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Spiegel deiner Selbst

...bis du ganz unten angekommen bist...
von

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Tatsachen

Die Wolken hatten eine undurchdringbare Decke erschaffen die uns in geheimnisvolles schweigen hüllte. Und der Regen ließ nicht nach. Er wusch unsere Trauer davon und spülte jedes Gefühl das unsere Herzen einst füllte in einem donnernden Strom davon.

Das ist es, was unser Leben ausmacht. Tag für Tag. Alles zerfließt. Alles schwimmt davon im Fluss der Zeit. Und irgendwann bleibt jegliche Erinnerung verschollen in dem schwarzen Loch, das sich immer wieder auftut und das Leben in sich einsaugt.

Schwach loderten vergangene Szenarien vor meinen Augen auf und mein Herzschlag verebbte im Rauschen meiner Erinnerungen.
 

Es war bereits dunkel als ich die Party verlassen wollte und sich mir dicke Nebelschwaden wie eine uneinnehmbare Festung in den Weg stellten. Mike hatte es sich nicht nehmen lassen mir wie ein Dackel hinterher zu rennen. Er bestand darauf mich nach Hause zu fahren, schließlich hätte mich weiß Gott wer auf der Straße aufsammeln und entführen können. Er war ein begriffsstutziger Nichtsnutz der seine Sorgen in Alkohol und Drogen zu verschütten drohte. So vermasselte er auch letzten Endes seine Doktorarbeit und setzte den letzten Anker für das Ende unserer Beziehung. Von dem was ich so an ihm geliebt hatte, war nicht einmal mehr ein kläglicher Fetzen übrig geblieben.

„Alice! Nun steig schon ein, oder willst du in dieser Nebelsuppe etwa wurzeln schlagen?!“

Widerwillig öffnete ich die Beifahrertür seines 45.000 Euro schweren Schätzchens, das schnurrend den Dreh am Zündschlüssel quittierte.

„Also, wo soll’s denn bitte hingehn meine Dame?“ witzelte er „darf ich sie auf einen Kaffe bei mir Zuhause einladen?“

Scharf blickte ich ihn an.

„Lass deine dummen Witze! Ich möchte nach Hause! Nirgendwo sonst will ich hin!“

Enttäuscht sah er mich an und setzte den Wagen in Bewegung.

„Ist ja schon gut! Ist ja gut!“ lallte er und hob beschwichtigend die Hände. Wie üblich hatte er seinen Alkoholpegel in hoffnungslose Höhen getrieben. Seine daraus resultierenden Ausraster waren allseits gefürchtet. Jetzt allerdings war er damit beschäftigt mich mit seinen irrwitzigen Manövern zu beeindrucken und so riss er das Lenkrad von links nach rechts um das Auto wie die Wellen des Meeres hochschaukeln zu lassen.

„Lass das gefälligst!“ schnauzte ich ihn an.

„Weißt du Alice“ setzte er an und ließ den Wagen wieder ruhig die Kurven der Straße hindurch gleiten „es gibt nur einen einzigen Menschen auf der Welt, für den ich sterben würde“

Er war gerade dabei sich erst in Sentimentalität hineinzureden und anschließend einen Ausbruch der superlative zu erbrechen. Seine Gefühlsausrutscher waren nicht mehr länger die aufrichtigen Gefühle eines jungen Mannes für mich. Nein, vielmehr waren sie Ausdruck dessen wie weit sein geistiger Verwesungsprozess, angefeuert durch Alkohol- und Drogenexzesse bereits fortgeschritten war.

„Hörst du mir überhaupt zu?“ erkundigte er sich und musterte meinen abwesenden Blick der sich durch den Nebel hindurch zum Waldrand bohrte.

„Entschuldige“ gab ich ruhig von mir „was hast du gesagt?“ Müde blinzelte ich ihn an. Es war bereits spät und meine bleischweren Glieder sehnten sich einzig und allein nach einer warmen, weichen Stelle in der sie sich betten durften.

„Ich sagte, es gibt nur einen einzigen Menschen auf der Welt für den es sich zu sterben lohnt!“ wiederholte er seinen Satz bissig.

„Warum hörst du mir nie zu Alice? Warum lässt du mich nur so eiskalt abblitzen?! Ich liebe dich doch!“

Unweigerlich musste ich lächeln. Ich wandte mich vom Fenster ab und richtete meinen Blick direkt in sein sorgenzerfressenes, übermüdetes Gesicht.

„Das fragst du mich noch?“ gab ich grinsend von mir „Sieh dich doch an. Alles was du mit harter Arbeit, Fleiß und Stolz aufgebaut hast, hast du dir von deinen dummen Freunden, die ohne jede Zukunftsplanung durch ihr leben straucheln, verderben lassen. Du bist nicht mehr der, der du warst. Du bist nicht mehr der, den ich geliebt habe.“

Tränen füllten seine Augen und ich wartete nur darauf bis er das Auto anhielt und sie sich aus dem Gesicht strich. So wie er es etliche Male zuvor getan hatte, wenn er mich davon überzeugen wollte, dass er der einzige für mich sei.

„Ist das alles?! Ist das der Grund?! Oder hast du heimlich vielleicht schon einen anderen?!“

Aus witzeln wurde reden, aus reden wurde eine vorsichtige Diskussion und aus dieser vorsichtigen Diskussion wand sich ein gekränkter Männerstolz, der nicht zulassen konnte, dass negative Veränderungen eher früher als später das Ende bedeutet hatten.

„Was soll das Mike?“ fragte ich ruhig. „Du wolltest es wissen. Du wolltest unbedingt hören warum wir nicht mehr…

„NEIN!“ unterbrach er mich barsch. „Du gehörst MIR! MIR ALLEINE!“

Es begann. Er war gerade dabei jegliche Selbstkontrolle aufzugeben. Und ich würde mich gegen einen weiteren Wutausbruch wehren müssen. Es war nicht der Erste. Doch in all der Zeit in der er mich tyrannisiert hatte, war ich zumindest fähig zu lernen mich gegen ihn zu behaupten.

„Schlag dir das aus dem Kopf“ zischte ich ihn bösartig an.

„Du gehört mir, Alice!“ presste er zwischen seinen Zähnen hervor „mir!“ und schlug zornig auf sein Lenkrad ein. Wenn es etwas gab was er nicht ertragen konnte, dann war es, wenn man ihn mit leiser Stimme anschrie und ihm seinen Halt raubte.

„Es ist besser wenn du mich jetzt aussteigen lässt, ich laufe den Rest zu Fuß. Vielen Dank fürs mitnehmen Mike.“

Er packte mein Handgelenk und riss mich zu sich heran.

„So einfach kommst du mir nicht davon! Du gehörst mir! Und wenn du glaubst du könntest einfach so verschwinden…

„Lass mich gefälligst los!“ Mit aller Macht wehrte ich mich gegen seinen Griff der sich bereits so fest um mein Handgelenk geschlungen hatte, dass ich glaubte meine Knochen knacken zu hören.

„HÖR MIR GEFÄLLIGST ZU!“ schrie er mich an und riss mich noch ein Stückchen näher an sich heran. Unter dem hektischen Handgemenge geriet nun auch das Auto ins schlingern.

„Wenn ICH dich nicht haben kann, Alice, dann soll dich NIEMAND haben!“

Plötzlich gab er dem Lenkrad einen kräftigen Ruck und steuerte sein Auto gegen den nächsten Baum der sich ihm in den Weg stellte.

Von diesem Augenblick an war es schwärzeste Nacht. Ich wusste nicht wie lange ich weggetreten war, ob ich überleben würde. Ich wusste ja noch nicht einmal mehr dass ich überhaupt existiert hatte. Für einen kurzen Moment schien meine Existenz tatsächlich ausgelöscht zu sein. Und erschreckender Weise fühlte ich mich in dieser Unwissenheit verborgen zum ersten mal in meinem Leben richtig wohl…
 

Ein Regentropfen verirrte sich auf meine Wange und rollte mit der Vertrautheit einer Träne hinab, um sich wie alle Traurigkeit im Nichts zu verirren. An diesem verregneten Märztag wurde jedes Gefühl einträchtig in eine schmutzige Matschdecke eingetrampelt. Auf dem Pfad des Abschieds.

„Liebe Trauergemeinde“ setzte der Pfarrer seine Rede an und richtete sich mit einem flüchtenden Blick an jeden der sich um den Sarg geschart hatte. Eine Woche war das Dilemma her. Eine Woche in der ich langsam wieder zu mir finden musste und mich von dem Aufprall der meinen Kopf und sein Gedankengut durcheinander würfelte erholen musste. Glücklicher Weise war ich nur mit einer mittelschweren Gehirnerschütterung und ein paar Kratzern davon gekommen. Dennoch reichte es aus um mich eine Weile vor dem tristen Alltag fern zu halten, der mich beständig und um keinen Preis aus seinen Klauen gelassen hätte.

„Wir haben uns hier versammelt um von Mike Freudenstern, der durch einen tragischen Autounfall ums Leben kam, abschied zu nehmen. Mit seinen 23 Jahren ist er viel zu früh von uns gegangen und wir fragen uns, Gott, warum hast du ihn aus unserer Mitte genommen?“

Das war sie, die Rede eines übereifrigen Pfarrers, der sich von Familie und Freunden Informationen geborgt hatte, um für diesen Bastard der vor unsern Füßen in einem Sarg verschlossen lag, die passenden Worte zuzuschneidern.

„Doch vergessen wir dabei, es ist nicht an uns zu entscheiden, wann der rechte Moment gekommen ist, dass Gott seine verirrten Schafe in seinen Schoß zurück holt….“

Diese gefühlvollen Worte für einen Menschen, der mich in seinem grenzenlosen Egoismus töten wollte. Der mich auslöschen wollte damit ich selbst in der Ewigkeit durch ihn gefesselt wäre. Wofür das alles? Warum verdient ein Mensch wie er so viel Trauer und Mitgefühl?! Mein Inneres war bis zum Rand prall gefüllt mit Zorn und Vergeltungsdrang. Doch kam ich nicht um den Gedanken herum, dass längst alles vergolten war, mit dem Fehltritt den Mike selbst begangen hatte.

„In seiner Barmherzigkeit gibt er Leben und er nimmt es wieder. Der Tod ist nicht das Ende, nicht die Vergänglichkeit. Der Tod ist nur die Wende, der Beginn der Ewigkeit. Allmächtiger Gott, du bist die Auferstehung und das Leben, wir bitten dich, nimm diese Seele in deine Obhut und vergib ihm seine Sünden. Mike Freudenstern, in unseren Herzen wirst du ewig weiter Leben. Amen. Liebe Trauergemeinde, lasst uns beten“

Die Rede strich an mir vorbei und verflüchtigte sich wie die alkoholische Essenz eines Reinigungsmittels das man auf eine verschmutzte Fläche pumpte. Unbemerkt und ohne eine Spur oder großen Eindruck zu hinterlassen. Erst der Nervenzusammenbruch Mike’s Mutter riss mich aus meinen Gedanken und für einen kurzen Augenblick loderte ein Funke Mitleid für sie auf. Was für ein geschundenes Wesen sie doch war. Erst musste sie sich abplagen um unter größten Schmerzen ihr lang ersehntes Wunschkind auf die Welt zu bringen, nur um dann mit ansehen zu müssen wie ihr Liebling auf die schiefe Bahn geriet und durch nichts und niemanden wieder zu retten war. Es muss schrecklich für sie gewesen sein. Ich verstand sogar, dass ich mir ihren Hass zugezogen hatte. Sie setzte all ihre Hoffnung in mich, dass ich ihren Sohn von diesen nichtsnutzigen Junkies fern hielt, doch als auch ich aufgegeben hatte, sah sie sich selbst in einer Verschwörung in der es die ganze Welt auf sie abgesehen hatte. Ihr Seelenheil war im Bruchteil einer Sekunde zerbrochen. Und nie wieder würde jemand ungestraft den Namen ihres Sohnes aussprechen, ohne den Zorn über diese Ungerechtigkeit in ihr zu verspüren.

Während alle anderen Trauergäste bereits verschwunden waren und sich nicht länger dem weinenden Himmel aussetzten, der ihr kostbares Gewand einnässte, stand ich noch lange regungslos vor diesem Holzkasten der nur noch eine leblose Wachsfigur beherbergte. Es war eigenartig. Wann immer das Leben aus einem Körper wich, so schien es, als würde nur noch eine stinkende Wachshülle übrig bleiben. Eine Hülle die irgendwann vermodert und zerfressen unter der Erde liegt und den Parasiten die sich daran nähren einen Grund zum Leben gibt. Was wäre wohl wenn Menschen nicht sterben würden? Woran würden sich diese Wesen wohl dann satt fressen?

Ein Windhauch trieb mir einen Schauer über den Rücken. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Tag seinen Rückzug anmeldete. Es dämmerte bereits und mir war bitter kalt.

„Machs gut Mike. Hoffentlich weißt du dein nächstes Leben besser zu nutzen! Wenn es sowas überhaupt gibt…“

Ich wandte mich ab und stapfte den Pfad des Bergfriedhofes zur Straße hinunter. Diese unwirkliche Stille vermochte mich nicht länger in ihren Fängen zu halten. Und ich beschloss die Vergangenheit dort zu lassen wo sie hin gehörte. Vergraben und versteckt vor den Augen des Lebens. Verstaubt und surreal weil jede Wahrheit irgendwann mit der Geschwindigkeit des Lebens untergeht. Unerreichbar für mich. Ich ahnte ja nicht, dass mich noch schlimmere Zeiten ereilen würden, als ich sie bisher durchlebt hatte….

Unerklärliche Unruhe

Herzrasen… dieses entsetzliche Herzrasen. Wo kommt das her?

Wieso ist es so dunkel?

Wo bin ich nur?

„Hallo? Hört mich jemand? Hallooo?“

Gebannt lauschte ich, lechzend, hoffend auf ein Zeichen darauf dass ich nicht alleine war.

Mein Gleichgewichtssinn sträubte sich gegen den Versuch mich aufrichten zu wollen. Es war zu dunkel, ich konnte nichts sehen. Auf allen Vieren tastete ich mich vor. Was war das nur für ein ekelhafter Geruch? Übelkeit kroch aus den tiefen meines Magens empor. Mein Herz raste schneller und schneller und ein unmenschlich starkes Gefühl von Gefahr zerrte an meinen Gliedern, drohte mich zu lähmen. Irgendwo musste sich doch eine Wand mit einem Lichtschalter befinden. Ich konnte es deutlich fühlen. Die Fugen grober Fließen unter meinen Fingerkuppen gaben mir ganz deutlich zu verstehen das ich mich in einem Raum befinden musste. Wie groß konnte er also sein? Und wie hoch war die Wahrscheinlichkeit in dieser markerschütternden Dunkelheit einen Hinweis darauf zu finden wo ich war. Irgendetwas stimmte nicht. Und mit einem Schlag wurde mir bewusst warum. Es war nicht mehr nur mein Herzschlag der von den unsichtbaren Wänden wieder hallte. Nein. Vielmehr war da ein Röcheln. Das Pfeifen von Lungen die sich unter jedem Atemzug gequält weiteten und in sich zusammenfielen.

„Hallo?“ schrie ich kaum hörbar in der Hoffnung auf eine Reaktion.

Keine Antwort.

Vorsichtig tappte ich weiter. Inzwischen zitterte mein ganzer Körper. Das Röcheln wurde lauter, schien mich von allen Richtungen fluten und einfangen zu wollen. Langsam war ich mir sicher dass dieser widerliche Gestank von verbranntem Fleisch und offenen Wunden stammen mussten. Wer auch immer noch in diesem Raum war, musste schwer verletzt und unfähig sein zu reden.

„AAAH!“

Mein eigener Schrei überschlug sich in meinen Ohren. Irgendetwas warmes, flüssiges rann um meine Handflächen herum und tränkte den Stoff meiner Jeans.

Meine Güte. Hoffentlich nässte sich der Verletzte nicht gerade ein. Der Gedanke durch fremden Urin zu krabbeln trieb meine Übelkeit in ungeahnte Höhen. Es bräuchte nur noch eine Kleinigkeit und ich würde meinen Brechreiz nicht mehr unterdrücken können. Ich durfte jetzt nicht aufgeben. Auf keinen Fall durfte ich die Angst über mich siegen lassen. Behutsam kämpfte ich mich voran.

„Nur nicht aufgeben Alice, alles wird gut… du wirst schon sehn, alles wird gut, hab nur keine Angst..“ flüsterte ich mir ermutigend zu. Doch meine Hoffnungen schwanden mehr und mehr. Mit jeder Sekunde die ich im Dreck kriechen musste bröckelte meine Selbstsicherheit. Und mit jedem Augenblick in dieser bedrohlichen, unwirklichen Umgebung, stemmte sich die Angst in meine Glieder wie eine unsichtbare Gestalt die mein Vorankommen hindern will.

„Waaahaaaa!“ stieß ich aus und unweigerlich schossen mir Tränen in die Augen.

Irgendetwas versperrte mir den Weg. Panisch tastete ich auf dem Widerstand herum und fröstelte als ich bemerkte dass es warm war… Warm und weich. Es bewegte sich, gab federnd, rhythmisch unter meinen Handflächen nach. Aber…. War das etwa? Konnte es sein dass ich…?

Ruckartig wandte ich mich um und gab dem Krampfen meines Magens nach. Platschend ergoss sich der Inhalt auf den Fließen. Ganz Zweifels ohne musste ich auf den Verletzten gestoßen sein. Und ohne es zu wollen hatte ich meine Finger in seine Wunden hinein gebohrt. Oder war bereits der ganze Mensch eine einzige Wunde? Meine Gedanken überschlugen sich, drückten mich zu Boden und ließen keine logische Schlussfolgerung mehr zu. Doch irgendetwas hatte sich schon wieder verändert. Was war es nur? Ich drehte mich herum um mich erneut zu versichern ob ich gerade wirklich auf etwas lebendes gestoßen war. Allen Erwartungen zum Trotz griff ich ins Leere. Und mit einem Mal hörte ich nur noch mein eigenes, hektisches Atmen.

>Klack<

„Aaaah!“ Das grelle Licht einer Taschenlampe wanderte direkt in mein Gesicht.

„Wer bist du, was willst du von mir?“ rief ich panisch.

Innerlich zählte ich bis vier. Es hieß, das menschliche Auge brauche vier Sekunden um sich an veränderte Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Diese Sekunden vergingen so unmenschlich langsam. Als meine Pupillen das beißenden Licht endlich akzeptiert hatten, blickte ich mich vorsichtig um und versuchte die Dinge zu deuten die außerhalb des Brennpunktes lagen.

