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White Christmas

Just like the ones I used to know
von

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Let it Snow!

„Nein, nein, nein! Das zieh' ich nicht an! Niemals!“

„Hat er wieder Angst um seinen männlichen Stolz?“

„Hat er.“

„Welcher Versager fürchtet nicht um seine Ehre, wenn er solche Fetzen tragen soll?!“

„Komm schon, Miko-chan. Rot steht dir bestimmt.“

„Es geht hier nicht um die verdammte Farbe! Hast mal darauf geachtet wie KURZ dieser Rock ist?! Und nenn' mich nicht Miko-chan! Das klingt nach einer Hexe!“
 

Angewidert fegte Mikoto das tatsächlich etwas knapp geratene Weihnachtsbunny-Kostüm vom Tisch. Arisada, dieser Teufel in Menschengestalt, hatte darauf bestanden, eine schulinterne Weihnachtsfeier zu organisieren und natürlich durften die Prinzessinnen dabei nicht fehlen. Nach ein paar konspirativen Treffen mit Natasho war er zu dem Schluss gekommen, dass sich die Prinzessinnen an einem Festtag der Liebenden – wie Weihnachten nun einmal einer war – überdurchschnittlich sexy präsentieren mussten. Diesem, zu Mikotos Leidwesen leider unumstößlichen Beschluss, waren wenige Tage später besagte Weihnachtsbunny-Kostüme gefolgt. Kono und Shihodani steckten bereits bis zu den Ohren in rotem und weißem Plüsch – und das meinte er wörtlich. Das rote Jäckchen mit den goldenen Knöpfen und dem auffällig breiten weißen Plüschkragen war ja noch recht annehmbar und auch über die albernen Hasenohren hätte sich zur Not noch reden lassen, aber dieser Rock... Dieser Rock war schlicht und einfach zu kurz. Er würde ihm nicht einmal bis zu den Knien reichen.

Wie kam Arisada darauf, sich das Recht herauszunehmen, sie so zu demütigen?! Als er selbst noch Prinzessin gewesen war, hatte er immerhin Kimonos tragen dürfen. Im Vergleich zu diesem unsäglichen modischen Fehlgriff hatte er während dieser Form von Angriff auf seine Männlichkeit wenigstens noch ein kleines bisschen Stolz bewahren und sich hinter langen, schweren Stoffbahnen verstecken können. Immerhin hatte er sich nicht halb nackt in der Öffentlichkeit präsentieren müssen.

„Also wirklich!“, tadelte Shihodani ihn mit einem ekelhaft herablassenden Lächeln. „Deine Einstellung ist alles andere als professionell. Es ist alles andere als ehrenvoll, sich bezahlen zu lassen, obwohl man seinen Job nicht ordentlich erledigt.“

Mikoto knurrte leise und beeilte sich sicherheitshalber, einen größtmöglichen Sicherheitsabstand zwischen sich und das indiskutable Kostüm zu bringen. „Ich weiß!“, motzte er und seinem Tonfall war nicht eindeutig zu entnehmen, ob er nun wütend oder hoffnungslos verzweifelt war. „Aber alles hat irgendwo Grenzen!“

Shihodani zuckte unbeeindruckt mit den Schultern und rückte dann mit dem gleichgültigsten aller Gesichtsausdrücke seine flauschigen, roten Öhrchen zurecht. „Arbeit ist Arbeit“, erklärte er kühl. Kono stimmte ihm mit einem etwas zu begeisterten Nicken zu.

„Schön und gut, wenn ihr euch damit abgefunden habt – ich werde dieses... dieses DING nicht anziehen! Nur über meine Leiche!“ Dass er das besser nicht gesagt hätte, wurde ihm spätestens in dem Moment klar, als die Gleichgültigkeit auf Shihodanis Gesicht einem gemeinen Grinsen wich.

„Das lässt sich einrichten, Miko-chan“, bemerkte er betont süßlich und bewegte sich bedrohlich langsam auf ihn zu. Im Vorbeigehen griff er nach Mikotos Kostüm. „Wie heißt es so schön? - Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt...“
 

Kaum eine halbe Stunde später fand sich Mikoto in voller Prinzessinnen-Montur in der Turnhalle wieder. Wobei... Er war sich nicht sicher, ob Turnhalle tatsächlich noch der zutreffende Begriff für diese Räumlichkeit war. Seit Arisadas 'Gefolgschaft' die Halle der Feierlichkeit entsprechend umgestaltet hatte, war nicht mehr viel von ihrer ursprünglichen Gebrauchsbestimmung zu erkennen.

Die Weihnachtswichtel der SMV hatten ein paar Tische im Raum verteilt, mit Sternen, Rauschgoldengelchen und anderem kitschigen Kram geschmückt und die Schülerschaft darauf verteilt. Der nicht ganz so unangenehme Duft von frisch gebackenen Plätzchen, Schokolade und alkoholfreier Bowle lag in der Luft und Lametta-behangene Tannenzweige baumelten von der Decke herab.

Seine Kollegen waren bereits eifrig dabei, Getränke auszuschenken und ihre Mitschüler mit professionellem, unnahbarem Lächeln abzuspeisen. Woher nahmen sie bloß diese widernatürliche Begeisterung? Er selbst hatte es vorgezogen, sich still und heimlich in den Geräteraum zu schleichen und hinter einem Kasten zu verstecken. Schön, Shihodani hatte ihn erfolgreich dazu gezwungen, sich umzuziehen. Aber wenn er ihn nicht fand, konnte er ihn wenigstens nicht auch noch dazu nötigen, sich in diesem Outfit irgendjemandem zu zeigen. Nicht auszudenken, was seine Freundin sagen würde, wenn sie davon erfuhr!

Gut, aus irgendeinem unerfindlichen Grund war sie auf Anhieb von der ganzen Prinzessinnen-Geschichte begeistert gewesen, aber ob sich das auch auf kurze Röckchen und Hasenohren bezog, das wagte er doch stark zu bezweifeln. Vielleicht würde sie auch wieder dieses schreckliche s-Wort sagen. Welcher Mann wollte schon gerne von seiner Freundin als 'süß' bezeichnet werden?

Keiner. Natürlich. Er war fest davon überzeugt, dass das auch die Grenzen des für Shihodani und Kono erträglichen sprengen würde. Dumm nur, dass keiner von beiden dieses Gefühl nachvollziehen konnte. Ihnen fehlte schließlich eine potentielle s-Wort-Sagerin.

Mikoto überlegte ernsthaft, ob er nicht versuchen sollte, die beiden mit irgendwelchen x-beliebigen Mädchen zu verkuppeln. Wenn sie erst einmal eine Freundin hatten, würden sie ihn möglicherweise verstehen können und das ewige „Arbeit ist eben Arbeit“ hätte endlich ein Ende.

