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Ghost Hunt - Trennung

von

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Der Anfang vom Ende

Kapitel 1: Der Anfang vom Ende
 

„Jetzt reicht es! Was zu viel ist, ist zu viel!“

Mai schlug empört mit der Faust auf den Tisch. Dieser eingebildete, egomanische und selbstverliebte Typ. Warum war sie denn so lange geblieben? Warum hatte sie es so weit kommen lassen?
 

Es war ihr ja schon total egal, dass ihr Boss Kazuya Shibuya – kurz Naru genannt – sie immer vor ihren Kollegen und Freunden aus der Shibuya Psychic Research Detektei und deren Auftraggebern demütigte, ärgerte und als absolut dumm darstellte.

Warum? Warum konnte er es nicht einfach dabei belassen? Musste er sie jetzt auch noch vor ihren Mitschülern demütigen? Oder was viel schlimmer war, auch vor ihrem Schwarm?
 

Eigentlich war sie sich sicher, dass sie ihren egomanische, eingebildeten und kaltherzigen Chef verliebt war. Da Mai sich allerdings nicht wirklich sicher war, ob ihre Gefühle jemals erwidert werden würden, war Mai gegenüber anderen Annährungsversuchen abgeneigt.
 

Welcher normale Mensch mit ein wenig Stolz und einem halbwegs intakten Selbsterhaltungstrieb, würde sich so etwas noch länger bieten lassen.
 

Mai’s Entscheidung stand fest! Sie würde zwar ihre Freunde vermissen, aber länger hier bleiben konnte sie nicht. Es gab einfach eine Grenze bis wohin man einen Menschen demütigen konnte und diese Grenze hatte Naru heute Nachmittag eindeutig überschritten.
 


 

~ Flashback ~
 

Die Schule war gerade vorbei. Mai stand mit zwei ihrer Freundinnen am Schultor und unterhielt sich noch etwas mit ihnen. Eine Unterhaltung konnte sie das aber nicht wirklich nennen, denn die beiden Mädchen hatten die Schülerin abgefangen, um sie über ihren Boss auszufragen.
 

Die beiden Mitschülerinnen hatten ihn nämlich einige Male gesehen, als Lin und er Mai abgeholt hatten, da es gleich zu irgendeinem Auftrag gehen sollte. Bei solchen Gelegenheiten hatten die beiden Grazien auch einige Worte mit ihm gewechselt, aber nie etwas über Hobbys, Alter, Wohnort oder Marktlage – sprich Single, in einer Beziehung oder doch schwul? – in Erfahrung bringen können.
 

Da die Beiden aber mitbekommen hatten, auf wen der attraktive junge Mann gewartet hatte, wurde Mai jetzt gnadenlos verhört.
 

Von dem lauten Gespräch wohl angelockt, gesellte sich nun auch Ryou Takahashi zu der Dreiergruppe. Er war der Schwarm aller Mädchen an der Schule und hatte eine Schwäche für das Paranormale. Da auch er – genauso wie der Rest der Schule – wusste, dass Mai für einen professionellen Geisterjäger arbeitete, nutzte er die Chance um sie etwas auszufragen.
 

Während also die Brünette damit beschäftigt war, persönlichen Fragen über Naru auszuweichen und die fachspezifischen Fragen von Ryou so gut wie möglich zu beantworten, bemerkte sie nicht, dass vor der Schule ein Auto parkte. Sie war gerade dabei ihrem Schwarm zu erklären, wie die Infrarotkamera, die die Detektei benutzte im Groben funktionierte und wozu die Aufzeichnungen gut waren, als ihr auffiel, dass die beiden Mädchen, die bei ihr standen, verträumt auf etwas hinter ihr schauten. Keine Sekunde später hörte die junge Frau auch schon die emotionslose Stimme ihres Chefs.
 

„Mai, steig ein wir brauchen dich heute im Büro, es gibt eine Menge Papierkram zu erledigen.“
 

Noch bevor das Mädchen antworten konnte, meldete sich Ryou zu Wort und richtete seine Fragen an Naru.

„Du bist Kazuya Shibuya? Ich habe schon einiges von dir gehört. Du bist doch der Geisterjäger, den der Direktor vor einem Jahr angestellt hatte um das Gebäude zu untersuchen, in dem es gespukt hatte? Mai arbeitet doch jetzt für dich, da wollte ich dich fragen, ob du vielleicht noch einen Assistenten brauchst? Ich arbeite auch um sonst!“, der Junge plapperte ohne Punkt und Komma einfach drauf los. Seine Begeisterung kannte kein Halten.
 

Eine von Narus Augenbrauen zog sich nach oben und sein blick ruhte auf den vorlauten Schuljungen vor sich. „Nein danke“, sagte er nach einer Weile kalt, „Mai zu beschäftigen ist schon ein großes Risiko für meine Detektei. Einen zweiten nichtsnutzigen Assistenten, der mehr Ärger macht, als er hilft, kann ich nicht gebrauchen.“
 

Mai, die diesen Wortwechsel mit angehört hatte, schnappte empört nach Luft. Als was stellte er sie hier dar? Ihre Mitschülerinnen warfen ihr spöttische Blicke zu, unter denen das brünette Mädchen rot wurde. Ein Gefühl der Scham machte sich in ihr breit, als sie an die Situationen dachte, in denen sie sich und/oder ihren Chef in Gefahr gebracht hatte.
 

Kurz fielen ihr einige Begebenheiten ein. Da war zum Beispiel der eine Fall gewesen, als sie fast von der Decke eines Krankenzimmers erschlagen worden wäre. Doch Naru hatte sie gerettet. Dann war davor noch diese eine Untersuchung in der Schule, bei der Mai in eine Falle gelockt worden war. Wieder hatte ER sie gerettet oder es zumindest versucht. Am Ende waren Beide in einem Abwasserkanal gestürzt und mussten dort bleiben, bis der Rest des Teams sie gefunden hatte.

Je länger Mai darüber nachdachte, desto mehr Erinnerungen, in denen sie sich irgendwie in Gefahr gebracht hatte und ihr narzisstischer Chef sie retten musste blitzten vor ihrem inneren Auge auf.
 

Ihre Wangen wurden langsam rot. Ohne auf die hämisch–amüsierten Blicke ihrer Mitschülerinnen zu achten, stampfte sie in Richtung Auto.
 

Gut sie war ziemlich oft, ziemlich tollpatschig, aber sie war nicht absolut nutzlos, oder? Es war ja nicht so, dass sie allen nur zu Last fiel, sie hatte auch schon ganz oft mitgeholfen die Geister zu exorzieren! So total unfähig, wie Naru sie hier gerade darstellte war sie doch gar nicht!
 

Wütend blieb sie vor dem Schwarzhaarigen stehen. „Meinst du das ernst, was du gerade gesagt hast? Hältst du mich wirklich für ein Risiko?“
 

„Natürlich meine ich ernst, was ich sage“, kam es ohne Zögern und ohne jegliche emotionale Regung von ihrem Gegenüber.
 

Mai konnte das Gekicher der beiden Mädchen hinter sich hören und den absolut ungläubigen Blick von Ryou auf sich fühlen.
 

Sie ballte die Hände zu Fäusten und stieg in das Auto ein. Als sie sich angeschnallt hatte bemerkte sie den entschuldigenden Blick von Lin. Es schien der Brünetten so, als wollte er sich ohne Worte, für Narus Verhalten ihr gegenüber entschuldigen. Obwohl das junge Mädchen innerlich vor Wut kochte, schenkte sie dem Mann am Lenkrad ein Lächeln, so als würde sie diese Entschuldigung annehmen.
 

Als dann auch Naru in den Wagen gestiegen war, fuhren sie los. Mai warf noch einen Blick zurück und sah den Mädchenschwarm, der einen Gesichtsausdruck an den Tag legte, als ob er alles was sie ihm bis dahin erzählt hatte, anzweifeln würde.
 

Die Wut wallte wieder in ihr auf, doch diesmal mischte sich auch ein Gefühl der Trauer und Enttäuschung.
 

Warum war es für Naru so wichtig sie so zu demütigen?
 

~ Flashback Ende ~
 

Jetzt saß sie hier und kochte immer noch vor Wut, denn die Blamage vor ihren Mitschülerinnen und ihrem Schwarm, war nicht die einzige Gemeinheit, die Naru ihr heute antat. Als sie vor zirka zwei Stunden im Büro der SPR ankamen, teilte ihr Boss ihr gleichgültig mit, dass der Rest des Teams bereits nach Okinawa aufgebrochen sei. Er und Lin würden sich nun auch auf den Weg machen. Genau so kalt, wie er vorher erklärt hatte, dass sie ein Risiko darstellt und im Grunde genommen nutzlos sei, teilte der Schwarzhaarige ihr mit, dass ihre Hilfe nicht gebraucht wurde. Sie sollte doch heute die Akten der letzten Geisterjagden ordnen und Kopien der Kostenaufstellungen machen, wenn sie das erledigt hatte konnte sie sich die restliche Woche frei nehmen.
 

Mai wusste, wenn die Wut sich gelegt hatte, dann würden andere Gefühle sie beherrschen. Trauer, Einsamkeit und Enttäuschung würden sie übermannen. Dabei hatte sie doch so gekämpft, damit sie diese Gefühle nie mehr spüren musste. Seitdem auch ihre Mutter gestorben war hatte Mai ihre Gefühle immer vor den anderen versteckt. Das Mädchen hatte die Maske der immer fröhlichen und lächelnden Mai aufgesetzt. Obwohl sie soziale Kontakte gepflegt hatte und einige ihrer Klassenkameraden auch als Freunde bezeichnete, so hatte Mai nie einen Menschen so nah an sich herangelassen, dass er sie auf irgendwelche Art und Weise verletzen konnte. Einen Teil von sich hatte sie immer versteckt, nie preisgegeben.
 

Nun war das junge Mädchen dabei gewesen sich anderen Menschen wirklich zu öffnen und wurde so vor den Kopf gestoßen.
 

Nein! Das konnte und wollte sie sich nicht antun. Mai hasste dieses Gefühl. Sie war nicht bereit diesen Schmerz wieder zu ertragen, so tat sie das einzige was in ihren Augen richtig war: Mai schrieb an diesen Abend – nachdem sie mit der Arbeit fertig war – ihre Kündigung.
 

Die Schülerin formulierte dieses Schreiben in zwei verschiedenen Versionen. Die erste war die offizielle Kündigung. Diese legte sie auf ihren Schreibtisch in das Postfach, da würde Naru es schon finden. Mai hätte es ja direkt auf seinem Schreibtisch platziert, aber sein Büro war zugeschlossen.
 

Der zweite Brief war schwer zu formulieren gewesen. Diesen Brief richtete sie an ihre Freunde. Darin bedankte sich die Schülerin für die schöne gemeinsame Zeit und verabschiedete sich von ihnen. Mai versicherte Ayako, Bou – san, John, Lin und selbst Masako darin, dass sie sich freuen würde, wenn sie weiter in Kontakt bleiben würden.
 

Ayako und Bou – san hatten sowohl ihre Adresse und ihre Handynummer. Mai’s letzter Satz war: „Ich hoffe wir werden uns irgendwann einmal wieder sehen!“
 

Die Brünette legte den Brief in Lins Büro, denn sie wusste, dass er ihre Nachricht weitergeben würde. Mai warf noch einen letzten Blick auf den Ort, von dem sie sich jetzt verabschiedete, machte das Licht aus, schloss die Tür ab und gab die Schlüssel beim Hausverwalter ab.
 

*****
 

Eine Woche war vergangen. Naru war eine Stunde vor der Öffnungszeit der Detektei im Büro. Lin musste noch in die Stadt um Sachen zu erledigen. Es mussten mal wieder Sachschäden am teuren Equipment bei der Versicherung gemeldet werden. Drei Infrarotkameras und ein Tonaufnahmegeräte waren bei einem Hausbrand absolut zerstört worden.
 

Leise seufzte der Schwarzhaarige. Mai würde erst in einer Stunde zur Arbeit antreten. Für ihn hieß das, so lange musste er noch darauf warten einen Tee zu bekommen.
 

Naru konnte zwar auch selbst Wasser aufsetzen und einen Tee kochen, aber irgendetwas machte Mai mit dem Tee, dass ihrer immer besser schmeckte als seiner und sogar besser als der von Lin.
 

Zwei Stunden später hörte der Schwarzhaarige, wie sich die Bürotür öffnete und wieder schloss. An den Schritten konnte er allerdings erkennen, dass es sich bei dem Neuankömmling um Lin handelte und nicht um Mai, wie er gehofft hatte. Naru war es zwar schon gewohnt, dass die Brünette öfters mal zu spät kam, aber noch nie war sie so spät zur Arbeit erschienen. Langsam begann er sich Sorgen zu machen.
 

Wenige Minuten, nachdem sein Assistent die Büroräume betreten hatte, klopfte er an der Tür des Leiters der Detektei. Lin trat ein und räusperte sich. In der Hand hielt er einen Zettel. Ohne ein Wort ging er auf seinen Chef zu und hielt ihm diesen unter die Nase. Als Naru Mai’s Handschrift erkannte griff er nach dem Blatt Papier und las ihn sich durch.
 

« Der Brief»
 

An Lin und den Rest,
 

Sorry, dass ich nicht jedem von euch so einen Brief schreibe. Ich weiß einige von euch werden mich sicher für feige halten, dass ich einfach so gegangen bin, ohne mich zu verabschieden.
 

Doch ich möchte für keinen von euch eine mögliche Gefahr oder ein Risiko darstellen, außerdem ist mir kürzlich erst klar geworden, wie nutzlos ich doch für die Geisterjagd bin.
 

Bou – san und Ayako haben meine Handynummer, wenn ihr mich noch mal sehen wollt, dann meldet euch einfach bei mir.
 

Lin, sollte dieser eingebildete Egomane, noch nicht dazu gekommen sein ins Postfach zu schauen, dann sag ihm doch bitte, dass er dort mein Kündigungsschreiben finden wird.
 

Ich hoffe wir werden uns irgendwann einmal wieder sehen!
 

Eure Freundin Mai
 

« Ende »
 

Naru schaute verwundert auf. Noch während er aufstand und in das Empfangszimmer zu Mai’s Schreibtisch ging, hörte er Lin sagen: „Ich glaube mit deinen letzten Bemerkungen hast du es wirklich übertrieben…“
 

„Na toll!“, war sein einziger Gedanke. Das wusste er auch so und hatte schon die ganze Woche ein schlechtes Gewissen.
 

Der junge Geschäftsführer sah auf den kleinen Briefumschlag im Posteingangskorb und musste schlucken. „Na toll!“, wiederholte sich in seinem Kopf der Gedanke, „Und ausgerechnet jetzt könnte ich eine Tasse Tee gut vertragen!“
 

*****
 

„Nein, das hat sie nicht…!“, hallte der laute Ruf von Houshou Takigawa im Backstage – Bereich der leeren Konzerthalle wieder. „Was ist denn los Bou – san?“, verlangte einer seiner Band – Kollegen zu wissen, der durch den lauten Ausruf bei der Einstimmung seiner Gitarre gestört worden war. „Ja, was sollte das?“, fragte nun auch der Rest der Band nach.
 

Der Blonde winkte nur kurz ab und sprach weiter in sein Handy. „Nein, das werde ich nicht. Nein, ich werde auch nicht Ayako fragen, ob sie euch die Nummer gibt.“ Kurzes Schweigen seinerseits. Dafür konnten Bou – sans Bandkollegen, den Mann am anderen Ende der Leitung auf den Sänger einreden, hören. „Hör mal, Lin das geht jetzt echt nicht gegen dich, denn ich weiß ja auch ohne dass du mir irgendetwas darüber erzählst, WAS genau passiert ist, wer dafür verantwortlich ist, dass Mai abgezogen ist. Was hat er denn diesmal gemacht? ...Ach vergiss es, ich glaube, das will ich gar nicht wissen… Ihr müsst einfach akzeptieren, dass Mai jetzt ein bisschen Zeit für sich braucht. Sie ist jung, vielleicht beruhigt sie sich ja in einpaar Tagen…“ Der Blonde wurde von der anderen Seite der Leitung unterbrochen. Der Rest der Band konnte selbst aus der Entfernung die Kälte in der Stimme des Gesprächspartners wahrnehmen.