Entsetzt erkannte ich dass es nicht Urin gewesen war, wodurch ich die ganze Zeit gewatet war. Nein, viel schlimmer. Der ganze Raum war über und über mit Blut besuhlt und ich hatte mich auch noch damit beschmutzt.

Das schnarrende Geräusch setzte wieder ein. Das Licht kam näher, immer auf mich fixiert. Näher… immer näher… bis..?

„ NEIN!“ schrie ich verzweifelt und folgte meinem Reflex zu fliehen. Doch ich kam nicht auf die Beine, rutschte aus und landete Bäuchlings auf dem Boden.

Wieder kam es ein Stückchen näher. Das Röcheln. Das Pfeifen. Es kam es ganz eindeutig auf mich zu.

Erneut startete ich einen Versuch auf die Beine zu kommen, blickte mich um und traute meinen Augen nicht. Jetzt musste ich endgültig den Verstand verloren haben. Schützend hielt ich meine Hand vor die Augen. Das, was mich eben noch mit der Taschenlampe fixiert hatte und schleppend auf mich zugekommen war, griff nach meinem Arm, riss mich zu sich nach oben und schrie mir entgegen. Erst war es nur ein unverständliches, gebrülltes Murmeln, dann aber wurden mit jeder Wiederholung verständliche Worte daraus.

„Waaa…. Ha… n… get….“

„Waaaha… du… n… etaaan?!“

„Was… hast du nur…. GETAN?!“

„Nein… bitte… Lass mich los“ flehte ich. Doch mein Handgelenk wurde immer stärker gequetscht.

Diese Situation… das Knacken meines Handgelenkes… es war mir auf unheimliche Art und Weise so seltsam vertraut.

„LASS mich LOS“ wiederholte ich mit Nachdruck und stemmte mich mit aller Kraft gegen den Griff der mich fixieren wollte.

In Panik riss ich mich los und taumelte rückwärts weg. Was nun passierte, rettete meinen Verstand wohl vor dem endgültigen kollabieren. Ich stolperte, stürzte, fiel in ein tiefes, tiefes Loch das schier nie Enden wollte… bis ich am Ende angekommen war. Und erst durch den Aufprall bemerkte ich dieses surrende, nervige Geräusch das mehr und mehr zu einem taktischen, elektronischen Piepen wurde.

Mit einem lauten Schrei befreite ich mich aus meinen Kissen und trampelte meine Bettdecke von mir. Verstört packte ich den schreienden Wecker und pfefferte ihn an die Wand.

„STILL JETZT!“

Dieses Mal hatte ich es wohl endgültig geschafft. Das kleine Ding das mir bisher immer treue Dienste erwiesen hatte, mich aber dennoch das eine oder andere mal verschlafen ließ zerschellte und erstarb nach einem langen, verebbenden Krächzen.

„Klasse, jetzt kann ich mir also auch noch einen neuen Wecker kaufen.“

Es war Zeit aufzustehn. Schwächlich schwang ich meine Beine aus dem Bett und griff nach meinem schmerzenden Kopf. Mein Körper fühlte sich an als hätte ich einen 24-stündigen Dauerlauf hinter mir. Erst nach langem tasten und fühlen bemerkte ich diese klebrige Substanz die meine Handflächen benetzte. Was zum Teufel war hier los?

Merkbar verunsichert schlich ich ins Bad. Ich fühlte mich verdreckt, beschmutzt. Erst als ich das Licht angeschaltet hatte erkannte ich den Grund für all das Grauen. Ich hatte Nasenbluten. Es war schon fast zum lachen. Dieser Geruch den ich die ganze Zeit in der Nase hatte, der 99% meines Traumes bestimmte, er stammte tatsächlich von Blut. Von meinem eigenen. Beruhigt lachte ich auf und atmete tief durch. Mein Puls beruhigte sich spürbar. Eines jedoch wollte mir nicht aus dem Kopf. Dieses Gesicht. Dieser verletzte Mann. Woher kannte ich ihn nur? Ich hatte ihn bestimmt schon einmal gesehen, aber wo?

„Ach Alice. Hab dich nicht so. Es war nur ein Traum. Er hatte gar nichts zu bedeuten…. Herr Gott, jetzt führ ich sogar schon Selbstgespräche“.

Ein zartes Klopfen an der Tür ließ meine Gedanken verstreichen.

„Ja bitte?“

„Alice?“ rief eine freundliche, aufgeweckte Stimme „Alles ok bei dir?“

„Ja Mama, alles ok“ grinste ich und öffnete die Badezimmertür.

„Gütiger Himmel ALICE?! Was ist denn mit dir passiert?!“

Ich konnte es mir nicht nehmen lassen den entsetzten Gesichtsausdruck meiner Mutter auszukosten.

„Och, das Traumgespenst ist über mich hergefallen und hat mir die Nase blutig geschlagen“ gab ich ernst von mir. Ihre Augen weiteten sich bedrohlich.

„Mein liebes Fräulein!“ fauchte sie los und ich konnte mein lachen nicht mehr länger unterbinden: „Ich habe dir eine normale Frage gestellt, also antworte bitte auch entsprechend!“

„Entschuldige Mama“ kicherte ich. „aber ich hab doch nur Nasenbluten, kein Grund zur Beunruhigung. Ich werde jetzt erstmal ordentlich duschen, so kann ich wohl schlecht vor die Tür gehen. Am Ende glauben noch alle du wärst mir wieder mit der Bratpfanne hinterher gewetzt“

„Also ALICE“ plusterte sie sich auf. Lachend schloss ich die Tür hinter mir ehe sie endgültig die Nerven verlor.

„Entschuldigeee, es tut mir ja sooo leid Mamilein. Jetzt muss ich aber wirklich duschen“

Heute war mein großer Tag und auf gar keinen Fall durfte ich es mir erlauben einen negativen Eindruck zu hinterlassen. Denn was würde wohl mein zukünftiger Chef dazu sagen wenn ich als Empfangsdame eines renommierten Hotels müffelnd und ungepflegt aufkreuzen würde. Gar nicht auszudenken.

„Die Konkurrenz ist hart. Also, auf unter die Dusche Alice!“

Das heiße Wasser prasselte vibrierend meinen Nacken hinunter und lockerte meine verspannten Muskeln auf. Ein herrlicher, wahnsinnig belebender Moment. Wie gerne wäre ich jetzt geblieben um dieses Gefühl so lange wie möglich auszukosten. Aber ich musste jetzt unbedingt fertig werden. Rasch trocknete ich mich ab, föhnte meine Haare und schwang mich in meine weiße Bluse, den knielangen schwarzen Faltenrock und die passenden Schuhe die ich gestern Abend bereit gelegt hatte. Zielstrebig glättete ich meine langen blonden Haare und verpasste ihnen das letzte Finish, indem ich die Spitzen in verspielte Wellen formte, die meine Schultern umspielten. Mit Kajal und Wimperntusche betonte ich meine grauen, katzenhaften Augen und ein letzter Blick in den Spiegel gab mir das sichere Gefühl fast perfekt zu sein. Erst nach diesem morgendlichen Ritual war ich gewappnet für diesen aufregenden Tag. Ich konnte es kaum erwarten meine große Prüfung zu bestehn….

Hotel de la vérité Miroir

„Alice, wo bleibst du denn so lange?“

„Ich komm ja schon Mamileiiiin“

Vergnügt tänzelte ich durch die Straßen und verlor mich in einem Schaufenster nach dem anderen. Irgendwie war es schon fast schade. Gerade heute, auf dem Weg zu meinem einzig wahren Ziel, beutelte mich eine mörderische Lust mich in die Läden zu schlagen. Eines wusste ich schon jetzt. Ich würde mich auf jeden Fall heute noch mit einer kleinen Shopping-Tour durch meine Lieblingsläden belohnen, ganz egal wie das Ergebnis meines Vorstellungsgespräches ausfallen würde.

„Alice! Wir sind nicht zum Bummeln hier! Wenn ich also bitten dürfte?!“

Mit einer wischenden Handbewegung deutete sie mir, die Führung zu übernehmen.

„Ja ja, schon gut, ist ja gut“ grinste ich sie an und schnitt ihr den Weg ab um sie einmal kräftig zu umarmen.

„Danke das du mich begleitest Mama, das bedeutet mir wirklich viel“

Ihre Verwunderung über meine Verhalten erlaubte ihr keine Reaktion und noch ehe sie fähig war zu realisieren, löste ich mich mit einem Kuss auf ihre Wange und trabte artig voraus. Gleich würden wir ankommen und langsam fing mein Herz an rebellisch zu pochen. Nervös umklammerte ich mein Handgelenk, trommelte in verspielter Gelassenheit darauf herum und versank in Vorstellungen wie ich mich in dem bevorstehenden Gespräch machen würde. Ich sah mich schon jetzt sprichwörtlich auseinander genommen.

Ich bog in die nächste Seitenstraße ein, stockte und verlor für einen Augenblick die Fähigkeit zu atmen. Ich kannte das Hotel bisher nur aus Zeitungsartikeln und vagen Beschreibungen von Freunden die vor mir schon hier gearbeitet hatten. Es war wunderschön. Viel schöner als es jede Erzählung hätte beschreiben könnte. Durch seine Architektur wirkte es fast, als wäre es ein kleines Schlösschen das sich hoch zum Himmel hinauf schwingen wollte, fernab jeder Verbindung zum Asphalt. Ja, wie eine fliegende Festung auf Wolken die von unzähligen geschwungenen Tor- und Fensterbögen und einer kolossalen Wendeltreppe zum Eingang hinein in eine völlig neue Welt einlädt.

„Sieh dir das an Mama“ stotterte ich atemlos als ich mitbekam das sie bereits an meiner Seite stand und meinen paralysierten Blick musterte. „ich hätte nie gedacht dass es so atemberaubend ist“

„Wie wahr, es ist wunderschön. Trotzdem solltest du dich jetzt zusammen reißen und endlich hinein gehn. Schließlich willst du doch nicht zu spät kommen, oder?“ Sie strich mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr, zupfte meine Bluse zurecht und mit einem letzten Lächeln schob sie mich in richtung Treppe. Verunsichert blickte ich mich noch einmal um, um ein letzte mal ihren Rückhalt zu spüren.

„Machs gut Mami, bis später“

„Ich drück dir die Daumen Alice“ aufheiternd zwinkerte sie mir zu.

Mit schweren Beinen stapfte ich die Treppe hinauf, die sich extra für mich noch ein Stück weiter zu entfalten schien, so dass sich mir das unbestimmte Gefühl aufzwang, mich geradewegs in den Schlund der Hölle zu begeben. Und je weiter ich empor stieg, umso mehr beschlich mich ein Gefühl, dass das Gebäude, dessen zierliches Emblem in Goldranken geschwungen über mir prangte, keine Verbindung mehr zum Erdboden aufwies. Ich war mir sicher, würde man die Treppe wegklappen können, dann würde ich jetzt schweben und schon die geringste Erschütterung würde mich wieder hinunterpurzeln und auf den Boden der Tatsachen fallen lassen. Ein Höhenflug vom Hotel de la vérité Miroir. Ein faszinierender Gedanke der mir einen unangenehmen Schauer über den Rücken trieb.

Ich war kaum ganz oben angekommen als sich die drei Mann große Eingangstür ruckartig unter lautem Knatschen öffnete und mir ein leuchtendes paar Augen entgegen starrte. Erschrocken wich ich zurück Ich hatte Mühe mich an die gediegenen Lichtverhältnisse des Eingangs zu gewöhnen und war nicht schlecht überrascht. Welch seltsame Begrüßung. Jetzt stand ich also hier und wurde ohne jedes Wort mit Blicken durchlöchert.

„Gu..Gu… Guten Tag, mein Name ist Alice Finkenlied.“ stammelte ich und streckte dem jungen Mann der sich als Portier entpuppte unsicher meine Hand entgegen.

Mit straffen Schritten stolzierte er auf mich zu so dass ich ihn in strahlendem Tageslicht erkennen konnte. Er musste etwa 1,78 groß sein, 25 Jahre alt und glänzte mit einer äußerst athletischen Figur. Seine pechschwarzen Haare ließen sein Gesicht äußerst blass wirken, fast schon weiß. Das Rot seiner Dienstkleidung unterstrich diesen Kontrast erheblich. Was mich allerdings verschreckt hatte war nicht etwa diese Blässe die ihn schon fast krank wirken ließ. Nein, es waren seine kastanienbraunen Augen, durchzogen von Orangen lodernden Flecken, die mir regelrecht entgegen leuchteten. Mit sorgenzerfurchtem Gesicht sah er mich an.

„Alice Finkenlied also…“ flüsterte er mich knapp an. Seine unterkühlte Art ließ mich derart frösteln, dass ich ohne weiter auf eine Reaktion zu warten meine Hand wieder sinken ließ.

„Ähm… ja, so heiße ich.

„Ein Hauch von Unwissenheit haftet an dir, mein Mädchen.“

Er kniff seine Augen zusammen die plötzlich schmutzig und matt wirkten und jede Leuchtkraft versagten.

„Wenn du Schuld mit dir trägst…. dann dreh um so lange es dir möglich ist“

„Ich… ähm… Entschuldigung, aber…“

„LUCIEN!“

Aus den schwach-matten Lichtverhältnissen des Hotels konnte ich eine weitere Person erkennen die sich hektisch mit erhobenem Arm auf uns zu bewegte. Je näher sie kam, desto klarer wurden die Konturen. Umrisse die verrieten, dass sein Arm nicht grundlos in die Höhe gehalten war. Denn sie würde jeden Moment, mit dem Gegenstand der bedrohlich in die Höhe zeigte, wieder in die Tiefen schnellen. Großer Gott, was hatte diese Person da nur in der Hand?

„Lucien, du Schwachkopf! Wie oft den noch?!“

Das Gezeter wurde immer lauter. Die Stimme eines alten Mannes donnerte bedrohlich durch den Eingang und hallte von allen Seiten wieder. Kein Zweifel, sie gehörte eindeutig der Person die sich jetzt aus dem Dunklen löste und dem Portier ohne jede Vorwarnung eine Zeitung auf den bedeckten Kopf donnerte.

„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du unsere Kunden nicht verschrecken sollst?!“

Lucien hieß er also. In einer geschmeidigen Bewegung bückte er sich um sein Hütchen aufzusammeln das dem Schlag nicht stand hielt und zu Boden fiel. Als er sich aufrichtete, setzte er es wieder auf und zupfte seine Dienstkleidung zurecht.

„Verzeiht, es kommt nicht wieder vor.“ Sprach er mit fester Stimme und seine Augen glommen gefährlich auf ehe er sich dem zornigen Blick seines Gegenübers entzog, sich verbeugte und rückwarts wieder in die Dunkelheit des Hotels verschwand.

Der Alte, der eben noch so aufbrausend war drehte sich nun zu mir und lächelte mich verlegen an. Silbrige Fäden durchzeichneten sein braunes Haar das er sich in einem ordentlichen Seitenscheitel zurechtfrisiert hatte. Ich schätze ihn auf etwa 50 Jahre, denn tiefe Falten gruben sich unter seine Augen und die Mundwinkel.

„Entschuldigen sie Frau… verzeihung, wie war noch ihr Name?

„Ich heiße Alice. Alice Finkenlied“

„Aaaah, sie sind also die Neue. Wir haben sie schon erwartet.

In schier gewohnter Freundlichkeit legte er seine Hand auf meinen Rücken und führte mich in die große Eingangshalle hinein. Sie war von überwältigender Größe.

„Sie gestatten, mein Name ist Ruben von Morrington. Ich bin der Chef und gleichzeitig Besitzer dieses Hotels.“

Prüfend blickte er auf seine Armbanduhr die sich perfekt mit seinem schwarzen Anzug ergänzte. Das Glas war Lupenrein und das grobmaschige Metallarmband glänzte als hätte man es frisch auf Hochglanz poliert und an den Rändern mit Diamanten besetzt.

„Wie ich sehe, haben wir noch ein bisschen Zeit. Sehen sie sich doch in der Zwischenzeit ein bisschen um, ehe wir zum eigentlichen Gespräch kommen. Ich werde sie rufen lassen Frau Finkenlied.“

„In Ordnung“ presste ich hervor und blickte ihm verunsichert hinterher. Jedes Wort viel mir schwer, je länger ich mich umsah. Gebannt verfolgte ich seine Wege die abrupt endeten als er hinter dem Empfang in ein Zimmer verschwand.

Was sollte ich nun tun. Umsehen hat er gesagt. Bedeutete das, dass ich mich hier in diesem großen Saal umsehen soll? Oder hieß das, dass ich frei hier umher spazieren durfte um einen groben Eindruck über das zu bekommen was mir bevor stand. Sekunden des Rätselns verstrichen.

„Es ist viel los Alice, nun geh schon. Deinen Rundgang im Hotel wird sicherlich niemand bemerken“

Du liebes bisschen, ich tat es schon wieder. Wann immer ich mich unbeobachtet fühlte, führte ich Selbstgespräche und steckte meine Nase in Dinge die mich gar nichts angingen. Aber was sollte ich machen? Meine Neugierde hatte in den letzten Monaten ein neues Rekordlevel erreicht und ich machte noch nicht einmal mehr vor fremden Unterwäscheschränken halt. So war es nicht verwunderlich das ich eine gute Freundin verärgerte, nur weil ich in ihrem Tagebuch gelesen hatte und in ihrem hoch intimen Zimmer Dinge hervorgekramt hatte, die niemanden etwas angingen. Sie war mir bis heute noch böse. Aber jetzt war mit Sicherheit nicht die Zeit um in Erinnerungen zu schwelgen und mich über ihren hoch roten Kopf zu amüsieren. Was konnte ich denn dafür, dass ich so neugierig war?

Ich beschloss meinen Rundgang an dem Punkt starten zu lassen, wo er angefangen hatte. Am Einganstor. Der Empfang war etwa zehn Meter vom Tor entfernt und ein roter Teppich mit nachtschwarzer seidener Borte bahnte sich seinen Weg dorthin. Der Kristallleuchter der von der Decke baumelte, schien direkt auf das goldene Emblem das den Mittelpunkt des Raumes auf dem Teppich markierte. Am Empfang selbst kümmerten sich drei eifrige Damen um die Belange eintreffender Gäste. Linker Hand, etwa 15 Meter weiter von mir, standen sieben Portiers unterschiedlicher Größe und Statur mit Gepäckwägen bereit, während bereits zwei andere mit vollen Wägen in richtung Aufzug steuerten der Links neben dem Empfang in die Mauern eingelassen wurde. Die Wände selbst waren mit verspielten Wandfackeln bestückt, die warmes Licht spendeten und wunderschöne Landschaftsportraits in Szene setzten. Eigenartiger Weise waren weder diese Wandfackeln, noch der pompöse Kronleuchter und die riesigen Fenster im Stande diesem Raum ein ordentliches Licht zu verleihen. Es war fast so, als würde dieser Raum jegliches Licht in sich einsaugen und verschlucken.