Wunschträume. Fast hätte er über sich selbst gelacht, so absurd kam ihm sein eigener Gedanke vor. Shihodani hätte bestimmt gerne eine Freundin gehabt, doch Konos Erzählungen zufolge scheiterten seine Bemühungen letztendlich immer daran, dass er selbst für ein Mädchen gehalten wurde. Wahrscheinlich hatte ein Kerl wie er einfach keinen männlichen Stolz, so traurig das auch sein mochte.

Und Kono? Mikoto befürchtete stark, dass er nach der Geschichte mit seiner Schwester vorerst eher verschreckt reagieren würde, wenn er ihm ein weibliches Wesen gegenüber setzte. Und sollte er tatsächlich so etwas wie Berührungsängste entwickelt haben, konnte er ihm das nicht einmal verübeln.

Nein, diese beiden würden seine Probleme niemals verstehen können.

Vorsichtig lugte er hinter dem Kasten hervor und warf einen Blick auf die zwei fleißigen Weihnachtshäschen. Natürlich sahen sie niedlich aus, und auch der von Arisada so ausdrücklich geforderte Sex-Appeal fehlte nicht. Sie spielten ihre Rolle mit einer Perfektion, die Mikotos Meinung nach bereits weit jenseits des Professionellen lag. Konnte ihnen dieser Zirkus denn allen Ernstes gefallen? Frauen in Männerkleidern waren ja noch in Ordnung, aber Männer in Frauenkleidern-? Als Hobby taugte das nichts. Und wenn seine Freundin zehn Mal anderer Ansicht war – er blieb dabei!

Mikoto zuckte erschrocken zurück, als er direkt dem Blick eines 'Ehrengastes' begegnete. Sakamoto. Er musste ihn entdeckt haben! Ertappt zog er sich wieder in sein Versteck zurück, obwohl er wusste, dass es dafür bereits zu spät war. Er konnte nur noch hoffen, dass wenigstens Sakamoto Mitleid mit ihm hatte und ihn nicht mitten ins Geschehen zerrte. Und vielleicht standen seine Chancen diesbezüglich gar nicht mal so schlecht. Sakamoto gehörte nicht zu derselben dämonischen Gattung Mensch wie Arisada, Kono und ganz besonders Shihodani. Immerhin hatte er ihn noch nie zu irgendetwas gezwungen.

Schritte näherten sich. Auf sich beruhen lassen würde er die Sache folglich schon einmal nicht. Mikoto ertappte sich dabei, dass er nervös ein paar lange Strähnen seiner Perücke um die Zeigefinger wickelte. Was für eine weibische Geste! Wenn das so weiterging, wurde er wirklich noch zum Mädchen.

„Mikoto?“ Sakamoto kam nicht näher. Allem Anschein nach hatte er es sich auf der anderen Seite des Kastens gemütlich gemacht und beschlossen, auf sichere Distanz zu versuchen, ihn aus seinem nicht mehr ganz so geheimen Versteck zu locken. Sollte er. Diese Methode funktionierte vielleicht bei verschreckten Kätzchen, aber ganz bestimmt nicht bei verstimmten Weihnachtshäschen!

„Ich weiß ja, dass du das Kostüm nicht magst, aber findest du es den anderen gegenüber fair, dich hier zu verkriechen?“

Aha. Er versuchte, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden. Taktik erkannt.

Mikoto schnaubte abfällig. „Immerhin sind sie zu zweit!“, erklärte er bissig. „Und im Gegensatz zu mir scheint ihnen der Job zu gefallen!“

Sakamoto ließ ein leises Seufzen hören. Vermutlich hatte er mit der Antwort gerechnet. „Vielleicht versuchen sie einfach nur, das Beste daraus zu machen“, gab er zu bedenken. „Es hat doch keinen Sinn, sich ewig darüber zu ärgern. Wenn du jetzt einfach da raus gehst und ihnen hilfst, hast du es ganz schnell hinter dir.“

„Nicht in diesem Aufzug!“, erwiderte Mikoto schroff. Wenn Sakamoto ernsthaft beabsichtigte, ihn dazu zu überreden, sich vor den Augen der ganzen Schule zum Affen zu machen, dann musste er schon schwerere Geschütze auffahren. Warum übernahm nicht er den Job, wenn er ihn für so wichtig hielt? Sein Gesicht war ganz bestimmt hübsch und feminin genug.

„Wenn es mit deinem Gewissen vereinbar ist, die zwei alleine schuften zu lassen, dann bitte!“

Immer noch dieselbe Schiene. Er hasste diesen verdammten moralischen Zeigefinger, der aus jedem seiner Worte sprach. Er hasste ihn wie die Pest! Und warum? Weil er noch immer nicht immun dagegen war. Natürlich hatte er ein schlechtes Gewissen, das konnte er nicht leugnen. Er war einfach viel zu nett. Allerdings überwog in diesem Fall dann doch die Scham. Lieber wollte er für den Rest seiner Tage mit einem schlechten Gewissen leben, als sich begaffen zu lassen.

„Wovor hast du denn Angst?“, versuchte Sakamoto noch einmal sein Glück. Diesmal wohl mit aufgesetztem Interesse an potentiellen seelischen Schieflagen einer monatelang gedemütigten Prinzessin wider Willen. „Du hast das schon so oft gemacht. Deine Freundin hätte ganz bestimmt nichts dagegen und wir wissen alle, dass es nicht dein Hobby ist, dich so zu verkleiden. Ist das nicht genug? Nur weil du Hasenohren trägst, fällt dir noch lange kein Zacken aus der Krone. Sieh' es doch mal so: du bist ein Schauspieler und hast eine Rolle zu spielen. Du wirst dafür bezahlt, und alle, die dich sehen, wissen, dass du deine Rolle nur spielst, weil du dafür bezahlt wirst. Es fällt dir bestimmt leichter, wenn du ein bisschen professioneller an die Sache herangehst.“

„Du hörst dich an wie Shihodani!“

Sakamoto seufzte abermals. „Mikoto, bitte!“ Sein Tonfall verriet, dass er kurz davor war, das Handtuch zu werfen. Vermutlich hatte er selbst zu tun und schlichtweg nicht die Zeit, sich mit bockigen Prinzessinnen herumzuschlagen. Mikoto konnte es nur recht sein. „Ich werde dich nicht an den Ohren zur Arbeit ziehen, wenn du partout nicht willst, aber bitte denk' wenigstens noch einmal darüber nach. Ich halte es wirklich nicht für richtig, sich einfach so vor seiner Aufgabe zu drücken. Das ist feige.“ Mit diesen Worten erhob er sich und kehrte in die völlig entstellte Halle zurück.