„Deine Schuld…Wie wär’s, wenn du dich bei ihr entsch…Na, weil es deine Schuld IST!“
 

Jetzt war der Blonde wirklich schlecht gelaunt. Egal wer derjenige war, der mit ihm telefonierte, er hatte es geschafft den sonst so gut gelaunten und nie aus der Ruhe zu bringenden Mönch aus der Fassung zu bringen. Dies verwunderte auch den Rest der Band.
 

„Nein, das war mein letztes Wort!“ mit diesem, fast geschrieenen Satz klappte Bou – san das Handy zu und atmete tief aus. „Tse, und so was ist ein parapsychologisches Genie…“ Er schüttelte ungläubig den Kopf.

Der Geist, der mich rief

Kapitel 2: Der Geist, der mich rief
 

Sie stand in einer dunklen Höhle. Vor ihr befand sich ein Altar. Mehrer Kerzen erhellten ihn und warfen gleichzeitig ein schwaches Licht an die Wände. Mai blickte an sich herunter und bemerkte den weißen Kimono den sie trug. Er war weiß wie frisch gefallener Schnee. Ein zeremonielles Gewand. Das wusste Mai. Sie wartete hier. Beobachtete die Schatten, die das Kerzenlicht an die Steinwände warf.
 

Dann war sie da. Ihre Lehrmeisterin. Das faltige Gesicht der alten Frau verzog sich zu einem milden Lächeln, als sie die junge Frau erblickte.
 

Mein Kind“, sprach die Alte das Mädchen an. Mai schaute zu der Frau vor dem Altar auf. Sie wusste, dass sie träumte. Wusste auch, dass es einer „dieser“ Träume war, denn es war ein eigenartiges Gefühl. Wie eine Erinnerung, die gar nicht ihre war. Wie ein Ereignis aus einem Leben, welches nicht ihr gehörte und doch ihres war.

Als sie die alte Lehrmeistern begrüßte hörte sie eine Stimme, die nicht ihre war, aber doch sprach sie. Mai wunderte sich nicht und war auch nicht verängstigt. Ihr war klar, dass dieser Traum etwas aussagen sollte, was sie später brauchen würde und so ließ sie die Geschehnisse einfach zu.
 

„Hochehrwürdige Priesterin, ihr wisst um mein Schicksal?“ Die alte Frau nickte traurig und seufzte leise. „Ich bitte euch erweist euch als gnädig und helft mir Rache zu üben“, sprach die junge Frau weiter. „Ich werde meinen Liebsten nie wieder sehen. Nicht einmal der Tod vermag uns zu vereinen. Der Fluch, den sein Mörder über ihn gelegt hat, hält ihn auf Ewig am Ort seines Todes gefangen. Ich will dafür Rache!“, den letzten Satz schrie die junge Frau der Priesterin entgegen.
 

„Weißt du worauf du dich einlässt? Du warst eine meiner begabtesten Schülerinnen. Du hättest eine hervorragende Miko abgegeben, daher denke ich du kennst die Konsequenzen die dich erwarten und den Preis, den du für deine Rache zu zahlen hast“, erklärte die alte Frau. Auf das zustimmende und ernste Nicken der jungen Frau holte die Greisin ein Opfermesser und eine goldene Schale vom Altar.

Sie vermengte einige Kräuter mit etwas Salz und zerstoßenen Muschelschalen, dann reichte sie Schale und Messer an die Bittstellerin weiter. Diese schnitt sich mit dem Messer die linke Handfläche auf und ließ das Blut in das Gefäß rinnen. Mit einem Mörser, der in der Schale lag, vermengte sie den Inhalt miteinander und sprach dabei die Beschwörungsformel:
 

Mächtiger Geist erhöre mein Flehen

Folge meinem Ruf

Mein Blut und meine Seele opfere ich dir

Gewehre mir meinen sehnlichsten Wunsch
 

Als sie die Formel zu ende rezitiert hatte, legte Mai’s Traum – Ich die blutende Hand über die Stelle wo ihr Herz schlug. Der Kimono verfärbte sich rot.
 

Die Priesterin kam nun wieder hinzu und zündete den Inhalt des Schälchens an. Sofort stieg dichter, bläulich – weißer Rauch empor. Ein beißender Geruch erfüllte die kleine Höhle. Die Schwaden verdunkelten sich, wurden erst kobaltblau und als fast die ganze Höhle mit dem Rauch gefüllt war, hatte dieser die Farbe des Nachthimmels.
 

Der dunkelblaue Rauch schien auf einmal in die Schale zurückzuströmen und sich über dem Altar zu sammeln. In der daraus entstehenden Wolke bildete sich ein Gesicht.
 

Große gelbe Augen öffneten sich, eine wölfische Schnauze zeigte gefährliche Reißzähne und Ohren, die sehr viel Ähnlichkeit, mit denen eines Kaninchens hatten, zuckten.
 

Der Dämon sah sich um. Erblickte die zwei Frauen und sprach: „Welchen Wunsch soll ich erhören?“ Die tiefe Stimme des Ungeheuers dröhnte durch die Höhle. Eine unerbittliche und eisige Kälte legte sich über den Raum. Die Kerzen erloschen. Dennoch war noch alles zu erkennen, denn ein kühles, blaues Licht ohne Quelle hatte den Schein der Kerzen ersetzt.
 

Trotz ihrer Angst sprach Mai mit fester Stimme zu dem Dämon. „Mein Wunsch ist es, das mein Liebster von seinem Fluch befreit wird und ins Jenseits einkehren kann. Außerdem möchte ich, dass seine Mörder die gerechte Strafe dafür erhalten!“
 

„Ich bin bereit dir beide Wünsche zu erfüllen, doch was bist du bereit mir dafür als Gegenleistung zu geben?“
 

„Mein Leben, meine Seele!“, sagte sie ohne zu zögern.
 

„Nun, deinen Körper musst du sowieso opfern um den Mord zu sühnen“, erwiderte der Dämon mit einem Grinsen und höchst amüsierter Stimme, „doch an DEINER Seele bin ich nicht interessiert. Für die Auflösung dieses Fluchs verlange ich hundert Seelen von dir.“
 

„Aber…wie?“, fragte Traum – Mai.

„Du stirbst. Das Messer in deiner Hand wird durch dich selbst einen Weg in dein Herz finden. Deine Seele wird aber nicht das Jenseits betreten. Du wirst für mich Seelen anlocken. Männer, Frauen, Kinder…das ist mir egal. Bring hundert Menschen dazu, sich von der Klippe über dieser Höhle zu stürzen, oder sich mit dem Dolch zu töten, durch den du sterben wirst. Sobald du alle hundert für mich geopfert hast, kann dein Geliebter das Jenseits betreten…und du auch, ihr wärt wieder vereint.“ So machte das Monster sein Angebot noch verlockender für die junge Frau. Sie nickte zustimmend. Skrupel kannte sie nicht mehr. Fest griff Mai das Messer. Bevor sie es in ihr Herz stieß, blickte sie noch einmal in das Gesicht der alten Priesterin. Tränen blitzen in den Augen der Alten, liebte sie doch das Mädchen vor sich wie eine eigene Tochter.
 

Das Messer bereits im passenden Winkel angesetzt, um ihr Herz zu durchstoßen, flüsterte Mai noch: „Ich danke euch Sensei. Danke, das ihr mich immer unterstützt habt.“ Dann rammte sie das Messer in ihre Brust.
 

In dem Moment als der Schmerz jeden Gedanken aus ihrem Kopf verbannte, wachte Mai mit einem lauten Schrei auf. Schweißnass und heftig atmend blickte sie sich in ihrem Schlafzimmer um. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, aber kaltes graues Licht viel bereits durch ihr Fenster. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte der Brünetten, dass es noch viel zu früh war zum aufstehen. Schlafen konnte sie jetzt aber auch nicht mehr, denn es war ja einer „dieser“ Träume.
 

„Was habe ich denn erwartet“, dachte sie mit leichter Resignation, „nur weil ich nicht mehr bei der SPR arbeite heißt es ja nicht, dass ich keine Träume mehr habe. Na wenigstens habe ich nicht wieder von IHM geträumt.“
 

Da Mai noch Zeit hatte, bis die Schule begann, nutzte sie diese und ging duschen. Während das warme Wasser ihre verspannten Muskeln wieder entspannte, dachte sie nach, was sie mit dieser Vision anfangen sollte. Dieser Traum war wichtig, das war ihr klar.
 

„Ob ich mich bei Bou – san oder Ayako melden sollte? Vielleicht arbeiten sie gerade an einem Fall, für den dieser Hintergrund wichtig ist…Ob sie diese Information überhaupt brauchen?“ Diese Gedanken durchflutete Mais Kopf. Sie nahm sich fest vor, nach der Schule bei dem blonden Mönch anzurufen.
 

*****
 

„Sollten wir nicht endlich mal einen Ersatz für Mai suchen? Oder noch besser, sie darum bitten zurückzukommen?“, fragte Lin seinen Gegenüber.
 

„Wieso sollte ich Ersatz suchen? Bou – san hat doch gesagt, es kann sein, dass sie sich beruhigt und zurückkommt. Ist doch erst eine Woche vergangen…“, zu spät bemerkte Naru, dass dies die falsche Antwort war, denn sein Assistent sah ihn mit einem äußerst amüsierten Blick an, der absolut untypisch für den ruhigen Chinesen war.

„Außerdem bist du doch auch allein zurechtgekommen. Wir haben Mai doch damals nur eingestellt, weil du ausgefallen bist – WEGEN IHR!“, setzte er daher noch an.

Naru war vorher gar nicht aufgefallen, dass sein menschenscheuer Assistent anscheinend ein so gutes Verhältnis zu der Bürogehilfin hatte.
 

Da sich der Schwarzhaarige sofort wieder der Akte zuwandte, die sein Assistent ihm gegeben hatte, bemerkte er das kleine Grinsen nicht, mit dem dieser ihn bedachte. „Ich glaube wir haben einen neuen Fall. Das Gespräch mit den Betroffenen habe ich gestern schon geführt. In der Akte sind die Notizen die ich mir währenddessen gemacht habe, Informationen zur Familie, zum Grundstück und Haus, außerdem eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse. Damit du auch gleich im Bilde bist, werde ich dir die wichtigsten Details nennen: unser Auftraggeber ist ein Politiker, kein besonders wichtiger, aber da er eine öffentliche Person ist, hoffte er natürlich auf unsere Diskretion. Es geht eigentlich auch nicht um den Politiker selbst, sondern um seine ältere Schwester. Vor etwa drei Monaten erwarb sie ein Haus in der Präfektur Saga auf der Insel Kyūshū. Ganz nah am Strand von Hamatama. Es ist eine alte Villa, die vom Hausverwalter instand gehalten wurde. Als sie einige Wochen darauf dort mit ihrem Mann und den zwei gemeinsamen Kindern einzog begannen die Vorfälle. Die Frau – Mayumi Usui – berichtete davon, sich permanent beobachtet gefühlt zu haben. Die Kinder berichten, dass sie sich mit einer sehr netten Frau unterhalten hätten, von der sie glaubten, sie wäre das neue Kindermädchen. Zu diesem Zeitpunkt, war die Kinderbetreuerin aber noch nicht angereist.
 

Weithin wurden seltsame Geräusche vom Mann wahrgenommen. Er beschrieb es als ein Flüstern – definitiv weiblich. Er berichtet davon, die Stimme immer kurz vor dem Einschlafen gehört zu haben.
 

Dann, etwa einen Monat nach dem Einzug, hatte Yasuki Usui – also der Ehemann unserer Auftraggeberin – einen seltsamen Traum. Er träumte davon, dass eine wunderschöne, melodische Stimme würde ihn rufen. Der Mann folgte ihr und fand sich an den Klippen wieder. Dort sah er eine Frau, in einem weißen Kimono. Die Frau hatte lange, schwarze Haare. Sonst konnte er keine weitere Beschreibung abgeben. Die Frau forderte Herrn Usui auf ihr zu folgen. Er gehorchte und lief ihr hinterher. Dann stand sie auf einem Plateau, welches über einer der Klippen gebaut zu sein schien. Das kam Herrn Usui schon sehr merkwürdig vor, denn er konnte sich nicht daran erinnern, dass Plateau schon vorher an der Stelle gesehen zu haben. Kurz bevor er bei dieser Erscheinung angekommen war, weckte ihn seine Frau durch lautes Rufen auf. Als er seine Augen öffnete, befand Herr Usui sich direkt vor dem Abgrund. Es hätte nur noch ein Schritt gefehlt und er wäre ins Meer gestürzt.“
 

Lin endete an dieser Stelle mit der Zusammenfassung. Ein Blick auf seinen Arbeitgeber genügte ihm, um zu wissen, dass er an diesem Fall interessiert war.
 

„Wie sieht denn die Vorgeschichte des Hauses aus? Irgendwelche Auffälligkeiten?“
 

„Wie du sicher der Akte entnehmen kannst, habe ich in dieser Richtung bereits Erkundigungen angestellt. Tatsächlich gibt es etliche Polizeiberichte über Selbstmorde oder tödliche Unfälle. Es scheint aber nicht wirklich an dieser Villa zu liegen, denn das jetzige Herrenhaus ist erst vor circa siebzig Jahren in dieser Form erbaut worden. Die mysteriösen Todesfälle begannen – oder viel mehr die Aufzeichnungen von eben diesen – bereits vor über hundertzwanzig Jahren.“
 

„Du hat gesagt die jetzige Villa steht da erst seit siebzig Jahren? Was befand sich davor dort?“
 

„Davor stand das Grundstück etwa zwei Jahrzehnte leer. Da war buchstäblich nichts. Wenn man allerdings noch etwas weiter zurückgeht – so ungefähr zweihundert bis zweihundertvierzig Jahre – dann findet man Aufzeichnungen darüber, dass an diesem Ort ein Schrein stand. Die Unterlagen dazu sind aber sehr ungenau. Es steht nirgends für WEN der Schrein erbaut worden ist.“
 

„Gut, wir sehen uns das ganze Mal an. Ruf Frau Usui an und teile ihr mit, dass wir den Auftrag annehmen. Ach, und kläre die Bedingungen, du weißt schon, ein Raum als Basis, Zugang zu allen anderen Zimmern des Hauses, Baupläne und so weiter.

Ruf doch auch Hara – san und den Rest an, ich glaube Bou – san ist noch immer nicht gut auf mich zu sprechen und würde erst gar nicht mit mir reden.“
 

„Bereits erledigt. Hara – san und Brown – san lassen sich aber entschuldigen. Sie muss zu Aufnahmen für das Fernsehen nach Hokkaido und weiß nicht, wie viel Zeit das in Anspruch nehmen wird und John ist für die nächsten zwei Wochen nach Australien geflogen – seinen alten Lehrmeister besuchen, wenn ich mich recht entsinne.“
 

Der Gesichtsausdruck von Naru sprach mehr als nur tausend Bände. Eine Geisterjagd mit Ayako und Houshou. Beide sehr eng mit Mai befreundet. Beide nicht gerade dafür bekannt mit ihrer Meinung hinterm Zaun zu halten. Man konnte dem 17jährigen deutlich ansehen, dass er sich gegen die Predigten wappnete. Kurz überlegte Lin, ob er ihm die weiteren Details zu diesem Auftrag nennen sollte, da dies seinen Tag wohl vollkommen ruinieren würde, entschloss sich aber dafür es doch zu tun. „Spätestens wenn wir dort ankommen wird er es doch erfahren und es ist besser, wenn Naru schon vorher bescheid weiß, was uns da erwartet…“, dachte sich der Chinese.
 

