoffe, ich überfalle dich nicht mit diesem Anruf. Wenn du dich jetzt fragst, woher ich deine Nummer habe, dann musst du dich bei deiner Freundin bedanken, deren Name mit ‚A‘ beginnt. Alice ist es allerdings nicht. - Er schmunzelte.
 

Der Grund, warum ich dich eigentlich anrufe, ist, dass ich mich bei dir entschuldigen wollte. Mit der Aktion gestern muss ich dich ziemlich überrumpelt haben, aber du musst mir glauben, ich wollte dich damit keineswegs verletzen oder dergleichen. Auch wenn du mir vermutlich nicht glaubst, es stecken wirklich aufrichtige Absichten dahinter.
 

Ehrlich gesagt ist das alles ziemlich neu für mich, früher hab ich solche Dinge anders gehandhabt. Bitte verzeih also diverse unabsichtliche Missverständnisse, ich habe noch nicht herausgefunden, wie ich mit dieser neuen Situation umgehen muss. - Abermals ein Schmunzeln, wenn auch ausgesprochen nervös.
 

Als ich dich das erste Mal in dem kleinen Café gesehen habe, konnte ich meine Augen einfach nicht mehr von dir lösen. Aus dem Starren wurde ein Beobachten, das ich dann plötzlich Tag für Tag wiederholen musste, ohne zu wissen, was ich da überhaupt gemacht habe.
 

Falls du mir also noch eine Chance gibst und mich das Ganze persönlich erklären lässt, ruf‘ mich bitte an. Meine Nummer ist (313) 496-3899. Ich würde mich wirklich freuen.
 

Der Anrufer legte auf und das Piepen, welches das Ende der Nachricht signalisierte und nur eine Sekunde dauerte, hallte noch Stunden später in meinem Kopf wider.
 

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Die Nummer funktioniert nicht. Braucht ihr also gar nicht erst probieren :'O

Confuddled

Hey guys, I'm back again.
 

Danke für die Kommentare btw ;) (auch wenn’s dieses Mal nur eins war …)

Hier gibt's jetzt ein weiteres kopfzerbrechendes Kapitel. Viel Spaß damit :''D
 

A/N:

Tein: Ist die Bezeichnung für das Koffein in Teeblättern. Das "ei" wird genauso gesprochen wie bei "Koffein".


 

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Confuddled
 

Das lange, tiefe Seufzen, das meine Lippen verließ, war kurzzeitig das lauteste Geräusch, das sich innerhalb meiner Hörweite befand. Und als es geendet hatte, war nur noch die leise Melodie des Liedes, welches gerade im Radio spielte, zu hören. Ich verstand kein Wort vom Text. Meine Finger ruhten schon wieder auf der Tastatur, ohne auch nur einen einzigen Buchstaben zu tippen. Mein Blick war auf den Monitor gerichtet und obwohl meine Augen direkt nach vorn sahen, registrierte mein Kopf das Bild selbst dennoch nicht. Der Grundriss eines Hauses. Ein Auftrag, der vor einiger Zeit in Mr. McCarty's Büro geflattert war.
 

Zu meiner Rechten stapelten sich mehrere Mappen mit weiteren Aufträgen, die ich noch durchsehen musste.
 

Wie spät war es jetzt?
 

„ ...lla?"
 

Mein Blick wanderte hinunter zur Desktopleiste. Halb Elf.
 

„Isabella!"
 

Ruckartig drehte ich mich um und erschrak. „Ja? ... Mr. McCarty! Was kann ich für sie tun?" Mr. McCarty war mein Chef und der Gründer dieses kleinen Architektenbüros. Hatte er bemerkt, dass ich mal wieder vor mich hingedöst hatte? Ganz sicher hatte er es bemerkt. Locker mit der Hand gegen den Türrahmen seines Büros gestützt, seufzte er lächelnd und senkte für einen kurzen Moment seinen Kopf. „Wie oft hab‘ ich schon gesagt, dass du mich Emmett nennen sollst."
 

„Entschuldigung", entgegnete ich höflich. „Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber das kann ich einfach nicht. Ich würde dann nur mit dieser unsichtbaren Linie zwischen Angestelltem und Arbeitgeber in Konflikt kommen." Gleich an meinem ersten Arbeitstag hatte er mich darum gebeten, ihn zu duzen, auch wenn ich es nicht ein einziges Mal in die Tat umgesetzt hatte. Immer, wenn er mich darauf ansprach, lehnte ich ab und nannte ihm ein und denselben Grund. Ich verstand aber nicht, warum er so sehr darauf beharrte, dass ich ihn beim Vornamen ansprach. Als Kompromiss hatte er mich darum gebeten, dass er wenigstens mich duzen durfte. Ich hatte nachgegeben und eingewilligt. Anfangs war es komisch gewesen, wenn er mich rief, mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt.
 

Mr. McCarty lachte. „Du sollst dich ja nicht in mich verlieben." Ich lächelte schwach. Eine kurze Pause trat ein, bis er resigniert den Kopf schüttelte. „Ich wollte dich fragen, ob du schon die Bautermine für die Bates-Familie eingeholt hast."
 

Bates? Angestrengt überlegte ich, wann ich das letzte Mal Formalitäten für diesen Kunden erledigt hatte. Je länger ich nachdachte und zwischen meinen Unterlagen kramte, desto frustrierter wurde ich. „Bates, Bates, Bates ...", murmelte ich immer wieder, doch ich wurde nicht fündig. Die Nervosität schlich sich zwischen meine Finger und sofort stieß ich gegen einen der Ordner. Die Zettel zerstreuten sich auf dem Boden und ließen ein großes Stück braunes Linolium weiß erscheinen.
 

„Tut mir leid!", entschuldigte ich mich hastig, während ich mich beeilte, das ganze Papier wieder aufzuheben. Ich erwartete schon jeden Moment, dass er mir eine Standpauke halten oder eine Abmahnung geben würde, weil ich mich so unfähig anstellte. Es war nicht das erste Mal, dass ich wegen meiner Träumerei so durcheinander geriet, und mich wunderte, dass er mich noch nicht rausgeworfen hatte - was seine Freundin hingegen wahrscheinlich schon längst getan hätte. Sie konnte mich einfach nicht leiden. Schon seit dem ersten Tag an nicht.
 

Heute war es allerdings noch ein wenig extremer. Normalerweise kam ich noch einigermaßen gut mit meinem Zeitplan voran, aber heute schaffte ich so gut wie gar nichts. Und das nur, weil mir diese Nachricht auf dem AB nicht aus dem Kopf ging.
 

Hinter mir hörte ich ein leises Lachen. Wirklich toll. Jetzt machte er sich auch noch über mich lustig. Konnte man seine Angestellten noch mehr demütigen? „Isabella." Er beugte sich zu mir herunter und half bei dem Papierchaos. „Wie wär's, wenn du dir den Tag frei nimmst und mal entspannst?"
 

„Was?" Erschrocken sah ich auf. „Warum?"
 

„Bella ... Isabella", verbesserte er sich schnell. „‘Bella‘ ist okay", warf ich ein, woraufhin er grinste. „Gut! ‚Isabella‘ klang mir sowieso noch einen Tick zu förmlich." Ich lächelte zaghaft. „Was ich jedenfalls sagen wollte ... Ich bin zwar manchmal begriffsstutzig, aber noch seh‘ ich, wenn's jemandem nicht gut geht. Und dir geht es heute eindeutig nicht gut. Ich weiß nicht, was los ist, aber ein Tag Auszeit wird dir garantiert mehr bringen, als hier hinter dem Schreibtisch zu hocken." Er zwinkerte mir zu und ich wusste so gar nicht, was ich antworten sollte. Ich wollte eigentlich nicht frühzeitig Feierabend machen, die Arbeit lenkte ab und ließ mich nicht ständig über Dinge nachdenken, in die ich zu viel hineininterpretierte.
 

„Ah, ich hab's gefunden!", verkündete ich laut und tat so, als hätte ich ihn nicht gehört. Ich wollte hier bleiben und weiterarbeiten.
 

Der Zettel mit den Terminen lag in der Mitte meines Schreibtisches. Obwohl ich überall gesucht hatte, lag er so offensichtlich dort, dass ich ihn eigentlich nicht hätte übersehen können.
 

„Bella, ich sag‘ das nicht zum Spass." Ich hörte den strengen, aber geduldigen Unterton in seiner Stimme und wusste augenblicklich, dass ich nicht mehr lange widersprechen konnte. In dem halben Jahr seit ich hier arbeitete, hatte ich herausgefunden, dass Mr. McCarty zwar ein Gemüt wie ein Bär hatte, er aber trotzdem durchaus in der Lage war, mit anderen Geschützen aufzufahren, wenn er es als nötig erachtete.
 

Ich seufzte und startete einen letzten Versuch. „Hören Sie, ich kann arbeiten. Mir geht es gut, machen Sie sich also bitte keine Sorgen. Meine Kopfschmerzen sind nur halb so schlimm. Die gehen in null-komma-nichts wieder weg."
 

„Keine Chance, Bella." Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und verschränkte die Arme streng vor seiner Brust. „Wenn du nicht machst, was ich sage, streich‘ ich dir das Weihnachtsgeld."
 

Ungläubig blickte ich auf. „Das ist ein Scherz, oder?" Die Frage hätte ich mir auch sparen können. Die Art und Weise, wie er mich ansah, sagte alles.
 

„Bella!" Ich fuhr herum, als ich meinen Namen aus einer ganz anderen Richtung hörte und nicht glauben wollte, zu wem diese mir allzu bekannte Stimme gehörte. Alice kam im Laufschritt auf mich zugerannt, teils freudig, teils gehetzt und vollkommen aufgeregt. „Was machst du hier?", fragte ich sie verwirrt.
 

„Nachdem du mir gesimst hast, hab‘ ich mich beeilt, so schnell herzukommen wie möglich", hechelte sie, als sie ein paar Schritte vor mir stehen blieb. Ich riss die Augen auf. „Bist du etwa die ganze Nacht durchgefahren? Das sind über fünf Stunden!"
 

Seit der merkwürdigen Nachricht auf meinem Anrufbeantworter waren ein paar Tage vergangen. Während dieser Zeit hatte ich ständig darüber gegrübelt gehabt, ob ich Alice davon erzählen sollte oder nicht. Immerhin hatte ich es ihr versprochen. Ich rätselte ständig, ob der Anrufer mit der erwähnten „Aktion" den Kaffeebecher gemeint hatte oder doch eher das Paket. Letzten Endes hatte ich auf das Paket geschlossen, nachdem ich mir immer wieder die Worte in Erinnerung gerufen hatte. Und was diese merkwürdige Person gesagt hatte, klang wirklich weitaus harmloser, als ich erwartet hätte. Alice wusste nichts von dem Kaffee, also würde sie diese Möglichkeit gar nicht erst in Betracht ziehen können. Sie musste es mit dem Paket in Verbindung setzen. Deshalb hatte ich ihr gestern Abend gleich eine SMS geschickt. Nur den Becher hatte ich auch dieses Mal außen vorgelassen. Es war leichter sich einzureden, er würde nicht existieren, wenn außer mir niemand weiter davon wusste.
 

Alice kam nicht dazu, mir zu antworten, weil sich Mr. McCarty auf einmal in unser Gespräch mischte. „Alice! Ich hab‘ dich ja lange nicht mehr gesehen", strahlte er übers ganze Gesicht. Oh mein Gott, ich konnte nicht hinsehen, als er meine kleine Freundin plötzlich in eine wrestling-artige Umarmung zog. Wer Mr. McCarty schon einmal gesehen hatte, der wusste, dass er nicht nur die Gemütlichkeit eines Bären besaß, sondern auch die Statur. Und dieser Riese war nun im Begriff, die meiner Meinung nach kleinste Person der Welt zu umarmen. Das konnte niemals funktionieren. Aber genau das tat es. Auch wenn ich mir kurzzeitig nicht sicher war, wohin Alice zwischen seinen kräftigen Armen verschwunden war.
 

„Emmett, hey! Wie geht's? Wie macht sich Bella so?", feixte sie süffisant; ich verdrehte nur die Augen.
 

Mr. McCarty grinste übers ganze Gesicht. „Oh, mir geht's gut. Und Bella macht sich fabelhaft, kann mich nicht beklagen", erklärte er und zwinkerte mir zu, während Alice sich unverständlicherweise sehr darüber freute.
 

Immer wieder merkwürdig, die beiden so familiär zu sehen.
 

Mr. McCarty war nämlich diese ominöse Connection, mit der sie befreundet war und durch die ich meinen Job bekommen hatte. Es war skurril, mitzuerleben, wie nonchalant die beiden miteinander umgingen, während ich ihn selbst mit dem Nachnamen ansprach. Ich wollte mich nicht darüber beschweren, denn wenn ich es wirklich hätte anders haben wollen, wäre ich schon längst seiner Bitte nachgekommen, ihn beim Vornamen zu nennen.
 

„Wie sieht's aus? Kann ich Bella für ein paar Stunden ausborgen?", fragte sie ihn, als würde sie sich eine DVD leihen wollen.
 

„Alice, du kannst doch nicht einfach-"
 

„Schon okay", unterbrach mich Mr. McCarty. „Ich wollte sie sowieso überreden, sich heute frei zu nehmen und musste ihr sogar mit finanziellen Einbußen drohen. Gegen ihre Sturheit ist kein Kraut gewachsen."
 

„Kenn‘ ich", pflichtete ihm Alice bei.
 

Eine halbe Stunde später befanden wir uns auf dem Weg nach draußen, nachdem ich noch schnell das angefangene Dokument beendet hatte. Ich war gerade dabei, Alice wegen ihres übereilten Auftauchens zurechtzuweisen, als genau die Person durch die Eingangstür schritt, die ich heute am wenigsten sehen wollte. Rosalie Hale, die Verlobte von Mr. McCarty.
 

Hatte ich schon erwähnt, dass sie mich nicht leiden konnte? Wenn ja, dann würde ich das gerne noch einmal sagen wollen, denn es war das Absurdeste, das mir in meinem ganzen Leben passiert war. Seit ich hier arbeitete - also die gesamten letzten fünf Monate - hatte ich noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt. Und das meinte ich wörtlich. Nicht mal eine Silbe. Es war schon eine Überraschung, überhaupt von ihr registriert zu werden, denn meistens behandelte sie mich wie Luft.
 

„Hey, Rose", grüßte Alice die blonde Eiskönigin. „Hallo, Alice", gab sie zurück und lächelte sogar. Ich hatte sie noch nie lächeln sehen. Beinahe wäre ich davon ausgegangen, dass sie mich wie so oft ignorierte, doch dann meinte ich für den Bruchteil einer Sekunde gesehen zu haben, wie sie kurz zu mir herüber schielte. Freuen konnte ich mich darüber dennoch nicht, denn ihr Blick war so gefühlskalt wie je her. Wir kannten uns nicht einmal und sie behandelte mich, als hätte ich ihr geliebtes Haustier überfahren. Es war zum Haareraufen! Ich hätte sie darauf ansprechen können, ich wollte ja nichts weiter, als den Grund ihrer Abneigung mir gegenüber zu erfahren. Aber sie war die Verlobte meines Chefs - ich konnte sie unmöglich fragen.
 

Draußen angekommen blieb ich stehen und seufzte erleichtert auf. Im Nachhinein war ich froh, doch frei genommen zu haben. Ich hätte mich noch weniger auf meine Arbeit konzentrieren können, wenn ich sie im Chefbüro hinter mir gewusst hätte.
 

„Ich kann diese Frau nicht leiden", murmelte ich und suchte den kleinen Parkplatz vor uns bereits nach Alice‘ gelbem Auto ab.
 

„Warum?"
 

Stirnrunzelnd sah ich sie an. „Warum? Denk‘ doch mal nach, wie sie mich gerade behandelt hat. Und das macht sie jedes Mal, wenn wir uns begegnen. Diese Frau hasst mich."
 

„Glaub‘ ich nicht. Rose ist einfach so. Sie hat bestimmt ihre Gründe", winkte Alice ab. Ich konnte nicht anders, als bitter aufzulachen. „Wenn sie mir die mal sagen könnte. Dann wüsste ich wenigstens, woran ich bin."
 

„Vielleicht sieht sie dich einfach als weibliche Konkurrenz. Du arbeitest ja immerhin mit ihrem Freund zusammen."
 

„Lächerlich", seufzte ich mit Blick in den blauen Himmel. Heute war es wirklich heiß. „Wo ist dein Auto?", wollte ich wissen, um schnell das Thema zu wechseln.
 