Ein bisschen misstrauisch kroch Mikoto auf allen Vieren halb hinter dem Kasten hervor und sah ihm nach. Er konnte nicht verhindern, dass sein Gehirn begann, die allzu vertraute Abwägung zwischen Schande und Feigheit vorzunehmen und verfluchte sich selbst dafür. Er wusste, zu welchem Ergebnis er kommen würde, bevor er das Für und Wider überhaupt näher erörtert hatte. Warum nur musste er sich immer breitschlagen lassen? Warum nur konnte er nicht damit leben, seine Freunde allein in den Kampf gegen die Groupies zu schicken, obwohl er bei objektiver Betrachtung der Einzige war, der daraus nicht siegreich hervorgehen konnte? Vielleicht ganz einfach aus dem Grund, dass sie seine Freunde waren?

Er seufzte sehr, sehr schwer. Dann erhob er sich mit der Miene eines Verurteilten, der zum Schafott geführt wurde und tat ein paar unsichere Schritte in Richtung der weihnachtlichen Hölle. Wenn Kono und Shihodani dieses Opfer nicht zu schätzen wussten, dann würde er ihnen Feuer unter dem Hintern machen, das hatte er sich geschworen.

Sakamoto bemerkte schnell, dass seine Bemühungen Früchte getragen hatten. Er beeilte sich Mikoto abzufangen, bevor er den Geräteraum verlassen hatte und die ersten Schritte auf feindliches Territorium wagen musste. Vermutlich resultierte seine Freundlichkeit aus der nicht ganz unbegründeten Angst, dass Mikoto es mit der Angst zu tun bekommen und im letzten Augenblick doch noch einen Rückzieher machen würde, vielleicht war es aber auch nur die übliche Selbstaufopferungsbereitschaft gepaart mit seiner unerschütterlichen Höflichkeit, die irgendwie genetisch veranlagt zu sein schien. Mikoto war es ziemlich egal. Er war in erster Linie dankbar dafür, sich nicht alleine in die geifernde Schülermeute wagen zu müssen.

Ganz im Gegensatz zu Kono und Shihodani hatte er nie gelernt, sich die Leute vom Leib zu halten. Ständig meinte irgendjemand, an ihm herumfummeln oder ihn sonstwie belästigen zu müssen, und das nur, weil er nicht dieselbe Aura der Unantastbarkeit ausstrahlte wie seine Leidensgenossen. Sakamoto war die perfekte Waffe dagegen. Er teilte Menge wie Moses das Meer. Niemand, ja, wirklich absolut niemand wagte es, ihm zu nahe zu treten. Und so bemühte sich Mikoto, möglichst an seiner Seite zu bleiben, während sie auf Kono und Shihodani zusteuerten, die gerade dabei waren ein frisches Blech Plätzchen mit Schokostreuseln zu verunstalten.

„Freut mich, dass du deine Meinung geändert hast“, sagte Sakamoto und schenkte ihm das erste ehrliche Lächeln, das er an diesem Tag gesehen hatte. „Das war mutig von dir.“

Doch Mikoto kam nicht dazu, sich über das Lob zu freuen. Kaum, dass Sakamoto den Mund zugemacht hatte, hatte Shihoudani sie auch schon bemerkt. Mikoto sah sein letztes Stündlein gekommen. Wahrscheinlich durfte er sich nun wieder Sticheleien und Belehrungen ohne Ende anhören und von Kono konnte er auch keine Hilfe mehr erwarten, seit sich dieser aus bisher ungeklärten Gründen in Shihodani Nummer Zwei verwandelt hatte. Es war immer so. Immer.

„Wie schön, dass du uns doch noch mit deiner Anwesenheit beehrst, Miko-chan“, säuselte Shihodani und besah ihn mit einem dieser künstlichen Lächeln, die an sich für fehlgeleitete Verehrer reserviert waren. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er dazu passend mit den Plüschohren gewackelt hätte. Shihodani war ein waschechter Teufel.

Mikoto schnaubte verächtlich. „Ich hasse es, wenn du dich so verkaufst!“, erklärte er kalt. „Warum muss ich das machen?“

Gespielt verwirrt wandte Shihodani sich an seinen Zimmergenossen. „Verkaufen?“ Sein theatralisch unschuldiger Gesichtsausdruck hätte Bambi vor Neid erblassen lassen. „Verkaufe ich mich, Toru-chan?“

„Verkaufen?“ Kono legte einen Finger an die Lippen und tat so, als würde er angestrengt überlegen, bevor er mit einem strahlenden Lächeln erklärte: „Du verkaufst dich doch nicht, Yu-chan. Miko-chan ist nur eifersüchtig auf deinen angeborenen Charme.“

Mit absolut unmännlicher Grazie drehte Shihodani sich wieder zu Mikoto um und streichelte mitfühlend seine Hasenöhrchen. Mikoto musste alle Willenskraft aufbringen, um dem Drang zu widerstehen, ihm in die Hand zu beißen. So etwas konnte schon einmal passieren, wenn man einen Hasen ärgerte – und wenn es ein falscher war!

„Du musst doch nicht eifersüchtig sein, Miko-chan“, meinte er, noch immer lächelnd. „Du siehst doch so niedlich aus.“

Genau das hatte Mikoto nicht hören wollen. Und genau dieser Satz war so vorhersehbar gewesen wie das Amen in der Kirche. Was hatte er getan, dass Gott ihn so sehr hasste? Dass die Schüler, die in der näheren Umgebung standen und ihre Unterhaltung mitgehört hatten, angefangen hatten ihm wenig aufmunternde Dinge wie „Ja, genau! Du bist sooo süß, Miko-chan!“ oder „Sei nicht traurig, wir lieben dich alle!“ zuriefen, trug auch nicht gerade zu einer Steigerung seines Wohlbefindens bei. Warum genau hatte er sein Versteck nochmal verlassen? Ach ja, richtig: Freundschaft und Gewissen und so. Undankbares Pack! Irgendwann würde er ihnen das heimzahlen! Mit Zins und Zinseszins!

Derart in Gedanken versunken übersah er völlig, dass sich Shihodanis falsches Lächeln inzwischen in ein weit mehr besorgniserregend sadistisches Grinsen verwandelt hatte.

„Sag, Toru-chan“, begann er in einem unheilverkündend verschwörerischem Tonfall. „Da war doch noch diese eine Sache...“

Konos Gesichtszüge erhellten sich kaum merklich. „Du hast Recht: Da war noch diese eine Sache...“

Und bevor Mikoto auch nur raten konnte, was es mit 'dieser einen Sache' auf sich hatte, hatte er aus einer Umhängetasche, die irgendwo neben seinen Füßen gelegen haben musste, eine Kamera hervorgezaubert und Weihnachtshäschen Mikoto dokumentiert.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Mikoto die volle Tragweite des eben Geschehenen erfasst hatte. So lange, dass es den Verschwörern möglich gewesen war, die Kamera in Sicherheit zu bringen, bevor er den Entschluss fasste, sie zu zertreten.