„Naru…da wäre noch eine Sache…“, er schwieg einen Moment. Der Angesprochene zog fragend eine Augenbraue hoch um ihn zum Weitersprechen aufzufordern. „Du erinnerst dich doch sicher noch an unsere Untersuchungen in dem Fall mit Urado“, setzte Lin an. Auf das zustimmende Nicken seines Gesprächpartners sprach er weiter. „Es ist so, dass die Familie Usui noch ein zweites Psych Research Büro angestellt hat und zwar das Minami Psych Research…“
 

„Was! Diesen Stümper! Den Typen, der noch nicht einmal wusste, dass man bei einer Seance nur wenige Lichtquellen haben darf? Den Typen, dessen Ausrüstung aus einem Camcorder bestand? Den Typen, der diesen falschen Professor Oliver Davis engagiert hat? Dieser Minami?“
 

„Ja genau dieser“, antwortete Lin mit einem leichtem Schmunzeln über den Ausbruch seines Arbeitgebers, „es scheint wohl so, dass er den Leuten weiß machen konnte, dass er selbst ein Opfer war und nicht gewusst hatte, dass dieser Professor gar nicht der echte war. Du weißt doch selber wie es ist – die Parapsychologie und alle Untersuchungen, die zur Erforschung des Übernatürlichen dienen, von den meisten als Humbug abgetan wird. Es ist keine wirklich anerkannte Wissenschaft und somit hatte dieser Minami kein Gremium, vor dem er sich verantworten musste.
 

Trotz des unwilligen Gesichtsausdrucks seitens Naru, wusste Lin, dass sie in den nächsten Tagen aufbrechen würden. So ging er an das Telefon, um die Formalitäten mit dem Kunden abzusprechen.
 

*****
 

Mai dachte gerade an den Wortwechsel, den sie mit Ryou nach dem Unterricht geführt hatte. Er schien die kleine Szene von vor einer Woche nicht ernst genommen zu haben und so hatte er seine Mitschülerin mit Fragen bombardiert. Mai hatte ihm auch gerne geantwortet, war sie doch froh, dass er an der Richtigkeit ihrer Aussagen nicht zweifelte, nachdem Naru sie ja im Grunde genommen als komplett inkompetent dargestellt hatte.
 

Die Schülerin stand nun in einem Schuhgeschäft. Sie musste jetzt wohl oder übel einen neuen Nebenjob suchen und wie es der Zufall so wollte, wurde in dem kleinen Laden, in dem Mai gerade stand, eine Aushilfe für die Inventurvorgänge. Der Verkäufer war kurz zum Manager gegangen, um die Anstellung zu klären.
 

So stand Mai nun ganz allein in dem kleinen Verkaufsraum, als ein neuer Kunde das Schuhgeschäft betrat. Auf das Klingeln der Glocke an der Tür drehte sich das Mädchen in die Richtung. Der Mann der eingetreten war, sah sie nicht an, sondern widmete seine volle Aufmerksamkeit einem Paar Wildleder – Slipper.

Irgendwie kam ihr der Mann bekannt vor. Sehr bekannt sogar, doch sie schaffte es nicht, dieses Gesicht zuzuordnen.
 

„Frau Taniyama.“ Die Stimme des Verkäufers lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf dien Verkauftresen. „Es tut mir leid ihnen das mitteilen zu müssen, aber der Geschäftsführer sagte mir, dass er die Stelle bereits an jemand anderen vergeben hat.“ Mai seufzte abgrundtief. „Was soll’s, hat eben nicht sein sollen. Danke und Aufwidersehen“, verabschiedete sich die junge Frau.
 

Als sie den Laden verließ, bemerkte sie den merkwürdigen Blick, mit dem sie der Mann bei den Wildleder – Slippern bedachte.
 

Mai war schon einige Schritte gegangen, da wurde sie von einer, ihr irgendwie bekannt vorkommenden Stimme, gerufen.

„Frau Taniyama? Warten sie doch einen Moment!“ Mai drehte sich um und sah den seltsamen Mann aus dem Schuhgeschäft, der laut nach Luft schnappend, vor ihr zum Stehen kam. „Gott…sei…sei dank habe ich sie noch erwischt Frau Taniyama“, stammelte der Unbekannte. „Sie haben doch bis vor Kurzen noch für die Shibuya Psych Research gearbeitet, wenn ich mich recht entsinne. Mein Name ist Minami. Mein Büro hat mit an dem Fall in der Villa des ehemaligen Außenministers ermittelt. Sie erinnern sich vielleicht?“
 

Da fiel es Mai wie Schuppen von den Augen. „Sie sind doch der Kerl, dessen Assistent während der Nachforschungen in dem Haus ums Leben kam. Der Mann, der mit einem falschen Professor Davis auf Kundenfang gegangen ist…“

„Wie ich bereits meinen zahlreichen Sponsoren erklärt habe, hat der Mann mich ebenfalls reingelegt. Es war keineswegs so, dass ich ihn dafür bezahlt habe sich als Davis auszugeben, sondern er hat sich mir persönlich so vorgestellt. Er hat mir seine Mitarbeit und Partnerschaft angeboten und dafür ein horrendes Gehalt bekommen. Das tut hier aber nichts zur Sache, wie ich gerade mitbekommen habe, suchen sie nach einem Nebenjob. Bezahlt ihnen ihr derzeitiger Arbeitgeber so wenig?“, unterbrach sie Minami einfach.
 

„Ich wüsste nicht, dass sie das etwas angeht!“, erwiderte Mai ziemlich ungehalten.

„Ich frage ja nur, weil ich einen neuen Assistenten benötigen würde, da ich einen Auftrag in Saga habe. Ich zahle ihnen das Doppelte von dem, was Herr Shibuya ihnen zahlt“, redete der Mann weiter. „Wissen sie Frau Taniyama, ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich keine Ahnung von der Geisterjagd an sich habe. Ich bin dafür sehr gut darin, Geld aufzutreiben, Werbung zu machen und ein Geschäft zu führen. Mein Assistent war es, der sich mit dem Messgeräten und Auswertungen auskannte. Es ist nun so, dass ich zwar noch einige Mitarbeiter habe, aber die kennen sich nicht mit den ganzen Spezialgeräten aus und haben auch keine wirklichen Kenntnisse bezüglich der Geisterjagd. Sollten sie also an einem neuen Job interessiert sein…“ Minami ließ den Satz offen und wartete ihre Reaktion ab.
 

„Nie im Leben würde ich für sie arbeiten. Sie sind einfach verantwortungslos und spielen mit dem Leben anderer, weil sie die Geisterjagd nicht ernst nehmen“, sagte Mai ohne zu zögern und rümpfte die Nase. Ihr Gegenüber besaß die Frechheit zu lächeln. Er holte eine Visitenkarte aus der Tasche seines Jacketts und gab sie der Schülerin mit den Worten: „Falls sie es sich doch anders überlegen sollten, rufen sie mich an.“ Dann ging er wieder in das Geschäft.

Am Abend hatte Mai das Gespräch auf der Straße schon fast vergessen. Sie wartete auf einen Anruf von Bou – san.
 

Sie hatte ihn an den Tag, als sie den Traum gehabt hatte, angerufen. Er sagte ihr, dass ihm kein solcher Fall bekannt sei, bedankte sich aber bei Mai für die Information und versprach ihr sich bei ihr zu melden. Heute hatte sie dann eine SMS von ihm bekommen, er würde sie noch an diesem Abend anrufen und hätte Neuigkeiten. Nun saß sie da und wartete auf den Anruf.
 

Es wurde immer dunkler im Raum. Die letzten rötlichen Strahlen der Sonne erhellten mit ihrem dumpfen Licht die Wohnung.

Mais Augen wurden immer schwerer und schwerer…
 

*****
 

Der Duft von Popcorn weckte Mai plötzlich. „Woher kommt das nur?“, dachte Mai, als sie die Augen öffnete. Nur langsam realisierte sie ihre neue Umgebung. Mai saß in einem Kinosessel. Vor ihr eine riesige Leinwand. Unter Ihrer Nase eine Tüte Popcorn, die von einer Hand gehalten wurde. Mai wusste auch ohne hinzuschauen, wem diese gehörte.
 

„Hallo Naru“, sagte sie lakonisch, „was soll das hier?“ Der Schwarzhaarige, von dem Mai wusste, dass es nur ihre Traumversion von ihm war, lächelte ihr entgegen. Spätestens jetzt war der Braunhaarigen klar, dass es sich wieder um einen „dieser“ Träume war.
 

„Nun, sie“, dabei deutete er auf den Platz links neben Mai, „wollte, dass du sie verstehst. Ihre Geschichte kennst und sie nicht verurteilst.“ Auf dem Sitz neben ihr sah sie die Frau von der die Schülerin geträumt hatte. Mai hatte in ihrem Traum zwar nie in den Spiegel gesehen, doch wusste sie intuitiv, dass dies die Frau war, deren Platz sie in ihrer Vision eingenommen hatte.
 

„Dies wird ein kleiner Einblick in Hitomi’s Leben. Sie möchte dir zeigen, wie es dazu gekommen ist das sie ein rachedurstiger Geist wurde, denn sie will dass du sie erlöst. Seit deiner Vision ist sie mit dir verbunden Mai. Nur du kannst Hitomi’s Botschaften bekommen. Sie wird dich nicht eher loslassen, als das sie mit ihrem Verlobten Yashiro gemeinsam ins Jenseits gelangen kann.“ Während der Traum – Naru ihr die Situation geschildert hatte, nutze Mai die Zeit um sich den Geist anzusehen. Die Frau war eine richtige Schönheit. Schwarze Haare, die ihr bis zur Taille reichten, eine schlanke und zierliche Figur, Haut die schimmerte wie Porzellan. Das Gesicht des Geistes, glich dem einer Puppe. Eine gerade und schmale Nase, Augen, die in warmen Brauntönen schimmerten, aber so nuancenreich, dass man das Gefühl hatte in ein Kaleidoskop voll Herbsttönen zu blicken. Kirschrote Lippen und sanft geschwungene Augenbrauen vervollständigten diese Vollkommenheit.
 

Naru hatte sich bereits gesetzt. Er hielt Mai wieder die Tüte mit dem Popcorn hin. Als das Licht gedämpft wurde und auf der Leinwand die ersten Bilder erschienen, nahm Mai das angebotene Essen an. Gebannt sah sie nach vorne.
 

Die Szene war eine Erinnerung von Hitomi. Eine Szene aus der Zeit, als sie noch lebte und glücklich war. Sie und ihr Verlobter. Sie saßen zusammen unter einem alten Kirschbaum. Yashiro mit dem Rücken an den Baum gelehnt und schlafend. Hitomi saß auf seinem Schoß und lächelte, während sie einzelne Kirschblütenblätter beobachtete, die durch die Luft schwebten. Der Augenblick war voller Harmonie.
 

Der Geist fasste Mai’s Hand – zumindest soweit ein Geist das konnte – und ließ sie durch diese Berührung all das Glück und die Liebe fühlen, die sie zu diesem Zeitpunkt gefühlt hatte.
 

Die nächste Szene wurde eingeblendet. Ein Mann – Mai wusste automatisch, dass dies der Bruder von Yashiro war – stritt sich mit Hitomi’s Verlobten. Er schrie ihm entgegen, dass das Land, welches er bewirtschaftete zu einem Teil auch ihm gehörte. Dieser antwortete aberwahrheitsgemäß, dass ihr Vater ihm – Yashiro – den Hof vermacht hatte, während der andere das materielle Vermögen, wie Geld, Schmuck und wertvolle Antiquitäten geerbt hatte, da er kein Interesse an dem Bewirtschaften eines Hofes gehabt hätte.
 

„Wo ist denn das ganze Geld geblieben?“, rief Yashiro seinem Bruder entgegen. In dem Moment als Hitomi die zornige Stimme ihres Verlobten gehört hatte, lief sie zu ihm. Sie musste wissen was ihren Liebsten so erzürnte. Als sie bei den streitenden Männern angekommen war, konnte sie gerade noch verhindern, das der Mann den sie liebte sich auf seinen Bruder stürzte und ihn in seiner Raserei eventuell tötete. Sie schlang die Arme um die Taille Yashiros und redete beruhigend auf ihn ein. Mai konnte wieder spüren, wie eine Welle von Gefühlen über sie schwappte und ein Gedanke des Geistes sich in ihrem Kopf manifestierte. Tiefste Bitterkeit und die Erkenntnis: „Es wäre besser gewesen mein Liebster hätte ihn damals getötet! Hätte ich es doch nicht verhindert!“ wallten durch Mai’s Bewusstsein. Sie konnte es verstehen, denn sie hatte sowohl das Zornesfunkeln, als auch den begehrlichen Blick des anderen Mannes, auf Hitomi bemerkt.
 

Die nächste Erinnerung folgte und mit ihr eine Gefühlswelle voll Trauer und Verzweiflung. Die Schülerin sah Hitomi, zusammengekauert und weinend am Tor ihres Hofes knien. In einigen Metern Entfernung, stand der Mann der für ihr Unglück verantwortlich war. Der Mann, der fast ihr Schwager geworden wäre. Der Mann, der ihr gerade die Nachricht von dem Tod ihres Verlobten gebracht hatte. Nun besaß er noch die Frechheit ihr zu sagen, dass der Hof jetzt ihm gehörte. Keine zwei Minuten, nachdem er ihr schon kalt eröffnet hatte, dass sein Bruder – die Liebe ihres Leben, ihr Yashiro – im mehr ertrunken sei. Dieser Mistkerl wagte auch noch ihr unverschämt anzubieten, dass sie bleiben könnte, auf seinem Hof, da er ja wisse, dass sie eine Waise sei und keine Familie hätte. Sie könnte bleiben – allerdings nur als seine Konkubine.
 

Mai fühlte, wie aus der Trauer und Verzweiflung, Wut und unbändiger Zorn wurden und sie fühlte einen Zweifel aufkeimen. Einen Zweifel daran, ob der Tod ihres Verlobten ein Unfall war. Dann schoss wieder einer von Hitomi’s Gedanken in Mai’s Unterbewusstsein. „Gut, er mag wissen, dass ich eine Waise bin, aber er weiß nicht, dass ich von der alten Priesterin zur Miko ausgebildet wurde. Ich habe Mittel und Wege um herauszufinden, was wirklich passiert ist und solltest du etwas mit seinem Tod zu tun haben, dann schwöre ich dir, wird kein Gott und kein Dämon dich vor meiner Rache schützen können!“
 

Mai war schockiert über diesen Schwur und sehr aufgewühlt, wegen dem was der armen Hitomi als Mensch widerfahren war. Doch sie hatte keine Zeit es zu verarbeiten, denn schon wurde die nächste Szene aus ihrem Leben eingespielt.

Die junge Frau stand vor einem Schrein. Irgendwo am Meer, denn man konnte die steil abfallenden Klippen sehen und das peitschen der Wellen hören. Hitomi stand vor dem Schrein, der dem Gott der Wiesen und Felder gewidmet war. Nun, vielleicht nicht unbedingt Gott, aber zumindest Geist. Der Geist, der über dieses Land wachte.
 

Hitomi zündete die Räucherstäbchen an, die sie mitgebracht hatte und fing an zu beten. Als ausgebildete Miko wusste sie, was sie zu tun hatte um eine Vision von diesem Geist zu bekommen. So betete sie und versank dabei in eine tiefe Trance. Der Rauch stieg in die Luft und wurde immer dichter. Er umhüllte die junge Frau und in dem Moment, als die Schwaden Hitomi ganz verdeckt hatten, konnte Mai die Bilder der Vision vor ihrem inneren Auge aufblitzen sehen.
 

Sie sah Yashiro, wie er von seinem Bruder vom Boot weggelockt wurde. Der Vorwand war sich entschuldigen zu wollen. Dann der Hinterhalt. Ein weiterer Mann schlich von hinten sich an Hitomi’s Verlobten heran. Er hielt ihn fest. Mit eisernem Griff sein Bruder griff nach einem Stein und schlug wieder und wieder auf Yashiro ein.
 

Blutüberströmt und nicht mehr bei Bewusstsein, aber immer noch am Leben, wurde er von den beiden Männern zum Boot getragen. Dort wurde er hineingelegt und der Fremde nahm einen Stein und schlug damit auf das Holz des leichten Seglers. Mit jedem Schlag gab das Holz weiter nach, splitterte leicht. Dies reichte aus.
 