Zielstrebig setzte ich meinen Rundgang fort und entschied den rechten Gang hinunter zu gehen der direkt an der Lounge für die angereisten Gäste vorbei führte. Am vorbeilaufen erhaschte ich so manchen Gesprächsfetzen der mir ein Grinsen entlockte. Angeregt unterhielt sich ein junges Paar über die Aktivitäten die sie in den verschiedenen Räumlichkeiten gerne ausprobieren wollten. Ich wäre zu gerne stehen geblieben um das ganze weiter zu verfolgen. Aber heute… nein, heute waren wichtigere Dinge an der Reihe. Der Gang machte abrupt einen Knick nach links und schon die erste Tür die ich danach erspähte, riss ich in erwartungsvoller Haltung auf. Fehlanzeige. Hier befand sich nur die Küche in der gereizte Köche darüber diskutierten wie die Menüs auf den Tellern auszusehen hatten.

„Hey, du da! Das hier ist kein Spielplatz für kleine Kinder!“

So ein Mist aber auch, man hatte mich erwischt.

„Ich darf doch sehr bitten“ polterte ich los und trat hinter der Tür hervor, wo ich mich vor wenigen Sekunden noch versteckt hatte „ich bin doch kein kleines Kind mehr. Ich habe mich lediglich verlaufen! So eine Frechheit!“ wortlos wandte ich mich ab und zog meiner Wege.

Ich durchkämmte die gesamte erste Ebene und suchte akribisch nach Details, nach Verstecken und schmutzigen Geheimnissen die das Hotel mit Sicherheit inne hatte. Doch es war zum verrückt werden, ich fand nichts. Nicht die geringste kleine Spur, nichts seltsam anmutendes, ja noch nicht einmal ein kleiner Staubfussel der nicht von den Zimmermädchen beseitigt wurde. Diese penibel, perfekte Ausstrahlung war nicht auszuhalten und so beschloss ich das nächste Stockwerk in Angriff zu nehmen. Ich lief den Gang zurück und drängelte mich in den Gästeaufzug hinein der in eine frei schwebende Säule rechter Hand etwa 5 Meter vom Empfang eingelassen war. Ich war mir so sicher das man mich nicht bemerken würde, dass ich mich schon fast ertappt fühlte als mich ein Aufzugpassagier nach dem Stockwerk fragte in das ich müsse. Stocksteif blickte ich auf die Anzeigetafel die von verspielten Knöpfen gesäumt war.

„Ich… ich ähm… ich muss in den zweiten“ stammelte ich.

„In den Zweiten? Achso, dann sind sie eine Mitarbeiterin?“ fragte mein Gegenüber freundlich aber betont zurückhaltend und tippte auf die Zwei. Die alte Dame mit dem brünetten, krausen Haar schien mich durchschaut zu haben. Was blieb mir also anderes übrig als die Wahrheit zu sagen? Die Wahrheit, so wie ich sie für richtig hielt.

„Nein nein, noch nicht. Herr von Morrington meinte ich solle mich ein wenig umsehn ehe er mich zu sich ruft. Also laufe ich ein wenig umher und versuche mir ein Bild über die Größe und die Einrichtung hier zu machen“

„Achso? Und ich dachte schon ich hätte hier eine kleine Schnüfflerin vor mir, die gerne die Privatsphäre der Kunden auf den Kopf stellt“ Ihr kühler Blick bohrte sich durch mich hindurch. Hatte ich womöglich eine Kleinigkeit in diesem perfekten Bild übersehen?

„Nicht doch“ widersprach ich in gekünstelter Lässigkeit.

Was jetzt, ich musste mit einer plausiblen Erklärung glänzen was ich hier machte. Aber, war es denn nicht schon plausibel genug?

„Wie ich schon erwähnte, ich sehe mich nur ein wenig um, schließlich möchte ich die Zeit die mir Herr von Morrington gegeben hat sinnvoll nutzen“.

„Nun gut, hier wären wir also“ zischte sie süßlich als sich die Aufzugstüren nach einem kurzen, aber bestimmten Klingeln öffneten. Ein erleichterter Seufzer entwich aus meinem angespannten Körper und ich huschte Blitzartig aus dieser menschenüberfüllten Falle heraus.

„Ach und noch etwas“ donnerte es mir hinterher.

„Ja, bitte?“

„Halt dich fern vom obersten Stockwerk wenn du größere Katastrophen vermeiden willst.“

Ich wand mich um und blickte der Frau entgeistert ins Gesicht.

„Du hast mich schon verstanden. Halt dich vom siebten Stock fern. Es gibt nur Ärger wenn man dich dort oben erwischt“

„I… In Ordnung“

Ich starrte noch eine ganze Weile verdrossen in Richtung Fahrstuhl. Als sich seine Türen erneut verschlossen und er sich in die nächste Etage hinauf schob, schossen mir noch unzählige Gedanken durch den Kopf. Hatte die alte Frau gerade vom siebten Stock gesprochen? Oder war sie am Ende schon so senil, das sie nicht einmal mehr die Anzeigetafel, die ganz eindeutig von 6 Stöcken und einem Kellerdeck zeugten, klar lesen konnte? So viel war sicher: sie kannte sich offensichtlich gut hier aus. Zu gut. Und so sehr ich ihre Warnung auch gerne ernst genommen hätte, sie hätte sie mir niemals aussprechen dürfen. Denn jetzt, tobte ein schwelender Brand in mir. Ein Fegefeuer das nach Wissen dürstete und Verzögerungen über Erkenntnisse nur mit schlaflosen Nächten erduldete. So oder so, über kurz oder lang würde ich mich ganz der Frage widmen, welche Geheimnisse hier verborgen lagen. Und ich würde nicht eher Ruhen, bis sie sich in meinen Fängen befanden.

So dachte ich jedenfalls….

Nur gezähmte Untugend wird bestehn

Raunen… Tuscheln… eine gereizte Unterhaltung dessen geladene Stimmung man trotz des nur wenige Millimeter klaffenden Türspaltes erhaschen konnte. Das denkbar schlechteste Zeichen das man sich hätte vorstellen können. Ein Zeichen das ganz alleine mir golt.

Ein Zimmermädchen hatte mich ertappt und mich ohne mit der Wimper zu zucken an irgend jemanden verraten der wohl ganz und gar nicht begeistert zu sein schien das ich hier umtriebig war. Denn, gerade jetzt, als ich meine Recherchen im dritten Stock fortführen wollte und unverhofft die Tür eines abgedunkelten Appartements mit heillosem Chaos öffnete, wurde ich rücklings am Kragen zurück gerissen und landete unsanft auf dem Boden. Ausgerechnet jetzt, als es anfing richtig interessant zu werden. Es nagte brennend an meinem Gemüht das ich im halbdunklen nichts weiter als einen umgekippten Bürostuhl, zerknüllte Papiere und ausgelaufene Flüssigkeit auf Parkettboden auffunkeln sah. Das knappe Licht das sich durch die Lamellen des Sichtschutzes quälte, gab keine weiteren Umrisse preis. Bedauerlicher Weise verfehlte ich den Lichtschalter nur um haaresbreite und konnte nicht mehr definieren was diese glühenden Punkte in der schwärzesten Ecke des Raumes zu bedeuten hatten. Ein Jammer. Wahrscheinlich hatte ich mir jetzt gerade auch noch meinen zukünftigen Arbeitsplatz vergrault.

Der glatzköpfige Riese, der mir vorhin diesen unangenehmen Abgang verpasst hatte, öffnete nun die Tür und deutete mir ruhig aber bedrohlich, mich hinein zu begeben. Hier war ich also wieder. Zurück im ersten Stock, in jenem Zimmer das Herr von Morrington aufgesucht hatte als er mich anwies mich umzusehn.

Desinteressiert blätterte er sich durch einen Bogen durch, den ich als meine Bewerbungsunterlagen erkannte.

„Setzen“ wies er mich knapp und ohne jeden Blickkontakt an. Ich ahnte es. Er war äußerst wütend auf mich und irgendwie fürchtete ich, dass ich die nächste sei, die eine fliegende Zeitung an den Kopf bekäme. Zu unrecht. Schließlich folgte ich doch nur seinen Anweisungen. Oder war ich doch zu weit gegangen?

„Herr von Morrington… ich… bitte lassen sie mich erklären“

„Ruhe! Sie sprechen erst, wenn ich sie dazu auffordere.“

„Jawohl…“

Was zum…? Jetzt begann ich schon zu reden wie ein kleines, dummes Zimmermädchen. Das unterschritt eindeutig meine Kompetenzen, und so wagte ich erneut einen Versuch.

„Aber…“

Energisch blätterte er die letzte Seite des Bogens um, überflog sie nur knapp und klappte sie geräuschvoll zu, blickte aber noch immer stur auf seinen Schreibtisch.

„Sehen sie Frau Finkenlied, so läuft das hier in diesem Milieu nicht.“

Lässig richtete er sich aus seiner gemütlichen Schreibtischpose auf und rutschte bedächtlich in seinen ledernen Bürostuhl hinein. Meine Nackenhaare stellten sich auf als er mich mit diesem vorwurfsvollen, herablassenden Blick förmlich aufspießte und sezierte. Es fühlte sich an als würde er direkt durch meine Augen in meinen Kopf hinein sehen können.

„Sie können nicht einfach durch die Räume spazieren wie es ihnen gefällt.“

Großartig. Das war der beginn einer wundervollen Freundschaft.

„Ich dachte, ich dürfe mich umsehen. Jedenfalls sagten sie das zu mir“ gab ich kleinlaut von mir und hatte große Mühe seinen Blicken nicht auszuweichen.

„Umsehen. Natürlich Frau Finkenlied. Gegen umsehen ist auch nichts einzuwenden. Das beinhaltet aber nicht jedes Zimmer aufzureißen und die Privatsphäre unserer Gäste auf den Kopf zu stellen“

„Ich habe doch gar nicht…

„Frau Finkenlied! Ich bitte sie! Es gab mehrere Zimmermädchen die sie beobachtet haben, die Empfangsdamen hatten sie ebenfalls auf ihren Monitoren im Auge. Und der gute Salardin, dessen Bekanntschaft sie auch schon gemacht haben, hat ihnen letztlich Einhalt geboten. Noch nie ist es jemandem gelungen so schnell in Ungnade zu verfallen. Und lassen sie sich gesagt sein, nur die wenigsten haben Salardin bisher auf diese unangenehme Art kennen lernen dürfen.“

„Ich muss zugeben, ich war etwas Neugierig. Ja. Jedoch war es nicht meine Absicht irgendjemanden zu stören oder gar negativ aufzufallen. Ich sehe ein, das ich damit wohl keinen guten Start gelandet habe.“

„Keinen guten Start nennen sie das? Verzeihung, aber eigentlich sehe ich keinen Grund eine Schnüfflerin bei mir einzustellen. Ich bestehe ausdrücklich, bei jedem einzelnen meiner Angestellten auf äußerste Diskretion gegenüber den Gästen. Sind sie diskret, Frau Finkenlied?!“

Es war genau wie ich es geahnt hatte. Man nahm mich auseinander, ich hatte nicht die geringste Chance auf einen positiven Ausgang dieser Misere. Nervös umklammerte ich mein Handgelenk.

„Es tut mir aufrichtig Leid. Wenn ich nur wüsste wie ich es wieder gut machen kann, dann…“

„Nun, ich denke vorerst ist unser Gespräch beendet. Wir werden uns bei ihnen melden, sobald ich eine Entscheidung zu ihrer Person getroffen habe. Wenn sie mich nun entschuldigen würden? Ich habe zu tun.“

„Natürlich… verzeihen sie..“

Deutlich geknickt erhob ich mich aus dem knautschigen Sessel und war kein bisschen darüber verwundert als ich meinen Bewerbungsbogen noch aus dem Augenwinkel direkt in den Mülleimer landen sah. Ich hatte es gründlich versaut. Wie sollte ich es nur Mama beibringen?

Vernebelt wanderte ich um den Empfang herum, marschierte auf dem roten Teppich der Tür entgegen die mich freudig wieder nach draußen spucken sollte… hätte es ein dummer, arroganter Trottel nicht gewagt mir hinterher zu rufen.

„Na? War wohl nicht dein Tag heute, was?“

Mein Nacken brannte plötzlich, als hätte mir jemand Salz in eine Wunde gestreut. Gereizt wandte ich mich um, starrte kalt in diese lodernden Augen denen ich vor nicht einmal einer Stunde noch verunsichert entwichen war und konnte nicht mehr länger an mich halten. Eine schallende Ohrfeige riss Lucien fast von den Füßen. Mit Mühe und Not gewann er wieder das Gleichgewicht über seinen erschütterten Körper, doch sein Hütchen flog auch dieses Mal in hohem Bogen davon. Erbost sah er mich an mit seiner rosigen Wange.

„Sei dir gewiss, kleine Alice… alle Dinge rächen sich.“

Mit jenen Worten wandte er sich ab um mir bereitwillig das Tor zu öffnen und mich ohne weitere Worte mit einer grazilen Verbeugung zu verabschieden.

Freiheit. Ich fühlte mich, als wäre ich ein Tier das nach langen Jahren der Gefangenschaft plötzlich ein neues Leben haben durfte. Fern der Ketten die es gequält hatten. Weit weg von den lachenden Hyänen die sich das Maul über jede inszenierte Bewegung meines verschlagenen Ich’s zerrissen.

Bedächtig ging ich die Treppe hinunter, vorsichtig, Stufe für Stufe, wie ein Neugeborenes das mit seinen neuen Beinen noch nicht bereit war in die Welt hinaus zu laufen. Was war in diesem Gebäude gerade mit mir passiert? Richtig… meine Neugierde war abermals mit mir durchgegangen. Und wieder musste ich mit leeren Händen und friedlosem Gesicht nach Hause gehn. Und wieder würde Mama zu mir sagen dass es so nicht weiter geht. Sie hatte ja Recht.

Ein halb verhungertes Straßenhündchen hatte sich auf meinem nachhause Weg zu mir her verirrt und seinen verflohten Körper an mich geschmiegt. Es war widerlich. Es ekelte mich an dieses struppige, braune etwas an mir zu haben. Ich wollte mit meinen Gedanken in Ruhe gelassen werden.

„Geh weg, verschwinde… nun hau schon ab, ich will dich hier nicht haben.“

Zorn stieg in mir auf und spannte meinen Körper wie die Sehne eines Bogens. Diese dämliche Töle. Warum konnte sie mich nicht einfach zufrieden lassen. Als hätte jemand zum 11-Meter geblasen, gab ich dem Hund einen Tritt dass er in hohem Bogen und Schmerzgeheule davon flog um an der nächsten Hausmauer aufzuschlagen und resigniert am Boden liegen zu bleiben.

Selbst Schuld. Was musste sich dieses verdreckte Vieh auch unbedingt an mich ranschmeißen.

Dustere Wolken hatten sich am Horizont versammelt und kündigten eine baldige Wende des Wetters an. Man konnte es hören, ganz deutlich, schwach aber deutlich. Die Luft stand unter Strom, stachelte an meiner Haut, reizte mich bis aufs Blut. Das wütende, ferne Grollen erfreute sich jeden Augenblick an stärkerer Präsenz. Nicht mehr lange und ein zorniges Gewitter würde sich über mir entladen, als Strafe meines Leichtsinns mich erwischen lassen zu haben. Die ersten schweren Regentropfen schlugen auf mich ein, durchdrangen meine Haare um mir hinterrücks über die Kopfhaut den Nacken hinunter zu rinnen. Gänsehaut. Ein widerliches Gefühl.

Dunkle Flecke mischten den Asphalt auf und wurden mehr und mehr zu einer einheitlichen, nassen Schicht. Am liebsten wäre ich stehen geblieben, hätte mir mit angesehen wie alles aufweicht nur um mich nicht der Frage stellen zu müssen was ich getan hatte? Ja, richtig, was hatte ich da eigentlich getan? Ein Bild durchzuckte mich und plötzlich blieb ich tatsächlich stehen. Dieser Mann aus meinem Traum… ich hatte vorhin nicht darüber nachgedacht, aber jetzt wurde es mir mit aller Macht bewusst. Er hatte die gleichen Augen wie Lucien. Klagende, wütende Augen deren Leuchtkraft immer dann überlief, wenn man Widerstand leistete. Aber WAS klagten sie an? Was? Das nervöse Flattern aufgescheuchter Krähen rüttelte mich wieder wach.

Es hatte keinen Sinn. Alles Nachdenken machte mich nur noch wirrer. Ich wollte nach Hause, wollte nur noch das melancholischen Weinen des Himmels von meinem Zimmerfenster aus beobachten. Beobacht und nichts tun. Nichts tun….

Als ich die Haustür der Villa öffnete, wurde ich bereits erwartet. Mama hatte mich abgepasst. Sie war neugierig. Hatte ich dieses unnatürliche Verlangen alles hinterfragen und wissen zu wollen vielleicht von ihr geerbt?

„Hallo Schatz. Du bist ja völlig durchweicht. Zieh dich um, marsch. Das essen ist gleich fertig.“

Ihr erwartungsvolles Gesicht machte mich krank. Ich konnte mich unmöglich mit ihr an einen Tisch setzen und so tun als wäre nichts gewesen. Nicht so. Nicht jetzt.

„Es tut mir Leid Mama. Ich bin hundemüde. Ich werde wohl heute früher ins Bett gehn"

Ihre Gesichtszüge entglitten. Sie ahnte es. Sie MUSSTE es einfach ahnen. Anders konnte ich es mir nicht erklären, weshalb sie diesen entsetzen, traurigen Ausdruck auf hatte.

„Es ist doch alles gut gegangen?“ fragte sie prüfend. Ich konnte nicht anders als mich wegzudrehn und die ersten Stufen der Treppe hinauf zu gehen. Hinauf in mein Zimmer. Meine Welt.

„Ja ja. Natürlich. Alles gut gegangen.“ antwortete ich matt.