„Was soll die Scheiße?!“, beschwerte Mikoto sich ziemlich fassungslos. „Was, wenn jemand das Foto sieht?! Was, wenn meine Freundin das in die Finger bekommt?!“

Shihodani lachte vergnügt. „Keine Sorge, sie wird es lieben“, bestimmte er, und Kono nickte zustimmend. „Sie hat uns extra gebeten, ihr eines zu schicken...“
 

Die Feier dauerte bis spät in die Nacht, und als sich die Prinzessinnen endlich müde und erschöpft in ihre Gemächer zurückziehen konnten, war es bereits weit nach zwölf. Mikoto hatte sich noch auf dem Weg Hasenohren und Perücke vom Kopf gerissen, dann war er beleidigt im Bad verschwunden. Die Erfahrung lehrte, dass mit ihm vorerst nicht mehr zu reden war. Von seinen Freunden verraten zu werden war eine Sache, aber dass auch noch die eigene Freundin allem Anschein nach Gefallen daran fand ihn zu demütigen, das war einfach zu viel. Mit etwas Glück würde er sich am nächsten Morgen wieder beruhigt haben. Andernfalls war wohl eine Entschuldigung fällig, und das, obwohl weder Toru, noch Yujiro irgendeine Form von Mitleid oder Reue empfanden.

Sie waren selbst nicht besonders begeistert von ihren Kostümen gewesen, aber wenn man nicht unnötigerweise versuchte, sich dagegen zu wehren, dann ließen sich sogar Hasenohren in gewissem Sinne würdevoll tragen. Mikoto würde vermutlich nie begreifen, dass er sich mit seinem ständigen Protest nur selbst das Leben schwer machte.

Inzwischen hatten sie die roten Ensembles wieder zurück in den Handarbeitsraum gebracht, eine erholsame Dusche genommen und sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Die Ferien standen kurz bevor; vielleicht war das sogar ihr momentan letzter Job gewesen. Bald hatten sie frei und konnten selbst ein bisschen feiern. Ausgleichende Gerechtigkeit.

„Das war doch ganz schön anstrengend“, stellte Toru müde fest und ließ sich hintenüber auf sein Bett fallen. Er konnte nicht leugnen, dass seine alten Jogginghosen sehr viel bequemer waren, als Strumpfhosen und kurze Röckchen und dementsprechend willkommen war ihm der Feierabend gewesen. Wären die Prinzessinnen-Privilegien nicht gewesen, hätte er sich höchstwahrscheinlich gar nicht erst darauf eingelassen.

Yujiro stand mit dem Rücken zum Fenster und schien ihn zu beobachten. Sein Lächeln wirkte nicht mehr so frisch und munter wie auf der Feier, dafür war es aber um einiges ehrlicher geworden. „Stimmt“, pflichtete er seinem Zimmergenossen bei. Auch ihm war die Erschöpfung deutlich anzusehen. Toru mochte diese wenigen Stunden, die sie alleine verbringen konnten und in denen Yujiro ab und an seine unnahbare Fassade bröckeln ließ. Fast wünschte er sich, dass es immer so sein könnte. Schlussendlich bedeutete es, dass zwischen ihnen so etwas wie ein Vertrauensverhältnis entstanden war. „Aber alles in allem war es doch eine schöne Weihnachtsfeier. Sogar Mikoto hat mitgespielt.“

„Dafür ist er jetzt ziemlich sauer auf uns“, gab Toru mit gemischten Gefühlen zu bedenken. „Vielleicht hätten wir uns nicht gegen ihn verschwören sollen... Dass seine Freundin uns um das Foto gebeten hat, rechtfertigt noch lange nicht, dass wir ihm einfach so in den Rücken fallen.“

Wider Erwarten tat Yujiro den Vorwurf nicht leichtfertig ab, sondern schien ernsthaft darüber nachzudenken. „Meinst du?“, versicherte er sich schließlich noch einmal. „Ich weiß nicht. Ich denke... Ich kann einfach nicht anders, ich muss ihn ein bisschen ärgern. Und seine Freundin wird besser wissen, was er vertragen kann und was nicht, als wir. Mach' dir am besten keine Gedanken mehr darüber.“

Toru seufzte. „Ich glaube nicht, dass es auf Dauer damit getan ist, wenn wir nicht wollen, dass Mikoto sich total verarscht vorkommt. Er ist eben ein bisschen anders als wir. Wir haben schon so oft über das Thema gesprochen – wollen wir nicht endlich aufhören, uns über ihn lustig zu machen?“

Yujiro antwortete nicht. Er hatte nun Toru den Rücken zugedreht und den Blick starr auf das Fenster gerichtet. Sein eigenes Spiegelbild starrte ihm erschöpft und unsicher entgegen. Es war wohl wieder einer dieser seltenen Augenblicke, in denen er sich gehen ließ, in denen er nicht perfekt war. Toru betrachtete ihn stumm. In seinem weiten schwarzen Shirt schien er beinahe zu versinken; er wirkte ein bisschen verloren, aber Toru gefiel diese Seite an Yujiro sehr viel besser, als die Rolle, die er für gewöhnlich spielte. Es war einfach schön zu wissen, dass auch er in normal-menschlichem Maße verletzlich und angreifbar war, und noch schöner war, dass Yujiro diese Tatsache nicht vor ihm verbarg.

Im Gegensatz zu Mikoto waren sie beide immer alleine gewesen. Es fiel ihnen nicht so leicht wie ihm, Freunde zu finden und zu halten, und auch wenn sich die Situation in den letzten Monaten eindeutig gebessert hatte, war Toru sich sicher, dass gerade Yujiros Anwesenheit für ihn unschätzbar wichtig, wenn nicht sogar unverzichtbar geworden war.

Eine Weile starrten beide gedankenverloren ins Leere, dann – mit einem Mal – kam wieder Leben in Yujiro.

„Toru, Toru, komm' schnell mal her!“ Er winkte ihn hektisch zu sich und ein begeistertes Grinsen hatte sich auf seinen Lippen breit gemacht. Tooru beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen und sich zu ihm zu gesellen. Ein eiskalter Wind fegte durch das Zimmer, als Yujiro völlig unvermittelt das Fenster sperrangelweit aufriss und sich in einer Anwandlung geradezu kindlicher Freude hinauslehnte. Dicke weiße Flocken fielen vom joghurtgrauen Himmel und legten einen zarten Schleier über sein Haar, um schlussendlich unter seiner Körperwärme dahinzuschmelzen.

„Der erste Schnee dieses Jahr“, erklärte er glücklich. „Und es sieht aus, als würde einiges liegen bleiben.“

Toru nickte und genoss stumm das warme Gefühl der Vertrautheit, das sich in seinem Magen breit gemacht hatte. Er fühlte sich ein bisschen wie in ein Wintermärchen versetzt. Yujiro hatte Recht, der unberührte Neuschnee war wirklich wunderschön. Allein dafür hatte es sich gelohnt, so lange aufzubleiben, ob es nun freiwillig geschehen war oder nicht. Wieder driftete er ab und verlor sich in Erinnerungen an Zeiten, in denen man seine Kindheit noch als unbeschwert hatte bezeichnen können.