„Hab‘ ich bei dir vor der Tür stehen lassen. Ich dachte, du wärst zuhause, und als ich dich nicht angetroffen hab‘, bin ich zu Fuß die paar Blocks bis hierher gelaufen. Bei dem Verkehr würde ich wahrscheinlich jetzt immer noch nicht hier sein." Sie schüttelte verärgert den Kopf. Vielleicht war es für die anderen Fahrer sicherer, dass Alice zu Fuß gegangen war. Wenn sie Auto fuhr und wütend wurde, konnte sie zum Gorilla werden. Ich hatte es mehr als einmal erlebt.
 

„Ein Spaziergang bei Sonnenschein ist doch auch nicht schlecht, oder?", grinste sie und ging schon ein paar Schritte vor. Ich folgte ihr langsam.
 

Während wir gemächlich durch die Straßen Chicagos schlenderten, erzählte ich ihr noch einmal genau von der Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Jedes Wort, jede Pause, jeden Seufzer, jedes Schmunzeln. Sie hörte mir gespannt zu, fragte ständig Dinge nach, die ich dann zum gefühlten tausendsten Mal wiederholte und stellte immer wieder neue Thesen auf, was es mit all dem auf sich haben könnte. Obwohl mich ihre Meinung brennend interessierte, verlor ich irgendwann den Faden, als ich einfach stehen blieb und meinen Blick über das House of Blues wandern ließ. Die Bauart war auf eine gewisse Weise extravagant und gleichzeitig schlicht gehalten, modern und doch erinnerte es an die alten Farmhäuser, deren Dächer ebenso rundlich gebogen waren. Nur die blau-graue Farbe passte nicht in die Vergangenheit, sondern gehörte ins Hier und Jetzt.
 

„ ...endwelche Verschwörungstheorien anstelle ... Bella?"
 

Andererseits ... mit viel Fantasie hatte die Rundung auch Ähnlichkeit mit einem Pferdesattel. Aber auch nur dieses Modell. Insgesamt gab es das House of Blues in zwölf amerikanischen Städten, und überall hatte es eine andere Form. Vielleicht sollte ich mir vornehmen, jedes einzelne Mal zu besuchen. Immerhin war Dan Aykroyd einer der Gründer.
 

House of Blues ... Jeden Abend traten dort Bands auf. Alle möglichen Musikgruppen und nur die Créme de la Créme. Das würde ihm bestimmt gefallen ...
 

„ ...st du gesagt?"
 

Eine Hand fuchtelte vor meinen Augen umher. „Hallo! Jemand zu Hause?", hörte ich Alice‘ Stimme, ehe gleich darauf ihr Gesicht vor meinem auftauchte. Und bevor sie mir mit ihrer Faust gegen die Stirn klopfen konnte, wich ich zurück. „Was ist?"
 

„Ich hab‘ dich was gefragt", meinte sie mit schmalen Augen und verschränkten Armen.
 

„Ehrlich? Was denn?" Ich lächelte nervös und widerstand dem Bedürfnis, zurückzuweichen, als sie sich ziemlich dicht nach vorn beugte.
 

„Was du eben gesagt hast. Du hast irgendwas vor dich hingemurmelt. Irgendwas mit ‚würde ihm gefallen‘ oder so."
 

Ich hob die Augenbrauen, ich konnte mich nicht daran erinnern, so was gesagt beziehungsweise überhaupt etwas laut ausgesprochen zu haben. Ich wusste, dass ich etwas Ähnliches gedacht hatte. Aber auch verbal verkündet?
 

Die Verwirrung wich aus meinem Gesicht, stattdessen bildeten sich Falten auf meiner Stirn. Warum hatte ich überhaupt so etwas gedacht? Ich kannte keine einzige männliche Person, die sich eventuell dafür interessierte und für die sich ein Besuch in diesem Gebäude wirklich lohnen würde.
 

„Wen hast du gemeint?", zog Alice meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Ich konnte sehen, wie sie genauestens meine Gesichtszüge analysierte, um nicht das kleinste Detail meiner Gemütswelt zu verpassen. „Hast du etwa jemanden kennengelernt und mir nichts davon erzählt?"
 

„Blödsinn."
 

An dieser Stelle wurden ihre Augen groß, als wäre ihr gerade ein Geistesblitz gekommen. Allerdings wirkte sie plötzlich toternst und ein bisschen steif. „Oder ... hast du dich an was erinnert?"
 

„Nein, hab‘ ich nicht. An was auch? Ich kann mich nicht mal entsinnen, überhaupt was gesagt zu haben", erklärte ich ihr und war selbst nun diejenige, die sie musterte. Alice verhielt sich schon wieder so absonderbar. „Und selbst, wenn ich mich an was erinnern sollte", fügte ich hinzu, „wäre es mit Sicherheit nichts von Bedeutung, richtig?" Ich benutzte exakt die Worte, die sie damals zu mir gesagt hatte. „Du hättest es mir schließlich gesagt, wenn ich in der verlorenen Zeit jemanden kennengelernt hätte, oder?"
 

„ ...Ja, natürlich!", antwortete sie nach ein paar Sekunden Anteilnahmslosigkeit wie vor den Kopf gestoßen. „Sicher hätte ich das. Ich dachte nur, dass du ... vielleicht mal hierher wolltest. Und dass dir das eben wieder eingefallen ist." Sie lächelte entschuldigend, nur um gleich darauf wieder selbstbewusst emporzuschauen. „Außerdem hatte Dr. Cullen ja gesagt, dass es sein kann, dass dir gewisse Dinge nach und nach wieder einfallen. Die Chance ist zwar gering, aber nicht unmöglich."
 

Ich seufzte. „Ja, ich weiß, was er gesagt hat. Aber ich glaub‘ nicht wirklich daran. Wenn es passieren sollte, dann passiert es eben. Aber großartig Hoffnungen will ich mir jetzt nicht machen, nur, weil ich etwas gedacht oder gesagt hab, das ich mir nicht erklären kann."
 

Wir setzten unseren Weg fort, auch wenn wir dieses Mal schwiegen. Alice stellte keine neuen Grübeleien an, sondern wanderte stillschweigend neben mir her. Ständig hatte ich das Gefühl, sie wolle etwas sagen, doch soweit kam es nie. Kurz vorher schien sie immer wieder einen Rückzieher zu machen. Mir entging auch nicht, dass sie mich hin und wieder ‚unauffällig‘ observierte. Ich fand ihr Verhalten so dermaßen irritierend, dass ich beinahe etwas gesagt hätte, aber dann sah ich von weitem schon die Fußgängerampel, die zu meinem Apartmentblock führte und vor der sich das kleine Café befand. Auch Alice‘ Auto registrierte ich am Straßenrand.
 

„Hey, Alice. Ich geh‘ mir noch schnell einen Kaffee holen, ja? Willst du mitkommen oder wartest du kurz?"
 

„Ähm, ich bleib‘ draußen und genieß‘ die Sonne. Solange brauchst du ja nicht, oder?"
 

Ich schüttelte den Kopf. Um diese Uhrzeit war es meistens nicht voll hier, weil die Leute bereits auf der Arbeit waren, mit Coffee-to-go oder auch ohne. Als ich das kleine Bistro betrat, schellte die Glocke über der Tür in einem hellen, klaren Ton, der mich jedes Mal ein bisschen an diese feenhafte Melodie aus Filmen erinnerte, wenn sich der schimmernde Nebel lichtete und entweder ein Traum oder eine romantische Szene begann.
 

Vor dem schmalen Verkaufstresen hatte sich zu meiner Verblüffung eine kleine Schlange gebildet, in die ich mich gezwungenermaßen einreihte. Alice tat mir ein wenig leid, hatte ich doch gesagt, ich würde nicht lange benötigen.
 

Als ich zehn Minuten später wieder nach draußen kam, stand Alice kerzengerade mitten auf dem Gehweg, das Gesicht gen Himmel gestreckt und die Augen geschlossen. Dass immerzu Menschen um sie herumlaufen mussten, störte sie nicht im Geringsten. Mich wunderte ehrlich gesagt, dass sie noch niemand angerempelt hatte.
 

„Warum hast du solange gebraucht?", fragte sie, ohne auch nur einmal zu mir zu schauen, als hätte sie meine Anwesenheit erahnt.
 

„Es war ein bisschen voller als sonst."
 

Endlich stellte Alice sich wieder normal hin und blinzelte in meine Richtung. Ihr Blick wanderte an mir herab, bis er an einem mir unbekannten Punkt stehen blieb. So wie Alice schaute, schätzte ich auf Bauchhöhe. „Wieso hast du zwei gekauft? Hast du so viel Durst?"
 

Ich rollte nur mit den Augen und seufzte amüsiert. „Der eine ist für dich, also sei dankbar." Sie grinste.
 

Letztendlich schafften wir es dann doch noch in meine Wohnung, wenngleich ich mit jedem Schritt, den wir vorwärts gemacht hatten, unruhiger geworden war. Schon die ganze Zeit über war es das reinste Hin und Her. Erst hatte ich es gar nicht erwarten können, Alice die Nachricht vorzuspielen, dann hatte es mir plötzlich nichts ausgemacht, dass unser Heimweg so lange gedauert hatte und jetzt war ich regelrecht nervös, wenn ich daran dachte, dass ich die Nachricht noch einmal hören würde, sobald ich sie Alice präsentierte. Seit Sonntag hatte ich sie nicht mehr abgespielt gehabt.
 

„Hier, dein Tee." Ich stellte die beiden Becher auf dem Küchentresen ab und ging hinüber ins Bad, um mir ein paar Tabletten gegen die Kopfschmerzen zu holen, die schon den ganzen Vormittag kontinuierlich unterschwellig gegen meine Schädelwand pochten.
 

Als ich wieder zurückkam, hatte sich Alice mit den Unterarmen auf den Tresen gelehnt und sah mich nun erwartungsvoll an. Ich blieb wie angewurzelt stehen, erwiderte ihren Blick und hielt es nach ein paar längeren Augenblicken nicht mehr aus. „Was ist?", fragte ich mit einem Schmunzeln.
 

„Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich normalen Kaffee trinken würde? Noch dazu komplett schwarz?"
 

Für einige Sekunden wusste ich nicht genau, was sie wollte, weshalb sie mit einem Nicken auf den Becher vor sich deutete. „Du weißt schon noch, dass ich nur Chai Latte trinke, oder?"
 

„Natürlich weiß ich das. Deshalb hab‘ ich dir das ja auch mitgebracht."
 

„Wenn das Chai Latte sein soll, dann bin ich Marilyn Manson", stellte sie fassungslos klar und tippte aberdeutlich mit dem Finger auf das Pappgefäß. Meine Augen wurden groß, als ich zu ihr hinüberlief und den Deckel entfernte.
 

Tatsächlich. Schwarzer Kaffee. „Das verstehe ich nicht. Ich hab‘ doch ... Ich bin mir sicher, dass ich einen Chai Latte bestellt hab‘."
 

„Tja, offenbar ist er etwas dunkel geraten."
 

Ich wollte gleich meinen eigenen kontrollieren, als Alice meine unausgesprochene Frage schon beantwortete. „Du hast deinen geliebten Moccacino."
 

Peinlich berührt lächelte ich ihr entgegen und zuckte mit den Schultern. „Eigentlich bin ich mir sicher, das Richtige bestellt zu haben. Ich kann's mir nur so erklären, dass die Verkäuferin das Falsche zubereitet hat."
 

„Was auch immer. Aber wenn ich nicht bald mein Tein bekomme, tanz‘ ich dir irgendwann auf dem Kopf herum. Nur, damit du's weißt. Fünf Stunden Dauerautofahren war nicht prickelnd." Erschöpft legte sie ihren gesamten Oberkörper über den Küchentresen und vergrub grummelnd ihr Gesicht zwischen den Armen. Oh je, ich sollte mich wirklich beeilen, irgendwo Tee aufzutreiben. Ich wollte nicht unbedingt noch mal hinüber ins Café, also hoffte ich, in dieser Wohnung irgendwo noch was zu finden. Man konnte es kaum glauben, da Koffein die Leute normalerweise noch aufgedrehter machte, aber Alice beruhigte es seltsamerweise.
 

„Sag‘ mal, was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte", fing ich an und suchte in den Schränken nach irgendwas, das nach Tee aussah, „musst du heute nicht arbeiten?"
 

Ihr Kopf schüttelte sich und ihre Worte waren nur gedämpft zu hören, weil ihr Gesicht immer noch zwischen ihren Armen klemmte. „Ich hab‘ das Atelier heute geschlossen. Ich bin mein eigener Chef, da kann ich machen, was ich will. Und das hier war eben wichtiger."
 

Ich musste schmunzeln. „Ja, aber fünf Stunden Autofahrt dafür in Kauf nehmen?"
 

„Du weißt doch, wie gern ich fahre", grinste sie. „Aber wo wir schon mal dabei sind. Ich würd‘ mir die Nachricht jetzt gern anhören."
 

Sofort wurde ich einen Tick nervöser. „Sicher. Du weißt ja, wo das Telefon steht."
 

Träge erhob sich Alice vom Tresen und schlenderte zum besagten Gerät, während ich immer noch damit beschäftigt war, nach Tee zu suchen. Als ich endlich einen fand, war es nur schwarzer Darjeeling. Aber wenn sie ein bisschen Milch hineintat, war es doch fast das Gleiche, oder?
 

Bevor ich Wasser aufstellte, ging ich schnell zu meiner Handtasche, um dort nach Tabletten zu suchen. Im Apothekenschrank hatte ich vorhin nichts gefunden gehabt. Als ich sie dann jedoch öffnete, hielt ich augenblicklich inne. Eine ganze Weile starrte ich hinein, ehe ich endlich nach der Blume griff und diese herausholte. Ihr Stiel war fein säuberlich in eine Handserviette eingewickelt. Es war eine Gerbera und die Blüte selbst war gelb, während der innere Kreis in einem kräftigen Orange leuchtete. Ich liebte diese Blume wirklich sehr, vor allem, weil das Café gegenüber nur diese Sorte auf ihre kleinen Tische stellte. Das Einzige, was sich stetig änderte, waren die Farben.
 

Natürlich fragte ich mich, warum sie sich in meiner Tasche befand, aber was ich daran noch abstrakter fand, war, dass sie genau die Farbe hatte wie jene, die heute in dem Bistro verteilt gewesen waren. Konnte sie mir jemand zugesteckt haben? Aber wann sollte das passiert sein?
 

Bevor ich irgendwie weiter spekulieren konnte, stand Alice plötzlich wieder vor mir und hatte die Augenbrauen tief zusammengezogen. „Sag‘ mal, Bella. Hast du die Nachricht gelöscht?"
 

„Was? Nein, wieso sollte ich?"
 

„ Na ja, der Anrufbeantworter ist jedenfalls leer."
 

Ich verengte die Augen und ging hinüber zum Telefon. „Das kann gar nicht sein. Ich bin da überhaupt nicht mehr rangegangen. Sonntag hab‘ ich es nur dieses eine Mal gehört. Seitdem hab‘ ich einen großen Bogen darum gemacht." Ich betrachtete das Telefon mit dem eingebauten AB. Dass das kleine rote Lämpchen, das neue Nachrichten anzeigte, nicht leuchtete, war die erste Auffälligkeit. Und als ich den Play-Knopf drückte und mir von der elektronischen Stimme gesagt wurde, dass keine neuen Mitteilungen existierten, war ich vollends verwirrt.
 

Was hatte das zu bedeuten? Wie konnte eine Nachricht verschwinden, wenn ich die Einzige in dieser Wohnung war und noch dazu das Telefon keines einzigen Blickes mehr gewürdigt hatte?
 

Ich verstand überhaupt nichts mehr. Hilfesuchend drehte ich mich zu Alice um, obwohl ich fast sicher war, dass sie mir bei diesem Problem auch nicht helfen konnte. Ich betrachtete wieder das Telefon und meine Anspannung stieg. Bevor ich aber noch irgendetwas machen oder sagen konnte, traf mich unvorbereitet eine Kopfschmerzattacke, welche die vom letzten Mal noch ein bisschen übertraf. Vor meinen Augen blitzten immer wieder weiße Pünktchen auf, deren Anzahl stetig größer wurde und mir ein Schwindelgefühl ohnegleichen bescherte. Ich stützte mich noch kurz an der Wand ab, ehe mich der Schmerz in die Knie zwang und ich meinen Fall noch einigermaßen kontrollieren konnte, bevor mein Bewusstsein mich gänzlich verließ.

Concatenated

Way~, ein druckfrisches neues Chapter ist da! :'D Ich hoffe, ihr freut euch ...
 

Vielen Dank an vampgirly89 für den Kommi ;))
 

Bussi auch noch an dubby für die tolle Beta-Arbeit :D THX honey c~ ...
 

So, und euch jetzt viel Spass!
 