Ich war kaum richtig in mein Zimmer hinein geschlüpft als ich es versperrte und sich ein erbitterter innerer Kampf in mir aufbäumte. Schuld. Unschuld. Zorn. Enttäuschung. Der Tag war tot. Einfach gestorben. Aber es war nicht meine Schuld. Es war nicht meine Schuld verdammt! Es wehte der immer gleiche Wind. Immerzu.

Durchnässt wie ich war setzte ich mich auf die Fensterbank und starrte in den grauen Himmel der immer wieder unter den Funken des Gewitters aufzuckte.

Wie hoch war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass man mir doch noch eine Chance als Empfangsdame gäbe? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ich nicht ununterbrochen irgendwelche Räume durchschnüffelte, oder gar nach diesem 7ten Stock suchen würde? Meine Gedanken hatten sich verschworen, hatten sich zu einem verschwörerischen Kreis zusammengebündelt die jetzt in Verbindung mit dem hypnotischen prasseln des Regens gegen meine Welt nur noch eines taten. Einschläfern. Das grau des Himmels wurde dunkler und dunkler und ich versank, entschwebte, lief weg aus dieser Zeit um in meiner eigenen, weichen Realität wieder aufzuwachen. Ja, ich war wohl einfach eingeschlafen…

Öffnet die Pforten für das Kind der Unschuld

Stunden, verbracht in boshaften Gedanken waren inzwischen verstrichen. Dieses Gör hatte doch tatsächlich den Schneid hier herein zu spazieren und sofort alles in meinem Reich auf den Kopf zu stellen. Kaum zu glauben dass dieser unsagbar, unverschämte Mensch schon 20 Jahre alt sein soll. Es ärgerte mich überhaupt noch diese nutzlosen Papiere mit den belanglosen Infos zu studieren. Was machte es schon aus wer sie war und wo sie her kam. Ihr Charakter war verdorben. Absolut unzumutbar für ihre Umwelt. Und diesen Umstand galt es zu verändern. Ganz egal zu welchem Preis.

„Was meinen sie Ruben? Ist sie noch zu biegen? Oder müssen wir sie brechen?“

„Lass das meine Sorge sein Lucien. Sie wird ihre Lektion schon lernen.“ Aber erst einmal lassen wir sie eine Weile zappeln. Gebt ihr 2 Tage. Danach ruft sie an und gebt ihr vorerst einen Job als Zimmermädchen. Wir wollen ihr den Einstieg nicht all zu leicht machen.“

„Ich werde mich darum kümmern.“

Schachmatt.

„Gut. Dann geh jetzt. Ich hab zu tun.“

Luciens Art schaffte mich. Und doch versetzte er mich immer wieder in einen Zustand großer Verwunderung. In seinem Auftreten war er absolut straff, geradlinig und korrekt. Doch allen Erwartungen zum Trotz war er dazu im Stande in geschmeidigen, katzenhaften Bewegungen zur Tür hinaus zu gleiten und in der gleichen Lautlosigkeit wieder zu erscheinen. Er war überall und doch nirgendwo, verborgen vor den milliarden Augen dieser Welt, wenn er nicht gesehen werden wollte. Wäre es nicht die Unterwelt gewesen, die mir mit ihren Aufgaben zu Rang und Namen verholfen hätte, dann wüsste ich bis heute nicht um seine Existenz und seine Kraft die er tapfer in seinem Innersten verbirgt, bis jener Tag anbricht an dem er sie zu benutzen weiß. Wer weiß, vielleicht wäre ich längst schon seiner Überlebenswut zum Opfer gefallen, hätte ich ihn durch andere Umstände kennen gelernt.

Es gibt Tage, an jenen er würdige Beute wittert. Tage, an denen gieriges Lechzen aus seinen Augen springt und ihn an den Rand seiner Vernunft treibt. Vernunft. Das war überhaupt sein größter Widersacher. Er war ein Kind des Himmels, verstoßen von jenen scheinheiligen Wesen die unter dem Deckmantel der Vernunft ihre Schlechtigkeiten an ihm ausließen. Das geschundene, schwarze Schaf unter den einhundert reinblütigen Wesen, weil er der irdischen Empfindung des Schmerzes verfallen war. Unverstanden, ungeliebt, lebte er nur noch zu einem einzigen Zweck. Er musste fallen um zu überleben. Er musste tief sinken um seine niederen Triebe lenken zu lernen um sich eines Tages für erlittene Schmach zu rächen. So kämpfte er sich von Tag zu Tag, wurde schwächer und schwächer, bis er sich fast schon aufgegeben hatte. Eines Nachts, als er es nicht mehr ertrug nur ein unbedeutendes Wesen ohne Existenzberechtigung zu sein, stürzte er in einen Abgrund, fern dieser Welt. Schwarz, tobend, zornig, umgeben von ausgezehrten, rachedurstigen Wesen die alle das gleiche wollten. So wandelte ihn sein tiefer Schmerz in eine Gestalt die es ihm erlaubte in die Rolle des Rächers aufzusteigen. Doch auch er ist nichts weiter mehr, als ein Mensch. Ein Mensch mit Schwächen, der mit dieser ungeahnten Kraft außer Kontrolle geraten würde. Und so kam ich. Der Urvater der Rache, geschickt um Hand in Hand mit ihm jene zu richten, die so wie Alice jede Schuld von sich schieben und sich an unschuldigen Wesen vergehn, die von der Welt geächtet nur noch als Schatten ihrer selbst in Erscheinung treten.

Es war Zeit zu handeln, denn Lucien würde nicht mehr lange ausharren können.

Es war bereits 20 Uhr vorbei, Zeit nach Hause zu gehen. Schwerfällig erhob ich mich aus meinem gemütlichen Chefsessel um die Bürotür von innen zu verschließen. Es war besser so, denn um nichts in der Welt sollten Angestellte oder Besucher mitbekommen das es einen siebten Stock hier gab, der alles andere als gewöhnlich, oder gar natürlich war. Ich stapfte zu meinem Schreibtisch zurück um die 2te Schublade einen Spalt weit aufzuziehn. Es brauchte nur so viel, um mit dem Zeigefinger an der Decke des Faches nach dem Schalter zu tasten. Ein Sensor sprang an und trieb eine kleine Nadel in meinen Finger. Diese Prozedur hatte ich schon unzählige Male hinter mich gebracht. Irgendwann spürte ich die Stiche nicht mehr. Es war der Tribut dafür wenn man mit dem versteckten Aufzug in die oberste Ebene gelangen wollte, in der Herz des Hotels. Von lautlosen elektrischen Mechanismen bewegt, schoben sich die zwei Bücherregale hinter meinem Schreibtisch auseinander und gaben den Weg zum Aufzug frei. Ab hier ging alles von alleine. Keine Schalter, keine Technik, keine besonders ausgeklügelten Systeme. Ich stieg in die lichtleere Kabine. Meine Anwesenheit wurde erkannt. Die Bücherregale verschlossen sich wieder und meine Reise in den Schoß der Rache begann, denn die Dunkelheit und ich hatten Pläne zu schmieden….

Phantome

Es ist so dunkel hier. Wo bin ich? Bitte! Bitte holt mich doch hier raus!

Was ist das? Dieses seltsame Geräusch? Rauschen... Sind das Wellen? Nein. Wo kommt diese Unruhe her? Ist da jemand? Bitte! Bitte lasst mich raus!!! Ich werde wahnsinnig!

Dieses Licht, bitte! Dreht es heller! Bitte! Ich kann es doch sehen. Ganz schwach, nicht weit von mir. Bitte! Du, der du dort sitzt und deine Hände darüber legst um es zu verbergen, lass es heraus. Gib mir mein Licht zurück! Ich flehe dich an!

Sprich mit mir! Ich kann dich hören. Ich kann dein Flüstern hören. Flüsterer, gib mein Licht frei! Du hast kein Recht darauf mir mein Licht zu nehmen! Was ist denn nur los?! Zu wem sprichst du. Wer bist du??? Was willst du?

Nein, was tust du?! Nicht! Warum schickst du mein Licht zum Teufel? Wieso beschwörst du mein Licht unterzugehn? Halt ein! Sieh mich an! Sieh mich an! Verdammt sieh mich an!

Was bist du? Bist du von dieser Welt? Was knackt hier so? Warum leuchten deine Augen so? Bitte! Dreh dich nicht von mir weg! Ja! Hier her! Wende deine Augen nicht von mir ab! Was passiert hier? Warum bist du wütend? Wer schickt dich?

Nein… Nein… NEIN! NICHT!!! Aaaaaaah!

Noch bevor ich verstand, dass diese Augen meinen Untergang bedeuteten, wurden sie größer und größer… der feurige, rote Regenbogen der Pupille löste sich auf und ein schwarzes, lichtloses Wesen zerriss mich unter lustvollem Geschmatze. Ich konnte schreien so laut ich wollte, ich konnte um mich schlagen, so stark wie es mir möglich war. Doch es zerbrach mich, schlang Stücke aus mir heraus, nährte sich an meinem Schmerz und nahm mich in sich auf. Ich begann von neuem, in einem Gefäß eingesperrt zu Leben. Des Lichtes beraubt, meiner Stimme bestohlen, um meinen Hörsinn erleichtert, getrennt von meiner Sehkraft… nur mein Spürsinn blieb bestehn. Und immer wieder würde ich unter Schmerzen zerrissen werden, weil ich vergessen hatte wer ich bin und meine Fähigkeiten falsch benutzte. Von nun an, war ich eine Verbannte, eine Verstoßene des Lebens…
 

Vom Träumen noch ganz benommen, hatte ich Mühe meinen Geist wieder zu mir zurück finden zu lassen. Heiße Mittagssonne drang durch mein Zimmerfenster und durchströmte meinen Körper. Es war seltsam. Irgendetwas war doch da noch. Eine weiche Melodie rüttelte an meinem Verstand. Moment mal. Welche Melodie?

„Heilige Sch….! Das Telefon!“

Mit einem Schlag war ich aus meinem Bett gesprungen und hastete zu meinem kleinen Schreibtisch.

„Hallo“

Es knackte und kurz darauf ertönte das besetzt Zeichen. Zu spät. Der Anrufer hatte aufgelegt als ich gerade abgenommen hatte. So ein Pech aber auch. Noch nicht einmal die Rufnummer wurde angezeigt. Seltsam. Meine Freunde ließen doch alle ihre Rufnummer anzeigen? Oder? Wer war das also?

Ganz plötzlich war mir elend schwindelig. Ich fühlte mich unendlich ausgelaugt, als hätte ich die letzte Nacht kein Auge zugetan. Erschöpft ließ ich mich zurück in mein Bett sinken. Ein angenehmer Geruch stieg mir in die Nase. War Mama etwa noch zuhause und am kochen?

Ich hätte zu gerne einfach weiter geschlafen, aber dieser Duft, der wie eine Decke über meiner Nase lag, wollte nicht mehr weichen. Also beschloss ich mich aufzuraffen und torkelte ins Bad um mich wenigstens ein bisschen frisch zu machen.

Der gestrige Tag war lasch und leer. Mama war früh aus dem Haus verschwunden um für unseren Lebensunterhalt zu sorgen und ich verkroch mich in Erinnerungen längst verstrichener Tage. Ich fragte mich wie es Papa wohl ging, nach all dem was er dafür in Kauf nahm um uns einfach zu vergessen. Er hatte sich von Mama getrennt als ich noch ganz klein war. Ich hätte alles dafür gegeben wenn er wieder zu uns käme. Damals war ich so aufgewühlt, dass ich jeden neuen Partner, den Mama mit nach Hause brachte, innerhalb weniger Wochen wieder vertrieb. Ich glaube, anfangs hasste sie mich dafür, aber irgendwann akzeptierte sie wohl, dass ich nie wieder einen anderen Mann an ihrer Seite dulden würde. Nicht, wenn es nicht Papa war. Trauriger Weise gab es nichts, absolut gar nichts was ihn wieder zurück bringen würde. Das wurde mir gestern aufs Neue bewusst. Er vögelte eine Neue. Dieser Bastard. Es war ihm ganz egal was aus mir geworden war. Für ihn zählte nur noch diese Hure mit der er endlich seinen Sohn zeugen konnte.

Kaltes Wasser auf meinem Gesicht erfror meine dunklen Gedanken und ich zog mich endlich um. Ohne groß zu fackeln schlüpfte ich meine hellblaue Lieblingsjeans und das Tanktop mit dem aufwendigen Drachenprint. Mehr brauchte ich nicht um mich wohl zu fühlen. Jetzt war ich mir endlich sicher. Dieser leckere Geruch der die ganze Zeit wie ein Vorhang in der Luft hing, das waren Pfannkuchen. Ich liebte sie über alles und ich wollte endlich hinunter kommen um sie zu verschlingen. Ich hoffte nur, dass das nicht wieder einer dieser Tricks von Mama war, um mit mir über das leidige Thema Arbeit zu sprechen. Sie wusste genau das ich für diese Leckerbissen bereitwillig alles von mir gab, was sie hören wollte.

Gähnend hangelte ich mich am Treppengeländer nach unten. Ich steuerte rechts um die Treppe herum, durch den Flur hindurch in die Küche. Mama war schon emsig am aufräumen.

„Guten morgen Mamaaa“ sang ich süßlich und schnupperte mich in Richtung des Pfannkuchenstapels

„Guten Mittag du kleine Schlafmütze“ reagierte sie und stupste mir mit ihrem Pfannenwender an die Nase. „Schön, dass dich meine Pfannkuchen doch noch aus dem Bett gezogen haben.“

„Haaaaach, du weißt doch genau das ich ihnen einfach nicht widerstehen kann“ grinste ich und wischte prüfend über meine Nase, nur um sicher zu gehen das sich kein Dreckkrümelchen an ihr verirrt hatte.

„Schon gut, schon gut du kleiner Vielfraß. Setz dich und fang schon mal an zu essen. Ich spüle noch schnell ab, dann setz ich mich zu dir“

„Ist gut“

Der Tag hätte kaum besser anfangen können. Wenn auch etwas spät. Lächelnd wanderte ich zum Tisch hinüber und lümmelte mich in meinen Stuhl hinein. Nanu? Was knisterte denn da unter mir? Prüfend fuhr ich mit den Fingern die Kanten meines Stuhles ab. Papier? Aufgeplustertes Papier? Oder vielmehr ein großer Umschlag mit raschelndem Inhalt?

„Ach, Alice? Die Post hat heute etwas für dich gebracht, ich hab es dir auf den Stuhl gelegt.“

Erschrocken sprang ich auf.

„Hättest du mir das nicht früher sagen können, jetzt hab ich es platt gedrückt“

„Du hast doch Augen im Kopf. Warum benutzt du sie zur Abwechslung nicht mal?“

Typisch. Jetzt war ich also auch noch daran schuld, dass sie meine Post auf den Stuhl platzierte und nicht auf dem Tisch, so wie jeder andere normale Mensch es auch tun würde.

Was war das nur für ein eigenartiges Symbol auf dem Umschlag. Dornige Ranken mit blühenden Rosen um einen ovalen Spiegel geschlungen. Woher kannte ich es? War es…? War es etwa das wofür ich es gerade hielt? Das Hotel in dem ich mich vor zwei Tagen so blamiert hatte? Natürlich, das ist es! Mit zittrigen Händen öffnete ich den Umschlag und zog den Inhalt heraus. Ich hatte Mühe mich als erstes auf das Schreiben zu fixieren das mir beim lesen buchstäblich fast aus den Fingern glitt.
 

Sehr geehrte Frau Finkenlied,

mit Freude teilen wir ihnen mit, dass wir sie gerne bei uns einstellen möchten. Leider ist es uns derzeit Zeit nicht möglich, sie sofort in den gewünschten Posten der Empfangsdame einzusetzen. Jedoch hoffen wir, dass sie sich nicht scheuen werden, sich vorerst als Zimmermädchen zu beweißen.

Wir gehen davon aus, dass die beigelegte Arbeitskleidung in etwa ihrer Größe entspricht. Sollte dies nicht der Fall sein werden wir sie selbstverständlich passend ersetzen.

Das Arbeitsverhältnis startet am 15.Juni. Seien sie bitte pünktlich um 9.00 Uhr hier, damit wir weitere Schritte einleiten und den Vertrag unterzeichnen können.

Für Rückfragen stehen wir ihnen selbstverständlich unter der oben angegebenen Telefonnummer zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

i.A. Lorain Anailarna

Ruben von Morrington
 

Oh mein Gott. Nicht zu fassen.

„MAMAAAAAAAAA!“ wie vom Donner gerührt ließ sie alles fallen.

„Alice?! Würdest du bitte aufhörn so zu schreien? Was ist denn los mit dir?“

Zähne klappernd versuchte ich mich wieder zu sammeln.

„Sieh dir das an! Siehs dir an! Los!“

Zitternd hielt ich ihr den Brief unter die Nase der mich in einen Zustand blanker Fassungslosigkeit versetzte. Ich war felsenfest davon überzeugt dass ich mir alles verdorben hatte. Und jetzt DAS? Auch wenn mir der Umstand nicht gefiel vorerst als Putze arbeiten zu müssen, es war mehr als ich nach meinem Abgang erwartet hatte. Und auch Mama schien überrascht. Ihr Gesicht hellte sich auf, als wäre gerade eben die Sonne aufgegangen. Fast schien es, als wäre sie so glücklich wie schon lange nicht mehr.

„Du meine Güte, Alice, du hast es endlich geschafft.“ Freudentränen purzelten aus ihren Augenwinkeln.

„Ja Mama, endlich. Wer hätte das gedacht. Nach Jahren in denen ich nur die Schulbank gedrückt habe, werde ich jetzt endlich mein eigenes Geld verdienen. Juhuuu. Und nicht nur das. Ich werde endlich shoppen können. Shoppen, shoppen, shoppen bis der Arzt kommt.“

In meiner Euphorie griff sie nach meinen Schultern um mein nervöses Gehüpfe und Getänzle zu stoppen.

„Wououou Alice. Immer langsam mit den jungen Pferden. Wie wär’s, wenn du erstmal deine Dienstkleidung anprobierst, bevor du große Pläne schmiedest wie du das Geld ausgibst das du noch gar nicht in der Tasche hast?“

Manchmal brachte mich ihre Vernunft um den Verstand. Aber Recht hatte sie trotzdem, also verschwand ich aufs Neue hinauf in das Bad meines Zimmers und schlüpfte in die schwarze Bluse mit dem goldenen Hotelemblem, den eng anliegenden schwarzen Rock und die weiße Schürze. Ich sah in den Spiegel meines Kleiderschrankes, drehte und wendete mich um mich von allen Seiten zu betrachten und plötzlich war mir, als hätte sich etwas an mir verändert. Irgendetwas lag in der Luft. Der Spiegel zeigte tanzende, schlängelnde Schatten die sich meine Handgelenke hinauf über meine Bluse schoben um sich in meinen Augen wie schwarze Löcher zu manifestieren. Dunkel, bösartig, pulsierend….