„Du, Toru?“

Etwas erstaunt stellte er fest, dass Yujiro ihn betrachtete.

„Hm?“ Er streckte die Hand aus, um ein paar Schneeflocken darin zu fangen und schmelzen zu lassen. Zu seiner Überraschung fingen Yujiros Wangen plötzlich an in einem zarten Rotton zu leuchten und er schien unheimliche Probleme damit zu haben, sich zu artikulieren.

„Du... ich... also...“ Er spielte nervös an seinen Haaren herum. „Ich meine... Darf ich-?“

„Was denn?“, hakte Toru belustigt nach und griff aus einem Reflex heraus nach seiner Hand, um ihn zur Ruhe zu bringen, bevor seine Nervosität um sich greifen konnte. Yujiro senkte den Blick.

„Toru, ich... Ich möchte dich gerne noch einmal küssen. I-ist das okay?“

Das traf Toru nun doch ein wenig unvorbereitet und er bemerkte, dass er ebenfalls errötete. Er musste genickt haben, ohne dass er es mitbekommen, geschweigedenn genauer darüber nachgedacht hatte, denn Yujiro hob etwas zaghaft eine Hand und streichelte sanft seine Wange. Das erste, was ihm in den Sinn kam, war, dass sich die Berührung unglaublich gut anfühlte. Dann kam sein Verstand etwas zu spät zu der Erkenntnis, dass er eigentlich überhaupt nicht von Yujiro angefasst werden wollte. Wollte er doch nicht, oder? Jedenfalls hatte er sich bisher immer mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Wenn er ehrlich war, hatte er noch nicht besonders ausführlich über diese Option nachgedacht und vielleicht war gerade der falsche Zeitpunkt, um damit anzufangen.

Ehe er es sich versah, berührten sich auch schon ihre Lippen. Es war nicht das erste Mal, dass Yujiro ihn küsste, aber vergleichbar mit bisherigen Erfahrungen war das definitiv nicht. Er hatte keinen zwingenden Grund ihn zu küssen – nicht, soweit er dachte – und er wirkte sehr viel unsicherer als er es normalerweise war. Die Hitze, die von seinem Körper auf ihn überging, verdrängte die Kälte der Winternacht vollständig.

Toru fühlte sich wie berauscht. Seine Knie wurden weich, seine Augen drifteten zu, und wie von selbst schlangen sich seine Arme um Yujiros Hals. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals zuvor so schwach und geborgen gleichzeitig gefühlt zu haben und die Erkenntnis irritierte ihn ein bisschen. Er beeilte sich, diesen außerordentlich schönen Kuss zu vertiefen, um all die Gedanken im Keim zu ersticken, die ihm sein rationales Denkvermögen aufdrängen wollte. Bereuen konnte auch später noch, jetzt wollte er einfach nur genießen.

Wie lange sie dort am Fenster standen, sich in den Armen hielten und sich küssten – mal zärtlich, mal voller Leidenschaft – konnten sie nicht sagen, es schien wie eine kleine Ewigkeit. Als sie sich schließlich voneinander lösten und wortlos in ihre Betten legten, waren Lippen und Wangen von einer delikaten Röte überzogen und ihr Atem ging schwer. Es schneite noch immer und sie mussten sich fest in die Bettdecken wickeln, um nicht zu frieren. Keiner traute sich, das Wort zu ergreifen, aus Angst, diese beinahe surreale Situation dadurch zu abrupt in der Realität zu erden und so hatten sie sich demonstrativ den Rücken zugekehrt.

Es dauerte einige Minuten, bis Toru den Mut fand, die Worte auszusprechen, die ihm die ganze Zeit über auf der Zunge gelegen hatten.

„Wir können das gerne wiederholen... Wenn du möchtest. Ich glaube fast, ich will mich daran gewöhnen.“

Santa Baby I

Harumi Sakamoto war völlig schleierhaft, wie er sich dazu hatte überreden lassen können, einen dermaßen lästigen Nebenjob anzunehmen. Gut, er war befristet und gut bezahlt war er auch. Aber er wurde und wurde das Gefühl nicht los, dass er sich entweder zum Gespött der ganzen Stadt machen oder wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet werden würde.

Ihm hätte von Anfang an klar sein müssen, dass er nicht zum Weihnachtsmann taugte. Das Kostüm war ihm viel zu groß, der künstliche Bart löste sich alle fünf Minuten von seinem Kinn und fusselte wie bescheuert, eiskalte Windböen wehten ihm in schöner Regelmäßigkeit die Mütze vom Kopf und ganze Horden von Kindern fielen über ihn her, traten ihm auf die Füße, zupften an seiner Jacke herum oder überreichten ihm kilometerlange Wunschzettel, die er niemals abarbeiten würde, weil er eben nicht echt war.

Harumi mochte Kinder. Wirklich. Aber mit diesem Ansturm war er heillos überfordert. Nie wieder würde er für einen Spielzeugladen in der Vorweihnachtszeit den Weihnachtsmann spielen, das hatte er sich fest vorgenommen. Es war kaum fünf Uhr Nachmittags und schon stockdunkel. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel und er fürchtete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er nicht mehr den Weihnachts-, sondern einen Schneemann mimte. Einen Schneemann mit natürlich gewachsenem Kostüm. Dummerweise schien sein Chef geradezu begeistert von ihm zu sein, und das bedeutete, dass er ihn im Jahr darauf unweigerlich wieder um Hilfe bitten würde. Und Harumi Sakamoto war ein Mensch, der einfach niemandem einen Gefallen abschlagen konnte.

Über mangelnde Aufmerksamkeit konnte er sich wahrlich nicht beschweren. Die Kinder liebten ihn so sehr, dass er von den Eltern schon für sein pädagogisches Geschick gelobt wurde. Ab und zu verwickelte ihn auch ein älteres Ehepaar in ein Gespräch, weil sie es so ganz reizend fanden, dass „so ein hübscher junger Mann wie er noch den Geist der Weihnacht zu schätzen wusste“. Die einzigen, die sich nicht im mindesten um ihn kümmerten, waren die Mädchen. Das Leben war nicht fair.

Wenn wenigstens sein kleiner Bruder ab und an bei ihm vorbeischauen würde... Vielleicht würde er sich dann nicht ganz so schrecklich im Stich gelassen fühlen. Aber Akira war nicht da. Ausgerechnet diesen Winter hatte er seine Begeisterung fürs Skifahren entdeckt und ihn mit seinem fürchterlichen Nebenjob allein gelassen. Und dabei arbeitete er doch nur, um ein paar wirklich schöne Weihnachtsgeschenke kaufen zu können. Das Leben war ja so unfair!

„Akira...“ Er seufzte betrübt, während er versuchte, sich gegen ein kleines Mädchen zu wehren, dass ihm im allerwahrsten Sinne des Wortes an den Fersen klebte.
 