Erst jetzt betrachteten Mai und Hitomi den Mann genauer. Er trug die Robe eines Wandermönchs, das erkannte die junge von Frau damals. Dies war der Mönch, den die Priesterin aus der Stadt hatte jagen lassen, da er ein Scharlatan war und die Leute mit Zaubersprüchen für Glück, Gesundheit und Wohlstand ausnahm. Durch Hitomi wusste nun auch Mai, wer dieser Mann war.
 

Nachdem die beiden Männer das Boot ins Wasser geschoben hatten. Begann der Mönch zu beten. Die Wellen trieben den Segler immer weiter auf das Meer hinaus.

Yashiro’s Bruder sah ihm nach und grinste. Er drehte sich zu seinem Partner um und meinte hämisch: „Du bist zu abergläubisch Kenta. Warum betest du denn jetzt, glaubst du nicht, dieses Seebegräbnis reicht aus, um ihm die letzte Ehre zu erweisen?“

„Dieses Gebet schütz uns davor, dass sein Geist zurückkehrt, um Rache an uns zu nehmen. Es Bindet ihn an den Ort, wo das Boot untergehen wird. Selbst wenn seine Leiche irgendwann hier angespült wird, sein Geist wird tief an Meeresgrund gefangen sein und wir können ohne Furcht unser Leben weiterführen.“

„Pah, Rache der Geister! Das ich nicht lache. Nun komm, ich werde dich auszahlen und dann kannst du verschwinden.“
 

Mai weinte wegen der Bilder, die sie sah. Wut, Trauer, Angst und Entsetzen beherrschten ihren Kopf. Sie holte japsend Luft. Doch wieder ließ man ihr keine Zeit die Situation zu verarbeiten. Es kam die nächste Szene. Eine die Mai schon kannte. Die Bilder ihres ersten Traums. Der Altar in der Höhle. Fast genau unter dem kleinen Schrein auf den Klippen. Sie musste diese Bilder nicht noch einmal sehen.
 

Da erfüllten wieder Hitomi’s Gedanken ihren Kopf. „Dies ist der Geist des Meeres und der Unterwelt, den ich beschworen hatte. Er ist der dunkle Bruder des beschützenden Gottes, vor dessen Schrein ich gebetet habe. Sie sind wie Yin und Yang. Gut und Böse. Er erfüllte mir meinen Wunsch, den Schwur zu halten.“
 

Mai begriff ihre Worte. Sah wieder auf die Leinwand vor sich. Die Bilder veränderten sich wieder. Die Ausschnitte wurden kürzer und schneller.
 

Hitomis’s Geist, wie er ihren Fast – Schwager heimsuchte. Ihn mit Geräuschen in den Wahnsinn trieb, nicht aber ohne ihn vorher in den Ruin zu treiben. Sie tötete das Vieh. Ließ die Ernte eingehen. Eigentlich hätte sie sich gar nicht die Mühe machen müssen. Er hätte den Hoff sowieso heruntergewirtschaftet. Hitomi beschleunigte diesen Vorgang nur ein wenig.
 

Zum Schluss flüsterte sie ihn immer wieder ein sich umzubringen. Sie würde ihn nicht ehe in Ruhe lassen, als dass er tot wäre. Überall wo der Mann hinging, fand der Mann das Ritualmesser. Hörte überall ihre Stimme, die ihm einredete den einzigen Weg zu wählen, der ihn erlösen würde. Was er am Ende auch tat.
 

Sein Blut sickerte in die Erde des Bauernhofs und machte das Land dort unfruchtbar. Seine Seele, die vom Körper befreit – in Form einer weiß – glühenden Kugel – nahm den schnellsten Weg zum Altar des bösen Geistes. Während er in die Unterwelt gesaugt wurde, durch ein Portal, das sich nur für seine sündige Seele öffnete, hörte Hitomi die angsterfüllten Schreie seiner Seele.
 

Dem Wandermönch erging es nicht anders. Auch ihn suchte Hitomi heim. Er gab ihren Drängen nur wesentlich schneller nach, denn er besaß nicht viel, was ihm der Geist hätte nehmen können, Nur seinen Verstand und sein Leben.
 

So wurden die Ausschnitte immer kürzer und nach den beiden ersten Opfern des Geistes, konnte Mai in den Szenen nie die Gesichter oder die Namen der weiteren Getöteten erkennen. Auch Hitomi kannte weder ihre Gesichter, noch die Namen ihrer weiteren Opfer. Sie waren zu unwichtig für sie.
 

Dennoch zeigte sie Mai, dass sie durchaus eine Auswahl getroffen hatte, denn ihre Opfer waren stets Diebe, Räuber, Mörder, Vergewaltiger gewesen. Sie beschränkte sich auch nicht nur auf Männer auch Rabenmütter, die ihre Kinder im Stich ließen und Frauen, die ihre Männer betrogen waren ihre Opfer.
 

Der Geist hatte nämlich durch das Ritual eine besondere Gabe erhalten. Sie konnte die Sünde eines jeden Menschen sehen.
 

Die Leinwand wurde schwarz und die Lichter gingen wieder an. Hitomi nahm ihre Hand von Mai’s. Naru stand auf und lächelte sie an. „Ich hoffe du kannst es einigermaßen verarbeiten. Es ist nur so, dass du diese Hintergründe brauchst – für den Fall.“

„Dann ist es war und die SPR hat einen neuen Fall?“ Die Schülerin schreckte auf. Es war gut gewesen mit Bou – san Kontakt aufzunehmen, das wusste sie nun und wahrscheinlich würde er ihr über den neuen Fall berichten, wenn er sie anrief.

„Ja, wir haben einen neuen Fall, aber warum weißt du nichts davon?“, fragte nun die Traumversion ihres Chefs sie verdutzt.
 

Noch bevor Mai antworten konnte, erklang ein seltsames Geräusch. Es kam ihr irgendwie bekannt vor. Wurde lauter. Erfüllte den ganzen Raum und war schon fast schmerzhaft in den Ohren.
 

*****
 

Die Brünette erwachte aus ihrem kurzen Schlaf. Ihr Kopf ruhte noch auf dem Tisch. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass ihr endlos wirkender Traum, in Wahrheit nur fünf Minuten gedauert hatte.
 

Dann hörte sie es wieder. Dieses nervtötende Geräusch. Da wurde es Mai klar, das war ihr Handy. Schnell kramte sie es aus ihrer Hosentasche hervor. Ein Blick auf den Display, sagte ihr, dass es der Blonde Mönch war.
 

Mai nahm ab und fragte sofort: „Erzähl mir von dem neuen Fall!“

„Wie kommt es das du schon davon weißt?“, fragte dieser verdattert zurück.

„Als ob du dir das, nicht denken könntest, Bou – san. Nun erzähle schon davon!“, forderte sie ihren Gesprächpartner auf. Dieser tat es mit Freude. Auch die Anwesenheit der anderen „Geisterjäger“ ließ er nicht aus. Ab diesem Punkt, hatte Mai die Visitenkarte von Minami hervorgeholt und diese nachdenklich betrachtet.

„Weißt du, es wäre schön, wenn du mit Naru Frieden schließen würdest. Glaubst du nicht, dass du einfach zurückkommen könntest, denn ich und Ayako und sogar Lin sind uns sicher, wir benötigen für die Aufklärung des Falls deine Träume. Wir haben nämlich schon Nachforschungen angestellt und haben nichts weiter gefunden, als die Aufzeichnung über einen Schrein, wo jetzt dieses Anwesen steht. Da hört es aber schon auf, denn wir wissen weder wem der Schrein gewidmet war, noch ob er wirklich was mit diesen Vorfällen zu tun hat…“
 

„Nein, ich werde nicht einfach so Frieden mit diesem arroganten, egomanischen…mir fallen nicht einmal mehr die richtigen Worte ein um ihn zu beschreiben. Er soll sich gefälligst dahin scheren wo der Pfeffer wächst…“

„Irgendwie war mir schon klar, dass du das sagen würdest. Ich würde ja gerne wissen, was genau er gemacht hat, aber so am Telefon wäre es bestimmt seltsam darüber zu reden. Wie wäre es, wenn wir uns mal nach dem Fall irgendwo treffen und ein Eis essen oder so?“

„Ja, das wäre nett.“

„Weißt du, ich habe das nur vorgeschlagen, weil es gut wäre, wenn du hier wärst. Wenn es doch nur irgendeine Möglichkeit gäbe…“
 

Versonnen sah Mai auf das kleine Stückchen Papier in ihrer Hand. „Vielleicht gibt es den“, murmelte die Brünette in ihr Handy.
 

Sie erzählte ihrem Freund am anderen Ende der Leitung von den heutigen Ereignissen. Den Traum erwähnte sie wohl weislich noch nicht.
 

Dies war der Trumpf in ihrer Hand.

Alles auf Anfang

Kapitel 3: Alles auf Anfang
 

Die Villa stand auf einem freien Platz. Es waren nur wenige hundert Meter bis zu den Klippen. Die Aussicht war atemberaubend. Wohin man auch Blickte, man sah nur das Meer und den endlosen Horizont. Die Umgebung war einfach traumhaft.
 

Mai stieg aus dem Auto und half ihren beiden Kollegen die Ausrüstung auszupacken.
 

~ Flashback ~
 

Am Tag nach dem Telefonat mit Bou – san, hatte sie bei Reimei Minami angerufen. Er war natürlich ganz überrascht aber auch höchst erfreut, dass sie ihn anrief. Um es möglichst kurz zu machen, erklärte sie ihm, dass sie vor einiger Zeit ihre Anstellung bei der SPR aufgegeben hatte und jetzt einen neuen Job brauchte.
 

Der Mann war restlos begeistert. Minami lud sie sofort zu einem persönlichen Gespräch ein. Sie ging nach der Schule hin. Dort sollte sie eigentlich nur den Arbeitsvertrag unterzeichnen. Man merkte es dem Chef des Psych Research Büros an, wie begeistert er war jemanden einstellen zu können, der sich auf dem Gebiet nicht nur in der Theorie auskannte.
 

Als Erstes nach der Unterzeichnung lernte sie die anderen Mitarbeiter kennen. Es waren drei an der Zahl. Den ältesten schätzte Mai so um die Zwanzig. Vielleicht ein Student. Die anderen beiden kannte sie sogar. Gut, nicht mit Namen, aber vom Sehen. Beide gingen auf ihre Schule, nur in eine andere Klasse.
 

„Sie helfen nur aus“, erklärte Minami und zeigte auf Mai’s Schulkameraden, „und er ist mein persönlicher Assistent. Du sollst hier den Job von Herrn Atsugi übernehmen, das heißt, du wartest die Instrumente, machst bei den Aufträgen die Messungen und sonstigen Untersuchungen. Also alles was du bei diesem Shibuya auch machen musstest. Ansonsten hast du frei, wenn wir keine Arbeit haben und dein Gehalt kennst du ja schon. Also ich würde Mal sagen, ihr stellt euch unter einander vor. Ich gehe in der Zeit alles für unseren nächsten Fall zu klären. Es geht schon in zwei Tagen los. Bereite dich auf einen längeren Aufenthalt in Saga vor.“
 

Mit diesen Worten ließ er sie stehen. Mai stellte sich den drei Kollegen vor. Ihre beiden Mitschüler hießen Daisuke und Sanji und der ältere Junge Hiroaki. Dieser war tatsächlich Student. Zweiundzwanzig Jahre alt. Seine Aufgaben bestanden darin, mit den Auftraggebern zu reden, die gesamte Drecksarbeit rund ums Büro zu erledigen – halt einfach all das zu tun, wozu der feine Herr Chef keine Lust hatte. Er war auch Mai’s Chauffeur für die Fahrt nach Saga. Normalerweise transportierte er nur die Geräte und baute sie auf.
 

Ihre beiden Mitschüler hatten nur so eine Art „Putzfrauen“ – Funktion. Säubern des Equipments, der Büroräume und Fensterputzen.
 

Ein Blick auf das Equipment überraschte Mai dann doch. Anscheinend hatte er seit dem Fall, bei dem er blamiert wurde dazugelernt. Die Kameras – drei an der Zahl –waren ultrahoch – auflösend mit einem speziellen Nachtsichtmodus und Infrarot – Filtern. Die Tonaufnahmegeräte waren auch die modernsten. Sie hatten sogar so gute Aufnahme – und Filterfunktionen, dass man – vorausgesetzt man wollte – Geräusche im Ultraschallbereich von Fledermäusen aufzeichnen konnte. Auch die Messgeräte waren auf dem neuesten Stand.
 

„Nun, so lässt es sich doch arbeiten“, dachte sich Mai, während sie Hiroaki dabei beobachtete, wie er die Geräte verpackte. Die beiden anderen Jungs waren nachdem sie sich vorgestellt hatten und ihre Aufgabenbereiche erklärt hatten schnell verschwunden. Also half Mai mit beim Verpacken und ins Auto schleppen.
 

„Haben Sanji und Daisuke schon Feierabend?“, wollte die Brünette wissen.

„Ich hoffe doch, dass sie schon gegangen sind…“

Auf Mai’s verwunderten Blick hin, grinste der Student anzüglich.

„Nun ja, wie soll man so was schonend erklären…Die beiden sind ein Paar und wenn sie so schnell verschwinden, solltest du lieber darauf hoffen, dass sie den Weg bis nach Hause gefunden haben. Es ist mir nämlich schon des Öfteren passiert, dass ich sie…hm…in eindeutiger Pose in irgendeinem Besenschrank erwischt habe.“

Mai wurde schlagartig rot. „Merken Mai: niemals einen Besenschrank aufmachen, wenn du nicht weißt, wo Daisuke und Sanji sind“, dachte sie sich.
 

„Sag mal, warum laden wir jetzt schon die Geräte ins Auto, wenn wir doch erst in zwei Tagen losfahren?“, fragte Mai, um von ihrer Verlegenheit abzulenken.

„Ich mache das immer so, dann hast du nicht den Stress am Abfahrtstag. Heute laden wir die ganzen großen Geräte ein, morgen die Verbindungskabel, Laptop und sonstigen Kleinkram und wenn wir losfahren, checken wir nur anhand einer Liste, ob alles da ist.“, erklärte Hiroaki.
 

Gesagt, getan. Beide unterhielten sich noch eine Weile. Luden die großen Geräte in den Transporter und machten ihre Witzchen. Hiroaki gestand Mai, dass er froh war, einen Beifahrer zu haben, mit dem er sich die Fahrt über unterhalten konnte.
 

Als Mai an diesem Abend in ihrer Wohnung saß, war sie froh darüber, dass alles so geklappt hatte, wie sie es wollte.
 

~ Flashback Ende ~
 

Nun waren sie doch zu Dritt hier angereist. Sanji war mit ihnen mitgekommen um beim Aufbauen zu helfen. Mai hatte sich mit Hiroaki dafür entschieden sehr früh loszufahren, da ihr hochverehrter Chef, nicht in der Lage gewesen war, einen Raum als Basis einzufordern.
 

Die beiden Jungs hatten bereits angefangen die Geräte auszuladen. Mai ging währenddessen zu der Frau, die beim Anfahren ihres Autos hinausgekommen war.

Mai erkannte sofort, dass es sich hierbei um die Auftraggeberin handelte. Mayumi Usui war eine Frau mittleren Alters. Sie hatte kurze, schwarze Haare, die bereits die ersten grauen Strähnen aufwiesen. In ihren braunen Augen lag ein Ausdruck von Wachsamkeit. Mayumi Usui schien immer darauf bedacht zu sein, jede Kleinigkeit in ihrer Umgebung wahrzunehmen. Zusammen mit dem strengen Zug um ihre Lippen und der angespannten Körperhaltung, wirkte sie autoritär und abweisend.
 