„Aaaaaaaah“

Was zum Teufel sollte das? Was war das überhaupt? Ich erschrak so sehr vor diesem verlogenen Spiegelbild, dass ich vor lauter Panik rückwärts über einen Schuh stolperte, der mitten im Raum lag. Mit Mühe und Not balancierte ich mich noch im stürzen auf die linke Seite um nicht mit dem Hinterkopf an die Bettkante zu krachen. Mein Herz klopfte wie verrückt. Was auch immer das gerade war, ich fand nur eine einzige, logische Erklärung für dieses seltsame Phänomen. Wahrscheinlich war ich einfach nur unausgeruht und phantasierte mir Dinge zusammen. Vielleicht zogen draußen gerade irgendwelche Wolken vor der Sonne auf, die mir das Gefühl gaben, es stimme etwas nicht. Ja, das musste es sein. So war es ganz sicher. Und so ergaben auch die Schatten einen Sinn, die auf mir wanderten.

Das Klopfen an der Tür brachte mich wieder zu verstand.

„Alice? Was war das für ein Geräusch, mit wem redest du?“

Ich hievte meinen zitternden Körper wieder hoch und öffnete die Tür.

„Komm doch rein Mama. Ähm, geredet? Ich hab mit niemandem gesprochen, es ist niemand hier.“

Verunsichert trat sie näher.

„Aber ich hab dich doch flüstern hören? Geht es dir gut Alice? Du wirkst so blass?“

Irgendetwas war hier komisch. Nur, wenn ich nicht gerade am Träumen war, was war es dann? Was lag in der Luft dass sogar Mama davon Wind bekam?

„Flüstern? Mama, bist du sicher das es DIR gut geht?“

Entwarnend lächelte ich sie an.

„Und, was sagst du zu meinem Dress?“

Spielerisch drehte ich eine Pirouette vor ihr und endlich kehrte ihr Lächeln zurück.

„Dann hab ich mich wohl geirrt. Du siehst toll aus Alice. Es steht dir ausgezeichnet“

Die Spannung in der Luft stieg, ich konnte sie deutlich spüren. Meine Haut vibrierte. Was war denn heute nur los? Was passierte plötzlich mit mir? Seit ich diesen Brief geöffnet hatte, schien ich nicht mehr Herr meines Körpers zu sein. Meine Knie begannen zu zittern und mein Gesichtsausdruck entgleiste als ich einen flüchtigen Blick in den Spiegel warf. Meine Augen… Meine Augen! Sie färbten sich schon wieder! Schwarz! Ich riskierte keinen weiteren Blick! Angst! Ich hatte entsetzliche Angst. Sie schüttelte mich durch, zerstörte jeden klaren Gedanken. Hilfe1

„Alice..?“

Mama blickte mich besorgt an. Und ich konnte nicht… ich konnte nicht mehr anders.

Unruhig begann ich zu wimmern. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Ich verlor die Kontrolle über mich, wollte nach irgendetwas klammern, mich an IHR festklammern, aber es ging nicht. Mein Körper gehorchte nicht mehr.

„Mama… Mamaaaa…. Mama bitte hilf mir.. Hilf mir… bitteeeee!“

Meine Handgelenke brannten. Schatten rasten von allen Seiten auf mich zu und jeder einzelne schlug auf mich ein als wolle er mich zerreißen. Mein Körper! Hilfe! Er brennt so! Hilfe! Sind das Schlangen die sich da in meine Handgelenke verbissen?! War das etwa Gift das durch meinen Körper strömte? Was waren das für schwarze Wolken die sich plötzlich von meiner Kleidung lösten…

„ALICE! ALICE WAS IST DENN NUR LOS?!“

Schmerzen! Diese höllischen Schmerzen! Ich schrie, schrie so laut ich konnte, sank auf die Knie.

„HILF MIR MAMAAAA!“

Ein pfeifendes Geräusch schüttelte mich erneut durch, drang bis zu meinen Knochen hindurch. Ich verlor jedes Gleichgewichtsgefühl, spürte nur noch eine Hand die an mir zog, die mich halten wollte. Oder wollte sie mich doch fort zerren? Wo bin ich? Ich sehe nichts mehr! Hilfe!....

In Schwäche liegt der Ursprung alles Schlechtem

Flüstern… dieses grauenhafte, hektische Flüstern…Träume ich etwa schon wieder? Nein. Dieses Mal erkenne ich die Stimmen. Und sie sind nicht so unruhig wie jene zuvor. Oder?

„Sind sie sicher, dass sie nur einen Schwächeanfall hatte Doktor?“

Schwächeanfall? Wer soll hier einen Schwächeanfall haben? Licht dringt zu mir durch. Aber nur schwach, gedämpft, als wäre es von einem Rollo ferngehalten.

„Ja, so sieht es wohl aus Frau Finkenlied. Ihre Tochter weißt weder Fieber, noch sonstige ungewöhnliche Symptome auf. Ihr Kreislauf hat sich wieder stabilisiert. Lassen sie sie einfach ein bisschen schlafen, während die Infusion durchläuft. In ein bis zwei Stunden sehen wir dann weiter, aber ich glaube nicht das sie die Nacht bei uns verbringen muss.“

„Das erleichtert mich, vielen Dank Doktor. Ich hatte schon Angst, es wäre etwas Ernstes.“

Etwas Ernstes? Warum? Was ist passiert? Ich erinnere mich nicht. Ich fühle mich so schwach. Ich kann es hören, das harte Aufschlagen der Tropfen in dem Infusionsbeutel. Ich kann es spüren, wie die kalte Flüssigkeit sich in meinem Arm mit meinem heißen Blut mischt.

Es schlägt auf, immer wieder, diese reine Flüssigkeit mischt mein Bewusstsein auf.

Da, schon wieder. Ganz langsam. Es tropft so unendlich langsam, wie in Zeitlupe. Es hypnotisiert mich, erinnert mich an vergangene Dinge. Mit jedem Tropfen, der in meinem müden Geist aufschlägt, löst sich eine Erinnerung und führt ein fragwürdiges Theater vor meinen Augen auf. Da! Jetzt kann ich sie sehen. Da ist wieder eine. Aber wer ist das da vorne? Ich kann ihn nicht erkennen. Er ist groß und schlank. Ich kann ihn hören, ganz sanft. Er hat so eine weiche Stimme. Aber er ist so weit weg. Wer bist du? Was tust du? Nicht! Der nächste Tropfen fällt und lässt die erste Erinnerung wie Rauch entschwinden. Ich bin so müde, so müde. Ich muss schlafen, bitte lasst mich hier. Plötzlich ist es so schön ruhig und mein Herzschlag singt mir eine leise Melodie. Lasst mich schlafen. Bitte lasst mich einfach schlafen…
 

„Alice?“

Eine weiche Hand strich zärtlich über meine Wange.

„Alice, wach auf, komm schon.“

War es jetzt schon so weit? Vorsichtig schlug ich meine Augen auf und blinzelte in das schneeweiße, grell ausgeleuchtete Zimmer.

„Mama? Was.. was mach ich denn hier? Was war denn los?“

„Du bist im Krankenhaus weil du heute Morgen wie der Blitz aus heitrem Himmel plötzlich umgekippt bist. Aber der Doktor hat dich wieder aufgepäppelt. Du hattest nur eine kleine Kreislaufschwäche. Und jetzt dürfen wir nach Hause gehen. Also komm, lass uns gehn.“

„Achso. Deswegen ist mein Kopf so schwer.“

„Ja, gut möglich. Vorsicht, halt dich an mir fest“

Träge richtete ich mich auf und stützte mich um nicht wieder rückwärts in das Bett hinein zu fallen. Seltsam. So schwach hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

Schützend legte Mama ihren Arm um meine Schultern und reichte mir die linke Hand damit ich mich einhalten konnte. Sie war so liebevoll, wenn es mir nicht gut ging. Ich hasste Krankenhäuser. Sie stanken. Sie stanken nach Desinfektionsmitteln, nach Blut, Eiter und Tot und ich verfluchte die Ärzte dafür, das sie Nadeln und Messer in Körper hinein trieben. Obwohl es doch nur helfen sollte, ich hegte eine große Abscheu dagegen. Ich war so froh diesen Ort wieder verlassen zu dürfen, ich mochte ihn einfach nicht. Als wir nach Hause fuhren, hatte ich mich auf der Rückbank des Autos lang gemacht und gedankenverloren in den Himmel gestarrt. Die Sonne verschwand gerade mit den letzten verabschiedenden Strahlen hinter dem Horizont und noch immer fragte ich mich was heute Mittag eigentlich mit mir geschehen war. Schwächeanfall hatte der Arzt gesagt. Ja, ich konnte ihn reden hören, denn gerade als er mit Mama gesprochen hatte, war ich weder wirklich wach, noch richtig am schlafen. Das alles ergab keinen Sinn. War es tatsächlich möglich in einem Schwächeanfall derart zu phantasieren dass man schon schwarzen Rauch aufsteigen sieht, wo gar keiner war? Vielleicht war ich ja wirklich langsam dabei verrückt zu werden. Oder ich bewertete die Situation im Allgemeinen viel zu hoch? Aber in den Science Fiction Filmen war es doch immer genauso. Die Menschen drehten entweder komplett durch, oder sie unterschätzten die Gefahr die sich bedrohlich an ihre Fersen heftete. Nur, das hier war die Realität und kein überkitschter Thriller in der zu groß geratene Aliens auf die Erde umsiedelten um die Menschen als Wirte für ihre Brut und als Frischfleischlieferanten für den kleinen Hunger zwischendurch zu benutzen. Wie viel Interesse sollte ich diesem Vorfall also schenken? Zu meinem eigenen Besten war es wohl besser, das Ganze so schnell es nur geht zu vergessen. Es wäre nur ein Klotz am Bein und eigentlich hegte ich kein gesteigertes Interesse daran unnötigen Ballast mit mir durch die Gegend zu tragen. Besser ich bereitete mich geistig darauf vor, dass ich schon morgen meinen Arbeitsvertrag unterschreiben würde.

Mama steuerte das Auto zielstrebig in die Garage. Fast hätte ich es nicht mal bemerkt dass wir zuhause sind, so sehr war ich in Gedanken versunken. Unter tiefem Seufzen streckte ich mich und bewegte mich schwerfällig aus dem Auto heraus. Eine angenehme Brise wehte in die Garage hinein und lockte mich in die anbrechende Nacht hinaus. Schwach leuchteten die ersten Sterne in der Dämmerung auf und ich atmete tief diese Luft ein, die nach gemähtem Gras und dem blühenden Leben roch. Es war fantastisch. Es war einer jener Momente in dem ich jeden Gedanken wie eine unbequeme Haut abstreifte und einfach nur den zirpenden Grillen eines Sommernachttraums lauschte. Ewig hätte ich so stehen bleiben können… wären da nicht diese nervigen Mücken gewesen die ihren gierigen Rüssel in meine Haut bohrten.

„HA! Mistvieh!“

Zornig schlug ich auf meinen Arm und seufzte resignierend als ich das blutsaugende Monstrum an meinem Ohr vorbei schwirren hörte. Allein von ihrem hektischen Flügelschlägen sträubten sich meine Nackenhärchen, als ginge es um mein Leben. Naja, indirekt stimmte es sogar. Schließlich stahlen diese Räuber mein Blut und dieser Umstand war schon schlimm genug.

„Alice? Kommst du bitte rein? Ich mach uns was zu essen.“ hörte ich Mama von weitem rufen. Seltsam. Gerade jetzt schienen mir Dinge wie Essen oder Schlafen so völlig belanglos.

„Ich komme gleich.“ rief ich fast schon ferngesteuert zurück.

Aber ich würde nicht hinein gehen. Nicht sofort, nicht gleich, ich wollte unbedingt noch an der frischen Luft bleiben und diesen schwerelosen Zustand genießen, in dem ich mich wähnte. Um die aufglimmenden Sterne besser beobachten zu können, legte ich mich in die hoch gewachsene Wiese die nur wenige Meter von unserem Haus in die Höhe wucherte. Was Herr Morrington wohl morgen zu mir sagen würde? Ich konnte noch immer nicht begreifen was ihn letztlich doch noch umstimmte, schließlich wäre die logischste Lösung gewesen mich direkt mit einer Absage wieder nach Hause zu schicken. Statt dessen ließ er mich zappeln, nur um mir doch noch eine Chance zu geben. Wer weiß, vielleicht glaubte er doch an das Gute in mir, oder ich war ihm schlichtweg sympathisch… oder hegte er gar ein völlig anderes Interesse an mir? Gar nicht auszudenken. Ich und ein alter Knacker. Igitt! Ein Ekelschauer breitete sich auf meinem Rücken aus. Andererseits… wie viel Geld musste ein Hotelbesitzer wohl auf der hohen Kante haben? Mit Sicherheit wäre es ein Kinderspiel für ihn gleich mehrere Frauen auszuhalten. Aber ob er sich auch eine Frau meines Kalibers leisten konnte?

„Aaaaliiiiiiiiiice?“ schallte die Stimme meiner Mutter.

Ich hatte die Zeit wohl vollkommen vergessen. Ruckartig sprang ich auf und hechtete zur Tür hinein.

„Entschuldige Mama, da bin ich.“

„Wo warst du denn so lange? Du hättest mir ruhig ein bisschen helfen können.“

„Ist ja gut.“ Maulte ich schon fast. Da war ich gerade fünf Minuten aus dem Krankenhaus heraus und sie musste mich schon wieder herumkommandieren. Und nachdem morgen auch eine große Herausforderung vor der Tür stand, hätte sie mir wenigstens heute eine kleine Auszeit genehmigen können. Aber nein. Ihr Alltag war erst dann perfekt wenn auch ich, genau wie sie, brav umher hastete und keine Ruhe gab. Äußerst frustrierend. Mit eingeschnappter Miene setzte ich mich und wartete bis auch sie dazu kam.

„Kannst du nicht wenigstens beim Tisch decken helfen? Muss ich immer alles alleine machen?“

Diese Worte, sie fraßen sich in mich hinein, machten mich krank. Ich kochte vor Wut!

„Man Mama, da komme ich gerade frisch aus dem Krankenhaus und dir fällt nichts anderes ein als mich prompt wieder durch die Gegend zu jagen! Kann ich mich vielleicht einfach mal ausruhen und mich auf den morgigen Tag vorbereiten?! Ist das denn zu viel verlangt?!“

„Du tust gerade so als wenn du von einem Auto überfahren worden wärst oder schwer krank bist.“ Griff sie mich an und fuchtelte aufgewühlt mit dem Besteck in der Hand herum. „Ich habe auch noch andere Dinge zu tun, außer dich zu bewirten und dafür zu sorgen dass dein Kleiderschrank explodiert! Da wird es doch wohl ein Klacks für dich sein wenigstens bei dieser lächerlichen Kleinigkeit mitzuhelfen! Es wird Zeit das du erwachsen wirst!“

„Wenn es doch nur Kleinigkeiten sind, Mutter, warum machst du sie dir dann nicht alleine?!“

Wütend sprang ich auf und stampfte in mein Zimmer hinauf. Was dachte sie sich eigentlich dabei! Ich war doch nicht ihr Dressierhund! Wie auch immer. Ich hatte sowieso keinen Appetit, also konnte sie ihren Fertigfraß getrost auch alleine essen! Ich hatte wichtigere Dinge zu tun als mich kugelrund zu fressen, also schnappte ich mir eine geräumige Tasche aus meinem Schrank und überlegte was ich für morgen alles brauchte. Mit einem genauen Plan vor Augen richtete ich in aller Ordentlichkeit mein Handy, eine Haarbürste, Parfum und ein kleines Schminktäschchen mit ausgewähltem Inhalt hinein. Aber irgendetwas fehlte doch noch. Was war das noch gleich? Krampfhaft überlegte ich, was ich wohl vergessen hatte. Richtig! Die Arbeitskleidung! Aber wo hatte ich sie das letzte Mal gesehen? Das zittrige gefühl von heute morgen setzte sich wieder in meinen Gliedern fest. Du meine Güte, ich hatte sie gerade an als ich das Bewusstsein verloren hatte. Prüfend sah ich in den Spiegel.

„Verdammt! Warum sagt mir denn keiner das ich dieses Ding noch an habe?!“

Hastig zog ich Rock und Bluse aus, aber wo war die Schürze? So ein Mist! Ich musste sie verloren haben. Was jetzt? Wie konnte ich erklären dass ich keine Ahnung hatte wo meine Schürze war, und das, noch bevor ich überhaupt das erste Mal gearbeitet hatte? Ich sah nur noch eine einzige Chance mich aus der Affäre zu ziehen. Ich würde morgen einfach sagen dass ich keine bekommen hätte. Bestimmt würden sie nicht weiter nachfragen und mir eine neue geben. Ich prüfte das Outfit auf Flecken, legte es sorgfältig zusammen und packte es in die Tasche hinein. Jetzt hatte ich fast alles zusammen. Den Rest würde ich erst morgen erledigen, schließlich war es schon 22.00 Uhr und ich wollte halbwegs ausgeschlafen sein wenn ich morgen zur Arbeit ging.
 

Der Tag hatte hektisch angefangen. Um ein Haar hätte ich fast verschlafen weil ich mir noch immer keinen neuen Wecker gekauft hatte. Obwohl sie noch ziemlich böse war, hatte mich Mama wenigstens aufgeweckt bevor sie ihrer Arbeit nachging. Und jetzt war ich selbst auf dem Weg in das Hotel, rannte wie von der Tarantel gestochen um nur keine Sekunde zu spät zu kommen. Es fühlte sich genau wie beim ersten Mal an. Als ich die Treppe des Hotels hinauf sprintete, hatte ich den Eindruck, sie würde länger werden, über sich hinaus wachsen, so dass man das Gefühl nicht los wurde, das Hotel schwebte und würde sich in andere Sphären aufmachen, sobald man die Schwelle des Tores überschritt. Fast schon automatisch öffnete sich das Tor als ich auf dem Absatz der Treppe angelangt war. Und wieder waren es Lucien’s Augen, die sich durch mein Antlitz bohrten.

„Morgen“ grüßte ich ihn knapp und wollte gerade den roten Teppich zum Empfang hin beschreiten. Aber er stellte sich mir in den Weg.