„Nicht Akira, Arisada.“

Erschrocken fuhr er herum und erbleichte. Er war sich hundertprotzentig sicher gewesen, dass der Tag nicht mehr schlimmer werden konnte. Und nun stand er direkt vor ihm: der unwiderlegbare Gegenbeweis.

Das letzte Mal, dass er den Vorsitzenden der SMV gesehen hatte, hatte er Arbeit aufgehalst bekommen. Zu dumm, dass er einfach niemandem einen Wunsch abschlagen konnte. Im Umgang mit Arisada konnte einem das ohne weiteres das Genick brechen. Wie ein Bluthund witterte er die Schwächen seiner Gesprächspartner und darin sie „zum besten der Schule“ auszunutzen, war er ein echter Meister.

Harumi wollte nichts mehr mit dem ganzen Mist zu tun haben! Er wollte nicht Tag und Nacht belagert und verehrt werden wie ein Buddha, er wollte nicht mit „Herr Sakamoto“ angesprochen werden, er wollte nicht, dass alle grob zwei Meter Höflichkeits-Distanz zu ihm hielten – er wollte einfach nur ein ganz normales Durchschnittsleben mit guten Kumpels, einer netten Freundin und ein bisschen Ruhe. Und schon Arisadas bloße Anwesenheit stellte eine tödliche Gefahr für diesen Wunschtraum dar.

Aus einem spontan-kindlichen Bedürfnis heraus presste er sich die Hände auf die Augen. Vielleicht verschwand dieser Teufel ja, wenn er ihn nicht mehr sah. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das sollte doch angeblich so gut funktionieren...

„Geh weg, ich will dich nicht sehen!“, jammerte er verzweifelt. Er hatte zur Zeit wahrlich genug zu tun. Auch ohne, dass Arisada wieder einmal versuchte, seine ihm selbst völlig unerklärliche Popularität für seine Zwecke auszunutzen.

„Na, na, das ist aber überhaupt nicht nett“, lachte der blonde Teufel vergnügt. Anscheinend funktionierte diese Taktik überhaupt nicht. „So kenne ich Sie überhaupt nicht, Herr Sakamoto...“

Na bitte, da war sie wieder, diese fürchterliche Anrede. Frustriert zog er die Hände zurück und steckte sie mangels besserer Verwendung erst einmal in die Hosentaschen. Er registrierte kaum, dass einige wesentlich kleinere Kinderhände vollkommen ungefragt folgten. „Arisada, bitte“, flehte er in geradezu theatralischer Verzweiflung. „Ich mag es nicht, wenn man mich so nennt! Ich bin doch kein Politiker.“

Arisadas gut gelauntes Grinsen versank beinahe in seinem langen, weißen Schal. „Sie sind eine Legende“, erinnerte er Harumi überflüssigerweise. Anscheinend wusste dieser Mensch ganz genau, was er nicht hören wollte und machte sich einen Spaß daraus, ihn damit zu ärgern. „Die ganze Schule vergöttert Sie. Was würden die Leute sagen, wenn ausgerechnet ich Ihnen nicht den Respekt erweise, den Sie verdienen, Herr Sakamoto?“

„Sie würden es überhaupt nicht erfahren!“, gab Harumi entnervt zurück. „Ich kann das wirklich nicht haben. Das fühlt sich an, als wäre da irgendeine unsichtbare Barriere zwischen mir und dem Rest der Welt.“

Scheinbar konnte Arisada nicht verstehen, dass er ein ernsthaftes emotionales Problem mit diesem Umstand hatte, denn er winkte nur verschmitzt grinsend ab. „Sie erschrecken alle mit Ihrer übernatürlichen Schönheit, Herr Sakamoto. Die Anrede ist daran nicht schuld.“

Harumi errötete unwillkürlich. „Sag das nicht!“, befahl er unangenehm berührt. „Das ist peinlich. Was machst du überhaupt her?“

„Das ist ein Spielzeugladen, Herr Sakamoto“, erklärte das lächelnde Monster ruhig. „Ich muss noch-“ Arisada hielt inne, schien einen Moment lang zu überlegen. „Na gut“, sagte er schließlich. „Wahrscheinlich sage ich besser gleich die Wahrheit: Ihr Bruder hat mir erzählt, dass Sie in der Vorweihnachtszeit hier arbeiten werden, und ich dachte, ich schaue mal vorbei.“

„Aha.“ Mehr fiel Harumi dazu beim besten Willen nicht ein. Da war ihm also sein eigener Bruder schamlos in den Rücken gefallen, und das, obwohl Akira ganz genau wusste, dass er sich unmöglich gegen die Überredungskünste des charismatischen SMV-Vorsitzenden wehren konnte. Augenblick... Bisher hatte Arisada überhaupt nichts von ihm verlangt. Konnte es denn tatsächlich sein, dass er ihm wirklich nur einen reinen Höflichkeitsbesuch abstattete? Der Gedanke kam ihm nicht ganz koscher vor. Aber wie hieß es doch so schön? In dubio pro reo...

„Wollen Sie mich immer noch nicht sehen, Herr Sakamoto?“

Gute Güte, war das peinlich. Wahrscheinlich hatte er allen Ernstes einfach nur nett sein wollen und er hatte ihn so schroff abgewiesen. Das war sonst doch ganz und gar nicht seine Art.

„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich kleinlaut, doch wieder winkte Arisada ab.

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Herr Sakamoto“, bestimmte er gnädig. „Ich sehe ja, dass Sie sehr beschäftigt sind. Vermutlich ist es wirklich besser, wenn ich jetzt gehe.“ Mit einem verschwörerischen Grinsen deutet er auf eine meilenlange Schlange von Kindern, die sich vor dem Eingang des Ladens gebildet hatte. Anscheinend warteten sie schon die ganze Zeit über geduldig darauf, dass der Weihnachtsmann endlich ein paar Minuten Zeit für sie fand.

Der Schreck fuhr Harumi richtiggehend in den Magen. Verdammte Schuldgefühle! Tausend Mal verfluchtes Pflichtbewusstsein! Er wäre sicherlich besser dran, wenn er es nur endlich fertig bringen würde, seinen ungesund freundlichen und hilfsbereiten Charakter abzulegen.

„Die Kinder scheinen Sie zu mögen“, stellte Arisada fest. „Sie sollten sie nicht warten lassen, Herr Sakamoto. Schließlich sind Sie eine Legende.“

Harumi beeilte sich zu nicken. „Du hast Recht, ich muss arbeiten. Vielen Dank für den Besuch. Vielleicht sieht man sich irgendwann mal wieder.“ Aber hoffentlich nicht mehr in diesem Jahr, dachte er. Und Arisada schien es ihm von den Augen abzulesen.