„Gu…guten Tag“, begrüßte Mai sie zögerlich. „Ich bin Mai Taniyama und komme von der Minami Psych Research. Das sind zwei meiner Kollegen, sie werden allerdings nicht lange bleiben. Sie helfen lediglich beim Aufbauen der Messgeräte. Ich vermute Herr Minami hat um einen separaten Raum als Basis gebeten?“
 

„Ich bin Mayumi Usui. Sie können mich ruhig beim Vornamen ansprechen. Sie sind ja auch so jung…na ja, als Assistentin ist ihr Alter wahrscheinlich ausreichend. Der Leiter der anderen Agentur ist auch nur ein Teenager. Wer hätte gedacht, dass so jemand eine Firma leiten kann – sei sie auch noch so klein –, aber wie sagt man so schön: Man soll das Buch nicht nach dem Einband beurteilen. Um ihre Frage aber zu beantworten, nein ihr Arbeitgeber hat keinen Raum verlangt, da allerdings ihre Konkurrenz darum gebeten hatte, habe ich sicherheitshalber auch für sie einen zur Verfügung gestellt.“
 

Während sie sprach, führte Frau Usui, Mai und ihre beiden vollbepakten Kameraden in den Innenbereich der Villa. Einen sehr langen Flur entlang, bis zu einem Zimmer, was wohl ein kleiner Salon werden sollte. Allerdings befand sich der Raum wahrscheinlich in einer Renovierung, denn überall verteilt, lagen Marmorfliesen, Holzpaneele und Abdecktücher herum. Die beiden Jungs trugen die Gerätschaften herein und Mai nutzte die Zeit, um sich mit der Hausbesitzerin zu unterhalten.
 

„Frau Usui, wann können denn die persönlichen Gespräche mit den Betroffenen geführt werden?“

„Nun, mein Mann kommt in etwa einer Stunde, dann können sie mit der Befragung beginnen. Ich sage ihnen aber gleich, dass sie diese Gespräche zusammen mit dem Mitarbeiter der Shibuya Psych Research durchführen müssen, da ich mich weigere meine Kinder zweimal denselben Fragen auszusetzen. Also werden sie sich einig.“

Mai nickte zustimmend. Dann sprach ihre Auftraggeberin weiter.

„Wann dürfen wir den mit Herrn Minami rechnen?“, fragte sie nach.

„Wahrscheinlich heute Abend, aber spätestens morgen früh. Er hat noch einen Geschäftstermin.“ Mai verkniff es sich zu erwähnen, dass dieser „Geschäftstermin“, ein Termin beim Schneider war.
 

„Ich würde vorschlagen, sie stellen sich der anderen Agentur vor, sprechen ihr Vorgehen und die Fragen für die Gespräche ab und sagen mir dann bescheid, dann werde ich mit den Kindern in das große Wohnzimmer kommen. Die vierte Tür links.“
 

Mit diesen Worten führte ihre Auftraggeberin Mai zu den Zimmer zwei Türen von ihrer Basis entfernt. Sie klopfte an und öffnete die Tür. Mai stand hinter der Frau, so das weder sie ihre ehemaligen Kollegen sehen konnte noch diese sie.
 

„Meine Herren, Frau Matsuzaki, darf ich ihnen Frau Taniyama vorstellen. Sie ist die Assistentin von Herrn Minami und wird mit ihnen zusammen die Befragung durchführen. Herr Minami wird spätestens morgen früh zu uns stoßen. Ich lasse sie jetzt allein, damit sie sich absprechen können.“
 

Mai trat hinter Frau Usui hervor und trat ins Zimmer. Nachdem die Tür geschlossen war, blickten mehrere Augenpaare auf sie. Bou – san, Ayako und Lin schauten wissend zu ihr. Naru’s Blick konnte Mai nicht wirklich deuten, dachte sich aber schon, dass die zusammengezogenen Augenbrauen nichts Gutes zu bedeuten hatten.
 

Nach einigen Augenblicken der absoluten Stille, stellte der blonde Mönch die erste Frage: „Okay Mai jetzt schieß mal los, haben deine Träume was mit dem Fall zu tun, oder nicht?“

Noch bevor Mai antworten konnte, wurde sie von Naru unterbrochen.

„Was? Welche Träume? Warum ist sie überhaupt hier? Das war doch nur ein Witz oder? Sie…du arbeitest nicht für diesen Stümper?“
 

Diese Fragen stellte er genauso kalt und nüchtern, als ob er ein paranormales Phänomen erklärte. Doch dann ließ Naru sich auf einen Stuhl hinter sich fallen, als hätte die tragweite der Information ihm seine letzte Kraft gekostet. Nach einigen Sekunden, hatte sich dies aber auch schon gelegt und er funkelte Mai doch tatsächlich böse an.
 

„Wow“, dachte die Brünette, „das waren mehr Emotionen in wenigen Momenten, als im ganzen vergangenem Jahr!“ Laut sagte sie dann aber: „Ja tatsächlich, ich arbeite für diesen miesen, kleinen Aufschneider, aber er hat mir einen Job angeboten und das war meine einzige Möglichkeit hierher zu kommen.“

Mai brach in ihrer Erklärung erst einmal ab, da sie sah, dass ihr ehemaliger Chef etwas sagen wollte. Dieser öffnete nur kurz den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Anscheinend hatte Naru es sich anders überlegt. Was hätte er auch sagen sollen? „Du hättest doch einfach zur SPR zurückkommen sollen.“ Wenn er es sich recht überlegte, wusste der Schwarzhaarige warum das Mädchen nicht zurückgekehrt war. Mai erwartete eine Entschuldigung – und zwar von IHM.
 

„Also, ich habe jede Menge an Informationen…“

So begann Mai zu erzählen. Von ihren beiden Träumen, von Hitomi, von ihrem Schicksal und zum Schluss brachte sie noch eine Vermutung vor, die sie, seitdem Mai sich mit dem zweiten Traum beschäftigt hatte, nicht mehr loslassen wollte.

„Könntest du mir einen Gefallen tun Lin? Ich würde die Befragung der Kinder übernehmen und wenn du dann bitte den Mann befragen würdest?“

„Natürlich, das ist kein Problem.“

„Moment mal, könntest du mir bitte sagen, warum du dir so sicher bist, dass deine Träume wirklicht etwas mit diesem Fall zutun haben und nicht mit irgendeinem anderen?“

„Also, ich kann das zwar jetzt nicht beweisen, aber wenn wir mit der Befragung fertig sind können wir ja zu diesem versteckten Altar gehen. Wenn er existiert, dann haben meine Träume mit diesem Fall zu tun, wenn nicht, dann bleibe ich trotzdem hier und mache die Messungen für meinen neuen Boss.“
 

Die letzten Worte betonte das Mädchen extra und schenkte Naru noch ein freches Grinsen.

Dann wandte sie sich noch einmal an Lin.

„Könntest du Herrn Usui fragen, ob es Probleme in der Ehe gibt, oder in der Firma für die er arbeitet. Hitomi hat mir gezeigt, dass sie sich ihre Opfer bewusst aussucht, weil sie in irgendeiner Art etwas Böses getan haben.“

Der Chinese nickte zustimmend. Ihm war klar, dass Mai ihn deswegen darum bat, weil ein erwachsener Mann solche Fragen bestimmt keiner Mittelschülerin beantworten würde.
 

Als nächstes meldeten sich Ayako und Bou – san freiwillig dafür schon einmal nach der Höhl an Kliff zu suchen, in dem sich der Altar befinden sollte. Mai beschrieb ihnen den Weg und riet noch dazu vielleicht eine Kamera mitzunehmen. Nur um zur Sicherheit auch dort Aufzeichnungen machen zu können. Gesagt, getan. Die Beiden nahmen jeweils eine Kamera der SPR und Minami Psych Research mit. Mai überprüfte währenddessen erst einmal den Aufbau der Technik, bedanke sich bei ihren Kollegen und verabschiedete die Jungs, als diese wieder Richtung Tokio fuhren.
 

Zwanzig Minuten später sprach Mai mit den Kindern von Frau Usui. Sie fragte die beiden Jungen, wo sie denn die Frau, die sie für das Kindermädchen gehalten haben gesehen hatten, worüber sie sich unterhalten hatten und ob die Frau nett zu ihnen war. Kenji und Ran – so hießen die beiden Jungen – erzählten der Schülerin, dass die Erscheinung immer bei ihnen im Zimmer aufgetaucht sei und in ihren Geheimversteck auf dem Dachboden. Sie redeten über ihren Vater – worüber, konnte Mai aber auf biegen und brechen aus den Jungs herausbekommen – auch über die Schule, Freunde und alles andere, was Grundschulkinder interessiert. Auch versicherten die Jungs ihr, dass die hübsche Frau immer sehr nett zu ihnen war. Alles in einem brachte dieses Gespräch Mai keine weiteren Erkenntnisse, außer zwei Räumen, in denen sie die Messgeräte aufbauen konnte.
 

Währendessen unterhielt Lin sich in einem anderen Zimmer mit Yasuki Usui. Als die allgemeinen Fragen gestellt und beantwortet waren, sprach er die persönlichen Angelegenheiten des Mannes an: „Nachdem wir nun die Ereignisse von diesem Tag besprochen haben, erlauben sie mir ihnen noch einige persönliche Fragen zu stellen?“

„Wieso…? Was für Fragen?“

„Es ist wichtig für uns zu wissen, ob sie irgendwelche Feinde haben? In ihrer Firma oder im privaten Bereich? Verzeihen sie diese indiskrete Frage, aber haben sie Eheprobleme? Mitarbeiter vielleicht, die ihnen irgendetwas nachtragen oder ähnliches?“

„Das hat doch nichts damit zu tun, dass ich diese Erscheinung hatte und beinahe gestorben wäre. Außerdem sind das private Angelegenheiten und gehen sie nichts an!“

Beide Sätze schrie Herr Usui Lin fast schon entgegen. Man musste kein Psychologe sein, um anhand der Reaktion zu erkennen, dass der Hausbesitzer etwas zu verbergen hatte.

„Ich kann ihnen versichern, dass ich aus rein professionellen Gründen danach frage. Bis jetzt wissen wir ja nicht, worum es sich bei der Erscheinung handelt. Es könnte ein Fluch sein, der von irgendjemandem ausgesprochen wurde, der einen Groll gegen sie hegt. Es ist in unserer Situation besser, wenn wir so viele Informationen haben, wie möglich.“
 

Der Chinese erklärte dies so ruhig und neutral, dass der andere Mann gar keine andere Wahl hatte, als sich wieder zu beruhigen. Nach einer kleinen Weile begann er dann zu erzählen…
 

*****
 

Am Abend, als Mai noch einmal die Bildaufnahmen aus der Höhle am Kliff prüfte, klingelte ihr Handy. Eine SMS von ihrem neuen Chef sagte der Brünetten, dass er erst am nächsten morgen zur Villa kommen würde. Er hätte sich ein Zimmer in einem Hotel nicht des Hauses ihrer Auftraggeber gemietet. Mai war dass relativ egal. Eigentlich war sie froh, dass sie den angeblichen Geisterjäger nicht so schnell sah, denn so hatte Mai mehr Zeit, mit ihren Freunden das weitere Vorgehen zu planen.
 

Bereits nach den Gesprächen, hatten sie sich zusammengesetzt und ihre Informationen ausgetauscht. Dabei stellte sich heraus, dass Herr Usui Lin gegenüber zugegeben hatte, in der Firma, für die er arbeitete, Gelder veruntreut zu haben. Außerdem – und es war ihm äußerst peinlich dies einzugestehen – hat er eine Affäre mit der Leiterin der Verkaufsabteilung von diesem Unternehmen…“

„Tja, jetzt wissen wir auf jedem Fall warum der Geist hinter ihm her ist. Ein richtiger Schwerenöter, unser Herr Auftraggeber“, warf Ayako ein.
 

Naru währenddessen sah nachdenklich in die Rund.

„Ich würde sagen, wir warten die heutige Nacht ab und schauen, was für Werte die Messungen ergeben. Außerdem können wir morgen früh dann das Bildmaterial und die Tonaufnahmen sichten“, begann er das weitere Vorgehen zu erläutern. „Es ist nicht so, das ich Mai’s Traum nicht traue, aber es wäre besser, wenn wir einen Beweis dafür hätten, dass es sich hierbei um einen richtigen Geist handelt und nicht um einen Fluch oder das Poltergeistphänomen. Auf diesen Test habe ich die Familie Usui im Übrigen bereits vorbereitet, also müssten wir – wie gesagt – morgen ganz genau wissen, worum es sich bei diesen Erscheinungen handelt. Sollte es wirklich diese Hitomi sein, dann würde ich sagen, wir führen einen Exorzismus durch. Sollte es irgendetwas anderes sein, dann werden die passenden Maßnahmen durchgeführt, zu was auch immer es ist.“
 

„Da wären noch zwei oder drei Sachen, die ich noch loswerden muss. Erstens – und das ist das Wichtigste – morgen kommt Minami hier an, dann können wir uns nicht mehr so absprechen wie jetzt. Allerdings glaube ich, dass er sich nur die Messergebnisse ansehen wird und dann wieder in sein Hotel verschwindet. Na ja vielleicht wird er sich noch bei der Auftraggeberin vorstellen, oder so…“, meldete sich die Brünette zu Wort. Naru stimmte ihr zu, in dem er langsam nickte.
 

„Sie hat Recht, selbst wenn er nur für einige Stunden hier bleibt, sollten wir vorsichtig sein, um unsere Zusammenarbeit geheim zu halten. Na ja, wir werden es wohl darauf ankommen lassen, denn wir können ja nichts weiter planen, ohne die heutige Nacht abzuwarten.“
 

Alle nickten einstimmig zur Bestätigung. Es machte keinen Sinn jetzt schon die Pferde scheu zu machen, wenn sie noch genau wussten, wie sie weiter vorgehen sollten.
 

„Gut, dann hätte ich aber noch eine Frage…Du hast gesagt, du hast den Test eingeleitet, ob es sich hierbei um einen Poltergeist. Es ist doch aber so, dass nichts auf dieses Phänomen hindeutet. Ich meine es bewegen sich keine Gegenstände oder werden zerstört. Wir kommst du da auf die Idee es könnte so was sein?“, fragte Mai den Schwarzhaarigen. Durch den ersten Fall, bei dem sie als seine Assistentin gearbeitet hatte, kannte die Schülerin diese Definition nur zu gut.
 

Prompt bekam sie auch schon die Antwort auf ihre Frage.

„Es freut mich, dass du während der Zeit, die du für mich gearbeitet hast, etwas gelernt hast.“ Das Knurren aus Mai’s Richtung gekonnt überhörend, redete Naru weiter. „Im Großen und Ganzen hast du Recht Mai, aber ich meine eher eine andere Art eines Poltergeistes. Es gibt nämlich die Möglichkeit, dass Herr Usui trotz der Tatsache, dass er – wie hat Ayako ihn doch so treffend bezeichnet – ein Schwerenöter ist, unterbewusst ein schlechtes Gewissen hat. Dann treibt sein Unterbewusstsein ihn dazu, diese Erscheinung zu sehen, die ihm zuflüstert seinem Leben ein Ende zu setzen. Seine unbewusste Schuld ist vielleicht so stark, dass sich das, was für sein Gewissen steht – also die unbekannte Frau – sich visualisiert. Warum sollte dieser „Geist“ sonst mit den Kindern über den Vater reden wollen?“
 

„Ist das dann nicht eher ein psychologisches Problem als ein paranormales? Müsste Herr Usui dann nicht eher seine Schuld beichten um sich von dieser Erscheinung zu lösen?“ Diese Frage wurde von der rothaarigen Miko eingeworfen.

„Genau das, ist der Grund dafür, dass wir die heutige Nacht abwarten, bevor wir etwas unternehmen. Ich möchte mir einfach vollkommen sicher sein“, antwortete Naru ihr.
 

„Du hattest noch etwas was dir auf dem Herzen liegt Mai?“, sprach Bou – san die Brünette an, denn er wusste noch, dass sie von drei Sachen geredet hatte, die sie loswerden wollte.
 