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Concatenated
 


 

Warm …
 

Das Gefühl schien mich zu umhüllen. Aber die Quelle … Sie befand sich in meiner Handfläche …Es war angenehm, entspannend. Ich fühlte mich leicht. Dort, wo die Wärme lag, fing es an zu kribbeln. Ganz fein. Meine Finger zuckten kurz, ich vermochte aber nicht, sie noch mehr zu bewegen, aus Angst, das Gefühl würde dann verschwinden. Ich wollte es länger genießen.
 

Die Wärme begann sich fortzubewegen. Doch sie verließ mich nicht. Ihr Ursprung blieb in meiner Hand, während sie sich über die Innenfläche meines Unterarms ausbreitete und die kitzelnde Empfindung mit sich zog. Strafend langsam, als wollte es meine Geduld testen. Ich unterdrückte den Drang, meinen Arm zurück zu ziehen.
 

Ich wollte es weiterhin spüren; die schwebende Berührung, die im Sekundentakt meinen Arm empor kroch und mich einen bittersüßen Schauer nach dem anderen erfahren ließ.
 

Ein Schmunzeln, so fern und doch so nah, als würde es direkt neben meinem Ohr passieren, ließ mich wohlig erschaudern.
 

Das warme Kribbeln erreichte meine Schultern, meine Halsbeuge, mein Schlüsselbein. Es fuhr dermaßen behutsam den Knochen auf und ab, dass ich mir fast nicht sicher war, überhaupt eine Berührung wahrzunehmen. Sekunden später setzte sie ihren Weg fort, streichelte über meinen Hals, meinen Kehlkopf, stoppte unter meinem Kinn und bewegte sich dann entlang meinem Kiefer.
 

Mein eigener Seufzer klang meilenweit entfernt. Gekicher. Wunderschön. ‚Bella …‘

Die Stimme, die meinen Namen aussprach, war klar und angenehm … Und kräftig. Eigentlich. Das sollte sie meiner Erinnerung zufolge sein, aber so klang sie dieses Mal nicht. Eher als wäre sie direkt neben mir und doch so, als würde sie durch einen dicken Schleier reden. Als würde sie in der Luft schweben. Ihr fehlte die gewohnte Festigkeit.
 

Aber sie war dennoch friedlich, unbefangen. Sie ließ mich zur Ruhe kommen.
 

Die Vision vor meinen Augen war undeutlich, verschwommen. Ich konnte nur Schemen erkennen – und Farben. Etwas schimmerte kupfern, rötlich durch das gleißende Licht dahinter. Konturen wurden kräftiger, ein Gesicht zeichnete sich ab. Aber es war noch zu trüb, als dass ich es richtig hätte identifizieren können.
 

Die Wärme war bis zu meiner Wange vorgedrungen und ruhte nun dort. Kurz schien sie sogar über meine Lippen zu zeichnen, ausgehend von meinem Mundwinkel, um ebendort wieder zurückzukehren. Unter meiner Haut pulsierte das Blut. Mein Herzschlag stieg rasant an, je mehr ich mich bemühte, präzisere Linien zu erfassen.
 

Ich wollte das Gesicht berühren, ich wollte es ertasten. Meine Hand hob sich wie von selbst.
 

Wieder dieses Giggeln. ‚Bells … Wach auf …‘
 

Meine Hand hatte ihr Ziel fast erreicht und hielt dann inne, als mich etwas Nasses traf. Tropfen auf meiner Wange, meinen Lippen, meinen Lidern. Ich musste blinzeln. Regnete es?
 

Es schmeckte salzig und warm. Es war kein Regen … Tränen? Weinte die Person über mir? Aber warum? Sie lachte doch.
 

Meine Hand nahm die Bewegung wieder auf. Ich wollte das Gesicht sehen, ich wollte den Ausdruck darin betrachten. Ich wollte den Grund für die Trauer verstehen.
 

Je mehr sich meine Fingerspitzen dem Ziel entgegenstreckten, desto klarer schien der Nebel zu werden. ‚A …‘, formten meine Lippen stumm.
 

„Bella, wach auf!“
 

Alice?
 

Ich blinzelte erneut und der Schleier schien nun endgültig seine Wirkung zu verlieren. Ihre Miene wurde von Sekunde zu Sekunde deutlicher. Ebenso ihr Schluchzen. In ihren Augen glänzten die Tränen.
 

Mein Arm hing verloren in der Luft. Mein Blick verweilte kurz auf ihm, dann wieder auf dem schwarzhaarigen Mädchen. „Alice …“
 

„Gott sei Dank, Bella“, wischte sie sich die Augen trocken. Die Szene kam mir seltsam bekannt vor.
 

„Was-“, begann ich, wurde aber von dem Klingeln an der Tür unterbrochen. Alice sprang auf die Füße und eilte zum Eingang. Ich fühlte mich noch immer leicht benommen, als ich mich auf meine Ellenbogen stützte und mich umsah. Ich lag mitten im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Unter meinen Fingerkuppen spürte ich die vertraute Weichheit des dunkelroten Teppichbodens.
 

„Miss Swan?“

Alice kam mit zwei fremden Männern zurück – einer in weiß-rot, der andere in hellblau gekleidet –, während ich etwas umständlich versuchte, mich zu erheben. Das Schwindelgefühl kam zurück und ließ mich mitten in der Bewegung schwanken, als mich Hände von beiden Seiten packten und mich vorsichtig zur Couch bugsierten. „Ganz langsam“, sprach einer der Männer in Sanitäterkleidung. Der andere setzte sich neben mich. „Ich bin Dr. Wright. Was genau ist passiert?“
 

Einen Moment lang starrte ich mein Gegenüber, das sich in den späten Dreißigern befinden musste, nur an und betrachtete die schwarzen Pupillen mit der graugrün schimmernden Iris, die sich nur minimal hin und her bewegten und mich aufmerksam musterten. Als Alice anfing, aufgeregt zu erzählen, senkte ich meinen Blick und versuchte mich an die letzten Minuten – wie lange war ich bewusstlos gewesen? – zu erinnern. Während ich ihr lauschte und versuchte, das Geschehen mit meinen eigenen Erinnerungen zu rekonstruieren, kontrollierte der Arzt mit einer kleinen Taschenlampe meine Augen und betastete meinen Kopf. „Wie fühlen Sie sich? Tut Ihnen irgendetwas weh? Haben Sie Schmerzen?“
 

Ich dachte kurz nach; die plötzlichen Kopfschmerzen vor meiner Ohnmacht waren verschwunden. Ich schüttelte langsam meinen Kopf. „Es pocht nur noch ein bisschen hinter meiner Stirn und …“, ich befühlte die Seite meines Schädels, „hier bekomme ich wohl eine Beule.“

Dr. Wright tastete ebenfalls nach der Stelle und nickte mit einem kleinen Lächeln. „Sonst nichts?“

„Ein bisschen schwindelig?“

Er nickte abermals, während der Sanitäter ihm wortlos ein Pulsmessgerät überreichte.
 

„Ist das schon häufiger passiert?“, fragte er, doch dieses Mal nicht mich, sondern Alice, die sich entschlossen hatte, sich an meine freie Seite zu setzen. „In letzter Zeit scheint sie wohl öfter Kopfschmerzen zu haben.“
 

„Aber die sind genauso schnell vorbei, wie sie gekommen sind“, lenkte ich ein. Alice zuckte mit den Schultern und nahm meine Hand fest in ihre. „Ich hab nur Angst, dass es Nachwirkungen von deinem Unfall sind.“
 

„Was für ein Unfall?“, fragte Dr. Wright mit ruhiger Stimme, während er meinen Puls kontrollierte.

„Der ist schon eine ganze Weile her“, erklärte ich schnell, aber Alice‘ Antwort übertönte meine. „Ein Autounfall, nach dem sie drei Monate im Koma lag.“
 

„Ja, und mittlerweile ist schon wieder ein halbes Jahr vergangen.“
 

Der Arzt sah mich verständnisvoll an. „Leider lässt sich nicht vorhersehen, ob und wenn ja, wie und wann diverse Folgen auftreten. Es gibt Fälle, bei denen erst Jahre später Erkrankungen ausbrechen, bei anderen tritt nie etwas auf. Man sollte bei diversen Anzeichen lieber auf Nummer sicher gehen.“
 

Alice schenkte mir einen Ich-hab’s-dir-ja-gesagt-Blick, woraufhin ich nur die Augen verdrehen konnte. Dr. Wright derweil hatte seine Untersuchungen beendet. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie gern für weitere Untersuchungen mitnehmen.“
 

„Was?“, rief ich erschrocken aus. Ärzte hatten ständig diese Angewohnheit, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. „Muss das sein? Mir geht’s wirklich schon viel besser. Ich glaube nicht, dass die Kopfschmerzen so schnell wieder auftauchen werden. Und außerdem: Es sind nur Kopfschmerzen, mehr nicht“, lächelte ich ihn zuversichtlich an.
 

„Ja, von denen du eben umgekippt bist“, mischte sich Alice ein. Manchmal kam sie mir wirklich wie eine Glucke vor.
 

„Ehrlich gesagt wäre mir wirklich wohler dabei“, stärkte ihr Dr. Wright den Rücken, doch ich ließ mich nicht beirren. „Wirklich, das ist nicht nötig. Alice ist sowieso bei mir, und sollte wieder etwas passieren, werde ich sofort die nächste Klinik aufsuchen.“
 

„Bella!“, mahnte mich meine beste Freundin.
 

Der Arzt sah mich eine lange Zeit nachdenklich an, als wollte er versuchen, mir allein mit seinem Blick ins Gewissen zu reden. Letztendlich gab er es aber auf und seufzte. „Na, schön. Wir wäre es damit? Ich werde Sie heute nicht mitnehmen. Dafür versprechen Sie mir aber, dass Sie in den nächsten Tagen auf jeden Fall einen Arzt aufsuchen werden. Am besten wäre natürlich der zuständige Arzt, der Sie bei Ihrem Unfall behandelt hat.“
 

„Aber der arbeitet in Detroit.“
 

Alice schüttelte halb grinsend den Kopf. „Kein Problem. Du kommt dann einfach zu mir und wir können gemeinsam zu Dr. Cullen gehen.“
 

Der Arzt schien damit ebenfalls einverstanden; er nickte, als er sich von seinem Kollegen eine Plastikdose überreichen ließ, um sie anschließend mir zu geben. „In der Zwischenzeit nehmen Sie diese Tabletten, falls sich erneut Kopfschmerzen bemerkbar machen sollten. Und wenn wieder etwas passier-“
 

„Dann werde ich sofort in das nächste Krankenhaus laufen“, schnitt ich ihm das Wort ab. Also wirklich, ich war doch keine drei mehr.
 

„Bella, du könntest das wirklich ein bisschen ernster nehmen.“
 

Ich klopfte Alice beruhigend auf die Schulter, während ich mich zu einem halben Lächeln zwang. „Tu‘ ich doch.“
 

„Na, gut. Ich denke, in diesem Fall werden wir uns wieder auf den Weg machen.“ Dr. Wright erhob sich, sein Assistent hatte die Utensilien bereits wieder in dem großen roten Plastikkoffer verstaut. Meine Freundin stand ebenfalls auf und begleitete sie zur Tür, während sie mir bedeutete, sitzenzubleiben.
 

„Danke, dass Sie so schnell gekommen sind“, sagte sie noch zu den beiden Männern, ehe sie diese verabschiedete und die Tür wieder verschloss.
 

Als sie zurückkam, senkte sie den Kopf, stützte die Arme in die Seite und atmete tief aus, nur um im nächsten Moment die Hände aufs Gesicht zu legen und den Kopf zu schütteln. „Du bringst mich noch mal um“, nuschelte sie und schaute mich dann resigniert an.
 


 

Hätte ich geahnt, dass ich mich vierundzwanzig Stunden später auf dem Beifahrersitz einer kleinen gelben Nussschale befinden würde, hätte ich mich genauso gut von den Sanitätern mitnehmen lassen können. Lange Reisen im Auto bekamen meinem Magen nicht sonderlich gut. Vielleicht hätte ich Alice aber auch zusammen mit den beiden rausschmeißen sollen. Dann wäre mir diese Tortur erspart geblieben. Der kleine Teufel war ja nicht gerade die rücksichtsvollste Fahrerin; Gott sei Dank besaß sie nur dieses winzige Auto, mehr PS wären nicht verkraftbar gewesen.
 

Aber was tat man nicht alles für seine beste Freundin? Und so sehr, wie sie mich gestern und heute bemuttert hatte, war es unausweichlich gewesen, dass ich irgendwann nachgeben würde. Selbst als ich ins Bett gegangen war, hatte ich ihr mindestens zehnmal versichern müssen, dass es mir auch wirklich gut ging. Solche Situationen gehörten zu denen, bei welchen man Alice lieber nicht die Stirn bot, sofern man zu wenig Durchhaltevermögen besaß.
 

Vielleicht gab es auch einen klitzekleinen Teil in mir, der selbst gern wissen wollte, was los war.
 

Und außerdem … war da noch Detroit. Es hatte etwas Nostalgisches, meine alte Heimatstadt zu besuchen, auch wenn gemischte Gefühle dabei eine Rolle spielten.
 

„Alice, nicht so schnell“, bat ich sie versucht ruhig. „Wir haben Zeit.“ Oh ja, die hatten wir. Denn ohne mein Wissen hatte sie einfach Mr. McCarty angerufen und ihn um ein paar freie Tage für mich gebeten. Oder sollte ich eher ‚informiert‘ sagen? Alice fragte nicht, Alice legte fest. Mein Boss hatte ja ohnehin nichts dagegen.
 

Aber im Augenblick hatte ich keine Zeit, mich darüber aufzuregen, ich musste mich vielmehr darauf konzentrieren, die nächsten fünf Stunden mein Essen im Körper zu behalten. Auch wenn Alice die Geschwindigkeit bereits gedrosselt hatte.
 

„Du weißt schon noch, dass der Arzt in den nächsten Tagen gesagt hat, oder?“, erinnerte ich sie.
 

„Und ich hoffe, du weißt noch, dass er auch meinte, dass man so was nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.“
 

Meine Antwort wurde im Keim erstickt, als Alice‘ Auto kurz ruckelte. Ich riss die Augen auf. „Hast du gerade ein Tier …? War das eben …“
 

„Das war nur ein kleiner Ast, okay? Alles gut“, grinste sie. „Aber mal ernsthaft, noch langsamer kann ich wirklich nicht fahren. Mit dreißig Meilen pro Stunde würde sich die Fahrt nur unnötig hinauszögern.“
 

Unnötig hinauszögern war wohl untertrieben, aber Alice hatte Recht. Ich sollte mich zusammenreißen. Auch wenn ich mein Einverständnis zu dieser Fahrt fast schon wieder bereute. „Nächstes Mal fliege ich.“
 

„Ich wusste gar nicht, dass du so viel verdienst.“
 

„Mein Boss ist dein Bekannter. Du kannst ihn ja mal nett fragen. Bei dir sagt er ja sowieso nie Nein“, erwiderte ich vorwurfsvoll.
 


 

Als wir endlich bei Alice angekommen waren, senkte sich langsam die Sonne gen Horizont und ließ den Himmel orange leuchten. Es war nicht das Orange, das man meistens am Himmel erblicken konnte, es hatte heute ganz eigene Farbnuancen, die ich in dieser Art und Weise bisher nur selten gesehen hatte. Der Himmel war zum größten Teil mit Cumuluswolken bedeckt, sodass sich das Licht der Sonne nicht nur in einem schmalen Bogen über dem Horizont erstreckte, sondern die ganze ehemalige weiße Pracht in ein Meer aus Rot- und Gelbtönen tauchte. Eine Wolke schöner als die andere. Allein der Anblick bescherte mir ein warmes Gefühl, und in meinem Innern hegte sich der Wunsch, mich trotz der Jahreszeit in die flauschige Watte zu legen.
 

Ich blieb einige Augenblicke vor der Eingangstür stehen, um den Anblick ein bisschen länger zu genießen. Ich nahm nur am Rande wahr, wie Alice meine Sachen aus dem Auto holte und hineintrug.
 

Wunderschön, oder?
 

„Ja …“, seufzte ich und konnte meinen Blick nicht abwenden.
 

Fühlt sich bestimmt ganz weich an.
 

Ich musste grinsen. „Bestimmt. Wenn man kurz vergisst, dass sich da oben eigentlich nur Luft befindet … Was gäbe ich nicht dafür, einmal dem Wunsch nachgeben zu können.“
 

Wünsche sind da, um erfüllt zu werden.
 

Ein warmer Lufthauch streifte meinen Nacken und ließ mich angenehm frösteln; für ein paar Sekunden war ich der Meinung, etwas würde über meine Arme streicheln. Ich rieb sie mir und blieb noch einen Moment stehen, ehe ich mich umdrehte und überrascht die Stirn runzelte. Alice musste sich ziemlich schnell still und heimlich nach drinnen geschlichen haben.
 