„Würdest du mich bitte vorbei lassen Lucien, ich werde erwartet.“

„Soso.“ Reagierte er vielsagend und zog fragend die Augenbraue in die Höhe. „Wenn du doch erwartet wirst, kleine Alice, warum trägst du dann deine Kleidung nicht?“

„Meine Kleidung?“ Seine Augen machten mir Angst. Sie leuchteten, als könnten sie durch mich hindurch blicken, als wüssten sie jedes Geheimnis das verstaubt in der hintersten ecke meines Gedächtnisses lag. Aber es lag kein Schimmer in ihnen, der verriet ob er mir nun antworten würde, oder mich lieber zappeln ließ.

„Ich wäre dir sehr dankbar wenn du endlich aufhören würdest mich ständig so anzustarren. Wenn du mich jetzt also entschuldigst?!“

Gerade als ich mich an ihm vorbei gedrückt hatte, packte er mich an den Schultern und drehte mich wieder zu sich. Was sollte das plötzlich? Angewidert streifte ich seine Hände von mir.

„FASS MICH NICHT AN!“ Schnauzte ich. Dieser Idiot fing so langsam an mir über die Maßen auf die Nerven zu gehn. Erst sah er mich an als würde er mich jeden Moment verspeisen wollen und dann versperrte er mir den Weg, hielt es aber nicht einmal für nötig mir den Grund für seine Störung zu nennen. Was wollte er denn nur von mir?

„Sieh an, sieh an. Das kleine Mädchen hat einen starken Willen.“ Plötzlich beugte er sich über mich, fixierte mich an den Armen und flüsterte seinen heißen Atem in mein Ohr

„Ob du ihn wohl auch noch hast, wenn ich dir dein Rückgrat breche?“ Zur Drohung bestätigend bohrte er seine Finger in meine Haut. Doch so sehr ich auch versuchte ihn abzuschütteln, mit einem Mal schien er übermenschliche Kräfte zu haben, die er ganz offensichtlich an mir zu erproben versuchte. Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht als er bemerkte dass er mir Schmerzen zufügte und mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er wie ich anfing mich zu winden. Aber irgendwann beginnt jedes Opfer nach Aufmerksamkeit und Hilfe zu rufen. Ich hielt es nicht mehr aus und stieß einen grellen Schrei aus der sich donnernd in der Eingangshalle überschlug.

„LUCIEN!“ Diese zornige Stimme ließ seine Gesichtszüge endgültig entgleiten. Wieder einmal hatte er sich den Zorn seines Bosses zugezogen. Widerwillig ließ er von mir ab und murmelte unverständliche Worte in sich hinein.

„Langsam gehst du zu weit!“ Ruben von Morrington mischte sich in das Geschehen ein und rügte ihn wie einen übermütigen Welpen der seine Grenzen eindeutig überschritten hatte.

„Was stehst du hier noch herum?! Hast du nichts zu tun?“

Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war denn nur los? Warum war Lucien nur so unheimlich wütend auf mich, dass er mir unbedingt wehtun musste? Ich kannte ihn doch überhaupt nicht. Ob er mir wohl nur wegen der Ohrfeige von neulich so böse war? Aber was mir noch weniger in den Kopf wollte, warum ließ von Morrington ihn überhaupt hier arbeiten? Schließlich war ich offensichtlich nicht die Einzige die er auf diese Art und Weise zu verschrecken versuchte.

Lucien löste sich aus dem Konflikt, der scheinbar nur noch aus wütenden Blicken bestand. Wortlos verbeugte er sich und wandte sich ab. Es erleichterte mich ihn gehen zu sehn. Unter der Anspannung war mir gar nicht aufgefallen wie sehr mein Nacken brannte. Seltsam. Dieses Phänomen hatte ich immer nur dann, wenn ER in meiner Nähe war, aber sobald er wieder verschwand ließ das brennen Augenblicklich nach und ich fühlte mich viel befreiter. Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen als mein zukünftiger Chef meinen Arm griff und die Abdrücke kontrollierte die Lucien hinterlassen hatte.

„Du meine Güte, da hat der gute Junge aber mächtig über die Stränge geschlagen.“ Bemerkte er trefflich. „Was war denn nur los, das er sich so benommen hat?“

„Wenn ich das nur wüsste. Ich verstehe selbst nicht was er gegen mich hat.“

Mit nachdenklicher Miene rieb ich über die brennenden Wundmale.

„Na gut, dann kümmern wir uns wohl besser um das, weswegen sie hier sind. Kommen sie doch bitte mit in mein Büro“

Endlich war es soweit. Ich war Stolz das ich es bis hier hin geschafft hatte. Jetzt fehlte nur noch das vertragliche. Wortlos folgte ich ihm in sein Büro und setzte mich nicht eher, bis er es mir ausdrücklich erlaubte.

„Sooo, Frau Finkenlied. Nach langen, reiflichen Überlegungen, bin ich zu dem Entschluss gekommen ihnen doch eine Stelle bei uns zu geben. Ich möchte ganz offen zu ihnen sein, eigentlich standen alle Karten gegen sie. Aber prinzipiell hat jeder bei mir eine zweite Chance verdient, deswegen werde ich sie vorerst als Zimmermädchen einsetzen.“ Eindringlich sah er mich an und schlang die Hände ineinander „Allerdings erwarte ich von ihnen, wie von allen anderen auch, dass sie sich an einige Regeln halten. Sie stehen also jetzt in einer gewissen Beweißpflicht bei mir.„ Ernsthaft nickte ich und folgte seinen weiteren Erläuterungen. „Es wird nicht wieder vorkommen, dass sie ohne Grund und Aufforderung in Zimmern schnüffeln. In erster Linie sind sie dazu hier um die Zimmer in regelmäßigen Abständen zu kontrollieren und sie sauber zu halten. Das bedeutet für sie: Morgens um 8:00 Uhr, mittags gegen 12:00Uhr und abends um 17:00Uhr durchlaufen sie ein Stockwerk oder einen Gang der ihnen zugewiesen wird. Sie klopfen und warten auf Reaktion bevor sie eintreten. Mit einer Ausnahme. Hängt ein Schildchen am Türknauf das darauf hinweist nicht zu stören, dann ziehen sie weiter. Unterlassen sie jede Störung! Haben sie das Verstanden?“

„Ja, natürlich.“ nickte ich und schluckte hart weil mir dieser ernste, aufdringliche Unterton in seiner Stimme zu schaffen machte. Eines wurde mir ohne große Überlegungen klar. Von Morringten war eine ernst zu nehmende und sehr autoritäre Person. Besser, ich riss mich zusammen und prägte mir ein, was er mir da gerade herunter betete.

„Gut. Für den ersten Tag werde ich ihnen jemanden mitschicken der sie genauer einweißt. Haben sie ihre Arbeitskleidung erhalten?“

Das hatte ich glatt vergessen. Ich hoffte, das er mir meine Lüge nicht gleich an der Nasenspitze ablesen konnte und so schoss ich lächelnd prompt die nächst beste Antwort heraus dir mir durch den Kopf geisterte.

„Sie meinen die Bluse und den Rock? Ja, die habe ich bekommen. Passt ausgezeichnet, vielen Dank“

„Bluse und Rock sagen sie?“ Großer Gott, er tat es schon wieder. Er beugte sich über den Tisch und starrte direkt durch meine Augen in mich hinein. „Haben sie nicht etwas vergessen?“

„Vergessen? Ich denke nicht. Warum?“ mit großer Mühe verkniff ich mir sämtliche Zuckungen, die gerade am liebsten mit mir durchgegangen wären.

„Sie haben keine Schürze erhalten?“

„Tut mir Leid, nein.“

Er griff nach seinem Telefon und tippte zwei Ziffern ein. Keine Sekunde später war bereits das knacken einer geöffneten Leitung zu hören.

„Ja, schicken sie mir bitte Frau Anailarna. Sie soll sich Frau Finkenlied zur Seite nehmen und einweisen!“

Da war er wieder, dieser bestimmte, autoritäre Ton. Es wunderte mich nicht, wenn seine Lakaien ihm mit großem Respekt gegenüber traten. Er war wie dafür geschaffen einen Betrieb wie diesen zu führen. Es lag ihm wohl im Blut. Während ich nachdachte und angespannt, wie auf dem Präsentierteller dasaß, zog er einige Schubläden auf und kramte Verträge hervor.

„Gut, Frau Finkenlied. Bitte unterschreiben sie diese beiden Bögen hier, dann haben wir den Schriftkram erledigt und sie können starten. Frau Anailarna wird ihnen heute behilflich sein.“

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals als ich den Stift an mich nahm und meine Unterschrift setzte. Er beobachtete dabei jeden Zug, jede Linie und jeden Punkt den ich machte. Gerade als meine Nervosität ein neues Level erreichte, klopfte es an der Tür und eine hochgewachsene Frau mit lockigem schwarzen Haar schlich in auffallend attraktiver Pose zur Tür herein.

„Sie haben nach mir verlangt, Herr von Morrington?“

„Ja, bitte kümmern sie sich um Frau Finkenlied. Zeigen sie ihr was sie zu tun hat und kümmern sie sich bitte darum das sie eine neue Schürze bekommt. Sie hat wohl nur die Hälfte der Arbeitskleidung bekommen.“ Ein bissiger Gesichtsausdruck haftete an ihm, als er die letzten Worte ausgesprochen hatte. Er stand auf und deutete mir ihr zu folgen. Diese widerliche Gänsehaut würde ich heute wohl nicht mehr loswerden, wenn er mich immer so eindringlich ansah.

„Jawohl Herr von Morrington. Bitte hier entlang, Frau Finkenlied“ Meine Nerven waren wie Drahtseile gespannt und ich selbst tanzte darauf einen Akt ums überleben. Jedenfalls fühlte es sich so an, als ich mir abermals musternde Blicke gefallen lassen musste, nur weil ich der hübschen schwarzen in den zweiten Stock nachlief.

„Sooo, hier wären wir also. Alice, nicht? Ab hier kannst du die Formalitäten ablegen. Ich heiße Lorain“

„Ähm, ja, richtig. Hallo Lorain.“

Freundlich schüttelte ich ihr die Hand. Das war das erste Mal das mir in diesem Haus jemand respektvoll und offen gegenüber trat. Sie verschwand in ein Zimmer, kramte aus einem der Schränke eine neue Schürze heraus und schickte mich in einen Raum in dem ich mich umziehen konnte. Ohne Spiegel zupfte ich meine Kleidung zurecht und begab mich wieder an ihre Seite. Ab hier begann für mich der abenteuerliche Alltag eines Zimmermädchens.

Hinauf in die Hölle

„Darf ich dich mal etwas fragen Lorain?“

So unauffällig wie möglich hatte ich sie beäugt, von oben bis unten akribisch untersucht, ja schon fast seziert und es wollte mir einfach nicht in den Kopf.

„Natürlich. Schieß los.“ Kicherte sie vergnügt ehe sie sich den kleinen Transportwagen schnappte der mit allerhand Putzutensilien ausgestattet war. Kaum zu glauben was alles auf diesem kleinen Ding Platz hatte. Von Staubsauger, Putzlappen, Wassereimer bis hin zu einem Sack für schmutzige Wäsche und einem Stapel frischer, rein weißer Handtücher hatte diese Gerätschaft wohl alles inne was den Alltag eines Zimmermädchen bestimmte. Ein schauderhafter Gedanke der den Ekel in mir entfachte.

„Ich dachte du wärst auch ein Zimmermädchen, warum trägst du dann eine völlig andere Uniform als ich? Oder läuft es hier nach Dienstgrad?„

„Nein“ lachte sie „ich bin hier eigentlich als Sekretärin eingestellt. Deswegen trage ich andere Kleidung als du.“

Mit dem Aufzug steuerten wir dem dritten Stock entgegen und folgten dem Bimmeln links in den Korridor hinaus.

„Aber warum wurdest du dann geschickt um mich einzuweisen? Müssen Sekretärinnen denn auch von Zeit zu Zeit putzen?“

Kaum hatte ich diesen Satz vollendet, flackerte meine eigene Dummheit vor meinen Augen auf. Natürlich putzten Sekretärinnen nicht. Warum wohl hatte ich mich selbst als Empfangsdame beworben? Ich hatte das mit Sicherheit nicht getan, um anderer Leute Dreck aufwischen zu müssen. Nein! Eigentlich wollte ich das hier alles gar nicht!

Ungläubig warf sie mir einen Blick über ihre Schulter zu, der sich in eine hässliche, herablassende Fratze verwandelte. Jene Fratze, die meine Naivität belächelte.

„Nein du Dummerchen. Aber ich habe vor einigen Jahren auch als Zimmermädchen angefangen und ich bin eine der wenigen Ausnahmen die als Universaleinweiser eingesetzt werden. Dafür bin ich hier.“

„Achso“ erwiderte ich resignierend und zog den Kopf ein.

Ich hatte wohl schon gleich zu Anfang den Punkt erreicht, an dem es besser war die Klappe zu halten. Also folgte ich ihr stillschweigend und beobachtete ihre Bewegungen, studierte sie und versuchte ihre Art zu kopieren um Herrn von Morrington in nächster Zeit nicht negativ aufzufallen.

Vorsichtig klopfte sie an die erste Tür die wir erreichten und hauchte ein paar freundliche Worte, wartete auf Reaktion, ehe sie sich den Schlüssel griff der an ihrem Gürtel hing und aufsperrte. Vor mir erstreckte sich nun das Paradies in dem sich schon unzählige Individuen gewälzt und geräkelt, ja teilweise sogar quietsch vergnügt besudelt hatten. Bei näherer Betrachtung wollte mir der Gedanken nicht mehr aus dem Sinn entweichen, dass jeder einzelne Mensch, der hier abgestiegen war nur dazu kam, um das zu tun was zuhause unter die Kategorie Tabuthema fiel. Was man wohl alles aus den Leuten heraus erpressen konnte, wenn man nur eine Kamera installierte und mit den eiskalten Tatsachen hausieren ging?

„So!“ polterte Lorain los „herein spaziert und an die Arbeit.“

Bedacht stolzierte ich mit verschränkten Armen durch einen kleinen Gang in das Luxuszimmer hinein und ließ die Eindrücke auf mich wirken. Auf den ersten Blick schien alles sehr schlicht und einfach gehalten. Die Details fielen erst auf wenn man ihnen unmittelbar gegenüber stand. Die Wände waren in einem fleckigen, sandfarbenem Ton gezeichnet der in einer abrupten Kante etwa zehn cm vor dem Boden und der Decke endete. Durchquerte man den Gang im Eingangsbereich, so hatte man direkten Blick auf das kunstvoll verzierte Doppelbett, dessen Kopfende an der rechten Wand anschloss. Gegenüber trohnte ein monströser Flachbildfernseher, der, wie das Bett auch von zwei elektronischen Wandfakeln umrahmt war. Schlussendlich endete das Zimmer mit einer schwarzen Ledercouchreihe und einem gläsernen Tisch die unbeholfen in die rechte Ecke des Raumes gesetzt war, so das auch aus dieser Sichtwarte noch einen bequemen Blick auf die Bildröhre gewährt war. Rechts, gleich nach der Eingangstür fiel mir eine marmorierte Schiebetür auf, die einen kleinen Spalt weit offen stand. Doch gerade als ich sie öffnen wollte, funkte Lorain dazwischen.

„Na?! Habe ich dir etwa aufgetragen zu schnüffeln?“

„Ich wollte mich doch nur umsehen.“ konterte ich schroff „ich bin davon ausgegangen das sich hier vielleicht das Badezimmer befindet. Ist das ein Verbrechen?!“

Das konnte doch nicht wahr sein. Ich brauchte nur etwas anzufassen und schon haftete mir der zäh-klebrige Ruf einer Schnüfflerin an. Was durfte ich hier überhaupt anfassen, ohne gleich derart attackiert zu werden?!

„Ja ja, das sagen sie alle“ sang sie mich wie ein Leiherkasten an „was auch immer, wir sind zum arbeiten hier. Also aufgepasst. Ich zeige dir die Vorgänge maximal zwei Mal, dann musst du sie selbst beherrschen.“

Ein unbändiges Gefühl von Druck braute sich zusammen. Zwei Mal hatte sie gesagt, zwei Mal würde sie mir zeigen was ich zu tun hatte. Und wenn ich etwas falsch machte?

„Sieh her“ mahnte sie mich als sie sich an das Bett stellte und nach der Decke griff. In einer raschen Bewegung hatte sie sie umgeschlagen.

„Sieh dir das Bettlacken genau an. Fällt dir etwas auf?“

In übertriebener Pose bückte ich mich und beäugte mit gespielt akribischem Blick was sich vor mir erstreckte. Aber was hätte mir auffallen sollen?

„Nun? Was ist? Fällt dir etwas auf, oder nicht?!“

Ich hasste es wenn man mich unter Zwang zu einer Aussage trieb.

„Nein, tut mir Leid. Ich sehe nichts Auffälliges“

„Nun komm schon“ trieb sie weiter „das sieht doch ein blinder mit dem Krückstock. Dazu musst du dich noch nicht einmal bücken.“

„Ich sagte doch, mir fällt nichts auf!“

Was bildete sich diese Ziege eigentlich ein! Ich hatte noch nie gearbeitet, verlangte sie nun etwa von mir das alles aus dem FF zu können?

„Na schön“ schnaubte sie „ich erklär’s dir. Das Bettlacken weißt keine Flecken auf, es ist schneeweiß, wäre es anders, müsstest du es wechseln. Allerdings hat es Falten. Eine normale Gebrauchsspur die sicherlich auch bei dir zuhause auftaucht wenn du in deinem Bettchen geschlafen hast. Du musst es lediglich auf Flecken kontrollieren und es wieder straff ziehen indem du es in die Kanten stopfst“

Wortlos sah ich sie an und folgte ihren Erläuterungen.

„Als nächstes schnappst du dir die Kissen, schüttelst sie auf und legst sie ordentlich wieder hin. “

Langweilig! Es war jetzt schon entsetzlich langweilig. Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle in das gemachte Bett sinken lassen. Demonstrativ verschränkte ich die Arme, schweifte mit den Gedanken fort und gähnte lauthals los.

„Alice!“

„Was ist?“

In ihren Augen manifestierte sich ein Anflug von Wut. Ich war mir sicher, Lorain benahm sich bestimmt nur deshalb so anständig, weil sie fürchtete Von Morrington in die Hände zu fallen. Vielleicht war sie gar nicht so perfekt, wie sie sich dargestellt hatte und musste um ihren Posten fürchten.