„Wenn Sie mich so unbedingt loswerden wollen, werde ich natürlich nicht länger stören“, erklärte er unerschütterlich gut gelaunt. „Aber vorher...“ Er zauberte einen mehrfach gefalteten Zettel aus der Tasche seines langen, weißen Mantels hervor und hielt ihn Harumi unter die Nase. Etwas skeptisch nahm er ihn an.

„Was ist das?“, erkundigte er sich misstrauisch.

„Das?“ Arisada lächelte verschmitzt. „Das ist mein Wunschzettel.“

Im ersten Augenblick traute Harumi seinen Ohren nicht. Anscheinend war Arisada doch nur gekommen, um ihn zu ärgern. „Was soll das?“, fragte er verstimmt. „Sehe ich aus wie der Weihnachtsmann?“

Eine ganze Weile sah Arisada ihn nur an. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Oh ja, das tun Sie!“, brachte er gepresst hervor. Dann hob er die Hand zum Gruß und wandte sich zum Gehen. „Auf Wiedersehen, Herr Sakamoto!“

Noch bevor Harumi selbst verstanden hatte, was genau an seiner Aussage so unglaublich lustig gewesen war, war Arisada auch schon in der Menge verschwunden.

Mit gemischten Gefühlen entfaltete er den Zettel. Was ihn dort erwartete, waren die ersten zwei Strophen eines westlichen Weihnachtsklassikers. Ein Liedtext.
 

Santa Baby,

slip a sable under the tree

for me

Been an awful good girl

Santa Baby,

so hurry down the chimney tonight!
 

Santa Baby,

a 54 convertible too,

light blue,

I'll wait up for you, dear

Santa Baby,

so hurry down the chimney tonight
 

Damit war es amtlich. Arisada machte sich über ihn lustig. Und er war doch tatsächlich dumm genug gewesen, sich auch noch bei ihm zu entschuldigen. Kaum zu glauben. Das Leben konnte so unfair sein...

Santa Baby II

Teil 2 wie vorhersehbar ganz pünktlich NACH Weihnachten. Tut mir wirklich Leid. Ich versinke schon wieder hinter Lehrbüchern und komme einfach nicht mehr zum Schreiben.

Diese winzige Story wird also wahrscheinlich erst im Advent '10 fertig. Und ich wünschte, das wäre ein Witz. -.-
 

Am Tag darauf hatte es aufgehört zu schneien, auch wenn es ein paar Grad kälter geworden zu sein schien. Der Himmel war strahlend blau und den ganzen Vormittag über hatte die Sonne Harumi so stark geblendet, dass er die Kinder kaum hatte sehen können, die sich in großen Trauben um ihn geschart hatten. Der Ansturm war an diesem Tag so groß, dass er die Mittagspause hatte ausfallen lassen müssen; er hatte nicht einmal Zeit gehabt sich einen Kaffee zu holen und einmal mehr sank seine Laune unaufhaltsam in den Keller.

Es ging auf vier Uhr Nachmittags zu, als sein Chef den Laden verließ und sich zu ihm gesellte. Er war nicht besonders hübsch, aber sehr höflich und bestimmt nicht älter als vierzig Jahre. Er lächelte Harumi freundlich entgegen und mit einem Mal erinnerte sich der unglückliche Weihnachtsmann daran, dass es genau dieses Lächeln war, das ihn davon abgehalten hatte, den Job gleich wieder hinzuschmeißen. Er schaffte es ja nicht einmal, Menschen seine Hilfe zu verweigern, die sich ihm gegenüber benahmen wie die letzten Sklaventreiber – wie sollte er dann diesem netten Herrn einen Wunsch abschlagen können? Und dummerweise wünschte er sich, dass Harumi für ihn den Weihnachtsmann spielte, weil er bei den Kunden beliebt war und das Geschäft ankurbelte.

„Hallo, Sakamoto!“, grüßte er vergnügt und bahnte sich mühsam seinen Weg durch die Kinderschar. „Wie geht’s wie steht's?“

Harumi versuchte sich an einem möglichst wenig genervten Gesichtsausdruck. „Tag, Chef. Naja...“ Er ließ den Blick über das Kindermeer schweifen. 'Viel los heute' wäre wohl untertrieben gewesen. Glücklicherweise schien er – dem ersten Anschein zum Trotz – überhaupt nicht auf Small Talk aus zu sein.

„Ich hatte ein bisschen Mitleid mit dir“, erklärte er und kratzte sich etwas verlegen am Kopf. „Du hast heute noch gar keine Pause gehabt und ich möchte nicht, dass du den Eindruck gewinnst, dass ich dich ausnütze. Wenn du möchtest, kannst du dich ein Weilchen ins Hinterzimmer setzen und was kleines essen. Die Kinder werden dir nicht weglaufen.“

Mit einem Schlag wurde Harumi nervös. Eine Pause – wie lange hatte er sich nun schon gewünscht, endlich Pause machen und sich aufwärmen zu können? Er spürte mittlerweile schon seine Finger nicht mehr und in seinen Stiefeln steckten gefühlte vier Kilo Eis. Aber das konnte er doch nicht machen. Er konnte unmöglich seinen Posten verlassen. Die Kinder würden enttäuscht sein, und das so kurz vor Weihnachten. Er wäre ein schlechter, herzloser Mensch, wenn der Gedanke sein Gewissen nicht belasten würde.

„Danke, Chef“, meinte er mit einem nervösen Lächeln auf den Lippen. „Aber ich würde lieber noch ein bisschen weitermachen. Sie sehen ja, was hier los ist.“

Der Mann seufzte, klopfte ihm dann aber freundschaftlich auf die Schulter. „Du bist ein richtiger Workaholic, Sakamoto“, stellte er nüchtern fest. „Eine Pause könnte dir von Zeit zu Zeit wirklich nicht schaden.“

„Wo er Recht hat, hat er Recht, Herr Sakamoto.“

Harumi zuckte unangenehm berührt zusammen. Arisada. Schon wieder. Vielleicht hätte er sich über seine Besuche freuen sollen – immerhin schien er tatsächlich keine Hintergedanken zu haben – aber er brachte es beim besten Willen nicht fertig.

Wie in Zeitlupe wandte er sich zu seinem blonden Lieblingsteufel um - und erstarrte. Arisada sah aus, als hätte er Mitleid mit ihm gehabt, denn dieses Mal war auch er kostümiert. Er trug einen langen weißen Mantel, große silber-weiße Flügel und einen kitschigen Heiligenschein, der an einem durchsichtigen Haarreif befestigt war. Es ließ sich nicht leugnen, dass er auch in diesem Outfit eine überdurchschnittlich gute Figur machte, aber in Harumis Augen biss es sich so sehr mit seiner Persönlichkeit, dass es geradezu grotesk wirkte.

„Nimm' den Heiligenschein ab, Arisada, der passt nicht zu dir.“ Harumi hatte nicht darüber nachgedacht, was er da sagte, sonst hätte er sich den Kommentar sicherlich verkniffen. Und die Quittung kam prompt: Arisada ging darauf ein.