Ich betrat das Gebäude, das im Gegensatz zu vielen anderen in der Stadt nur aus zwei Stockwerken bestand, dafür aber dennoch ziemlich groß war. Mir war es schleierhaft, wie Alice und Jasper die Miete hierfür aufbringen konnten. Im Erdgeschoss befand sich das Atelier, in dem Alice ihr meiste Zeit verbrachte – wenn ich mich recht erinnerte, gab es hier irgendwo sogar noch einen Raum, in dem ihr Freund seinem Hobby nachgehen konnte, wenn er denn mal Zeit hatte. Er hatte einen Hang für alte Schlachten aus der Vergangenheit und baute diese als Miniaturlandschaften mit allem drum und dran nach. In den paar Malen, in denen ich seine Werke bewundern dufte, war ich immer wieder fasziniert gewesen von der detailgetreuen Nachbildung jedes einzelnen Objekts oder Figur.
 

Alice‘ Atelier war ein einziger, großflächiger Raum, der nur durch ein paar Wände kreuz und quer getrennt wurde, aber keine schließenden Türen besaß. Die meisten gelben Flächen waren mit ihren Werken behangen; Interessierte konnten sich hier umsehen und bei Gefallen einzelne Stücke kaufen.

Die Bilder, die meine schwarzhaarige Freundin zeichnete, waren … nun ja, was genau sie darstellten, konnte ich auch nicht wirklich sagen. Es war nicht so, dass man überhaupt nichts erkannte, mit ein bisschen Fantasie ließen sich durchaus gewisse Formen erkennen. Ich hatte Alice einmal gefragt, wie sie bei jedem neuen Kunstwerk auf die jeweilige Idee kam, und sie hatte gemeint, dass sie die Bilder einfach plötzlich im Kopf hätte. Sie nannte sie immer ihre kleinen Visionen, weil sie so unklar waren. Doch bisher konnte sie mir nicht sagen, welche Vision was bedeutete. Sie redete sich dann immer damit heraus, dass es auf den Betrachter ankäme.
 

Eine Ecke des großen Raumes ließ ganz deutlich erkennen, dass genau dort all diese Visionen entstanden. Schemel, Tisch, Hocker, Staffelei, Boden … Alles war kunterbunt mit Farben bedeckt. Hier und dort standen Töpfe mit Wasser, jede Menge Pinsel in den unterschiedlichsten Farben, Abdeckfolie hing irgendwo, Farbtuben und -eimer, Mischpaletten, Tischtücher … Das Genie beherrscht das Chaos.
 

Um in Alice‘ Apartment zu gelangen, musste man das Atelier durchqueren, bis man am Ende im hinteren Flur auf eine Treppe traf, die in den ersten Stock führte. Als ich oben ankam, saß die besagte Person bereits mit einer Decke auf der Couch; vor sich auf dem Tisch zwei Tassen mit einer dampfenden Flüssigkeit.
 

Die Wohnung hatte genau wie meine eigene einen offenen Wohnbereich, nur Schlafzimmer und Bad waren extra gehalten. Dass hier jemand Kreatives hauste, war nicht zu übersehen, und trotzdem wirkte es nur halb so durcheinander wie unten in der Kunstecke. Alles in allem also ein Ort zum Wohlfühlen. Manchmal fühlte ich mich hier sogar wohler als bei mir selbst in Chicago. Aber vielleicht lag das auch daran, dass ich zuhause allein war. Fernab von meinen Freunden.
 

„Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du würdest die Nacht draußen verbringen“, grinste Alice mich an, nahm sich ihr Getränk und pustete kurz, bevor sie einen kleinen Schluck trank. „Ich hab‘ uns Tee gemacht.“ War ja klar, lächelte ich innerlich.
 

„Soso, sich heimlich hineinstehlen und sich dann auch noch den besten Platz auf dem Sofa ergattern.“
 

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hab‘ dir gesagt, dass ich schon reingehe. Du wolltest dir ja unbedingt noch den Sonnenuntergang ansehen, während ich mich mit deinen Sachen abmühe.“
 

„Wann soll das denn gewesen sein? Du bist doch nur kurz vor mir rein“, fragte ich verwundert nach. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, etwas in der Richtung von ihr gehört zu haben. Allerdings konnte ich mir gut vorstellen, es überhört zu haben. Sie hatte ja vorher schon geflüstert gehabt.
 

„Bella, ich bin schon seit zehn Minuten in der Wohnung“, erklärte Alice dann und jagte mir ungewollt einen Schauer über den Rücken. Ich starrte sie an. „Bist du dir sicher?“
 

„Mindestens“, nickte sie. „Was ist los? Warst du so vertieft, dass du die Zeit vergessen hast?“
 

Der Gedanke, dass ich mich eben nicht mit Alice unterhalten hatte, machte mir Angst. Wenn nicht sie hinter mir gestanden hatte, wer denn dann?
 

„Bella?“
 

„Hm?“, schoss mein Kopf in ihre Richtung. Schnell besann ich mich und winkte ab. „Schon gut. Kann schon sein, dass ich ein bisschen abgelenkt war. Lass uns fernsehen.“ Damit schmiss ich mich auf die freie Stelle auf der Couch, schnappte mir ein Stück von Alice‘ Decke und schaltete den TV ein, während ich versuchte, meine momentanen Gedanken in die hinterste Ecke meines Gehirns zu verdrängen. Alice‘ Seitenblick entging mir nicht.
 


 

Die Nacht über schlief ich ziemlich unruhig. Immer wieder tauchte der Sonnenuntergang auf, eine Stimme hinter mir wisperte Dinge in mein Ohr, die ich nicht verstand, die orange Farbe der Wattewolken verwischte, wurde dunkler, leuchtete dann wieder kurz auf, nur um im darauffolgenden Moment schwarz zu werden. Ich sah eine Hand nach mir greifen und immer wieder versuchte ich, mich ihr zu entziehen. Panik kroch meinen Nacken empor, jedes Mal, wenn es mir nicht gelang und ich stattdessen ein Stückchen näher herangezogen wurde. Wie von einem unsichtbaren Band oder einem Magneten. Und dann ganz plötzlich setzte ein Platzregen ein, so stark, dass er alles um mich herum verwischte oder eher auflöste, bis nichts weiter als die kräftigen Linien der Tropfen zu sehen waren. Regen, der sich um meine Füße sammelte, das Wasser um mich herum ansteigen ließ, während ich mich keinen Millimeter von der Stelle bewegen konnte. Als hätte jemand meine Füße in Beton gegossen. Schon nach Sekunden hatte das Wasser mein Kinn erreicht. Ich wollte schreien, aber kein Laut wich aus meiner Kehle und ehe ich noch etwas hätte tun können, war ich auch schon voll und ganz unter der Wassermasse verschwunden.
 

Schweißgebadet schrak ich im Bett hoch und atmete tief durch. Erst, als ich mir sicher war, auch wirklich atmen zu können und mich davon überzeugt hatte, dass es wirklich nur ein Traum gewesen war, beruhigte ich mich. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es halb vier morgens sein musste. Ich drehte mich zur anderen Seite, um zu sehen, ob ich Alice wohlmöglich geweckt hatte, doch sie schlummerte seelenruhig vor sich hin.
 

Da Jasper nicht zuhause war, durfte ich seine Seite des Bettes nutzen. Ich glaubte auch nicht daran, dass Alice etwas anderes zugelassen hätte, selbst wenn er dagewesen wäre.
 

In meinem Kopf pochte es schon wieder, bis jetzt hielt es sich aber noch im Rahmen. Ich massierte kurz meine Schläfen und die Stirn, bis ich mich dazu entschloss, eine der Tabletten zu nehmen, die mir der Notarzt gegeben hatte. Sicher war sicher, und bevor die Schmerzen schlimmer wurden und Alice wieder die 911 wählen würde, entschied ich mich lieber für diese Variante.
 

Vorsichtig stieg ich aus dem Bett und verließ auf Zehenspitzen das Schlafzimmer. Im Wohnbereich schaltete ich nur eine der Seitenlampen ein, um nicht die gesamte Wohnung zu erleuchten. Das schwache Licht würde mir reichen, um in meiner Handtasche nach der Dose zu kramen. Doch schon nach ein paar Minuten musste ich feststellen, dass sie sich nicht dort befanden. „Verdammt!“, fluchte ich leise vor mich hin, überlegte, wo ich sie seit gestern gelassen hatte, und kam frustriert zu der Erkenntnis, dass sie in Alice‘ Auto lagen. Auf der Hinfahrt hatte ich nämlich schon eine der Tabletten geschluckt gehabt.
 

So leise wie möglich zog ich mir eine Jacke über, schlüpfte in meine Schuhe und schnappte mir den Schlüssel, der in einer Schale auf dem Garderobenschrank lag. Unten im Atelier machte ich ebenfalls nur schwach gedimmtes Licht an. Was sich aber als Fehler herausstellte, denn anderenfalls wäre ich nicht auf den großen Pinsel getreten, der auf dem Boden lag. Ich hob ihn auf und fragte mich, wie er wohl hierher gekommen war. Mir fielen ein paar Farbkleckse auf dem Boden auf, die aber schon älter sein mussten. Ich sah mich kurz um, ehe die Kunstecke in mein Sichtfeld geriet. Da er ganz offensichtlich von dort stammte, ging ich darauf zu. Vorsichtig legte ich ihn auf dem überfüllten Tisch ab und ließ meinen Blick kurz über das farbenprächtige Chaos schweifen. Ein angefangenes Bild lag in der Staffelei, weitere standen ringsum. In diesem Moment fiel mir ein abgedecktes Bild auf, das an der Wand lehnte. Als wäre es unwillkommen. Mit Bedacht versuchte ich es herauszuziehen, musste dabei aber ziemlich aufpassen, nicht irgendwo gegen zu rempeln. Hier war fast jeder Zentimeter Boden mit irgendeinem Gegenstand bedeckt. Mich wunderte, dass Alice hier überhaupt stehen konnte, während sie zeichnete.
 

Als ich das Bild ohne viele Umstände endlich aus der Ecke geholt hatte, lehnte ich es vorsichtig gegen eines der Holzbeine der Staffelei. Zaghaft, als würde ich ein rohes Ei anfassen, hob ich das schmutzige Tuch empor. Meine Augen weiteten sich vor Verblüffung, als ich sah, was sich auf dem Bild befand. Das hieß nicht, dass ich sonderlich viel ausmachen konnte. Allerdings fühlte sich der Ausdruck der Farben ganz anders an als beim Rest von Alice‘ Kunstwerken. Bei diesem hier waren vor allem viele dunkle Rottöne und Schwarz vorhanden, hin und wieder vielleicht ein Schimmer blau oder grau. Die Formen waren nicht klar zu erkennen, obwohl ich meinte, in einem der Flecken ein Paar Augen zu entdecken. Was aber definitiv deutlich wurde, war der aggressive Pinselstrich, der sich durch das gesamte Gemälde zog. Unruhig, fiebrig und irgendwie … zerrüttet.
 

Ganz unten in einer Ecke waren Alice‘ Initialen zu lesen, sowie das Datum. März 2010.
 

„FINGER WEG!“
 

Bei ihrem Schrei gefror mir das Blut in den Adern. Vor Schreck drehte ich mich viel zu schnell um meine eigene Achse und stieß gegen das Bild, sodass es mit lautem Poltern zu Boden ging und dabei ein paar Pinselbecher mit sich riss.
 

Als ich in das schwach erleuchtete Antlitz meiner besten Freundin blickte, wich jegliche Farbe aus meinem Gesicht. So hatte ich sie noch nie gesehen.
 

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Auf eure Meinungen freu ich mich natürlich wie immer ;)

Confessing

HA! Ihr hättet bestimmt nicht mehr mit einem neuen Chapter in diesem Jahr gerechnet, oder? :''D Tja, aber diesen Monat war ich so schreibwütig, deshalb gibt es doch noch eines.
 

Much much love geht mal wieder an meine Beta dubdug, die ich mit diesem Kapitel schocken konnte!
 

Vielen Dank für eure Revs!
 

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Confessing
 


 

Tick … Tack … Tick … Tack …
 

Das Geräusch der Uhr war seit der letzten halben Stunde das einzige in diesem Raum. Mit jedem Zeigerschlag kam es mir lauter vor. Als würde es in meinem Kopf pochen, so durchdringend war es. Schwer und unaufhaltsam. Fast schon einem Dröhnen gleich unterstrich es die angespannte Stille, die zwischen mir und meinem Gegenüber herrschte.
 

Ich vermochte nicht meinen Kopf zu heben. Stattdessen konzentrierte ich mich auf den Dampf, der unregelmäßig aus meiner Tasse waberte und mein Gesicht streifte. Meine Finger waren um das Porzellan gewickelt und trotz der Hitze drückten sie nur fester auf das Material. Man hätte einen Spiegel aufstellen können, so ähnlich hatte sich Alice positioniert. Im Gegensatz zu mir kaute sie allerdings auf ihrer Unterlippe.
 

„Hör zu, ich-“ – „Bella, das vorhin-“
 

Wir hielten beide inne, schauten uns für ein paar Sekunden an und begannen plötzlich zu lachen. Ein leises, nervöses Lachen. Dann sahen wir wieder auf unsere Tassen.
 

„Fang du an“, meinte ich schließlich und lächelte ihr aufmunternd entgegen. Sie erwiderte es. „Danke.“
 

Noch einen Augenblick schwieg sie, bevor sie tief Luft holte und zu sprechen begann. „Das vorhin tut mir leid. Ich wollte dich nicht so anfahren. Es ist nur … Als ich das Bild gesehen hab‘, da … sind bei mir einfach die Sicherungen durch geknallt.“
 

Ich nickte, schwieg jedoch, und sie redete weiter.
 

„Du musst wissen, als ich damals …“ Sie unterbrach sich selbst, legte sich auf einmal die Hände aufs Gesicht und seufzte tief. „Oh Gott, wie sag‘ ich das bloß?“, nuschelte sie.
 

„Einfach … drauf los? Ohne Rücksicht auf Verluste?“, versuchte ich ihr zu helfen, doch sie gab mir nur ein halbherziges Lächeln, ehe sie ihre Arme vor der Brust auf dem Küchentisch verschränkte. „Das ist nicht so einfach, Bella. Ich hab‘ dieses Bild extra abgedeckt, damit ich nicht mehr dran erinnert werde.“
 

„Das verstehe ich nicht. Wenn’s dir so viel ausmacht, warum hast du es nicht verbrannt … oder weggeschmissen?“
 

Sie zuckte mit den Schultern und sah mir dann ernst in die Augen. „Wenn dein Kind eine Missgeburt ist, gibst du es doch auch nicht einfach ab, oder?“
 

Darauf wusste ich nichts zu sagen und mein Schweigen war ihr Antwort genug. Also wartete ich, bis sie mit dem eigentlichen Thema fortfuhr. „Okay, also … als ich das damals gezeichnet hab‘, da … Ich hab‘ da schon so ein merkwürdiges Gefühl bei empfunden, aber ich hab‘ mir nichts gedacht, verstehst du?“ Hilfesuchend blickte sie mich an, doch ich hatte keine Ahnung, auf was sie hinauswollte. Ich schüttelte entschuldigend meinen Kopf.
 

Sie seufzte. „Versteh‘ doch, Bella! Ich hab‘ so ein Bild gezeichnet, bevor der Unfall passiert ist. Ich hätte es wissen müssen, ich hätte was unternehmen müssen!“
 

Das meinte sie also.
 

„Wenn ich die Zeichen richtig gedeutet hätte, dann wäre das alles nicht passiert!“ Am Ende hörte sich ihre Stimme leicht schrill an und ich sah Tränen in ihren Augen aufblitzen. Sie versuchte sie zu unterdrücken, wandte den Blick nach oben und schniefte.
 

„Alice … das ist doch Quatsch. Du kannst so was doch nicht von Zeichnungen abhängig machen“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Es war ein Unfall ohne irgendwelche mystischen Einflüsse. So was passiert nun mal und du hast wirklich nicht die geringste Schuld daran.“
 

Sie schnaubte halb grinsend und schüttelte den Kopf. Und dann redete sie weiter, als hätte sie meinen Einwand gar nicht zur Kenntnis genommen. „Und als es passiert ist, da … da war ich so wütend. Ich …“
 

Sie brach ab, sah mich an und … wirkte so verzweifelt. Als flehte sie mich förmlich um Vergebung an. Und dann fiel die erste Träne. Ohne weiter darüber nachzudenken, zog ich meinen Stuhl zu ihr herüber und nahm sie in den Arm, wiegte sie hin und her und wisperte ihr immer wieder zu, während sie nur langsam den Tränen freien Lauf ließ.
 