„Bevor du einschläfst, schnappst du dir jetzt die Bettdecke, schüttelst sie auf und legst sie ordentlich auf das Bett! Aber Faltenfrei!“

„Ist ja gut!“

„Pass auf das du dir keinen Fingernagel abbrichst!“

Na wunderbar. Wie gerne hätte ich mich jetzt davon gestohlen. Aber dieses Biest würde mich nicht eher aus ihren Fängen weichen lassen, bis ich mich ihrer Aufgabenwut gestellt hatte. Seufzend schüttelte ich die Decke und legte sie auf das Bett zurück. Zum krönenden Abschluss schlug ich sie noch einmal um und glättete die Falten.

„Zufrieden?!“ schnaubte ich.

Musternd runzelte sie die Stirn und zog eine Augenbraue hoch.

„Für den Anfang mag das ganz in Ordnung sein. Aber das muss schneller gehen! Wir haben noch etliche Zimmer vor uns. Los, auf ins Bad.“

In angespannter, kommandierender Haltung marschierte sie in den Gang zurück in der ich bereits auf jene Marmortür gestoßen war, die sie mir untersagt hatte zu öffnen. Sie legte die Hand auf, drückte ein wenig dagegen und schon zog ein Mechanismus die Tür in die Wand hinein.

„Du musst wissen, dass vieles hier ganz automatisch geht. Diese Schiebetür reagiert auf Druck und schließt sich etwa 15 Sekunden später von ganz alleine wieder.“

„Ach, so läuft das hier. Aber warum war sie denn nicht komplett verschlossen als wir herein gekommen sind?“

„Eine gute Frage Alice. Aber das liegt nicht an uns das heraus zu finden. Für solche Fälle ist der Hausmeister da. Wir sagen ihm später bescheid.“

Vorsichtig tappte sie in die Dunkelheit des Badezimmers hinein. Nachdem sie drei Mal lautstark in die Hände klatschte, glomm das warmweiße Licht auf und gab die Geheimnisse dieses hoch intimen Bereiches preis. An der oberen und unteren Kante des Raumes, säumten weiße Fließen mit goldenen Ornamenten die Räumlichkeit. Es war wunderschön und je länger ich reglos dort stand und mich umsah, umso stärker wünschte ich mir, ich könnte Gast in diesem riesigen Palast sein. Doch auch jetzt hämmerten Fragen in mir herum, die ich nicht mehr länger für mich behalten wollte, ganz gleich ob sie nun unsinnig waren, oder nicht.

„Sag Lorain, sehen diese ganzen Halterungen und Wasserhähne nur golden aus, oder ist das tatsächlich gold, das da so glänzt?“

Wieder zog sie mir eine grinsende, überlegene Fratze.

„Sehr richtig erkannt. Alles was du hier so schön blitzen und funkeln siehst, ist mit echtem Gold überzogen. Also pass gut auf, denn solch’ empfindliche Flächen kannst du nicht so ohne weiteres mit einem groben Schwamm abschrubben. Sie brauchen besondere Pflege. Vielleicht verstehst du nun auch warum alles hier täglich geputzt wird.“

Während Lorain sich eifrig daran machte, die Whirlpoolbadewanne zu säubern, wechselte ich die durchnässten Handtücher durch Neue aus und polierte den Wasserhahn des Waschbeckens auf Hochglanz. Der alleine Gedanke daran, einen großen Wert zum strahlen zu bringen, schürte Hitze in mir heran. Ich liebte es. Alles was je geglänzt oder gefunkelt hatte, mich magisch in seinen Bann sog, all jenes fesselte mich und in diesem Augenblick wünschte ich mir, dass das alles in meinem Besitz sei. Spontan überfiel mich wieder der Gedanke der mir gestern noch Übelkeit bescherte. Wäre es nicht doch sinnvoll sich an den Hotelbesitzer anzuschmiegen? Wenn ich seine Freundin werden würde, dann würde mir doch ganz automatisch auch alles gehören, oder etwa nicht?

„Na also!“ rief Lorain und unterbrach den schmutzigen Gedankenstrom der sich um meine Augen legte. Ich konnte es sehen. Alles. Alles was mir je gehören würde, wenn ich nur die Waffen einer Frau benutzte und mir das alles hier zu Eigen machte.

„ Ich dachte schon du würdest niemals selbst einen Lappen in die Hand nehmen“ bemerkte sie. „Weißt du was? Mach dich doch nützlich und schnapp dir den Staubsauger. Ich werde in der Zwischenzeit das Bad fertig machen.“

„Ist gut.“

Ich war schon fast traurig als ich gegen die Tür drückte und wieder in dieses kahle Zimmer hinaus lief, das nicht den geringsten hauch von teurem Glanz an sich hatte. Mir war noch immer ganz heiß. War es in diesem Zimmer tatsächlich so überhitzt, oder spielte mir nur mein Kreislauf wieder einen Streich? Hektisch wedelte ich mir Luft zu während ich sporadisch durch das Zimmer saugte. Bis etwas neben dem Bett in mein Blickfeld fiel. Klein, glänzend, funkelnd. Wem auch immer es gehörte, dem gehörte es nicht mehr lange. Wer seine Wertgegenstände achtlos herumliegen lässt, verdiente sie überhaupt nicht. Ich schaltete den Staubsauger aus und vergewisserte mich, ob mich auch niemand beobachten würde. Lautlos schlich ich zum Bett hinüber und mein Blut kochte. Es schäumte über, sprühte vor Glück und pumpte sich lautstark in meine Halsvene hinein. Ja, ich konnte es hören. Ich konnte es spüren wie es mit Macht und Gewalt meinen Fund quittierte.

Auf dem Boden lag ein silberner, verspielter Ring in der eine Reihe ineinander geschlungener Herzchen mit etlichen, schillernden Steinchen prangten. Er war so wunderschön, so wunderschön dass ich ihn sofort auf meinen Finger steckte. Und er passte!

Augenblicklich fing mein Nacken an zu brennen als ich hörte wie sich die Badezimmertür aufschob und jemand direkt auf mich zukam. In Panik riss ich den Ring von meinem Finger und steckte ihn in meinen Mund. Er gehörte jetzt mir!

„Alice? Was machst du denn da unten? Bist du schon fertig?“

Wie schon zu Anfang des Tages hatte ich Mühe das Zittern meiner angespannten Glieder nicht entgleiten zu lassen. Ich durfte mich nicht verraten. Behutsam tastete ich den Ring mit meiner Zunge in die Wange, ehe ich aufstand und mich Lorain zuwandte.

„Ach, die Decke war an dieser Seite noch nicht so ganz in Ordnung.“ Log ich „Ich habe sie nur zurecht gezupft. Und ja, ich bin fertig.“

Ich hetzte das süßlichste Lächeln auf mein Gesicht, das mir diese Situation erlaubte. Mein Nacken brannte, heiß, als hätten kleine Wichtelzwerge ein Feuer auf ihm entfacht. Skeptisch sah sie mich an. Warum nur hatte ich das Gefühl das mich jeder mit seinen Blicken erdolchte? Warum nur wurde ich diese Angst nicht los, dass sie alle genau bescheid wussten und mir jede Lüge wortlos erkannten?

„Na gut, dann lass uns weiter ziehn. Bei einem Zimmer helfe ich dir noch, danach teilen wir uns auf.“

Entwarnung. Erleichtert stieß ich einen Seufzer aus und packte den Staubsauger auf den Transportwagen. Ich hasste es wenn ich beobachtet wurde.

Das nächste Zimmer musste ich alleine machen. Es lag gegenüber jenem, welches wir gerade geputzt hatten. Lorain setzte sich dieses mal auf die Couch und beobachtete jeden meiner Handgriffe, schritt ein wenn sie unzufrieden war und erhob sich erst dann, als ich mich aufmachte um das Badezimmer zu putzen. Zum Schluss hinaus hatte ich selbst die Kontrolle und mühte mich damit ab nur keinen einzigen Handgriff zu viel zu tun. So viele Zimmer es auch waren, es war mir vollkommen egal ob sie nun einfach nur ordentlich oder blitzblank gewesen waren. Was kümmerte mich der Schmutz den andere verursachten?
 

Die Zimmertür schwang auf, als hätte man mein Kommen bereits erwartet, doch niemand war hier. Das Zimmer war leer und empfing meine Präsenz um mir begangene Missetaten zu erzählen. Die Stelle, an der der verheißungsvolle Ring gelegen hatte, war nun plötzlich genauso leer, wie der Rest des Zimmers. Alles war in der selben chaotischen Ordnung, wie an jenem Tag, an dem das Hotel seine Pforten öffnete um den Pakt zu erfüllen. Von Morrington war sicher heiß darauf zu erfahren, dass sein Musterkind bereits am ersten Tag einen groben Fehltritt begangen hatte. Lüstern biss ich in meinen Finger, bis Blut hervor trat und leckte wie ein ausgehungerter, rasender Wolf daran. Schon bald würde ich meine Tore für sie öffnen. Für sie alleine. Und ich würde meine Freude daran haben, sie auszuweiden und ihr jedes Leid, das sie anderen zugefügt hatte zurück zu geben. Bei diesem Gedanken stieg eine ungeheure Geltungssucht in mir empor die meine Augen brennen ließ. Ich musste diesen Brand löschen, sofort. Ich musste mich austoben! Und dafür gab es nur einen einzigen Weg. Ich schloss die Augen und beschwor den schwarzen Rauch in mir herauf, der mir zeigte nach wem auch immer ich suchte.

Von Morrington. Zeigt mir von Morrington. Jetzt! Sofort!

Aus schwarzem, beißendem Rauch wurden Farbkleckse, Ecken, Kanten, die sich nach und nach zu einem festen, greifbaren Raum entwickelten, in der eine aufgestachelte Person hin und her wetzte.

Was suchst du? Was? Was begehrst du so sehr, das du nicht ruhen kannst?

Erneut wabberte die schwarze Substanz empor, bohrte sich in meine Ohren und entblößte die geistige Stimme des Hotelbesitzers. Und er war aufgebraucht. SEHR aufgebracht!

„Warum dauert das nur so lange?! Anailarna! Ich erwarte dein Feedback! Wo bleibst du?!“

Genug! Ich wusste, was ich wissen wollte und beschwor ein letztes Mal die pechschwarzen Gefährten um mich zu leiten.

Bringt mich zu ihm! Vor die Tür! Sofort!

Einen Augenblick später stand ich im Schatten eines Schrankes, unweit der Bürotür von ihm. Ohne zu Klopfen trat ich ein, denn er wusste bestimmt bereits, dass ich mental nach ihm gesucht hatte und ihn aufsuchen würde. Jeder spürte es, wenn ich hier war. Doch nur die wenigsten wussten, dass es ich war, den sie vernahmen, denn sie kannten dieses Gefühl nicht, wussten es nicht zu interpretieren.

„Lucien? Was führt dich hier her?“ polterte die raue Stimme des Hotelbesitzers durch den Raum.

Grinsend schlang ich die Arme hinter meinen Rücken.

„Nun, ich hatte eine leise Ahnung Ruben. Ihre Unruhe kann Tote wecken, wissen sie das?“

Forschend blickte er mich an, wühlte sich in die Abgründe meines verhangenen Antlitzes

„Du weißt, was ich wissen will, nicht wahr?“

„Allerdings.“

Spielerisch tänzelte ich an ihm vorbei, hinter den Schreibtisch und fixierte das Bücherregal.

„Ich fürchte, dieses Mädchen ist noch unverfrorener als wir anfangs geglaubt haben.“

„Was weißt du Lucien? Sag es mir!“

Prüfend wand ich mich zu ihm um, überlegte wie ich es ihm sagen sollte und entschied mich für die aufschlussreichste Methode, die jedem normalsterblichen verweigert geblieben war. Die Menschen waren zu schwach für so viel Macht. Auf der Stelle zerriss meine Gestalt zu körperlosem Rauch und floss über seine Ohren in seinen Kopf hinein.

„Sieh gut hin, von Morrington, sieh guuut hin.“

In rasender Geschwindigkeit spielte ich ihm vor, was Alice, unser schwarzes Schaf, dieses Mal schönes verbrochen hatte. Der Ring, die Gier die ihr aus den Augen sprang bei all den schönen Dingen die sie sah und das Unrecht etwas einzustecken, was nicht ihr gehörte. Ein Laientheater, das ich ihm mehrere Male vor Augen führte, um seinen Zorn zu schüren. Denn ich war seine Sense und erst wenn er zornig genug wäre, würde er mir die Erlaubnis geben meiner Natur entsprechend zu handeln. Allmählich verflüchtigte sich der Dampf aus seinem Kopf und ich hatte meine alte Gestalt angenommen. Wie ein Raubtier starrte ich ihn aus hungrigen Augenhöhlen an, beobachtete wie sich sein Brustkorb gequält hob und wieder senkte. Er war diese Eskapaden, diese Reisen in die Vergangenheit nicht mehr gewöhnt und es war lange her dass ich in ihn hinein gefahren war und er mit meinen Augen sehen durfte. Er atmete schwer als er sich wieder besann und eine Hand auf meine Schulter legte.

„Du weißt was du zu tun hast, Lucien!“

Bestätigend nickte ich. Lange hatten wir von außerhalb zugesehen. Man zwang uns dieses Mädchen nach freiem Willen handeln zu lassen. Viel zu lange hatten die Oberen ihr Chancen gegeben, die sie wieder vertan hatte. Ewigkeiten gestand man ihr das Recht zu, sich von selbst zu bessern. Aber jetzt war genug Zeit verstrichen, die letzten Chancen gnadenlos vertan. Und jetzt war es endlich an der Zeit zu handeln. Die Fallen waren gelegt und sie waren bereit endlich zuzuschnappen.

Der Lauf der Dinge

Ich konnte es kaum erwarten diese lästigen, erniedrigenden Klamotten wieder los zu werden. Ich hatte den ersten Tag kaum überstanden und schon wünschte ich, ich hätte mich niemals darauf eingelassen als Zimmermädchen zu arbeiten. Ich wollte Empfangsdame sein, kein Speichellecker der nur gut genug war um in fremden Schmutz zu wühlen. Ich war deutlich überqualifiziert. Im Grunde verstand ich nicht einmal mehr, warum von Morrington so scharf darauf gewesen war mich in einer derartigen Position anzustellen. Hielt er mich denn etwa selbst für Dreck?! Je länger ich darüber nachdachte, umso wütender wurde ich. Ich bemerkte nicht einmal, dass ich anfing vor mich hin zu schimpfen, als ich ohne den Blick zu heben an meinen Lieblingsläden vorbei lief und nach Hause hastete. Genau wie beim ersten Mal schon, kündigte sich auf meinem Weg ein Wolkenbruch an. Die Luft war überladen, prickelte auf meiner Haut und stachelte mein überhitztes Gemüt noch weiter an. Was bildete sich dieser aufgeblasene Fatzke eigentlich ein?! Ich war viel zu schön und viel zu intelligent um als putzendes Mauerblümchen in diesem Bunker zu versauern! Am liebsten wäre ich umgekehrt und hätte ihm einen gehörigen Tritt in seine Weichteile verpasst!

„IDIOT!“ polterte ich und versank tiefer und tiefer in meine bösen Gedanken als es plötzlich ohne jede Vorwarnung passierte. Wie der Blitz aus heiterem Himmel walzte ein Schlag auf meinen Körper herein und ließ mich zu Boden sinken. Was war denn jetzt wieder los? Stöhnend griff ich an meinen Kopf der noch immer von einer Schmerzwelle geschüttelt keinen klaren Gedanken zu greifen vermochte. Erst als eine Hand von oben in mein Blickfeld geriet und mir ein überaus freundliches Gesicht entgegenstarrte, verstand ich was passiert war.

„Willst du noch länger da unten sitzen bleiben.“ Fragte der junge Mann völlig perplex, der mir seine Hand zur Hilfe anbot. Irgendetwas war komisch an ihm. Obwohl er einen freundlichen Gesichtsausdruck auf hatte, schien es als würden aus seinen Augen Pfeile schießen. Er glühte mich förmlich an. Das war schon das zweite Mal innerhalb kürzester Zeit, dass mir ein Mensch derart unheimlich gewesen war.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?!“ schrie ich „Kannst du nicht aufpassen wo du hinläufst?!“

Mit einer wischenden Bewegung wehrte ich seine Hand ab und sammelte auf Knien ein, was aus meiner Tasche gerollt war. Make Up, Geldbeutel, Haarbürste… Irgendetwas fehlte doch noch? Oder? Was war es nur? Während ich auf allen vieren auf der Straße herumkroch, lief das Leben weiterhin an mir vorbei. Die Leute die in einem zähen Strom an mir vorbei strichen, würdigten mich keines Blickes, machten keinerlei Anstalten mir bei meiner fragwürdigen Suche zu helfen. Ich wusste ja nicht einmal selbst wonach ich überhaupt suchte. Vielleicht bildete ich mir auch nur ein dass etwas fehlte? Im Eifer des Gefechts musste wohl mein Verstand abhanden gekommen sein. Trotzig wie ein kleines Kind blieb ich im Schneidersitz hocken und verschränkte demonstrativ die Arme vor meiner Brust. Was zum Henker hatte ich denn nun vergessen? Teufel aber auch!