„Ja! Ich habe nämlich ehrliche Zweifel daran, dass Hitomi – und Naru kann sagen was er will, ich weiß dass sie dafür verantwortlich ist – so einfach zu exorzieren ist. Vielmehr Zweifle ich daran, dass es überhaupt funktioniert. Sie ist durch einen freiwilligen Pakt an diesen Ort hier gebunden. Der, mit dem der Geist den Pakt schloss, ist so etwas wie eine Gottheit. So wie ich das sehe, ist die einzige Möglichkeit für ihre Erlösung, dass sie ihren Teil der Abmachung erfüllt – also hundert Seelen opfert.“
 

„Willst du damit andeuten wir sollen diese Hitomi einfach weiter töten lassen? Wir wissen ja noch nicht einmal wie viele sie noch töten muss!“, warf Ayako aufgebracht ein.
 

„Nein, so meinte ich das nicht…eigentlich ist mir die perfekte Lösung dafür schon eingefallen, dass erzähle ich euch aber erst morgen, wenn Naru seine Auswertungen gemacht hat.“
 

Mehr gab es nicht zu sagen. Während also Kazuya, Bou - san und Lin beschlossen abwechselnd die Messgeräte und Kameras zu überwachen, gingen Ayako und Mai ins Bett.
 

Die beiden Frauen hatten sich einen provisorischen Schlafplatz in dem Zimmer aufgebaut, in dem Mai ihre Basis hatte. Das von Minami gekaufte System und die verlinkten Geräte waren so modern, dass wenn eine außergewöhnliche Messung, Bildaufnahme oder Tonaufzeichnung gemacht wurde, ein Alarm losging, der denjenigen, der am PC saß, darauf aufmerksam machte.
 

Ayako hatte sich gerade in ihren Schlafsack zurecht gedreht, [1]als sie sich noch einmal an die Schülerin wandte.
 

„Ich glaube wirklich, dieser unverschämte Mönch hat manchmal Recht, wenn er mich als zu alt bezeichnet, denn für so was bin ich eindeutig nicht mehr jung genug“, murrte sie vor sich hin und Mai musste grinsen. Sie war froh, dass der Raum nur vom Licht des Laptopmonitors erleuchtet war und ihre Gesprächspartnerin, dies nicht sehen konnte. Dann wurde Ayako’s Stimme ernst, als sie weitersprach. „Du sag mal, warum hast du aufgehört. Ich meine, ich weiß, dass du wohl einen heftigen Streit mit Mr. Allwissend hattest, aber das habt ihr fast jeden Tag und bisher bist du auch nicht gegangen. Obwohl es mich echt gewundert hat…“
 

Das Mädchen seufzte. „Wir hatten keinen Streit“, begann sie ihre Erklärung, weil sie wusste, dass sie diese ihren Freunden schuldig war. Er hat nur etwas zu mir gesagt, was mich sehr verletzt hat und ihm war – oder ist es immer noch nicht – mal bewusst.“

„Was hat der unsensible, vorlaute Klotz denn gesagt?“

Ayako’s Stimme klang bei diesem Satz fast so, als wäre der Schwarzhaarige nur ein kleiner Lausebengel aus der Grundschule. Trotz der Traurigkeit, die Mai erfasst hatte, als sie an Naru’s Worte dachte, musste sie wieder grinsen.
 

So erzählte die Brünette ihrer Freundin nach und nach, was passiert war.

„Wow, ganz ehrlich das war unsensibel! Aber auf der anderen Seite sagt diese Geschichte auch ganz schön was über unseren Boss aus, meinst du nicht?“

„Ja, das er ein herzloser Egoist ist!“

„Nein, das meine ich nicht. Vielleicht seid ihr ja beide zu noch jung um das so klar zu sehen was ich sehe. Der amüsierte Ton in der Stimme der Rothaarigen, ließ ihre Zimmergenossin aufhorchen.

„Häh? Was meinst du damit?“

„Frag morgen einfach Bou – san. Der kann dir das besser erklären“, gähnte die Angesprochene zurück. Sie drehte sich um und so zeigte Ayako Mai, dass das Gespräch von ihrer Seite beendet war.
 

Mai lag noch eine Weile wach und dachte über die Worte ihrer Freundin nach. Bei ihren Gedanken merkte sie nicht, wie ihre Augen immer schwerer wurden. Dann war sie – mitten in einem Gedankengang – eingeschlafen.
 

*****
 

Ihre alte, verknöcherte Hand hielt die Fackel ganz fest. Vor ihr erstreckte sich die Wiese auf den Klippen. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie das Meer sehen. Der Sonnenaufgang färbte den Himmel bereits in sanfte Purpur – Töne.
 

Mai war bewusst, dass sie träumte. Auch, dass es mal wieder einer „dieser“ Träume war.
 

Vor ihr lag Hitomi. Ihr Leichnam war auf einem kleinen Berg aus Reisig gebettet. Ja, sie würde ihrer Schülerin die Ehre einer traditionellen Feuerbestattung zukommen lassen. Normalerweise war dies nur für die ausgebildeten Mikos und sie – die Hohepriesterin des Tempels – gedacht, aber dieses Mädchen war wie ein Kind für sie gewesen.
 

Die Entscheidung, die Hitomi getroffen hatte, als sie den Tempel verließ um mit der Liebe ihres Lebens zusammen zu sein, empfand sie nicht als falsch. Es war die Wahl ihrer Schülerin gewesen und diese sehr glücklich gemacht. Dieses Ende hätte nun wirklich niemand erahnen können.
 

Der knochige, dünne Arm streckte sich. Die Fackel berührte mit dem zügelnden Flammen das trockene Holz und nach und nach begann der Reisighaufen zu brennen. In den aufsteigenden Rauch blickend, spürte Mai eine kräftige Windböe, die ihren Geist ergriff und ihn davontrug. Kurz besah sich ihr schwebendes Ich die Szene von oben, dann flog ihr Geist endgültig davon.
 

Alles war dunkel. Warum? Wo war sie? Wieder der Geruch nach Popcorn. Und Zucker.

„Mach die Augen auf Mai.“

Diese sanfte Stimme gehörte doch Naru? Gut, dem Naru, den sie aus ihren Träumen kannte, aber doch ganz eindeutig ihm. Was hatte er gesagt? Augen auf. Dieser Satzfetzen blieb in ihrem Gehirn hängen. Beschämt öffnete die Brünette die Augen und fand sich wieder in einem Kino wieder. Diesmal in den Verkaufsräumen vor den Kinosälen.
 

„Kein Wunder das es dunkel ist, wenn man die Augen zu hat…man ist das peinlich…“, dachte sich Mai. Sie sah auf und blickte in das amüsiert wirkende Gesicht von Naru.

„Alles in Ordnung?“

„Ja“, antwortete die Schülerin. „Sag mal Naru, warum sind wir im Kino – schon wieder?“

„Gefällt es dir etwa nicht?“, wollte dieser wissen.

„Das habe ich nicht gesagt, nur das es mich wundert…“

„Nun, beim letzten Mal waren wir hier, weil Hitomi dir unbedingt zeigen wollte, warum sie tut, was sie tut. Sie hat darauf bestanden, dass du die Einzige bist, die ihr helfen kann. Die Einzige, die in der Lage ist ihr zuzuhören. Na ja, da haben wir uns auf die Möglichkeit mit der Leinwand geeinigt, weil dass angenehmer war, als wenn sie deinen Geist durch diese Ereignisse geführt hätte. Dann wärst du nämlich nach jeder der gesehenen Szenen absolut orientierungslos gewesen und hättest beim Aufwachen Migräne gehabt.“
 

An dieser Stelle unterbrach das Traumebenbild ihres Chefs die Erklärung.

„Und heute?“, fragte Mai nach.

Heute…nun, heute finde ich diese Umgebung ganz nett. Außerdem hast du beim letzten Mal dein Popcorn nicht angerührt. Ich dachte, heute könntest du dich eher darauf konzentrieren.“

Mit diesen Worten reichte er ihr wieder eine Tüte und diesmal begann die Brünette automatisch zu essen.
 

„Gibt es einen Grund dafür, warum ich wieder von Hitomi geträumt habe? Bevor ich herkam, war da eine Szene. Ich war eine alte Frau und habe Hitomi bei einer Feuerbestattung verbrannt…“, fragte Mai nach einer Weile des Schweigens.

„Kannst du es dir nicht denken?“

Mai nickte. Sie glaubte zu wissen, warum ihr dieser Moment aus der Vergangenheit gezeigt worden war. Sie wollte nur noch einmal aus dem Mund ihres Traumführers eine Bestätigung dafür bekommen.
 

„Das war ich. Diese alte Frau war ich…früher einmal“, flüsterte das Mädchen.

„Ja, du bist die Reinkarnation der Hohepriesterin, die Hitomi alles gelehrt hatte. Die ihr die Möglichkeit zu ihrer Rache eröffnet hatte. Deswegen hat sie dich gerufen. Deswegen hat sie dir alle ihre Taten gezeigt. Sie ist kurz vor ihrem Ziel angelangt.“
 

Nun blickte Mai ihren Gesprächspartner verwundert an. „Was meinst du damit Naru? Was heißt „kurz vor ihrem Ziel“?

„Das heißt“, gab dieser die Antwort, „in dem Raum da drüben, wartet eine weitere Botschaft auf dich. Missverstehe sie aber nicht! Hitomi will sich damit bedanken. Du hast ihr nämlich die letzten Seelen gebracht, die sie braucht…“ Er zeigte dabei auf eine Tür, die zu einem Kinosaal führte.
 

Mit roter Farbe war an dieser Tür die Zahl drei gezeichnet worden. Mai öffnete sie und trat ein. Statt wie erwartet, gedimmtes Licht, eine Leinwand und weiche Sessel vorzufinden, stand sie auf der Wiese vor der Villa. Sie sah direkt zum Meer. Ihre Augen suchten – in einer Art Vorahnung – die Klippen ab.
 

Dann sah Mai ihn. Ein Mann ging entschlossenen Schrittes auf den Abgrund zu. Die Schülerin schrie und rief, doch wie es so oft in ihren Träumen war, kam nicht der kleinste Laut über ihre Lippen. Ihre Füße bewegten sich auch nicht.
 

Verzweifelt versuchte Mai von der Stelle zu kommen, aber es nützte nichts. Dann sah sie SIE.
 

Hitomi schwebte über der Klippe und redete sanft auf den Mann ein. Mai konnte nicht hören WAS sie sagte, aber WIE sie es sagte. Der Klang der Stimme war so verführerisch, dass selbst Mai das Verlangen verspürte ihr zu folgen. Dieses Verlangen wurde aber doch von einer kleinen, mahnenden Stimme in ihrem Kopf unterdrückt. Diese Stimme riet ihr genau zu beobachten. Diese Szene war wichtig.
 

Mai sah auf den Mann, der immer noch festen Schrittes auf die Klippe zusteuerte. Es gab kein Zögern in seinem Verhalten. Da fiel es Mai wie Schuppen von den Augen. Obwohl sie dieser Mann einfach eine gesichtslose Figur war, so konnte dies auf keinen Fall ihr Auftraggeber sein. Die Statur, Körpergröße und Breite, so wie die Haarfarbe und die Art sich zu bewegen, stimmten nicht mit der von Herrn Usui überein.
 

Dies war auch kein früheres Opfer, denn an deren Gesichter konnte sich die Schülerin noch gut erinnern. Dies war ein Verweis auf die Zukunft.
 

Irgendwoher kannte die Schülerin, die Art sich zu bewegen. Auch die Statur kam ihr sehr bekannt vor. Woher, das konnte Mai beim besten Willen nicht sagen.
 

Noch während sie überlegte, woher sie diese Person kannte, passierte etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Ein zweiter Mann tauchte auf – und auch dieser, schritt entschlossen auf die Klippen zu. Dieser zweite Mann, war Herr Usui. Auch ohne sein Gesicht zu sehen, wusste sie, dass dies ihr Auftraggeber war.
 

Die erste Person war nun am Abgrund angekommen und tat den letzten Schritt. Mai, die sich das nicht ansehen konnte, schloss die Augen. Als die Dunkelheit sie von diesem Anblick erlöste, spürte die Brünette wieder eine warme Windböe. Der Luftstrom umspielte ihren Körper und gab dem Mädchen das Gefühl zu schweben.
 

Als sie die Augen wieder öffnete, befand sie sich vor der Tür des Kinosaals. Die Türklinke wurde fest von Mai’s Hand umschlossen. Es hatte den Anschein, als hätte das Mädchen den Raum nie betreten.
 

Erst nachdem sie einige Male mit den Augen geblinzelt hatte, fiel ihr die Veränderung auf. Aus der roten drei an der Tür des Saals, war eine zwei geworden.
 

Noch während die Schülerin überlegte, was dies zu bedeuten hatte, verschwamm die Zahl vor ihren Augen. Wurde zu einem formlosen Fleck, nur um sich nach einem Augenblick wieder neu zu formen und die Zahl eins anzuzeigen.
 

Da wurde es Mai klar. Hitomi zählte rückwärts. Es fehlten ihr nur noch drei Seelen, um bis in alle Ewigkeit mit ihrem Yashiro vereint zu sein.
 

„Wenn diese Überlegung richtig ist und Naru gesagt hat, ich hätte ihr die letzten Seelen gebracht, die sie braucht, dann ist dieser eine Mann, jemand den ich kenne“, überlegte sie. „Dieser Mensch wird – wenn ich den Traum richtig deute – noch vor Herrn Usui sterben. Das heißt dann, ich muss herausfinden wer dieser Mann ohne Gesicht ist.“
 

Dann stockte sie in ihren Gedanken.

„Moment, er hat gesagt die letzten Seelen, das heißt, es fehlt noch eine. Und es ist jemand den ich kenne…“

Schnell wandte Mai sich um. So lange sie die Möglichkeit hatte, musste sie Naru fragen, wer die letzte Seele war.
 

Mai schaute zum Verkaufstresen, an den gelehnt, sie den Schwarzhaarigen das letzte Mal gesehen hatte. Der Platz war leer.
 

Mai wusste nicht wieso, aber eine schreckliche Vorahnung erfasste ihr komplettes Denken. Ohne zu wissen warum, lief sie in die Richtung, des Tresens.
 

Dahinter lag der bewegungslose Körper ihres Chefs. Eine tiefrote Blutpfütze breitete sich unter ihm aus. Das Ritualmesser, das Mai noch aus ihrem vorherigen Traum kannte, steckte tief in seiner Brust.
 

Fassungslos kniete das Mädchen sich neben den toten Körper hin. Sie öffnete den Mund. Wollte schreien, wollte schluchzen, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Stumme Tränen rannen über Mai’s Gesicht. Sie hielt sich ihre Hand vor den Mund, obwohl sie nicht wusste warum, denn immer noch war sie nicht in der Lage ihren Schmerz akustisch auszudrücken.
 

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie eine kleine Bewegung. Mai drehte sich um und sah in Hitomi’s traurige braune Augen. Der Geist strich dem Mädchen über den Kopf. Diese Geste diente dazu Mai einen Gedanken zu übermitteln, denn sie hörte die sanfte Stimme der Frau in ihrem Kopf widerhallen.

„Das habe ich nur für dich getan Sensei…auch wenn seine Schuld nicht so groß war, wie die der anderen Männer, hatte er sie doch auf sich geladen. Er hat dich zum Weinen gebracht und das obwohl er wusste, dass er dich verletzen würde. Dies ist mein Dank an dich…“
 

„Das wollte ich doch nicht!“, versuchte Mai mit belegter Stimme zu rufen. Alles was dabei herauskam war aber ein zittriges Flüstern. „Gib mir ein bisschen Zeit. Bitte. Ich habe einen Plan um dich von dem Fluch zu erlösen, nur gib mir etwas Zeit.“
 

Die Reaktion auf Mai’s Flehen war ein wehmütiges Lächeln. Dann schüttelte der Geist den Kopf und verschwand. Die Schülerin schenkte ihre Aufmerksamkeit wieder dem toten Körper vor sich, doch dieser war nicht mehr da. Sie blickte sich dem Raum um, doch konnte Mai nichts entdecken.
 

Die Umgebung um sie herum fing an dunkel zu werden und die Konturen der einzelnen Gegenständer verblassten.
 