Alice tat mir in diesem Augenblick so unendlich leid. Ich konnte ihr das von vorhin unmöglich übel nehmen. Seit dem Unfall hatte sie mehr um mich geweint als überhaupt in all den Jahren zuvor. Ich hatte nie vorgehabt, ihr jemals so viel Kummer zu bereiten, aber mir fiel partout nichts ein, womit ich ihr diese Last irgendwie wieder abnehmen konnte.
 

„Wenn ich dich doch nur nicht dazu überredet hätte“, schluchzte sie auf einmal in meinen Pyjama.
 

„Was meinst du?“, wollte ich wissen und strich ihr über den Rücken. Sie schluckte. „Zu Charlie zu gehen … An dem Tag.“ Eine Pause trat ein, in der ich in meinen Bewegungen innehielt. „An dem Unfalltag? Ich war an dem Tag bei Charlie?“, vergewisserte ich mich. Alice nickte. „Du hast dich mit ihm gestritten, weil … Und dann bist du so wütend aus seiner Wohnung und hast nicht auf die Ampel geachtet.“ Sie hatte aufgehört zu weinen, nur ab und zu hörte man noch ein paar Schluchzer oder ein Schniefen.
 

„Warum war ich bei Charlie?“ Meine Stimme klang leicht angespannt. „Alice? Warum war ich bei Charlie!“, fragte ich noch einmal energischer. „Ihr habt mir nur erzählt, dass ich beim Überqueren der Straße von einem Auto angefahren worden bin. Ihr habt nicht gesagt, was vorher gewesen ist.“
 

„Tut mir leid“, flüsterte sie. „Wir dachten, dass … es nicht wichtig ist. Außerdem macht sich Charlie schon genug Vorwürfe deswegen.“
 

„Alice, warum war ich bei ihm?“, wiederholte ich noch einmal langsamer, dafür aber mit zusammengebissenen Zähnen. Wieso hatte sie mir das bisher verschwiegen? Hätte ich gewusst, dass ich kurz vorher bei ihm gewesen war, dann … ja, was eigentlich? Hätte ich ihm die Schuld zugeschoben, dass mir ein halbes Jahr meines Lebens fehlte? Ich hatte stets jeden Besuch vermieden, wenn es um ihn ging. Weshalb also war ich dort gewesen? Was war wichtig genug, mir seine Gegenwart anzutun?
 

„Ich hab‘ dich überredet, mit ihm zu sprechen, weil … weil du doch nach dem College wegziehen wolltest. In eine andere Stadt. Du solltest dich mit ihm versöhnen, bevor du … bevor du noch mehr Ausreden hast, nicht mit ihm zu reden“, hickste sie.
 

Für einen Moment war ich wie erstarrt, während ich die Informationen in meinem Kopf zu ordnen versuchte. Ich war vorher bei Charlie gewesen. Ich war wütend aus seiner Wohnung gestürmt und hatte nicht auf die Verkehrszeichen geachtet. Aber machte das jetzt einen Unterschied? Der Unfall war geschehen und neben meiner Amnesie war der scheinbar einzige andere Nebeneffekt Alice, die sich die Schuld dafür gab. In mehr als einer Hinsicht.
 

Ich war wütend auf Charlie … Und wegen Alice sollte ich mich mit ihm aussöhnen … Mein Kopf begann unaufhörlich zu arbeiten. Ein Gedanke folgte dem nächsten, bis sie sich irgendwann förmlich überschlugen. Warum war ich denn generell wütend auf ihn? Was hatte er getan, dass ich nicht mal mehr ein Wort mit ihm wechselte? Das war doch schon vor dem Unfall so. Das kann nicht nur an seinen raren Krankenhausbesuchen gelegen haben. Schon davor hatte er sich plötzlich in mein Leben eingemischt, obwohl er sich mein ganzes Leben lang nie richtig mit der Vaterrolle anfreunden konnte. Aber inwiefern hatte er es getan?
 

„Warum bin ich eigentlich wütend auf ihn?“, hauchte ich mehr, als dass ich es sagte, und die Frage war auch nicht an meine Freundin gerichtet gewesen …
 


 

„Du hast absolut KEINE Ahnung von meinem Leben, also halt dich gefälligst daraus!“, schrie ich ihn an.
 

„Hör auf damit, Isabella!“, keifte er zurück. „DU hast keine Ahnung, auf was du dich da einlässt. Er ist nicht das, für was er sich ausgibt. Ich bin Polizist, ich kenn‘ mich mit solchen Leuten aus!“
 


 

Die Tür knallte hinter mir ins Schloss und als ich mit schnellen Schritten die Treppen des Flurs hinuntereilte, hallten die Geräusche meiner Absätze laut in meinen Ohren wider. Mein Kopf fühlte sich heiß an. Ich hatte mir die Seele aus dem Leib geschrien. Warum konnte er mich nicht verstehen? Was wollte er überhaupt, wer war er denn, dass er mir auf einmal vorschrieb, was ich zu machen und zu lassen hatte? Gott, ich war so wütend!
 

„Bella!“, rief er hinter mir her. Jetzt folgte er mir auch noch! „Lass mich in Ruhe, verdammt!“ Noch schneller lief ich weiter, riss die Außentür des Wohnblocks förmlich auf und … stolperte mehr denn rannte in den strömenden Regen hinaus. Der Himmel hatte sich stark verdunkelt.
 


 

„B E L L S!“
 


 

„Ahh!“, schreckte ich hoch und hielt mir die Stirn. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ins Leere.
 

„Bella?“ Alice befreite sich ein wenig aus meiner Umarmung. „Alles okay?“ Ihre Frage erübrigte sich, als sie mich ansah und ihre leicht geröteten Augen plötzlich tellergroß wurden. „Hast du wieder Kopfschmerzen? Soll ich einen Arzt rufen?“
 

„Nein, nein“, winkte ich ab. „Keine Kopfschmerzen.“ Obwohl meine Stirn doch ein bisschen pulsierte. „Ich glaube, ich … hab‘ mich an was erinnert.“
 

Alice verzog das Gesicht. „An was?“
 

Ich antwortete nicht gleich, sondern schüttelte nur meinen Kopf und dachte noch mal zurück. „Es waren nur … Bildfetzen. Ich war bei Charlie. Wir haben uns gestritten … über jemanden.“ An dieser Stelle blickte ich zu Alice, doch sie schüttelte nur den Kopf. „Dein Dad hat mir nicht gesagt, worum euer Streit ging.“
 

Ich wandte mich wieder ab und holte noch mehr Bilder hervor. „Ich bin raus gestürmt. Es hat … geregnet an dem Tag.“ Abermals sah ich zu meiner Freundin und dieses Mal nickte sie bitter. „Das Auto konnte nicht rechtzeitig ausweichen, die Straßen waren rutschig.“
 

„Aber …“, begann ich und versuchte mich noch einmal an das Gespräch zu erinnern. „Über wen haben wir … Ahh …“
 

„Ich werde doch einen Arzt anrufen, bevor das noch schlimmer wird.“ Alice stand abrupt auf und wollte bereits zum Telefon rennen, aber ich konnte sie noch rechtzeitig am Arm packen. „So ein Blödsinn. Die Schmerzen sind nicht so stark, nur ein leichtes Hämmern. Ich wollte vorhin sowieso meine Tabletten holen. Die liegen nämlich noch im Auto. Deshalb war ich auch unten.“
 

Alice musterte mich misstrauisch und ich gab mir alle Mühe der Welt, ihr irgendwie zu zeigen, dass ihre Sorge unbegründet war. Nur scheinbar klappte das nicht so richtig. „Hör zu, ich werde jetzt einfach eine oder auch lieber zwei von den Dingern schlucken und morgen … oder besser gesagt heute Vormittag gehen wir dann gleich zu Dr. Cullen, einverstanden?“ Nur langsam schien sich etwas bei ihr zu regen, und der Drang zum Telefon zu stürmen, wurde anscheinend kleiner. Ich ließ ihr Handgelenk los, nachdem sie sich mit einem Nicken einverstanden erklärt hatte. Ich lächelte. „Danke.“
 

Zusammen holten wir die Tabletten aus dem Auto – ich bestand darauf, gemeinsam zu gehen, um Alice jede Möglichkeit zu nehmen, in meiner Abwesenheit doch noch einen Doktor anzurufen – und nachdem ich wirklich zwei hinuntergeschluckt hatte, gingen wir wieder ins Bett.
 

Ich wusste nicht, wann ich endlich eingeschlafen war, denn die Erinnerungsfetzen, die ich mir immer wieder ins Gedächtnis rief, hielten mich noch eine ganze Weile wach. Über wen hatten wir gesprochen gehabt? Und was hatte Charlie gegen diese Person, was machte ihn so wütend? So sehr ich auch versuchte, das Gespräch in meinen Kopf zu verlängern, es gelang mir nicht. Es blieb bei diesen paar Sätzen, und ich wurde einfach nicht aus ihnen schlau.
 

„Alice?“, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein. Erst dachte ich, sie würde schon schlafen, aber dann hörte ich ein ganz leises, müdes und langgezogenes „Hm?“
 

Ich atmete tief durch, mein Herz schlug ein wenig schneller, in Anbetracht der Frage, die ich gleich stellen würde – und die Angst, wie die Antwort womöglich aussehen könnte.
 

„Hatte ich damals einen Freund … oder jemanden kennengelernt?“ Nervös wartete ich auf ihre Erwiderung und als eine ganze Weile nichts kam, befürchtete ich schon, sie wäre gänzlich weggenickt, doch dann hörte ich ein ganz schwaches „Nein.“
 

Für einen kleinen Moment wusste ich nicht, ob ich froh darüber sein sollte. Aber was wäre denn gewesen, hätte sie Ja gesagt? Hätte ich mich gefreut? Wie zur Bestätigung hüpfte mein Herz ein klein weniger kräftiger in meiner Brust. Ein Teil von mir wäre bestimmt glücklich darüber gewesen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich das letzte Mal eine ernsthafte Beziehung mit jemandem eingegangen war. Doch gleichzeitig machte es mich auch unheimlich traurig. Denn wenn es jemanden gegeben hätte, und ich mich überhaupt nicht mehr an ihn erinnern würde, wäre das … schrecklich. Nicht nur für mich, sondern vor allem auch für ihn – wenn die Person, die man liebt, einen nicht mehr kennt. Und im Falle eines Falles hätte ich ihn dann doch schon längst kennengelernt haben müssen. So jemand würde sich nicht einfach so aus dem Leben des anderen zurückziehen. Man würde doch alles daran setzen, die Person wieder in einen verliebt zu machen, sollte die Amnesie von Dauer sein – oder etwa nicht?
 

Fast hätte ich gelacht, dass ich gleich mit Liebe anfing. Es hätte genauso gut auch nur eine kleine Zuneigung gewesen sein können. Zu wenig, um abhängig voneinander zu sein, wodurch sich allerdings die Chance erhöhte, dass sich derjenige nach dem Zwischenfall auf halbem Wege um entschieden hatte, bevor es richtig starten konnte. Gefühle konnten so wankelmütig sein.
 

Aber all mein Grübeln brachte nichts. Sie waren alles keine Optionen, denn Alice würde mich nie anlügen. Wenn sie sagte, ich hatte niemanden kennengelernt, dann glaubte ich ihr das.
 

„Okay“, gab ich nach einer Weile zurück, obwohl ich mir dieses Mal wirklich nicht mehr sicher war, ob sie es noch hörte.
 

Um also herauszufinden, über wen ich mich mit Charlie gestritten hatte, gab es nur eine Möglichkeit. Allerdings hätte ich diese gern um jeden Preis vermieden. Nur … wenn es wirklich half, mich an mehr zu erinnern … ein Stück meines Lebens wiederzuerlangen, musste ich sie wohl oder übel nutzen.
 

Ich musste Charlie besuchen.
 


 

Der Wecker klingelte, riss mich aus meinem Schlaf und mit einer einzigen fließenden Bewegung langte ich nach ihm. Das Geräusch blieb. Ich hatte daneben geschlagen und meine Hand schmerzte, nachdem ich unsanft die Kante des Nachttisches getroffen hatte. Müde stöhnte ich auf.
 

Während ich meinen Knochen rieb, linste ich kurz mit einem halb geöffneten Auge zur Seite. 8:02 Uhr. Ich stöhnte abermals auf und rollte mich zur Seite. Ich hatte absolut keine Lust, jetzt schon aufzustehen. Die letzte Nacht hatte ich nicht viel Schlaf bekommen und jetzt schon wieder die Federn zu verlassen, war gelinde ausgedrückt eine Qual.
 

Ein paar Sekunden schnaufte ich schlaftrunken in mein Kissen, ehe ich abermals blinzelte. Das Bett neben mir war leer. Alice musste schon aufgestanden sein, und sie hatte wirklich die Güte besessen, mich nicht zu wecken. Das kannte ich gar nicht von ihr. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Mit einem Seufzen drehte ich mich zurück auf den Rücken und streckte die Arme von mir. Mein Blick war an die himmelfarbene Decke gerichtet. Und mit himmelfarben meinte ich genau das. Alice‘ Decke war hellblau gestrichen und überall waren kleine und große weiße Wattewolken hinzugetan worden.
 

Na schön. Steh‘ ich eben auf.
 

Ich schwang meine Beine aus dem Bett und suchte mir in Alice‘ Schrank einen Bademantel. Ich fand einen flauschigen beigefarbenen, den ich sofort um meinen Torso band. Ja, gegen Alice‘ Kleiderauswahl hatte ich absolut nichts einzuwenden.
 

Als ich am Bad vorbeikam, hörte ich das Wasser laufen. Vielleicht war sie doch noch nicht so lange wach, wie ich es vermutet hatte, sondern nur ein paar Minuten vor mir aufgestanden. Ich setzte meinen Weg fort in die offene Wohnküche und suchte in den Schränken nach Kaffee, denn den brauchte ich jetzt unbedingt. Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, weil ich außer einem Haufen verschiedenster Teesorten nichts anderes finden konnte. Und dann ganz hinten in einer Ecke befand sich doch tatsächlich eine kleine Metalldose mit dunkelbraunem, wohlriechendem Bohnenstaub. Ich sog einen Augenblick das herbe Aroma ein, ehe ich die Kaffeemaschine damit füllte und ihr mit auf den Händen gestütztem Kinn dabei zusah, wie die schwarze heiße Flüssigkeit in die Kanne lief.
 

Es gab doch nichts über Kaffee am Morgen. Auch wenn ich viel lieber den Moccacino aus dem Panera Breads gegenüber meines Apartments gehabt hätte.
 

Als ich dann mit der Tasse in der Hand die Zeitung durchblätterte, entdeckte ich im Augenwinkel über den Rand des Tisches hinweg einen kleinen Textilhaufen auf dem Boden. Erst nahm ich ihn gar nicht richtig wahr, doch die ganzen Flecken machten mich neugierig. Ich ließ die Zeitung los, hielt meine Tasse aber weiterhin in meiner Hand, und stand auf. Je näher ich dem Haufen kam, desto deutlicher wurde er. Eine dunkelblaue Jeans und vermutlich ein olivfarbenes T-Shirt. Anfangs dachte ich, es seien Alice‘ Sachen, nur hatte ich sie noch nie in solchen Hosen gesehen. Und als ich das Shirt in die Höhe hielt, war ich mir ganz sicher, dass die Klamotten nicht von meiner besten Freundin stammten. Dafür waren sie viel zu groß. Das waren Männerkleider. Aber wem gehörten sie?
 

Das Shirt war auf Schultern, Brust und Rücken mit jeder Menge roter Farbe bekleckert. Als hätte jemand einen Eimer darüber gegossen. Ich drehte es ein paar Mal hin und her, beäugte es misstrauisch und runzelte dann die Stirn. Konnte es sein, dass Jasper wieder da war? Dabei hatte Alice doch gemeint, er würde erst in ein paar Tagen von der Armee zurückkommen.
 

Ich hielt inne. Bis eben war außer dem leisen Geräusch des Duschwassers nichts weiter zu hören gewesen, aber nun vernahm ich noch etwas anderes. Ich lauschte angestrengt, bis ich mir fast sicher war, dass da jemand summte. Und es kam aus dem Bad. Eigentlich hätte es mich nicht weiter wundern müssen, allerdings war ich bis eben auch noch davon ausgegangen, dass sich genau dort Alice befand. Das Summen war aber viel tiefer und gehörte eindeutig zu einer männlichen Person.
 

Ich ließ das T-Shirt fallen und ging auf Zehenspitzen in Richtung Bad. Kurz vor der Tür stoppte ich noch einmal, weil ich unsicher wurde. Wenn Jasper tatsächlich zurück war und ich einfach ins Bad platzen würde … Ich konnte diese peinliche Szene gar nicht zu Ende denken, da wurden meine Ohren schon heiß.
 