„Suchst du vielleicht den hier“ funkte die nervige Gestalt mit dem verstrubbeltem schwarzen Haar erneut dazwischen und hielt mir ein schillerndes Stück Metal unter die Nase. Nein, das war kein gewöhnliches Metal. Kein Metal der Welt war in der Lage so zu glitzern und vor Funken zu sprühen. Erst als ich mich aufrichtete und den kleinen Ring mit den ineinander geschlungenen Herzen aus seiner Hand nahm, überkam mich wieder dieses brennende Gefühl im Nacken. Ich konnte mir nicht helfen. Je länger ich den Ring anstarrte, den ich heute morgen erfolgreich erbeutet hatte, umso mehr fing mein Inneres Feuer und umso schlimmer hatte ich das Gefühl, das ich beobachtet wurde. Es war wohl besser diesen Platz auf der Stelle zu verlassen. Wortlos steckte ich den Ring an meinen Finger, rannte los, als gäbe es für mich kein Morgen mehr. Der junge Mann rief mir noch irgendein unverständliches Gewäsch hinterher, aber was interessierte es mich schon was ein herumstreunender Nichtsnutz wie er mir groß zu sagen hatte. Und gerade als mich das Gefühl peitschte, der Teufel wäre hinter mir her, hätte ich unter Garantie nicht kehrt gemacht um ihm zuzuhören. Ich folgte lieber meinem Instinkt, rannte und rannte, rempelte Leute um, drängte mich durch die Menschenmassen und erst als ich sicheres Gelände unter meinen Füßen verspürte und abgeschieden vom Rest der Welt die schützende Haustüre hinter mir zuschlug, erst dann erlaubte ich es mir keuchend zusammen zu sinken und die unzähligen nervenzehrenden Gedanken auf mich einprasseln zu lassen. Gebannt lauschte ich in die Dunkelheit des Hauses hinein. War Mama denn noch nicht zuhause? Wie auch immer. Ich hatte kein gesteigertes Verlangen mit ihr über meine Zukunftsplanung zu sprechen. Nach einer kurzen Verschnaufpause schlich ich mit federnen Sohlen lautlos die Treppe hinauf und verbarrikadierte mich in meinem Zimmer, dem einzigen Zufluchtsort der mir all die Jahre über geblieben war. Entnervt löste ich die Schleife meiner Schürze, striff Rock und Bluse von mir und gab meinen Körper der totalen Entblößung hin. Ich sehnte mich nach einem Bad. Der ideale Ort um zu entspannen und seine Gedanken zu einem konstruktiven Gegenschlag zu bündeln. Neugierig betrachtete ich mich im Spiegel. Nicht das ich meinen Körper nicht bereits kannte, aber ich war wirklich außerordentlich zufrieden mit ihm.

„Yes!“ flirtete ich mein gläsernes Gegenüber an „Ein Prachtstück Alice. Du bist wirklich wunderschön.“ Zärtlich blies ich meinem Spiegelbild einen Luftkuss zu und wandte mich letztlich ab um mir angenehm heißes Wasser in die Wanne einlaufen zu lassen. In den Fluten eingetaucht gab ich mich voll und ganz der entspannenden Wärme hin die meinen Körper umwob. fast hatte ich das Gefühl eine unangenehme Hülle abzustreifen. Eine schmutzige, stinkende Fassade die in Dreck gewühlt hatte. Wo ich wieder beim Thema angekommen war, pfui Teufel! Wie konnte mich ein Mensch nur so derart erniedrigen?! Augenblicklich war ich wieder genau so wütend wie zuvor, als ich angewidert von der Arbeit durch die Gassen stapfte. Es war Zeit zu handeln. So konnte es auf keinen Fall weiter gehen und ich dachte nicht im Traum daran da weiter zu machen wo ich heute aufgehört hatte!

„Benutz deinen Kopf Alice“ feuerte ich mich an „Was kannst du tun, um es diesem Missgünstling von Morrington heim zu zahlen? Wo liegen seine Schwächen? Und wo sind deine Stärken?“

Spielerisch wühlte ich in den Schaumkronen des Badewassers, zog Linen, zeichnete die Konturen meines Körpers nach und schlagartig kam mir eine Idee in den Sinn, die ich zuvor als Schwachsinn abgetan und verworfen hatte. Dabei war der Grundgedanke doch gar nicht so schlecht. Von Morrington war mit Sicherheit einer der wohlhabendsten Männer weit und breit. Theoretisch betrachtet musste es ausreichen wenn ich mit meinen weiblichen Reizen spielte, um ihn um den Finger zu wickeln. Das bisschen Geld das er für mich Opfern müsste würde ihm sicher nicht weh tun. Es bot sich geradezu an ihn als Melkkuh zu benutzen. Und ob ich mir dabei noch einen anderen Kerl hielt, von dem ich mich flach legen ließ weil ich ihn tatsächlich liebte, dass musste er nun wirklich nicht wissen. Für von Morrington musste es meine bloße Anwesenheit tun um ihn zum Überkochen zu bringen. Notfalls musste ich eben ein wenig Hand anlegen, wenn gar nichts half, aber sein Geldbeutel gehört MIR! Soviel zu jener Person die mir meine Würde raubte… Aber was sollte ich mit Lucien machen? Sobald ich nur an diesen widerlichen Kerl dachte, stellten sich meine Nackenhärchen auf. Ein Angstschauer durchzuckte mich und ich musste unweigerlich an seine seltsamen Augen denken die mich auf Schritt und Tritt zu verfolgen schienen. Warum war er eigentlich so bösartig zu mir? Noch nie in meinem Leben war mir jemand wegen einer berechtigten Ohrfeige so böse gewesen und Lucien hatte es doch geradezu heraus gefordert. Was wollte er also? Wie konnte dieser unverschämte Bastard es wagen mich auch nur anzufassen?! Unweigerlich spielten sich Sequenzen vor meinem inneren Auge ab, wie ihm in den Fängen meiner Freunde aus dem Untergrund das Genick gebrochen wurde. Die bloße Vorstellung reizte mich so sehr, dass hitzige Wallungen kreuz und quer durch meinen Unterleib schossen und mich buchstäblich in extatisches Zucken trieben. Wahrhaft, Vergeltung war das einzige was mir jemals dieses erfüllende Gefühl bereitete und meine Hände in Spieltrieb versetzte… Heiße, kochende Spiele, wie sehr ich sie doch liebte.

„Sterben, oder nicht sterben“ flüsterte ich süßlich vor mich hin ehe mich genüssliches Stöhnen übermannte „Was für eine Frage!“
 

Die Nacht zog seinen entspannten Schleier über mich und ich schlief so gut wie schon lange nicht mehr. Als ich aufwachte, war der Mittag bereits angebrochen. Verwundert stellte ich fest das Mama keinerlei Anstalten gemacht hatte mich zu wecken. War sie heute Nacht überhaupt nach Hause gekommen? Oder spielte sie immer noch die beleidigte Leberwurst? Wie auch immer, ich wollte dieser Sache keine weitere Beachtung mehr zu schenken. Ich hatte ohnehin beschlossen den Tag langsam angehen zu lassen, also wanderte ich in meinen Lieblingsklamotten verpackt seelenruhig die Treppe hinunter und sorgte für mein leibliches Wohl. Bei Kaffe und einer ordentlichen Scheibe Sandkuchen durchblätterte ich die Modekataloge und stellte mir im Kopf bereits den neuesten Look zusammen mit dem ich bald aufkreuzen würde. Shoppen, eigentlich musste man dafür bezahlt werden. Schließlich war es doch mehr als nur anstrengend durch die Läden zu ziehn und etliche Kleider anzuprobieren, bis man letztlich mit wenigen Stücken bewaffnet den Laden wieder verließ und trotzdem noch immer nicht glücklich war. Irgendetwas fehlte doch immer für das ultimative, perfekte Outfit. Ob sich wohl jede Frau so fühlte? Egal! Jetzt waren erst einmal andere Belange von Wichtigkeit und langsam aber sicher fühlte ich mich in Aufbruchsstimmung. Ohne meine Arbeitskleidung auch nur annähernd schief angesehen zu haben, packte ich meine Tasche und zog los um mich meiner Bestimmung zu widmen.

„Heute lernst du meine Zuckerseite kennen, von Morrington“

Ein siegessicheres Lächeln malte sich auf mein Gesicht. Sicher wäre dieser Idiot ein wenig angesäuert das ich viel zu spät zur Arbeit kam. Aber, Arbeit? Das war heute sicher nicht mein bestreben. Als sich die Tore des Hotels für mich öffneten stand bereits Lucien in der Tür und augenblicklich verwandelte sich mein Lächeln in eine hässliche Fratze.

„Geh mir aus dem Weg!“ fauchte ich ihn an, genüsslich an dem Eis leckend das ich mir gekauft hatte um die Auswirkungen der herunter brennenden Sonne zu lindern.

„Nanu nana“ plusterte er sich auf und brach in schallendes Gelächter aus. Was war denn nun wieder los?! Was glaubte dieser Kerl eigentlich wer er war?!

„Ich wüsste nicht, was so komisch ist?!“ schnauzte ich ihn an und wollte einen großen Bogen um ihn machen. Doch irgendwie ließ er mich auch dieses Mal nicht zufrieden. Barsch riss er mich an den Haaren zurück um mir seine schmutzigen Worte ins Ohr zu flüstern.

„Lehn dich nicht zu weit aus dem Fenster du verwöhnte Göre! Mein Boss ist äußerst wütend auf dich. Er will dich auf der Stelle sehn. Besser du machst dich sofort auf den Weg!“

Er hatte mich so weit herunter gerissen, dass ich jetzt in seinen Armen lag und seinem Gesicht kaum mehr ausweichen konnte. Sein heißer Atem brannte an meinem Hals und auf eine bizarre Art und Weise fürchtete ich, dass er jeden Moment seine schneeweißen Zähne in meine pulsierende Ader schlagen würde. Es war schwer sich wieder darauf zu besinnen dass das alles nur Märchen waren. Vampire und all die anderen Phantasiegestalten, es gab sie nicht!

„Nimm gefälligst deine Griffel von mir!“

Ohne groß auf eine Reaktion zu warten, donnerte ich ihm mein schönes Eis in die Visage, das einen wahrhaft lächerlichen Ausdruck in sein Gesicht zauberte. Unsanft landete ich auf dem Hintern, als er in einer plumpen Bewegung die Überreste meines Angriffs aus seinem Gesicht strich und genauso plötzlich wie ich auf dem Boden landete, brach ich in herzliches Lachen aus.

„Jetzt sieh dich an, du Trottel“ grinste ich „ wer zuletzt lacht, mein Freund…“

Mit dem immer gleichen spöttischen Grinsen erhob ich mich und warf ihm einen letzten Blick über die Schulter zu, bevor ich mich aufmachte in die Höhle des Löwen zu spazieren.

Kaum war ich hinter dem Tresen verschwunden, sprang die Tür zu von Morringtons Arbeitszimmer auf. Hatte er mich etwa kommen sehen?

„Frau Finkenlied…“ mit Argusaugen musterte er mich und drückte die Tür demonstrativ noch ein Stückchen weiter auf.

„Setzen“ sagte er und deutete auf den Stuhl gegenüber seines bequemen Ohrensessels.

Jetzt nur nicht die Nerven verlieren Alice! Denk an den Plan! Ich musste mich einfach selbst ermuntern, sonst wäre ich unter seinen Blicken schon zusammengebrochen, noch bevor er aus seinem Zimmer heraus trat und mich forschend anblickte. In der bereits gewohnten Pose flegelte er sich in seinen Sessel hinein und starrte mich aus unergründlichen Augen an.

Sieh nur hin! Dachte ich bei mir und zupfte forsch mein Top herunter, um ihm einen verführerischen Anblick in mein Dekollete zu gewähren, ehe ich mich setzte und ihn mit engelsgleicher Zunge ansprach.

„Es tut mir wirklich schrecklich leid, Herr von Morrington. Mein Wecker hat versagt und…“

Er ließ mich kaum aussprechen und schmetterte mir seine Predigt entgegen.

„Gute Frau, ich dulde diese Unzulänglichkeiten nicht! Ich habe ihnen diese Stelle gegeben, damit sie mir vermitteln können das ich mich auf sie verlassen kann. Das sie bereits am zweiten Tag derart zu spät kommen ist absolut inakzeptabel!“

Mit wässrigen Augen sah ich ihn an und schluckte hart. Irgendwie musste ich diesem Klotz doch klar machen dass er mich so nicht zu behandeln hatte, also brach ich in Schluchzen aus und weinte meine schönsten Schauspielertränen.

„Aber… es tut mir doch leid.“ Wimmerte ich „mein Wecker hat den Geist aufgegeben. Ich hätte bestimmt nicht verschlafen, hätten mich meine Probleme die Nacht über nicht wach gehalten.“

Mit herzzerreißender, erstickender Stimme verpasste ich meiner Aussage den letzten Schliff. Sieh hin, liebster Geldbeutel. Sieh mich an. Kannst du diesem Gesicht böse sein?

Mit zitternder Hand strich ich eine Haarsträhne hinter mein Ohr die über meine Schultern gefallen war und nun das wichtigste verdeckte. Ich war eine Frau und meine Brüste würden der Schlüssel zu seinem goldigen Herzen sein.

Geladen atmete von Morrington durch ehe er sich dazu zwang wieder einen normalen, freundlichen Ton anzuschlagen.

„Ich gehe davon aus, dass sich das nicht wiederholen wird, Frau Finkenlied. Jetzt machen sie sich an die Arbeit, aber ziehen sie sich vorher bitte ihr Arbeitsgewand an.“

Stotternd gab ich zu das ich das wichtigste Zuhause vergessen hatte und ich konnte ihm ansehen dass er sich sehr, sehr beherrschen musste nicht augenblicklich in einen neuen, cholerischen Anfall zu verfallen. Letztlich einigten wir uns darauf dass ich heute ausnahmsweise ohne die Arbeitskluft putzen gehen durfte. Allerdings erwähnte er beiläufig dass er mir Lucien vorbeischicken würde um den Arbeitsfortschritt besser einschätzen zu können. Es half kein Jammern und kein Flennen. Gütiger Himmel. Ausgerechnet IHN hetzte er mir auf den Hals. Fantastisch! So hatte ich mir meinen glorreichen Sieg nun nicht vorgestellt. Mein großartiger Plan drohte in der Versenkung zu landen…



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von: abgemeldet
2010-01-22T18:52:39+00:00 22.01.2010 19:52
Oh okay, dann habe ich entweder etwas überlesen oder mir es einfach falsch vorgestellt xD Aber ist ja auch nicht weiter schlimm, es ist ja schließlich nur ein Traum und wenn man so über Träume nachdenkt, da ist ja auch nicht alles wirklich so eindeutig.
Von: abgemeldet
2010-01-22T18:51:17+00:00 22.01.2010 19:51
Heyho
Ja manche Dinge müssen eben zu Anfang geschehen, damit das ganze zum Rollen kommt. Wenn sie charakterlich eine faule Sau ist, dann ist das zumindest Erklärung genug, warum sie es tut. Ich würde das vielleicht dann noch in einem kleinen Gedankenkonflikt in die Geschichte einfügen so ala soll ich, soll ich nicht, eigentlich kein Bock, aber auch zu faul zum Laufen. Dann wir das dem Leser auch gut klar.
Was die Beerdigung angeht ist natürlich dass er ihr Ex war auch eine Erklärung, aber auch hier würde ich das mehr in ihre Gedankenwelt einbringen.
Ansonsten ist ja nichts wirklich falsch, nur eben nicht genug erklärt bzw. geschildert. Aber das ist prinzipiell nichts Schlimmes, was dem Autor glasklar erscheint ist nun mal manchmal für den Leser nicht ganz so klar ;)

Und nichts zu danken!
Von:  Glasfluegelchen
2010-01-21T18:25:19+00:00 21.01.2010 19:25
Jaaa xD ich wollte es ein bisschen "schmutzig" haben ^^'
Hm, nein, sag mir wenn ich mich irre, aber ich meinte ich hätte am Anfang nur das Herzrasen beschrieben und den Versuch sich aufzurappeln der aber schief gegangen ist weil sie in der Dunkelheit kein Gleichgewichtsgefühl entwickeln kann xD das is also eigentlich alles im kriechenden Zustand gewesen xDDDD
Von:  Glasfluegelchen
2010-01-21T18:22:59+00:00 21.01.2010 19:22
Hallo Lenya ^^
Dankeschön ^^ freut mich wenn der Einstieg schonmal nicht gelantweilt hat :) aber ja, ich muss zugeben das manche Dinge nur begrenzt durchdacht sind. Sagen wir einfach, Alice ist eine kleine faule Sau (+hust+ entschuldigung xD) die sowieso nicht gerne durch den Nebel nach Hause gelaufen wäre. also hat sie es lieber in Kauf genommen sich von ihrem besoffenen Ex kutschieren zu lassen. Dieses Geschehniss soll ihrer heilen Welt auch mehr oder weniger die entscheidende Wende verpassen. Warum das so ist wird man im laufe der folgenden Kapitel noch genauer erfahren können ^^
Warum sie auf die Beerdigung geht: nunja, er ist immernoch ihr Ex. Da ist es wirklich die Vergangenheit die sie zu diesem "Event" herbei zietiert.
Was die Sache mit der Beerdigung angeht: ich hatte es bei einem Verwandten das er erst nach einer Woche beerdigt wurde. Du hast schon Recht, normaler Weise würde sowas wohl schneller von statten gehn, aber mal ausgehend davon das vielleiiiiiiiicht Feiertage dazwischen waren... da kann sich sowas schon rausziehn ^^' da hab ich wohl etwas daneben gegriffen xD ich denke dieses Stelle werde ich nochmal überarbeiten :) danke das du mich darauf hingewiesen hast :)

Vielen Dank für deinen Kommentar ^^ hat mich wirklich sehr gefreut mal ein Feedback zu bekommen <3
Von: abgemeldet
2010-01-21T18:19:15+00:00 21.01.2010 19:19
Also der Anfang erinnert mich irgendwie an SAW^^ Hmh mich verwirrt eins: Sie geht erst und plötzlich krabbelt sie? Aber ich finde es toll, wie du das beschreibst, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass es nur ein Traum ist!
Von: abgemeldet
2010-01-21T18:03:55+00:00 21.01.2010 19:03
Zuerst muss ich sagen: Gut geschrieben! Auch wenn sich noch einige kleine Fehler eingeschlichen haben hier und da. Aber dein Stil gefällt mir auf jeden Fall! Auch fängt die Geschichte nicht so langweilig an, wie so viele hier. "Blablabla X macht dies und jenes und denkt das" - das fesselt niemanden. Aber das hier bietet einen guten Einstieg und man ist dazu geneigt weiter zu lesen!

Da gibt es noch ein paar Dinge, die ich nicht so ganz verstehe: Wenn Alice sich von Mike getrennt hat und sie eigentlich fertig miteinander sind, wieso steigt sie dann noch zu ihm ins Auto, obwohl sie auch noch weiß, dass er betrunken ist?
Und das nächste Mysterium: Nach all dem was geschehen ist, wieso geht sie noch zu seiner Beerdigung? Ja, gemeinsame Vergangenheit und so, aber letztendlich mochte sie ihn zu Schluss gar nicht und er hat sogar versucht sie in den Tod zu reissen. Ich denke nicht, dass jemand nach all dem Geschehenen auf die Beerdigung gehen würde. Vor allem hat sie ja auch nicht damit abgeschlossen und ihm verziehen.
(Ah und Beerdigungen finden für gewöhnlich nach sehr kurzer Zeit statt (außer die Leiche muss noch untersucht werden, was aber nur bei ungeklärter Todesursache geschieht), sind meistens ca. 3 Tage, wenn nicht sogar noch früher)


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