*****
 

„Wach auf Schlafmütze. Du kommst sonst noch zu spät zum Frühstück!“ Ayako’s muntere Stimme weckte Mai aus ihrem Alptraum. Das Mädchen beeilte mit der Morgentoilette und dem Anziehen. Sie wollte die Zeit bevor Minami auftauchte nutzen, um mit ihren alten Kollegen über den Traum zu reden. Sie zu warnen und das weitere Vorgehen zu planen.
 

Nach dem Frühstück, machte sich die Brünette erst einmal daran die Resultate der Messungen auszuwerten. Weder im Haus noch in der näheren Umgebung der Villa waren irgendwelche Auffälligkeiten bei der Temperatur oder den elektromagnetischen Felder aufgetreten. Auch Ton – und Bildaufzeichnungen wiesen nichts Besonderes auf.
 

„Wie sollten sie auch, wenn Hitomi doch die Nacht damit verbracht hat mir Alpträume zu bereiten“, dachte sich Mai, als sie die Videoaufnahmen sichtete. Eine der Aufzeichnungen erregte dann doch ihre Aufmerksamkeit.
 

Es war die Kamera, die Bou – san und Ayako in der Nähe des geheimen Altars aufgestellt hatten. Etwa um die Zeit als Mai ins Land der Träume geglitten war, erschien auf den Videoaufnahmen ein nebulöses, weißes Etwas. Betrachtete man sich die Aufnahmen genauer, konnte man eine Silhouette erkennen. Definitiv weibliche Konturen und lange Haare. Schnell überprüfte sie noch die anderen gesammelten Daten, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. So machte sich Mai auf den Weg zu ihren ehemaligen Arbeitskollegen von ihrem letzten Traum zu berichten.
 

*****
 

Im Basiszimmer der SPR herrschte Still nachdem Mai von ihrem Traum erzählt hatte. Ihr war klar, dass sie jetzt schnell arbeiten mussten, weil sowohl ihr derzeitiger Arbeitgeber bald in der Villa eintreffen würde, als auch Hitomi jetzt ihre Opfer an einem Ort versammelt hatte.
 

Mai wusste zwar immer noch nicht, wer die dritte Person war, die der Geist sich als Opfer auserkoren hatte, aber ihr war klar, dass es jemand aus ihrer näheren Umgebung war.
 

Auch Naru, der nun davon überzeugt war, dass hier ein Geist sein Unwesen trieb, war für ein schnelles Vorgehen.
 

Gerade, als Mai ihre Idee erklären wollte, wie sie Hitomi doch helfen konnten, ohne dass jemand starb, sah sie das Auto von Reimei Minami vorfahren. Der Mann stieg aus, nachdem er ein schattiges Plätzchen für sein Kabrio gefunden hatte und sah sich suchend um.
 

Mai beeilte sich daher gleich ihm entgegen zu kommen und ihm von allen wichtigen Details zu dem Fall berichten zu können. Ihr Hauptgrund dafür war, dass sie sich dachte: „Je schneller ich ihm davon erzähle, desto schneller kann er die Auftraggeberin beschwichtigen und um so schneller ist er dann weg und wir können mit der richtigen Arbeit anfangen…“
 

Die Brünette trat also auf den Mann zu und wollte in begrüßen, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel.

„Diese Statur, dieser Gang, dieser Anzug…alles wie in meinem Traum. Gott, er ist der dritte Mann! Er muss hier verschwinden und zwar sofort!“
 

„Herr Minami“, begrüßte sie ihn erst einmal freundlich, „wie schön, dass sie hier sind. Sie hätten sich aber nicht die Mühe machen müssen hierher anzureisen, ich hätte ihnen die ganzen Ergebnisse der Messungen doch auch gemailt.“
 

„Frau Taniyama, ich muss mich doch unserer Auftraggeberin vorstellen. Außerdem, wie sieht denn eine Geisterjagd – Agentur aus, bei der sich der Chef nicht die Mühe macht selbst tätig zu werden.“
 

So hatte Mai keine andere Wahl. Sie brachte ihren derzeitigen Arbeitgeber zu Frau Usui, damit er dort einen guten Eindruck hinterlassen konnte und beeilte sich selbst, Ayako oder einen der anderen von ihrer Idee zu berichten. Denn eines wusste die Schülerin genau, mit einem normalen Exorzismus würden sie hier nicht weit kommen. Kurz kam ihr der Gedanke, wie routiniert sie mittlerweile an solch Angelegenheiten ging. Bis vor etwa einem Jahr, wäre sie wahrscheinlich panisch zu Naru gerannt und hätte gehofft, dass er eine Lösung für diese Geistergeschichte hätte. Jetzt war sie es, die den passenden Plan hatte um die hier spukende Gestalt zu erlösen. Ihr ehemaliger Chef dagegen schien irgendwie auf dem Schlauch zu stehen – oder er hatte einen Plan in der Hinterhand, über den er nicht mit den anderen redete. So ganz schlau wurde Mai da nicht aus dem Schwarzhaarigen.
 

*****
 

„Es wundert mich immer noch, wie schnell du solche Sachen gelernt hast Mai.“

Naru’s überraschte Worte beleidigten sie irgendwie. Mai zog unbewusst einen Schmollmund. Sie wusste zwar, dass dieser Satz als Lob gedacht war, doch hätte er ihrer Meinung nach nicht allzu überrascht klingen müssen.
 

Ihr Vorschlag schien aber allgemein auf Zustimmung zu treffen, denn die anderen drei im Raum lächelten ihr aufmunternd zu.
 

„Wie bist du denn auf die Idee gekommen Papierpuppen oder Strohpuppen zu benutzen?“, fragte sie Bou – san, der wie Mai feststellen musste auch sehr überrascht zu sein schien, dass ausgerechnet SIE darauf gekommen war.
 

„An dem Tag, als ich diesen Traum hatte, von dem ich euch gestern erzählt habe, da hatte ich so Mitleid mit Hitomi. Es hat mir richtig im Herz wehgetan. Irgendwie kam mir diese Situation so bekannt vor. Ich hatte ein richtiges Déjà vue. Hab’ dann eine ganze Weile überlegt woher das kommt und dann ist es mir eingefallen. Bei dem Fall mit dem Geist der Frau im Brunnen. Die hat ja diese Kinder um sich gescharrt, weil sie ihre Tochter wiederhaben wollte. Dann ist mir natürlich eingefallen, wie Naru sie damals erlöst hatte und was du mir darüber erzählt hast, Bou –san. Da habe ich mir gedacht, wenn ich herausfinden könnte, wie viele Seelen Hitomi noch opfern muss, dann könnte man doch diese durch diese Strohpuppen ersetzen.“
 

„Gut, wo wir das ja jetzt geklärt hätten, würde ich sagen, Ayako und Bou – san, ihr stellt diese drei Puppen her und Lin, ich und Mai passen auf, dass Herrn Usui und diesem Stüm- ich meine Herrn Minami nichts passiert.“
 

Gerade als die drei den Raum verlassen wollten, ertönte ein schriller Schrei. Schnell rannten Lin, Mai und Naru in die Richtung aus der das Geräusch herkam. Die beiden anderen beeilten sich hinterher zu kommen.
 

Am Herkunftsort des Schreis angekommen, betraten den Raum, der sich als Schlafzimmer der Auftraggeber entpuppte. Frau Usui stand starr vor einem Sessel ihr Mann lag darin. Ein Rinnsal aus Blut tropfte von seinen Händen. Ein blutbeschmiertes Messer lag in seinem Schoß. Tiefe Schnitte zogen sich über die Handgelenke.
 

Mayumi Usui stand unter Schock. Sie hatte sich seit dem Moment, in dem die Mitarbeiter der SPR und Mai den Raum betreten hatten, nicht bewegt. Die Hand vor den Mund gepresst, wohl um nicht verzweifelt zu schreien, stand sie da. Blickte auf dieses unwirklich wirkende Bild und hoffte aller Wahrscheinlichkeit nach, dass dies nur ein schlimmer Traum war.
 

Während Mai und Ayako sich, mit einem geflüsterten „Oh Gott…“, abgewendet hatten, war Naru mit Lin zu dem Mann im Sessel getreten und versuchten die Blutung zu stoppen.
 

„Er hat noch Puls“, sagte der Chinese ganz nüchtern, nachdem er an der Halsschlagader danach gefühlt hatte. Noch in der Zeit, in der Naru ein Tuch gegen die Schnittwunden an den Handgelenken drückte, griff der blond Mönch geistesgegenwärtig nach seinem Handy und rief die Notambulanz.
 

Alle waren so damit beschäftigt, den schwerverletzten Herrn Usui zu versorgen, dass niemand mehr auf die Anwesenheit von Reimei Minami achtete. Diese Zeit nutzte Hitomi. Sie ließ zuerst das Ritualmesser verschwinden, welches sie für diesen untreuen Betrüger als Vollstreckungsmittel gewählt hatte.
 

Dann materialisierte sie sich in dem Salon, in den der Besucher geführt worden war. Er saß hier, betrachtete die wertvollen Kunstgegenstände. Überlegte, was wie viel wert war, wie er es heimlich verschwinden lassen könnte.

Wie viel Geld würde er wohl für die Untersuchungen in diesem Fall bekommen? Wie viel Werbung würde, dies seinem Büro wohl bringen? Was würde das für seinen Ruf bedeuten?
 

Hitomi, die den Mann betrachtete, seine Gedanken las und seine verheimlichten Schandtaten sah, musste schnauben. Es war ein Glück für sie, dass dieser Mensch zu unsensibel war, um die Akustischen oder Visuellen Hinweise, die Geister auf ihre Existenz geben konnten, wahrnehmen zu können. Dieser Mann war so in dem Denken an seinen Eigennutz beschäftigt, dass er nicht die Schreie bemerkte. Nicht die Hektik der anderen Besucher dieser Villa.
 

Was Minami mit seinem Bewusstsein nicht hören konnte, dass vernahm aber sein Unterbewusstsein. Hitomi sprach leise und verführerisch in sein Ohr. Flüsterte ihm die Idee ein.
 

„Bereue es! Du hast so viele Menschen betrogen, hast sie um ihr Geld erleichtert. Du hast weder den Lebenden noch uns Toten Respekt erwiesen. Diese Geisterjagd, war für dich nur eine Masche, um alten Menschen oder exzentrischen, reichen Schnöseln einen Teil ihres Vermögens weg zu schnappen. Du hast nicht einmal nach dem Tod deines Assistenten damit aufgehört. Selbst als dir einer von uns bewiesen hat, dass wir Geister existieren, wolltest du es nicht glauben. Du bist Schuld am Tod von Hideo Atsugi. Du bist Schuld. Du bist Schuld. Bereue es. Dein Leben für sein Leben. Bereue.“
 

Als der Notarzt eintraf und den fast toten Hausbesitzer samt Ehefrau ins nächste Krankenhaus fuhr, befand sich der Chef des Minami Psych Research Büros auf den Weg zu den Klippen.
 

Ayako und Lin waren hinterhergefahren um Frau Usui beizustehen und dafür zu sorgen, dass der Mann sich nicht weiter selbst verletzen konnte. Durch das schnelle Eingreifen von Naru und Lin war Herr Usui bereits außer Lebensgefahr, als der Krankenwagen eintraf.
 

Bevor die Miko und sein Assistent losfuhren, wies der Schwarzhaarige beide an, dafür zu sorgen, dass ihr Auftraggeber mit Lederriemen am Bett festgeschnallt werden sollte. Für suizidgefährdete Patienten gab es diese in jedem Krankenhaus. Außerdem sollte Frau Usui mit ihren Kindern erst einmal in ein Hotel ziehen. Zwar war Naru sich sicher, dass weder ihr noch den Kindern etwas passieren würde, aber wer wusste schon genau, wie ein Geist reagieren würde, so kurz vor dem Erreichen seines Ziels. Es war nicht auszuschließen, dass Hitomi, nicht mehr so wählerisch sein würde, was ihre Opfer betraf.
 

Zwar weigerte sich der Chinese am Anfang mit Ayako mitzufahren, da er wusste, dass Naru das nächste Ziel es Geistes sein würde, doch wurde die sich daraus ergebende Diskussion von Mai unterbrochen.
 

„Oh mein Gott“, rief das Mädchen laut auf. Als der Krankenwagen weggefahren war, fiel ihr Blick nämlich auf den immer noch im Schatten geparkten Wagen ihres jetzigen Chefs. Erst da fiel ihr auf, dass dieser nicht wie der Rest, der sich im Haus befindenden Leute, nach draußen gelaufen war. Fast automatisch ließ Mai ihren Blick zu den Klippen schweifen.
 

Dort sah sie ihn dann auch. Nur noch einen Schritt vom Abgrund entfernt. Laut schrie sie seinen Namen. Bou – san lief so schnell er konnte auf den Mann zu, doch es war zu spät. Kein Ruf konnte ihn aufhalten und er war auch schon viel zu nah am Abgrund, als das der Mönch ihn noch rechtzeitig hätte erreichen können. Ein letzter Schritt und Reimei Minami gehörte zu der langen Liste von Hitomi’s Opfern.
 

*****
 

Am Abend saß das kleine Grüppchen bestehend aus drei Personen in dem Basisraum der SPR. Nach dem Selbstmord von Mai’s Arbeitgeber, wurde die Polizei gerufen.
 

Den Polizeichef schien es nicht zu wundern, dass sich binnen weniger Minuten ein versuchter Selbstmord und ein Selbstmord auf diesem Grundstück ereigneten. Nach einigen genau gezielten – und natürlich sehr unauffällig gestellten – Fragen fand Naru heraus, dass ein ganzer Aktenschrank voll mysteriöser Selbstmordfälle, rund um das Gebiet der nördlichen Klippen existierte.
 

Mysteriös deshalb, weil entweder immer mehrere Menschen innerhalb kürzester Zeit ihrem Leben durch einen Sprung von den Klippen ein vorzeitiges Ende setzten oder aber wie bei dem Hauseigentümer ein alter Ritualdolch für den Selbstmord verwendet wurde, der entweder sofort nach Auffinden der Leiche oder spätestens nach der Sicherstellung verschwand.
 

So kam es, dass lediglich die Aussagen aufgenommen wurden und der tote Körper aus dem Meer geborgen wurde. Der Polizeichef fuhr nach weniger als drei Stunden Aufenthalt zum Krankenhaus, um auch die Aussage von Frau Usui aufzunehmen. Das Bergungsteam war wesentlich schneller verschwunden, denn die Leiche musste ja so schnell wie möglich in die Pathologie geschafft werden.
 

Der Grund, warum aus den ehemals fünf Geisterjägern drei geworden waren, war, dass Lin sich nach längerem Hin und Her, doch dazu hatte überreden lassen, zum Krankenhaus zu fahren um als Schutz für ihren Auftraggeber zu dienen. Allerdings auch erst, nachdem er Bou – san das Versprächen abgenommen hatte, Naru niemals aus den Augen zu lassen.
 

So saßen nun der Mönch und der Schwarzhaarige in dem Raum und stellten die beiden Puppen her. Mai war nun hinausgegangen, um Tee zu kochen. Bou – san war klar, dass das Mädchen dies machte um sich abzulenken. Er konnte sogar den Zwiespalt ihrer Gefühle verstehen. Zum einen war da das Mitleid, welches die Schülerin für den Geist fühlte. Das Schicksal der jungen Frau war aber auch zu tragisch gewesen, als das die mitfühlende Mai nicht hätte davon betroffen werden können. Zum anderen waren dort die grausamen Taten, derer sich Mai erst jetzt wirklich gewahr wurde. Ein Toter und ein Schwerverletzter. Das war die Bilanz dieses Tages und der Kopf der jungen Schülerin schwirrte vor lauter Fragen, auf die ihr kein Mensch eine Antwort geben konnte.
 

„War es richtig was sie getan hat? Ich kann sie zwar verstehen, die Sehnsucht, die sie nach ihrem Verlobten hat. Die lange Zeit, die sie auf ihn warten musste und seine Befreiung herbeigesehnt hat, aber musste sie dafür diese Leute töten? Ich weiß ja auch, dass sie es vorher schon getan hat…aber es so hautnah zu erleben…“
 

Völlig in ihre Gedanken vertieft, bemerkte sie nicht die Stressreaktionen ihres Körpers. Mai’s Hände zitterten. Erst als sie nach einer Tasse griff und diese durch die unkontrollierte Bewegung ihrer Hände, fallen ließ, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. Der Schock über die gesamten Ereignisse des Tages setzte erst jetzt ein. Mai begann bitterlich zu weinen.
 