Aber was, wenn es eben nicht Jasper war? Was, wenn sich jemand unbefugt Zugang zu dieser Wohnung verschafft hatte? Man hörte doch öfter von Leuten, die sich in der Wohnung anderer verirrt hatten, weil sie dachten, sie wären in ihrer eigenen. Weil sie vielleicht von einer nächtlichen Sauftour wiedergekehrt und noch zu betrunken waren, um den Unterschied zu merken. Wenn es Alice also nicht war, wo war sie dann? War sie unterwegs und hatte eventuell die Tür aufgelassen?
 

Und ich war mit nichts anderem bewaffnet als meinem Kaffeepott.
 

Ich zählte die Sekunden hinunter, angefangen bei zehn, dann atmete ich noch einmal tief durch und schob dann ganz vorsichtig die angelehnte Badtür so weit nach vorn, dass ich einen guten Blick auf die Dusche hatte. Ich war erleichtert, dass sie nicht knarrte, fühlte mich aber gleichzeitig so unwohl darüber, etwas Unmoralisches zu tun. Ich schloss die Augen einen Moment, während mir die feuchte Wärme ins Gesicht schlug, und sendete ein paar Stoßgebete gen Himmel. Meine Finger krallte ich um die Tasse. Oh Gott …
 

Das Summen ging ungestört weiter, also hatte mich die Person nicht bemerkt. Die Glasscheiben der Duschkabine waren vom heißen Dampf getrübt und ich konnte nur verschwommene Schemen erkennen. Dennoch waren sie klar genug, um festzustellen, dass das kein weiblicher Rücken war. Dazu wirkten die Schulterblätter zu maskulin, zu breit, als dass sie ausgerechnet von meiner kleinen schwarzhaarigen Künstlerin stammen sollten. Auch die Größe selbst war eine andere. Die Person dort drinnen überragte ja sogar mich noch um einen Kopf. Und dann gab es da noch die Haare. Sie waren weder schwarz noch blond. Und Jasper besaß blonde Haare, er konnte es demnach auch nicht sein – es sei denn, er hatte wirklich einen Eimer Farbe abbekommen.
 

Im Licht der Wandlampe gaben sie einen rötlichen Schimmer von sich. Auch der Schaum erhellte die Farbe noch um ein paar Nuancen, und jedes Mal, wenn die Hände durch die Haare fuhren, konnte man sehen, wie sich die Schulterblätter rhythmisch dazu bewegten … so weit das durch die trüben Scheiben erfassbar war … auf und ab, auseinander und wieder zusammen … Wie die Finger immer wieder in den Strähnen wühlten und kreisten … Eine Handvoll Schaum löste sich aus der Masse und rutschte ganz langsam den Nacken entlang, zwischen den Schulterblättern hindurch – die sich soweit nach außen gewölbt hatten, dass sich eine schmale kleine Kuhle gebildet hatte – und weiter hinab über die Wirbelsäule bis hin zu-
 

„Bella, schaust du etwa heimlich?“
 

In einer einzigen Sekunde hielt ich die Luft an, zog meinen Kopf zurück und ließ die Tasse fallen, während sich die Person in der Dusche langsam zu mir umdrehte. Mit dem Aufkommen des Porzellans auf den Fliesen, dem darauffolgenden scheppernden Geräusch der auseinander berstenden Scherben und einem plötzlichen Klingeln schoss mein Kopf vor Schreck in Richtung Tür.
 

Ich blickte zurück auf die Scherben, dann ins Bad – und riss die Augen auf. Es war verlassen. Keine Menschenseele hielt sich dort auf, in der Duschkabine herrschte gähnende Leere. Ich atmete flach, stoßweise und viel zu schnell, mein Herz raste in meiner Brust. Bevor ich aber irgendwie weiter darauf reagieren konnte, wurde ich abermals von dem Klingeln aufgescheucht.
 

Eilig lief ich zur Tür, nahm den Hörer an der Wand in die Hand und hielt ihn mir ans Ohr. „Ja, bitte?“
 

„Lieferung für Alice Brandon“, antwortete eine Stimme blechern durch die Muschel.
 

„Oh, okay. Ich bin gleich unten.“ Ich hing den Hörer wieder auf und suchte mir schnell meine Hose, bevor ich aus der Wohnung hastete, runter ins Atelier lief und dann endlich atemlos die Außentür aufriss. „Hallo“, begrüßte ich den jungenhaften Lieferanten und strich mir eine Strähne aus der Stirn. Er musterte mich mit einer hochgezogenen Augenbraue und fing dann leicht an zu grinsen, ehe er mir ein kleines elektronisches Gerät und einen Plastikstift entgegenhielt. „Ein Paket für Sie.“ Ich verzichtete darauf, ihm meine Identität preiszugeben, nahm ihm das Teil ab, unterzeichnete und empfing dann das Paket.
 

„Schönen Tag noch“, nickte er mir zu, dann drehte er sich um und steuerte seinen Lieferwagen an.
 

Ich besah mir kurz den Karton, der ungefähr so groß war wie ein A3-Blatt, und ging mit schnellen Schritten zurück in die Wohnung, wo ich es vorsichtig auf die Kommode neben der Tür ablegte und nicht weiter beachtete.
 

Ich fühlte mich etwas verloren am Platz. Reglos stand ich mitten im Raum und im ersten Moment wusste ich nicht, was ich nun tun sollte. Ich starrte in Richtung Badezimmer, vor dessen Tür sich immer noch die Scherben der Tasse befanden. Allein bei der Erinnerung daran schlug mein Herz sofort von neuem schneller, während mir das Adrenalin in die Adern schoss. Nur langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich schlussendlich wieder vor dem Eingang stand. Die Tür war immer noch halb geöffnet und ich musste feststellen, dass sich meine letzte Entdeckung nicht geändert hatte. Das Bad war noch immer leer. Ich öffnete es gänzlich, um auch jeden Winkel ausmachen zu können, doch bringen tat es nichts. Es bestätigte nur, dass sich niemand hier aufgehalten hatte. Zwar waren die Glasscheiben der Dusche mit Wassertropfen besprenkelt, aber das war kein Indiz dafür, dass sich hier vor nicht mal zwei Minuten noch jemand gewaschen hatte. Der Raum war zu ausgekühlt, die Wasserspitzer in der Kabine zu wenige. Ja, hier hatte sich jemand geduscht, allerdings war das schon länger her gewesen. Und wenn ich richtig vermuten sollte, dann waren es wahrscheinlich Alice‘ Spuren.
 

Mein Blick wanderte zurück zu der Stelle im offenen Gang, an der sich bis vor kurzem noch die Männerklamotten befunden hatten, aber wie ich es schon vermutete, existieren sie nicht (mehr). Je mehr ich darüber nachdachte, desto verwirrter war ich. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht und ich hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine plausible Erklärung.
 

Ich versuchte meine Aufregung zu drosseln und ließ das Vergangene noch einmal Revue passieren. Die letzten paar Minuten kamen mir dermaßen real vor, dass ich langsam anfing, an mir selbst zu zweifeln. Es war so viel greifbarer gewesen als in letzter Zeit so manch anderes Erlebnis in meiner Wirklichkeit. Ich stützte meine Ellenbogen gegen die Wand und meinen Kopf auf meine Hände und versuchte mich an den letzten Augenblick zurückzuerinnern. An das Gesicht des Unbekannten, doch es gelang mir einfach nicht. Hatte mir mein Verstand nur einen Streich gespielt oder was das einfach nur ein Tagtraum gewesen? War das dann Jasper, von dem ich da geträumt hatte? Wenn ja, war das ziemlich peinlich. Er war der Freund meiner Freundin, ich hatte doch keine besonderen Gefühle für ihn.
 

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und betrachtete den blanken Parkettboden.
 

Kaffee.
 

Ja, ich brauchte jetzt als erstes einen neuen Kaffee. Aber vorher würde ich noch schnell die Scherben beseitigen. Ich musste einen Augenblick suchen, bevor ich Handfeger und Müllschippe gefunden hatte, und säuberte dann rasch den Boden. Hinterher ging ich noch mal durch die gesamte Wohnung, auch wenn ich innerlich fast schon sicher war, dass sich niemand weiteres hier aufhielt. Und dann endlich machte ich mir eine neue Tasse schwarzen, dampfenden Kaffee und setzte mich abermals an den Tisch. Der Duft des dunklen Gebräus beruhigte mich ein wenig.
 

Ich hielt meine Hände am Porzellan fest und wärmte sie, vielleicht würde das ja helfen, meine innere Unruhe ganz zu besänftigen. Mir wollte dieses Erlebnis einfach nicht aus dem Kopf, immer wieder tauchten einzelne Bilder daraus auf. Seufzend nahm ich einen Schluck und stützte mich auf den Tisch.
 

Und dann dieser Satz. Bella, schaust du etwa heimlich?
 

Allein die Erinnerung bescherte mir abermals rote Wangen. Wenn das wirklich Jasper gewesen sein sollte, dann hatte seine Stimme einen wirklich eigenartigen Klang besessen. Man konnte fast meinen, dass sie der Stimme geähnelt hatte, mit welcher mir gestern Abend zugeflüstert wurde. Wenn man allerdings davon ausging, dass ich anfangs noch gedacht hatte, Alice wäre meine Gesprächspartnerin gewesen, klang das alles ziemlich weit hergeholt. Anderseits konnte es aber auch wieder gut möglich sein. Gestern Nacht war viel passiert; das Bild, Alice‘ Wut, dann ihre Schuldzuweisung, ein kleiner Teil zurückgekehrter Erinnerung … All das musste ich immerhin irgendwie verarbeiten. Die Farbe auf dem T-Shirt war wie die Farbe auf dem Bild, der Unbekannte im Bad war wie der Unbekannte hinter meinem Rücken, sein Summen war wie das Flüstern …
 

Obwohl ich eben erst aufgestanden war, strich ich mir erschöpft übers Gesicht und seufzte tief.
 

Mein Blick wanderte durch Alice‘ Wohnung, eigentlich nur unbewusst, doch dann entdeckte ich ein ziemlich bekanntes Paket. Mein Paket. Es stand in einer Ecke hinter einer Kommode, in deren Richtung ich sonst nie geschaut hätte. Gestern Abend ohnehin nicht, die Couch war mit dem Rücken zu ebenjener Stelle gerichtet.
 

Ich holte das Paket hervor und stellte es auf den Tisch, dann nahm ich nach und nach die einzelnen Objekte heraus. Ein kleines Gefühl der Nostalgie erfasste mich, als ich mir die einzelnen Dinge noch einmal näher anschaute. Besonders, als ich mir das Foto von 1913 ansah. Ja, ich hatte den alten Bahnhof immer schon restaurieren wollen, umso trauriger war ich damals gewesen, als sie ihn zum Abriss freigegeben hatten. Ich hatte deswegen sogar tagelang geweint. Ich musste lächeln, nicht mal Alice wusste das. Und trotzdem zog ich nun die Augenbrauen zusammen, als ich für einen winzigen Moment das Gefühl bekam, es doch jemandem anvertraut zu haben. Dabei konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wem ich so ein intimes und peinliches Detail meiner Vergangenheit offenbaren würde.
 

Just in diesem Augenblick hörte ich das Einrasten des Türschlosses und nur wenige Sekunden später trat Alice mit roten Wangen und heftig atmend herein. „Oh, hi, Bella. Du bist ja schon wach. Mann, ist das kalt geworden draußen. Oh, meine neuen Zeichenutensilien sind da“, bemerkte sie freudig, als sie ihr Paket entdeckte. Und als ihre Augen auf meines fielen, fügte sie noch ein bisschen langsamer hinzu: „Was machst du denn da?“
 

Ihr Blick brachte mich beinahe dazu, mich irgendwie ertappt zu fühlen, dabei gehörte das Päckchen im Grunde ohnehin mir. „Ich hab’s in der Ecke dahinten entdeckt und wollte es mir noch einmal ansehen.“ Fragend wandte ich mich an meine Freundin. „Und konnte Jasper deswegen noch irgendwie helfen?“
 

„Ich hab‘ es ihm noch nicht zeigen können, Bella“, erklärte sie und ich verzog das Gesicht. „Ach so, stimmt ja. Hatte ich vergessen.“ Ich lächelte und sie erwiderte es behutsam. Ihr Blick wanderte ein paar Mal zwischen dem Paket und mir hin und her, dann legte sie plötzlich eine Papiertüte auf den Tisch, von welcher ich bereits den Duft von frischgebackenen Brötchen vernehmen konnte, und schnappte sich den Karton. „Das hier stellen wir erst mal wieder weg. Wir essen jetzt Frühstück – du hast bestimmt noch nichts gegessen, ich kenn‘ dich doch - und da-“
 

„Das stimmt überhaupt nicht“, unterbrach ich sie. „Ich esse sehr wohl Frühstück.“
 

„Ja, das Fastfood-Zeug von nebenan. Du bist viel zu oft dort.“
 

„Das ist auch Frühstück“, zuckte ich mit den Schultern und sie antwortete mit einem Augenrollen, bevor sie mit dem eigentlichen Thema fortfuhr. „ … und dann fahren wir zu Dr. Cullen. Ich hab‘ heute Morgen schon bei ihm angerufen und Bescheid gegeben, dass wir vorbeikommen.“
 

Ich sah sie kurz verblüfft an, dann nickte ich nur und deckte den Tisch. „Ja, ist wohl besser. Ich bekomme sowieso langsam das Gefühl, verrückt zu werden.“
 

„Wie darf ich das denn verstehen?“, war sie auf einmal hellwach. Ich winkte aber nur ab. „Ich hatte nur einen komischen … Traum, das ist alles.“
 

„Was für einen?“ Also wenn sie einmal Fährte aufgenommen hatte, ließ sie wirklich nicht mehr locker …
 

„Ach, nichts Außergewöhnliches. Jasper hat einen Farbeimer auf den Kopf bekommen und stand plötzlich mit roten Haaren in der Dusche.“ Die genauen Details ließ ich aus, und auch die Tatsache, dass ich den Mann eigentlich nicht unbedingt für ihren Freund hielt. Die Möglichkeiten waren variabel. Wenn ich ihr die andere Version mitteilen würde, hielt sie mich am Ende womöglich auch noch für verrückt. Wer wusste schon, was sie Dr. Cullen später alles erzählen würde.
 

Fast entging mir, wie groß Alice‘ Augen wurden. Ihr Mund stand offen und sie sah aus, als hätte sie gerade einen Geist gesehen. Ich musste glatt kichern bei dem Anblick. „Ja, ich glaube, ich wäre auch geschockt, wenn so etwas meinem Freund passieren würde. Also … wenn ich einen haben würde.“
 

„Äh, was?“, fragte sie völlig erstaunt und immer noch halb in ihrer Starre. „Ach … haha, ja …“ Sie grinste zögerlich, dann zuckte sie mit den Schultern. „Na ja, deshalb sind es nur Träume. Die müssen so sein. Das ist aber nichts, um sich selbst für verrückt zu erklären.“
 

„Ja, vermutlich hast du recht.“
 

„Dass du mir aber nicht zu oft von Jazz fantasierst“, mahnte sie mich gespielt beleidigt, woraufhin ich schelmisch grinste, und wir uns letztendlich über die Brötchen hermachten.
 

Wie gut, dass ich ihr nicht die andere Version inklusive der Unterhaltung von gestern Abend vor ihrer Wohnung geschildert hatte. Ich konnte selbst jetzt, wo ich sie nicht mal direkt ansah, ihren besorgten Blick spüren. Natürlich machte ich mir um mich selbst auch Gedanken, es war nicht so, dass ich das alles als einfaches Hirngespinst abtat – den potentiellen Stalker/Verehrer noch nicht mal mit eingeschlossen. Ich hatte einfach nur Angst.
 

Angst, was am Ende bei all dem herauskam.

Crackpot

Beta: dubby ♥ Sänk ju~
 

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Crackpot
 

Ich hätte nie gedacht, dass ich mich so sehr dagegen sträuben würde, wieder ein Krankenhaus zu betreten.
 

Bereits auf der Hinfahrt war ich Alice permanent damit auf den Zeiger gegangen, sie zu überreden wieder zurück zu fahren. Den Termin auf einen anderen Tag zu verschieben, weil es mir doch eigentlich wirklich gut ging. Weil ich seit unserem nächtlichen Gespräch keine weiteren Anfälle mehr gehabt hatte. Jedenfalls keine, von denen sie wusste.
 

Ob es an der Nervosität lag? Oder einfach daran, dass es dieses Krankenhaus war; das Gebäude, in dem ich nach meinem Unfall aufgewacht war und feststellen musste, dass ich mein Gedächtnis verloren hatte? Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich das letzte Mal zu einer Untersuchung nach meiner Entlassung gegangen war. Ich hatte gehofft, damit niemals mehr in Kontakt treten zu müssen – hatte gehofft, dass meine Erinnerungen wieder von allein zurückkehren würden.
 