Wie zuvor der Chef drängelte er sich durch die Menge zu Harumi nach vorn, setzte ein überzeugend dämonisches Grinsen auf und fiel ihm völlig ungefragt um den Hals.

„Das mag sein“, flüsterte er ihm in einem dermaßen verschwörerischen Tonfall ins Ohr, dass Harumi eine Gänsehaut bekam. „Meine Schönheit strahlt auch ohne hell genug. Ich wusste, der Tag würde kommen, an dem Sie das begreifen.“

„Arisada!“, mahnte Harumi beschämt und stieß ihn mit einem Ruck von sich. „Hör auf damit! Und vor allem: hör endlich auf, mich so zu nennen!“

„Was denn, was denn, so schlecht gelaunt?“ Grinsend strich der SMV-Vorsitzende seinen Mantel glatt. Dann erst schien er den Mann zu registrieren, der schon die ganze Zeit über unmittelbar neben 'Herrn Sakamoto' gestanden hatte. Mit dem unfehlbaren Instinkt eines ehrgeizigen jungen Mannes erkannte er sofort, dass er es hier mit einem Vorgesetzten zu tun hatte und verbeugte sich knapp. „Freut mich, Sie kennenzulernen. Sie müssen Herrn Sakamotos Chef sein. Mein Name ist Shuya Arisada.“

„Kotaro Uchida“, erwiderte der Angesprochene geschmeichelt von so viel aufgesetzter Höflichkeit und überhörte dabei unversehens die seltsame Anrede, mit der Arisada Harumi beständig in den Wahnsinn trieb. „Die Freude ist ganz meinerseits. Das ist aber schön, dass Sie Sakamoto besuchen kommen. Am besten nehmen Sie ihn gleich mit und zwingen ihn dazu, sich ein bisschen auszuruhen.“

Arisada nickte begeistert und Harumi schaffte es nur mühsam, den Fluchtreflex zu unterdrücken. Eine Pause war an sich nichts schlechtes. Aber eine Pause unter Arisadas Aufsicht? Fast hätte er sich für den Gedanken allen Ernstes selbst geohrfeigt. Woher nahm er eigentlich das Recht, den SMV- Vorsitzenden einfach pauschal zu verurteilen, ohne dass er ihm überhaupt etwas getan oder etwas völlig unmögliches von ihm verlangt hatte? So kannte er sich überhaupt nicht. Wie armselig.
 

Herr Uchida war so freundlich, das Rudel Kinder kurzzeitig zu beschäftigen, sodass Harumi und Arisada ungesehen im Hinterzimmer des Spielwarenladens verschwinden konnten.

Der Raum war klein und dunkel, aber gemütlich eingerichtet und verfügte sogar über eine kleine Küchenzeile. Auf der Anrichte stand eine volle Kanne heißer Tee – dem Geruch nach eine westliche Weihnachtsmischung mit Zimt und Honig. Durchaus verlockend, zumal Harumi, durchgefroren wie er war, ausnahmslos jedes warme Getränk mit Kusshand genommen hätte.

„Was willst du hier?“, erkundigte er sich weniger schroff als erschöpft, während er aus einem Küchenschränkchen zwei kitschige Kindertassen mit Totoro-Motiven hervor zauberte. „Hast du nichts zu tun?“

Arisada ließ sich die gute Laune nicht verderben. „Ich dachte, Sie würden sich über ein bisschen Abwechslung freuen, Herr Sakamoto“, erwiderte er vergnügt.

Harumi bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Arisada! Bitte lass endlich dieses fürchterliche 'Herr' weg. Wir sind alleine, kein Mensch würde sich daran stören.“

„Sie sind viel zu bescheiden“, lachte Arisada. Doch dieses Mal blieb Harumi stur. Wenn Arisada es schon für unbedingt nötig hielt, gleich an zwei Tagen hintereinander bei ihm vorbeizuschauen, dann war es geradezu lächerlich, diese Distanz schaffende Anredeform beizubehalten.

„Ich heiße Harumi“, erklärte er ernst und streckte ihm auffordernd die Hand entgegen, in der Hoffnung, dass er dann nicht so leicht würde ablehnen können.

Arisada zögerte kurz, bevor er auf die Geste einging. Ihm war nicht anzumerken, was er persönlich davon hielt, aber Harumi war es weitestgehend gleichgültig. In seinen Augen hatte sich die Situation damit eindeutig verbessert.

„Also gut“, meinte Arisada mit einem ergebenen Seufzen und zauberte ein ungewöhnlich warmes Lächeln auf seine Lippen, das Harumi spontan unendlich viel besser gefiel, als seine übliche Maskerade. „Ich bin Shuya. Aber in der Öffentlichkeit bleibt alles beim Alten, das ist dir hoffentlich klar.“

Harumi nickte gnädig – auf mehr hätte er nicht einmal zu hoffen gewagt. Wenigstens musste er jetzt nicht mehr gegen eine unsichtbare Mauer ankämpfen, die Arisada zwischen ihnen errichtet hatte, und die es ihm unmöglich machte, sich in seiner Gegenwart tatsächlich wohl zu fühlen. Vielleicht... hatte er in ihm sogar einen Freund gefunden.

Ein Weilchen saßen sie schweigend nebeneinander und versteckten sich hinter ihren Tassen; versuchten, sich an die veränderten Umstände zu gewöhnen. Dann kam Harumi völlig unvermittelt der Zettel in den Sinn, den Arisada ihm am Tag zuvor in die Hand gedrückt hatte. Jetzt war die beste Gelegenheit herauszufinden, was es damit auf sich hatte.

„Sag mal, ...Shuya“, begann er vorsichtig. „Gestern, da... Also, dieser Zettel...“

Arisada lachte. „Das ist mein Wunschzettel. Das habe ich dir doch schon gesagt. Und hier – er schob ihm einen zweiten gefalteten Bogen Papier hin – ist die Fortsetzung.“
 

Think of all the fun I've missed,

Think of all the fellows that I haven't kissed

Next year I could be just as good

If you check off my christmas list



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Dreaming_Lissy
2012-11-04T14:29:59+00:00 04.11.2012 15:29
Oh, schade das da nicht noch mehr zwischen den beiden passiert ist. xD
Ich finde es echt süß, wie gut Harumi mit den Kindern umgehen kann. Genauso wie seine panischen Reaktionen auf Arisada.
Mir gefällt die Darstellung der Charakter in den beiden One-Shots sehr gut, so weit ich das beurteilen kann, sind sie alle IC geraten. Und dein Schreibstil ist auch angenehm zu lesen.
Von:  Fischi-san
2009-12-13T14:24:17+00:00 13.12.2009 15:24
Kya~~~~ Das ist einfach toll geschrieben!^^
So~ klasse!
LG
Aki


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