Aber leider funktionierte so was nicht im echten Leben.
 

Es war merkwürdig, nach so langer Zeit wieder vor der großen Glasschiebetür zu stehen. Ich haderte mit mir, überlegte hin und her, dachte krampfhaft über ein letztes überzeugendes Argument nach, Alice von diesem Besuch abzuraten, aber natürlich fiel mir nichts Sinnvolles ein.
 

„Na, komm schon, Bella. Dr. Cullen erwartet uns bereits, wir sollten nicht so viel Zeit vorm Eingang verschwenden“, redete mir meine Freundin aufmunternd zu. „Du wirst schon sehen, alles wird gut.“ Trotz der Worte klang sie selbst nicht mal wirklich überzeugt davon.
 

„Dein Wort in Gottes Ohr.“ Mit einem Seufzen gab ich nach und ließ mich von ihr in das große Gebäude ziehen.
 

Im Inneren schlug uns gleich diese allzu typische sterile Atmosphäre entgegen. Es roch nach Desinfektionsmitteln, Chlor und Medikamenten. Menschen kamen uns entgegen, verließen gerade das Krankenhaus oder betraten es. Einige ruhiger, die anderen aufgeregter, je nach Art des Notfalls. Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger gingen hastig von einem Ort zum anderen, standen in einer kleinen Gruppe und redeten oder betreuten Patienten und Angehörige. Am Ende des großen Foyers befand sich ein langer Tresen, hinter welchem drei Schwestern in blassrosa Kleidung saßen.
 

„Bella, nicht langsamer werden“, mahnte mich Alice. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass ich mich ihrer ziehenden Hand leicht widersetzte und mein Körpergewicht in die andere Richtung lehnte. Erst als sie etwas kräftiger zerrte, beschleunigte ich meine Schritte ein wenig.
 

„Alice Brandon und Isabella Swan“, meldete sie uns dann am Empfang an. „Wir haben einen Termin bei Dr. Cullen.“ Die junge Frau sah kurz auf, musterte uns streng, ehe sie in ihren Computer blickte, und deutete dann auf die Sitzecke rechts im Foyer. „Nehmen Sie doch bitte noch einen Augenblick Platz. Wir holen Sie dann, wenn der Doktor soweit ist.“
 

Ohne hinsehen zu müssen, wusste ich, dass Alice mit den Augen rollte. Sie hasste es zu warten. Vor allem, wenn sie einen Termin hatte.
 

Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich froh darüber sein sollte, dass es nur fünf Minuten dauerte, oder nicht. Ich hatte die Auswahl zwischen einer grummeligen Alice und einem ohnehin eintretenden Untersuchungsgespräch. Als die Schwester uns Bescheid gesagt hatte, war ihr meine Freundin mit einem zynischen Lächeln gefolgt, hatte aber sofort ein freundliches aufgesetzt, als wir das Büro betraten.
 

„Guten Tag, Miss Brandon, Miss Swan!“, begrüßte uns der Arzt freudig, was mich im ersten Moment doch beinahe zurückweichen ließ.
 

„Hallo, Dr. Cullen“, entgegneten wir ebenfalls, Alice fröhlich, ich eher zurückhaltend, was er aber offenbar nicht zur Kenntnis nahm. Er bot uns die beiden Plätze vor seinem Schreibtisch an. Ich spürte, dass er mich konzentrierter musterte, als mir anfangs bewusst gewesen war. Was hatte Alice ihm eigentlich alles am Telefon erzählt, als sie dieses Treffen vereinbart hatte?
 

„Miss Brandon hat mir ja bereits im Groben geschildert, warum Sie hier sind. Wie geht es Ihnen denn im Augenblick, Miss Swan?“ Er lächelte höflich, sodass ich nicht anders konnte, als es zu erwidern. Trotzdem rutschte ich unruhig auf meinem Stuhl umher. „Mir geht es wunderbar“, brachte ich in einer etwas erhöhten Tonlage hervor, räusperte mich und korrigierte meine Antwort gleich darauf. „Gut, meine ich. Mir geht es gut.“
 

„Das freut mich zu hören. Miss Brandon sagte, Sie hätten in letzter Zeit des Öfteren Kopfschmerzen gehabt.“
 

Ich nickte. „Das stimmt. Aber das sind eben nur Kopfschmerzen, die kommen und gehen. Die hat jeder Mal. Außerdem hat mir der Arzt vor kurzem bereits Tabletten dagegen verschrieben.“
 

„Nachdem du ohnmächtig geworden bist, wenn ich das hinzufügen darf“, ergänzte Alice auf der Stelle. Ich rollte mit den Augen und Dr. Cullen ergriff wieder das Wort. „Nun, Miss Swan, Kopfschmerzen sind nicht gleich Kopfschmerzen. Auch dort gibt es unterschiedliche Einstufungen mit unterschiedlichen Ursachen.“
 

Meine Freundin nickte eifrig. „Genau. Außerdem hat Dr. Wright gemeint, wir sollten Sie so bald wie möglich aufsuchen. Immerhin könnte es etwas mit dem Unfall zu tun haben.“
 

„Du kannst dich noch an den Namen dieses Arztes erinnern?“, warf ich ein, wurde aber von beiden übergangen, als Dr. Cullen sofort auf Alice‘ Kommentar einging. „Das war auf jeden Fall die vernünftigere Entscheidung. Miss Swan, wenn ich Sie kurz bitten dürfte, sich auf die Liege dort drüben zu setzen, damit ich Sie mir etwas genauer ansehen kann?“ Er deutete auf eine weiße Barre aus Metall, dessen weicher Lederbezug mit hauchdünnen großen Papiertüchern abgedeckt war. Nervös befolgte ich seine Anweisungen, während er um den Schreibtisch herumkam und das Stethoskop ergriff. „Machen Sie sich doch bitte oben rum frei, damit ich Sie abhören kann“, wies er höflich an. Er wartete kurz, bis ich mein Oberteil abgestreift hatte, dann spürte ich auch schon das kalte Metall des Instruments auf meinem Dekolleté, das so unglaublich deutlich die kühle Distanz der Wissenschaft symbolisierte.
 

„Bitte tief ein und ausatmen.“ Ein. Aus. Ein. Aus. „Haben Sie Schwierigkeiten beim Atmen?“ Ich schüttelte den Kopf, in welchem sich vom vielen Luftholen bereits Schwindel breitmachte. „Irgendwelche anderen Schmerzen?“ Wieder verneinte ich, dabei hätte ich genauso gut die harten Klopfer erwähnen können, die er mir nun mit seinen Fingern auf meinem Rücken verpasste.
 

Er legte das Stethoskop weg, nahm sich eine kleine, schmale Taschenlampe und leuchtete mir in die Augen. Ich versuchte nicht zu blinzeln. Meine Pupillen folgten seinem Zeigefinger, wie er von links nach rechts und wieder zurück schwenkte.
 

Zum Schluss maß er noch meinen Blutdruck und Puls, ehe ich mich wieder anziehen und auf den Stuhl setzen konnte. „Atmung, Reflexe, Blutdruck und Puls sind soweit in Ordnung. Natürlich müssten wir noch genauere Untersuchungen durchführen, um ein umfangreicheres und aussagekräftigeres Bild zu erhalten.“ Ich atmete tief ein, ich wusste, was das bedeuten würde. Die Tage, an denen ich wieder ununterbrochen zu irgendwelchen Experten rennen musste, nur um mir letztendlich gesagt bekommen zu lassen, dass sie entweder nichts entdeckt haben oder … dass sie etwas entdeckt haben. Und das meine Lage nur verschlimmern konnte. Stumm bereitete ich mich schon darauf vor, ihn von weiteren Untersuchungen abzubringen.
 

„Was wir aber vor allem anderen tun sollten, ist ein CT, um abklären zu können, ob Ihre Kopfschmerzen physische oder psychische Ursachen haben. Seit wann genau haben Sie diese Beschwerden? Waren sie schon länger da und sind in letzter Zeit nur häufiger vorgekommen?“
 

Ich überlegte und schüttelte wieder den Kopf. „Nein, erst seit kurzem. Nachdem ich damals aus dem Koma aufgewacht bin und mein Leben wieder in Angriff genommen habe, ging es mir den Umständen entsprechend recht gut.“
 

Dr. Cullen nickte und notierte sich etwas auf einem Block. „Hatten Sie in letzter Zeit einen Unfall, sind sie gestürzt und haben sich dabei eventuell den Kopf angestoßen?“
 

„Nein, nicht dass ich wüsste“, antwortete ich und wusste im gleichen Moment, dass sich Alice dazwischen schalten würde. „Natürlich bist du das! Vorgestern, wenn ich dich daran erinnern darf.“ Ich legte ihr meine Hand aufs Knie, um sie zu beruhigen. Sie war schon wieder aufgeregter als eine Herde Ochsen im Rotlichtwahn. „Al, das war gar nichts. Ich bin auf dem Boden gelandet. Und hätte ich mich irgendwo verletzt, hätte ich das gespürt und mindestens eine Beule davon getragen. Außerdem hatte ich die Kopfschmerzen schon davor.“ Ich wandte mich wieder an Dr. Cullen. „Hören Sie, ich weiß, Sie wollen mir nur helfen. Und ich will nicht abstreiten, dass es auch Fälle gibt, in denen man unbedingt medizinische Maßnahmen ergreifen muss. Aber das hier … Das ist Zeitverschwendung. Es sind nur ein paar Kopfschmerzen. Vielleicht hab ich mal zu wenig getrunken oder mir bekam der Wetterumschwung nicht. Aber das ist doch kein Grund, gleich mit der Kavallerie ins Haus zu fallen.“ Verzweifelt sah ich mein Gegenüber an, in der Hoffnung, er würde mich verstehen, mir zustimmen. Doch die Falten in seiner Stirn ließen keinen Zweifel, dass er anderer Meinung war.
 

„Miss Swan, ich kann nachvollziehen, dass Sie aus einer Mücke keinen Elefanten machen wollen. Und in manche Dinge sollte man auch tatsächlich nicht zu viel hinein interpretieren. Aber in Ihrem Fall würde ich sehr dafür raten, sich wenigstens dieser neurologischen Untersuchung zu unterziehen, um Klarheit zu haben und diverse Vermutungen zu klären.“
 

„Aber-“
 

„Was haben Sie denn zu verlieren?“, unterbrach er mich mit einem kleinen Lächeln. „Geben Sie sich einen Ruck. Das CT dauert nur ein paar Minuten und danach müssen Sie sich nicht mehr mit wilden Spekulationen herumschlagen.“ Alice griff nach meiner Hand, die immer noch auf ihrem Bein ruhte, und ihre Augen flehten mich stumm an. „Vielleicht“, begann sie und flüsterte dann weiter, „vielleicht kehren ja deine Erinnerungen zurück.“ Etwas flackerte in ihren Augen, etwas, das ich nicht deuten konnte. Unsicherheit, Hoffnung? Oder war es doch etwas ganz anderes? Sie wandte ihren Blick ab.
 

„Nun, ob die Kopfschmerzen verantwortlich dafür sind, dass Ihre Erinnerungen zurückkehren oder nicht, lässt sich mit der Computertomographie natürlich nicht sagen“, wandte der Arzt ein. „Aber damit könnten wir auf jeden Fall einen eventuellen physischen Schaden am Nervensystem oder dem Schädel ausschließen. Sollte es letztendlich wirklich eine psychologische Ursache haben, würde ich Ihnen auf jeden Fall zu einem Kollegen auf dem entsprechenden Gebiet raten. Viele Amnesiefälle kann man beispielsweise durch Hypnose therapieren.“ Ich sah zwischen ihr und dem Arzt unschlüssig hin und her, bis eines der Fotos an der Rückwand des Mediziners meine Aufmerksamkeit kurz in Anspruch nahm. Darauf abgebildet waren der Doktor sowie ein zweiter Mann im selben Alter. Freundschaftlich hatten sie die Arme auf die Schulter des jeweils anderen gelegt und grinsten in die Kamera. Ich hatte diese Person noch niemals in meinem Leben gesehen, da war ich mir sicher. Und dennoch, etwas an seiner Ausdrucksweise, an seinen Zügen, seinem Lachen, seinem Blick … Auf einmal war mir, als würde ich keine Luft mehr bekommen. Meine Kehle fühlte sich trocken und kratzig an und ich spürte, wie mir die Hitze hochkroch. Ich schluckte. „Ich muss mir kurz was zu trinken besorgen. Entschuldigung.“ Ohne die beiden weiter anzusehen stand ich auf und verließ das Zimmer. Draußen im Flur blieb ich kurz stehen und atmete tief ein. Mir schwirrte der Kopf. Um mich abzulenken, erkundigte ich die Gänge nach einem Wasserspender, aber dieses gottverdammte Gebäude schien einfach keine zu besitzen.
 

Also suchte ich die Damentoiletten auf. Glücklicherweise war gerade niemand anwesend. Ich spritzte mir ein bisschen Wasser ins Gesicht und ließ meine Hände dann darauf ruhen. Noch einmal dachte ich über Dr. Cullen’s Vorschlag nach. Seine Argumentation hatte mich haushoch geschlagen, meine Gründe gegen diese Untersuchung waren geradezu nichtig und konnten seine in keinster Weise überbieten. Er hatte ja Recht. Es würde mir nicht wehtun und hinterher hätte ich Gewissheit. Aber Gewissheit worauf? Was wollte ich denn eigentlich? Was genau war meine Angst? Die natürliche Angst eines Menschen, der plötzlich wusste, dass Veränderungen auf ihn zukommen würden? Vielleicht. Und ich hatte plötzlich eine Ahnung, dass genau das geschehen würde. Weibliche Intuition, sechster Sinn, wie auch immer man sowas beschrieb.
 

Und eventuell am Ende … eventuell konnte ich mich dann wieder erinnern. Nur wusste ich nicht, warum mir diese Vorstellung ein solches Unbehagen verursachte.
 

Ich benetzte mein Gesicht mit einer weiteren Ladung Wasser und betrachtete für einen Moment mein Spiegelbild. Was passiert nur mit dir? Schweigend wartete ich auf die Antwort meiner selbst, auch wenn ich wusste, dass sie nie kommen würde. Seufzend stützte ich mich auf dem Beckenrand ab und schloss meine Augen.
 

„Manchmal muss man die Dinge einfach auf sich zukommen lassen. Denk nicht darüber nach, was passieren kann, lass dich einfach treiben.“
 

Ein Lufthauch streifte meine Schulter und erschrocken riss ich die Augen auf. Erst starrte ich mir selbst entgegen, dann sah ich mich im Rest des Raumes um. Ich wagte nicht, etwas zu sagen, hörte nur auf meinen schneller werdenden Puls. Bevor ich mich aber in eine Hysterie steigern konnte, entdeckte ich das kleine, schmale Fenster etwas weiter oben über den Wandfliesen, einen Spalt breit geöffnet. Doch dann machte mein Herz noch mal einen kleinen Hüpfer, als sich eine der Kabinentüren geräuschvoll öffnete und eine zierliche Blondine an die Waschbecken trat. Augenblicklich atmete ich tief durch und verließ die Toilette.
 

Ich machte mich auf den Weg zurück zu Dr. Cullen’s Büro, um ihm meine Entscheidung mitzuteilen, Alice zu schnappen und dann sofort wieder nach Hause zu fahren. Dabei fiel mir ein, dass ich bei all der Aufregung noch immer nichts getrunken hatte.
 

Als ich das Büro fast erreicht hatte, fiel mir auf, dass die Tür ein Stück weit offen stand. Ich konnte nicht genau sagen, was mich dazu bewogen hatte, stehenzubleiben anstatt einfach einzutreten. Fakt war aber, dass ich es tat – und dass ich lauschte.
 

„Dr. Cullen, bitte“, flehte der schwarze Zwerg. „Ich kann das nicht. Ich weiß, ich klinge egoistisch, wenn ich so etwas sage, aber wenn Bella …“ Sie seufzte. „Bitte sagen Sie ihr nichts. Egal, wie das Ergebnis des CT aussieht, versprechen Sie mir, dass Sie über diese eine Sache schweigen werden. Ich will mehr als jeder andere, dass es ihr wieder besser geht, dass sie sich erholt und dass sie wieder glücklich wird. Aber wenn sie sich erinnert, dann-“
 

„Alice, Sie haben ihr vorhin selbst die Hoffnung gegeben, dass das passieren könnte“, wandte Dr. Cullen ein. Meine Freundin ließ die Schultern hängen. „Ich weiß. Aber irgendwie musste ich sie doch davon überzeugen, sich richtig untersuchen zu lassen. Mir geht es doch nur darum, dass sie keine nachhaltigen, körperlichen Schäden vom Unfall und dem Koma trägt. Wenn sie gesund ist, dann fügt sich doch auch der Rest.“
 

Der Doktor schüttelte den Kopf. „Wenn der Geist nicht heilt, nützt auch ein gesunder Körper nicht viel.“
 

Für ein paar Sekunden herrschte drückende Stille, dann vernahm ich Alice‘ Stimme nur ganz leise. „Vielleicht will sie sich ja selbst gar nicht erinnern. Wenn sie erfährt, was passiert ist, wird ihr Geist das niemals überstehen.“ Zorn flackerte in ihren Worten auf, ich konnte sehen, wie sie am ganzen Leib bebte – allerdings war sie da nicht die einzige. Ich war zu einer Salzsäule erstarrt, unfähig mich zu regen. Langsam stolperte ich zurück, fiel beinahe über meine eigenen Füße und rannte den Flur entlang. Als ich durch die große Glastür trat und die frische Luft im Gesicht spürte, hielt ich an und rang nach Atem. Ich stützte mich auf meine Knie und fuhr mir durch die Haare.
 

Der Betrug meiner besten Freundin saß tief. Zu tief, als dass ich ihr jetzt entgegentreten, geschweige denn in die Augen schauen konnte. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was ich eben mit angehört hatte. Ich wollte abschalten, alles um mich herum ausblenden. Ich wollte einfach nur weg von hier.
 

„… lass dich treiben.“
 

Meine Beine setzten sich wie von allein in Bewegung. Nicht in Eile, aber auch nicht zu gemächlich. Ich achtete nicht auf meine Umgebung und bekam nur am Rande mit, wie ich den Parkplatz passierte, an Alice‘ Auto vorbei; wie ich das Grundstück verließ und dem Bürgersteg folgte. Schaufenster, Backsteine, Terrassentische zogen an mir vorbei. Passanten streiften meine Schultern, gefolgt von Flüchen und Beschimpfungen, die jedoch ebenso schnell verhallten, wie sie gekommen waren. Ein Meer an bunten Farben, schrillen Geräuschen und wechselnden Gerüchen schwappte über mich hinweg, ohne von mir in irgendeiner Weise beachtet zu werden. Als würde mich eine Blase umgeben.
 

http://www.youtube.com/watch?v=pgUzWrTk1KI
 

Irgendwann fühlten sich meine Beine wie Gummi an. Hin und wieder stolperte ich, fing mich gerade noch oder stützte mich an einer Hauswand ab, wo ich kurz Luft holte, ehe ich meinen Weg fortsetzte. Erst als ich keinen Schritt mehr tun konnte und gezwungen war, gänzlich stehen zu bleiben, nahm meine Umgebung wieder klarere Umrisse an. Je deutlicher das Bild wurde, desto ahnungsloser kam ich mir vor. Ich hatte nicht die leiseste Theorie, in welchem Teil der Stadt ich mich befand. Ich stand inmitten eines alten Innenhofs, dessen vier heruntergekommene Wände weit in den Himmel ragten. Die Mauern waren übersät mit Ranken und Dreck. Immer wieder tauchten ausgebrochene Stellen auf, Fenster waren eingeschlagen oder fehlten völlig. Kaputte Türen hingen aus ihren Angeln und in jeder Ecke sammelte sich Schutt. Der Boden bestand aus großen, ehemals gleichförmigen Pflastersteinen. Etwas altmodisch, fügte man es mit den unverputzten Häuserwänden und dem Rest dieses kleinen Ortes zusammen. Ich drehte mich einmal um die eigene Achse und blickte gen Himmel. Ein paar weiße Wolken glitten sanft am blauen Himmel dahin.
 

„Hier lang …“
 

Erschrocken drehte ich mich um und starrte auf einen der türlosen Eingänge. Hatte sich gerade etwas in den Schatten des Gebäudes bewegt? „Hallo?“ Vorsichtig trat ich einen Schritt vor den anderen und näherte mich der Hausöffnung. Ich schaute nach rechts und links, obwohl mir eine Bewegung auch ohne den Seitenblick nicht entgangen wäre. Am Türrahmen stützte ich mich einen Moment ab und spähte in den Raum hinein. Besonders viel Licht kam nicht durch die Fenster. Es war schwer, etwas Genaues zu erkennen.
 

War da eben ein Knirschen zu hören gewesen? Als wäre jemand auf Kies getreten. Entschlossen, dem Spuk ein Ende zu bereiten, betrat ich das Gebäude. Und dennoch, eine seltsame Anspannung hatte Besitz von mir ergriffen. Ich zitterte. Nur konnte ich nicht sagen, ob vor Angst oder Aufregung.
 

„Folg‘ meiner Stimme.“
 

Hastig wandte ich meinen Kopf, doch nichts war zu sehen. Nichts außer alten, umgekippten Möbeln, vergilbten Papierfetzen, staubigen Teppichen. Zerbrochenes Porzellan lag auf dem schmutzigen Boden, ramponiertes Spielzeug, Glas. Wie ein Soldat auf einem Minenfeld tastete ich mich in dem Raum voran. Müsste ich raten, hätte ich vermutet, dass es eine Art Wohnzimmer war, doch das Innenleben war so verwüstet, dass es sich nur schwer sagen ließ. Vor einem kleinen Sofa in der Nähe der Fenster blieb ich stehen. Der Stoff war zerrissen und fleckig.
 

„Willst du dich ausruhen?, kicherte jemand.
 

Mein Herz klopfte. Dieses Mal sah ich mich nicht um. Stattdessen blieb ich reglos stehen, wartete. Wartete, dass die Stimme wieder etwas sagte. Mir war, als hörte ich noch ein zweites Atmen. Oder schallte mein eigenes Luftholen nur zu laut in meinen Ohren wieder?
 

Ein Schmunzeln. Sag‘ noch mal was.
 

Voller Anspannung verharrte ich.
 

„Komm weiter.“
 

Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, ich drehte mich um. Ein Rascheln. Und ich rannte durchs Zimmer.
 

„Vorsichtig, nicht zu schnell.“ Die Worte begleitet von Amüsement.
 

Ich fiel beinahe über das Gerümpel vor meinen Beinen, hielt mich an einem Stuhl fest, hastete weiter, schob Dinge beiseite. Jemand lachte. Ich beschleunigte meinen Lauf. Wo bist du? Wer bist du?
 

„Bella, komm.“
 

Warum kennst du meinen Namen?
 

Mein Atem rasselte, der aufgewirbelte Staub legte sich auf meine Kehle, ließ mich husten. Mein Fuß verfing sich in etwas und ich fiel bäuchlings auf alle Viere. Etwas bohrte sich in meine Hand. Stöhnend hockte ich mich hin und betrachtete den fremden Gegenstand. Eine alte Spieluhr hatte einen schmerzhaften Abdruck in meiner Haut hinterlassen. Das dunkle Holz war schon runzelig und abgeschabt, der Verschluss rostig, ebenso die goldene Verzierung auf dem Deckel. Neugierig öffnete ich sie. Die Figur, die einstmals das Innere zierte, war bereits verschwunden, nur das Podest gab es noch. Und die Melodie. Wenn auch nicht mehr in ihrer vollen Klangbreite. Abgehackt versuchte sie einen Ton nach dem anderen aus dem alten Kästchen zu quetschen. Das Zusammenspiel klang so trostlos, dass ich den Deckel wieder schloss.
 

„Beeil dich, sonst ist es zu spät.“
 

Ich ließ die Spieluhr auf den Boden sinken und stand auf. Es schien dunkler geworden zu sein. Die Schatten waren länger und das Zimmer noch schlechter einzusehen. Die letzten Sonnenstrahlen erhellten den Hof auf der anderen Seite des Eingangs.
 

„Schnell!“
 

Ruhelos lief ich der Stimme nach. Das glaubte ich zumindest, die genaue Richtung konnte ich jedoch nicht erkennen. Wie ein Flüstern tauchte sie immer öfter auf, wisperte mir etwas zu. Mal verstand ich es, ein andermal nicht. Ich bewegte mich erst nach Norden, dann Westen, Süden, Osten. Und wieder von vorn. Die Abstände zwischen den Wörtern wurden kürzer.
 

„Bella …“
 

Im Zickzack wechselte ich meine Laufrichtung, dabei bedacht, nicht wieder zu stürzen.
 

„Komm zu mir.“
 

Mir wurde schwindelig. Vor mir drehte sich alles und die Welt verschwamm. Wie in Trance suchte ich mir meinen Weg nach vorn. Meine Finger betasteten kaltes Gestein und meine Schulter schabte an etwas entlang – immer und immer wieder prallte ich gegen Widerstände. Wo lief ich lang, wo befand ich mich? War ich noch immer in dem Gebäude? War ich bereits wieder im Innenhof oder ganz woanders? Die letzten Sonnenstrahlen blendeten mich und nahmen mir den Rest meiner kläglichen Sicht.
 

Und dann gaben meine Beine nach. Ich sank zu Boden und spürte nur noch den kalten, feuchten Untergrund.
 

Wer bist du …
 


 

Eine kühle Brise streifte meine Wange, ich fror. Irgendwo in der Ferne ertönte ein Laut wie aus einem Horn, einem Signalruf gleich. Ich lauschte. Außer meiner eigenen Atmung war nichts zu hören. Doch! Wasser. Wellen, die gegen noch mehr Wellen schwappten. Während ich dem Klang zuhörte, konnte ich mir vorstellen, wie die schäumenden Wasserkronen sich erhoben und dann wieder ins dunkle Blau versanken. Oder wie sie gegen einen Widerstand, eine Mauer, knallten.
 

Wieder ertönte das Hornsignal und langsam öffnete ich meine Lider. Es war Nacht. Über mir breitete sich der fast schwarze Himmel aus, hier und dort verdeckt mit Wolken, anderorts schimmerten die vielen kleinen Sterne durch. Der Mond war halb verborgen. Zwischen Himmel und meiner selbst schoben sich Blätter dazwischen. Eine beachtliche Menge, die sich über mir erhob und mich bei genauerem Betrachten zu allen Seiten umgaben. Mein Rücken war kalt und nun nahm ich auch das feuchte Gras unter mir wahr. Ich stützte mich auf meine Ellenbogen. Mein Versuch, mich zu erinnern, wie ich hierhergekommen war, schlug fehl. Ich wusste noch, dass ich gerannt war und dass ich mich vorher in einem kleinen Innenhof aufgehalten hatte. Aber wie ich an diesen seltsamen Ort gelangt war, blieb meiner Erinnerung verborgen. Mein Umfeld glich einem Versteck aus dichten Sträuchern und Büschen. Zu meinen Füßen konnte ich mehr oder weniger einen groben, schmalen Pfad aus den Pflanzen heraus erahnen. Ich drehte mich auf meinen Bauch und schob ein paar Äste aus meinem Sichtfeld.
 

Ich war am Hafen.
 

Vor mir etwas weiter unten breitete sich das steinige Ufer aus und eine ebenso grobe Nase aus großen Steinen reichte ins Wasser hinein. An ihrer Spitze in einiger Entfernung erblickte ich das immer wieder aufblinkende Licht des Leuchtturms. Nebel hatte sich auf dem Wasser gesammelt. Sehr dichter Nebel und bei noch angestrengterem Hinsehen erkannte ich ganz schwach die Umrisse eines großen Frachters.
 

Das Bild hätte vielleicht einschüchternd sein müssen – ein verlassenes Steinufer in einer kalten Herbstnacht, bedeckt mit dicken Nebelschwaden –, aber das war es nicht. Ich fand es … beruhigend. Jedes Mal, wenn das Licht des Leuchtturms seine Runde erreicht hatte, erleuchtete es für einen kurzen Moment mein kleines Versteck. Fast war es so, als würde die Umgebung mein Innerstes reflektieren.
 

„Was denkst du?“
 

Ich machte mir nicht die Mühe, nach der Stimme zu suchen. Ich wusste mittlerweile, dass ich den Ursprung nicht finden würde. Weil ich verrückt werde.
 

„Ich denke, dass mir dieser Ort gefällt“, antwortete ich und bettete mein Kinn auf meine Unterarme. Ich hatte mich schon eine ganze Weile nicht mehr so ausgeglichen gefühlt wie in diesem Augenblick.
 

-------------------------------------------------------------------------
 

Hello there? Anyone still here?
 

Ja, ich weiß, es hat fast ein Jahr gedauert, bis ich das neue Chapter endlich fertig bekommen habe. Angefangen hatte ich schon vor einer Ewigkeit, aber dann bin ich über diese Krankenhausszene nicht hinaus gekommen, weil die wegen der Authenzität irgendwie schwierig war zu schreiben (und Informationen über diese Art von Untersuchung einzuholen, ist etwas schwierig. Kann ich mich glücklich schätzen, dass ich vor kurzem erst im Krankenhaus war und mich bei einem Arzt darüber informieren konnte?). Jedenfalls war ich mir dann nicht mehr sicher, ob ich noch richtig in die Geschichte finde, aber meine Beta (allerliebste dubby ♥) meinte, es ist noch immer wie am Anfang. Mindfuck, Spannung und man weiß immer noch nicht, was Sache ist :'D HA! Hehe ...
 

Okay, genug der Worte. Ich hoffe, irgendjemand konnte sich noch an die Story erinnern, hat das Chap gelesen und es hat ihm/ihr gefallen? ^^
 

See ya~



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Kommentare zu dieser Fanfic (12)
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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  vamgirly89
2011-11-11T11:35:49+00:00 11.11.2011 12:35
Wow. Endlich haste weiter geschrieben. Freue mich schon, wenn es weiter geht. Ich bin schon so gespannt, was für Bella einen Unfall hatte warum sie Amnesie hat und was Alice und Doktor Cullen ihr verschweigen. Bitte schreib schnell weiter.
Von: abgemeldet
2011-01-01T13:20:59+00:00 01.01.2011 14:20
hallo schön endlich geht es weiter... Hatte nicht mehr damit gerechnet. Du machst es aber auch spannend. Hat sie sich das wirklich nur eingebildet oder sind das auch erinnerungen? Und sie merkt es nur nicht? Ich würde da auch mehr neugier von ihr erwarten, irgendwas verschneit alle doch noch vor ihr...
Von:  vamgirly89
2010-12-28T20:25:25+00:00 28.12.2010 21:25
Hallo, hätte auch nicht mehr mit einem Kapitel in diesem Jahr greechnet. Meine Vorgängerin hat schon alles gesagt. Also schnell weiter schreiben.
Von: abgemeldet
2010-12-28T11:32:09+00:00 28.12.2010 12:32
Bonjour
Ich habe in der Tat nicht mehr damit gerechnet, aber schön, dass es endlich weiter geht ^_^
Nach der Spannung des Letzten Kapitels mal wieder etwas ruhiger, aber trotzdem würde mich langsam mal interessieren, was denn vorher zwischen ihr und Edward gewesen ist.
Sie nimmt ja alles immer sehr leichtfertig hin und bohrt nicht nach, aber es passt zu ihrem Charakter
Die Duschszene ist wirklich cool! Das sie es sich nur einbildet hätte ich jetzt nicht direkt erwartet, aber alles andere wäre auch unsinnig gewesen.
Alles in allem fand ich es diesmal sehr witzig!!

Nur eine kleine Anmerkung:
>> Über wen hatten wir gesprochen gehabt? --> das gehabt bitte weglassen ^^'', das klingt nicht so toll und ist auch falsch.

Ich hoffe, das nächste Kapitel dauert nicht so lange
Liebe Grüße

Whirl
Von:  DavidStarr
2010-11-01T23:15:52+00:00 02.11.2010 00:15
Cooles Kapitel, schreib schnell weiter!!
Von: abgemeldet
2010-10-26T20:41:11+00:00 26.10.2010 22:41
Super Spannung, lad schnell mehr hoch!









Von: abgemeldet
2010-10-26T20:06:30+00:00 26.10.2010 22:06
Hey^^
Die Geschichte gefällt mir bisher wirklich gut! Die Sache mit der Amnesie ist zwar nichts Neues, aber wie du es aufziehst hat mich sehr neugierig gemacht und dieses Kapitel hat mich nun endgültig überzeugt. Außerdem ist dein Schreibstil echt gut, es macht wirklich Freude weiterzulesen!!
Von:  vamgirly89
2010-10-24T13:02:48+00:00 24.10.2010 15:02
Tolles Kapitel. Freue mich schon auf das nächste. Was ist los mit Alice?
Von:  vamgirly89
2010-10-01T19:18:47+00:00 01.10.2010 21:18
Tolles Kapitel. Freue mich schon auf das nächste. Kommt Edward auch mal dran? Lass dir nicht so viel Zeit mit den Kapiteln, den deine Geschichte ist echt spannend.
Von:  vamgirly89
2010-09-19T08:32:11+00:00 19.09.2010 10:32
Schönes Kapitel. Freue mich schon auf das nächste.


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