Naru und Bou – san wurden durch das Geräusch der herunterfallenden Tasse aufgeschreckt. Beide sahen sich an. Der blonde Mönch stand nach einigen Sekunden auf, um zu dem Mädchen in der Küche zu kommen.

Da der Schwarzhaarige keine Anstallten machte, sich ebenfalls zu erheben und ihm zu folgen, fragte er nur: „Schaffst du es fünf Minuten zu überleben, ohne dich zu einem Selbstmord überreden zu lassen?“
 

„Natürlich schaffe ich das. Es ist doch nur eine Frage der Willenskraft und die Puppen sind ja auch fertig, zur Not kann ich sie benutzen. Außerdem, was kann schon in fünf Minuten passieren?“, antwortete dieser mit einer Gegenfrage.

„Du könntest auch zu Mai gehen und schauen, ob es ihr gut geht…“, schlug der Blonde vor. „Dann wärst du auch nicht allein und ich glaube nicht, dass diese Hitomi dir etwas tun würde, so lange du in Mai’s Nähe bist.“
 

Bou – san registrierte verwundert die leichte Röte um Naru’s Nase als dieser vor sich hin brummte: „Nein, geh du nur, ich glaube das ist besser…“

Als der Mönch aus dem Zimmer ging, schüttelte er nur resigniert den Kopf.

„Diese Teenager heut’ zu Tage…“, seufzte er frustriert auf.
 

In der Küche angekommen, half er Mai, ohne ein Wort zu sagen, die Scherben aufzukehren und die Tassen samt Teekanne mit Inhalt und allen anderen Notwendigkeiten auf ein Tablett zu stellen. Dann nahm er das immer noch zitternde Mädchen in die Arme und drückte sie an sich. Eine oder zwei Minuten lang standen beide so da und nach und nach beruhigte sich Mai. Erst nachdem das Zittern komplett aufgehört hatte, blickte sie Bou – san in die Augen.
 

„Wo ist Naru? Du solltest ihn doch nicht alleine lassen!“, fragte das Mädchen als erstes.

„Der begibt sich lieber in Lebensgefahr, als sich eine solche Blöße zu geben.“

Verständnislos sah Mai ihren Gegenüber an. Dieser seufzte wieder auf.

„Dir ist schon klar, warum er zu dir gesagt hat, was er zu dir gesagt hat?“, fragte nun der Mönch zurück. Mai war klar, dass er die Unterhaltung meinte, nach der sie sich entschlossen hatte zu kündigen. Die Schülerin schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, was hatte das mit der jetzigen Situation zu tun?
 

„Also, dir ist schon klar, dass unser hochverehrter Chef nicht viel älter ist als du?“

Mai nickte.

„Dir ist auch klar, dass er einiges mehr, an Fachwissen über paranormale Phänomene und auch ein mehr als nur gutes Allgemeinwissen besitzt? Das er aufgrund seiner Fähigkeiten, sehr diszipliniert sein musste und daher nie die Möglichkeit hatte sich mit Leuten gleichen Alters zu befassen oder wie ein normales Kind aufzuwachsen?“
 

Mai hatte sich zwar noch nie Gedanken darüber gemacht, aber irgendwie war alles was Bou – san sagte doch gut nachzuvollziehen. Also nickte das Mädchen wieder ohne ein Wort zu sagen, denn ihr war immer noch nicht klar, worauf der Mönch eigentlich hinaus wollte.
 

Dieser seufzte abgrundtief wegen so viel Naivität und Blindheit.

„Okay, jetzt verbinde mal diese beiden Informationen miteinander.“ Mai blickte ihn ziemlich verwirrt an.

„Herr Gott noch mal“, fuhr der Mönch entnervt auf, „er ist immer noch ein Teenager, muss sich aber benehmen, als wäre er schon erwachsen. Ist dir da nicht klar, dass Naru vielleicht nicht weiß, wie er auf bestimmte Situationen mit Gleichaltrigen verhalten soll? Als er dich doch so verletzt hat, da stand doch der Mädchenschwarm schlecht hin neben dir, oder?“

„Ja, Ryou stand neben mir und wir haben uns unterhalten“, bestätigte ihm das Mädchen.

„Hältst du es denn da nicht für möglich, dass er eifersüchtig war und einfach falsch reagiert hat? Du bist ihm wichtig. Ich kann zwar nicht wirklich sagen, dass er dich liebt, aber du bist ihm immerhin wichtig genug, dass er Angst davor hat, dass irgendjemand dich ihm wegnimmt. Naru kommt jetzt nicht damit klar, dass ausgerechnet dieses Verhalten dich dazu gebracht hat von ihm wegzugehen. Das beweist doch schon allein die Tatsache, dass er es nicht über sich gebracht, nach dir zu sehen und stattdessen lieber alleine im Basisraum geblieben ist.“
 

Bei dem schockiertem Gesichtsausdruck von Mai, musste er dann doch grinsen. Kurz schnappte sie nach Luft, dann schüttelte sie ungläubig mit dem Kopf und grinste ihren Freund an.

„Sag mal Bou – san, wie kommt es, dass du dich anscheinend so gut mit Naru’s Psyche auskennst?“, wollte das Mädchen wissen.
 

„Weißt du, wenn ich mit der Band mal auf Tour gehe, dann ist die Zeit zwischen den Auftritten, wenn wir nicht gerade proben und alles vorbereiten, sehr langweilig. Ich habe im Laufe der Jahre daher zwei Hobbys entwickelt. Ich schaue gern Seifenopern und lese gern. Mein derzeitiges Buch ist eine Abhandlung von Sigmund Freud, mit dem Titel „Das ICH und das ES“. Davor habe ich die „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ gelesen. Ich sage dir, es gibt nichts faszinierendes, als die menschliche Psyche…“
 

Mai kicherte belustigt. „Du schaust gerne Seifenopern?“, fragte sie und zog dabei skeptisch eine Augenbraue hoch.

„Nun ja“, Bou – san lächelte verlegen und kratzte sich am Hinterkopf, „derzeitig beobachte ich eigentlich lieber die Menschen in meiner direkten Umgebung, dass ist gerade sehr viel spannender, als jede Soap.“ Dabei warf er Mai einen vielsagenden Blick zu.
 

Diese hatte sich gerade das Tablett geschnappt und wollte zur Basis zurückgehen, als sie eine Tür zuschlagen hörten. Das Geräusch kam definitiv aus der Richtung des Zimmers, in dem sich Naru befand. Das Mädchen ließ das Teeservice fallen und rannte besorgt zu dem Raum. Der blonde Mönch folgte ihr in demselben Tempo.

Die Tür des Zimmers war verschlossen. Trotz der Tatsache, dass Mai nach Luft schnappte, vergeudete sie keine Zeit. Sie rüttelte wie verrückt an dem Knauf und klopfte gegen das Holz.
 

„Naru, mach auf! Wenn du uns hören kannst, dann mach auf!“ schrie die Brünette so laut sie konnte. Von der anderen Seite der Tür kam kein Mucks.
 

Der Mönch wollte gerade Anlauf nehmen, um die Tür aufzubrechen, als er bemerkte, das die Schülerin in ihrer Bewegung erstarrt zu sein schien.
 

Was Bou – san nicht wusste, war dass Mai vor ihrem inneren Auge die Vorgänge in dem verschlossenem Raum sehen konnte.

Das Zimmer war von der großen Deckenleuchte erhellt. Naru saß in einer Ecke des Raums zusammengekauert. Seine Augen waren leer. Er befand sich in einer Art Trance. Hitomi stand direkt vor ihm. Sie bewegte ihre Lippen zwar nicht, aber Mai wusste, dass sie mit dem Schwarzhaarigen redete.
 

Auf einmal materialisierte sich der Ritualdolch in Naru’s Hand. Mai schrie entsetz auf. Bou – san zuckte bei diesem Geräusch zusammen. Eins war klar, sie mussten in diesen Raum. So sanft wie es in der Situation möglich war, schob er die paralysierte Mai von der Tür weg.
 

Während er wieder Anlauf nahm, um sich mit seinem gesamten Gewicht, gegen die Tür zu schmeißen, beherrschte nur ein Gedanke Mai.

„Ich muss da rein! Ich muss in dieses Zimmer. Muss mit Hitomi reden, auf mich wird sie hören! Ich muss zu Naru!“
 

Ihr ganzes Sein, alles was sie ausmachte wollte in diesen Raum. Sie wollte es so sehr und war so in diesen Wunsch gefangen, dass sie erst spät realisierte, wie ihre Umgebung sich zu verändern schien. Der Flur auf dem Mai stand wurde in ihren Augen unscharf. Sie fühlte sich, als würde ihr Geist, aus ihrem Körper gesaugt werden. Kurz nahm sie wahr, dass ihr Körper sich schwerelos anfühlte und hörte Bou – sans gedämpfte Stimme, die ihren Namen rief.
 

Einen kleinen Moment lang war es tiefschwarz vor Mai, dann stand sie auf einmal in dem Zimmer, in das sie sich so gewünscht hatte. Im ersten Augenblick, fragte sich das Mädchen, wie sie das geschafft hatte und wunderte sich über die ganze Situation. Doch dann fiel ihr ein, warum sie hierher wollte. Mai sah sich um. Blickte auf Naru, der immer noch in der Ecke kauerte, mit dem Messer in der Hand. Sah Hitomi, die vor dem Jungen stand und lautlos ihre Lippen bewegte.
 

Der Schwarzhaarige führte den Dolch immer näher an seine Brust. Es schien so, als wollte der Geist diesmal auf Nummer sicher gehen und eine Wiederbelebung verhindern.
 

„Naru nicht!“, schrie Mai ganz laut. Ihr Schrei verfehlte seine Wirkung nicht. Naru stoppte mitten in der Bewegung. Ob nun weil er ihre Stimme erkannte und auf sie hörte oder, weil der Geist in seiner Konzentration gestört wurde und jetzt zu ihr schaute, konnte sie nicht sagen.
 

Mai hörte die verwunderte Stimme des Mönchs hinter der Tür.

„Mai…? Bist…du da drin?“

Doch sie achtete nicht auf diese sinnlose Frage. Mai hatte Hitomi’s volle Aufmerksamkeit und diese Chance wollte sie nutzen.
 

Der Geist lächelte sie freundlich an, also begann Mai zu sprechen.

„Hör auf Hitomi, bitte. Ich weiß du willst das er stirbt, weil er mich verletzt hat, aber das ist nicht das was ich will.“
 

Die Frau schaute Mai fragend, aber immer noch sehr sanft an.

„Ja, Naru ist ein Egoist…manchmal…und ja, er hat mir wehgetan. Das hat er aber nicht gewusst und tief in seinem Inneren bereut er was er zu mir gesagt hat, da bin ich mir sicher. Ich habe allen Grund wütend auf ihn zu sein, doch wenn ich zu mir selbst ehrlich bin, dann bin ich das schon längst nicht mehr.“
 

Hinter Hitomi erwachte Naru langsam aus seiner Trance. Er schaute verwundert auf den Dolch in seiner Hand und begriff langsam, was vorgefallen war. Er sah Mai, die etwas von ihm entfernt stand und irgendwie seltsam aussah. So als sei sie nicht sie selbst, sondern nur eine Projektion. Die Brünette schien mit sich selbst zu reden.
 

„Lass uns dir helfen. Bitte! Wir haben einen Weg gefunden, wie du zu Yashiro kommen kannst…wie ihr beiden eure Ruhe finden könnt, ohne dass du weitere Menschen töten musst“, flehte Mai.
 

Da begriff Naru, dass das Mädchen mit dem Geist redete. Er nutzte seine Chance, stand auf und griff nach den beiden fertigen Strohpuppen. Er wusste nicht genau wie er sie opfern sollte und so blickte er fragend zu Mai. Sie erwiderte seinen Blick und so wurde auch der Geist auf ihn aufmerksam.
 

Hitomi sah die beiden Puppen und ihre Augen fingen an zu strahlen. Sie war ja eine ausgebildete Miko, also war ihr klar, was Mai und ihre Kollegen vorhatten um sie zu erlösen. Um die Bedingung ihres Fluchs zu erfüllen. Hitomi schaute wieder zu Mai, denn ihr war klar, dass der Schwarzhaarige sie nicht sehen konnte.
 

Der Geist deutete auf das Messer und dann auf die Puppen. Mai begriff sofort was sie meinte. An Naru gewandt sagte sie dann: „Stich mit dem Dolch in die Puppen. So stark, dass sie kaputtgehen.
 

Dieser tat was Mai sagte. Die erste Puppe war bereits nach dem ersten Stich in zwei Teile zerbrochen, bei der zweiten brauchte er mehrere Versuche, bis auch diese in mehrere Stücke zerbrach.
 

Noch während sich die beiden Lebenden im Raum fragten, ob ihr Plan aufgegangen war, hörten sie draußen einen heftigen Wind aufkommen. Naru wandte sich dem Fenster zu und sah, dass sich das Meer aufwühlte. Immer höhere Wellen preschten gegen die Klippen und als diese in etwa die Höhe erreichten, in der sich die Höhle mit dem Altar befand, verwandelte sich das Wasser in weißes Licht. Ein ganzes Meer aus gleißend hellem Licht.
 

In dem Raum veränderte sich aber auch etwas. Hinter Hitomi erschien ein genauso strahlendes Licht wie das, aus dem das Meer nun bestand. Es bildete sich ein Portal und vor diesen stand ein Mann. Er steckte die Hand nach Hitomi aus und diese ergriff sie auch sofort. Mai erkannte den Mann, als Yashiro. Sie hatte ja sein Gesicht oft genug in ihren Träumen gesehen.
 

Der Geist der jungen Frau blickte sich noch einmal mit einem seligen Lächeln auf den Lippen zu der Schülerin um. Eine letzte Botschaft erreichte Mai’s Gedanken.

„Wir werden uns noch in diesem Leben wieder sehen…Danke Sensei…Mai“
 

Das Licht verschwand. Sowohl das im Raum, als auch das draußen. Alles normalisierte sich innerhalb weniger Sekunden.
 

Nun starrte Naru Mai fragend an. Einige Augenblicke vergingen und die beiden blickten sich nur stumm in die Augen. Dann schrak Mai zusammen. Durch ein lautes Krachen, machte der blonde Mönch, der zeitweilen total vergessen wurde, beide Teenager darauf aufmerksam, dass er die Tür aufgebrochen hatte.
 

„Mai, was hast du gemacht? Oder besser gesagt wie?“, fragte er dann sofort, als er die Erscheinung sah. Zuerst war Angesprochene verwirrt was er meinte, doch dann sah sie ihren eigenen reglosen Körper auf dem Flur liegen.
 

Sie war entsetzt.

„Das weiß ich nicht. Wie…wie ko…komme ich denn wieder in meinen Körper?“, stotterte sie panisch.

„Wie bist du denn AUS deinem Körper gekommen?“, fragte Naru ganz nüchtern. Er – genauso wie Mai’s Projektion – waren in den Flur getreten und Naru kniete neben dem bewegungslosen Körper. Er beugte sich herunter und hielt ihr zwei Finger vor die Nase, gleichzeitig legte er ein Ohr an ihre Brust.
 

„Ich habe gar nicht gewusst, dass man als Geist rot werden kann…“, ging es Mai durch den Kopf. Nun, eigentlich wusste sie nicht, ob sie rot wurde oder nicht, aber sie spürte die Hitze in ihr Gesicht steigen.
 

„Der Puls und die Atmung sind noch da. Bestenfalls schläft dein Körper nur. Im schlimmsten Fall ist das ein Koma“, unterbrach der Schwarzhaarige ihre Gedankengänge. „Also, wie…?“, setzte er hinterher.
 

„Das weiß ich doch nicht“, rief Mai. „Das einzige was ich weiß, ist, dass ich unbedingt ins Zimmer wollte. Mehr als alles andere…und dann war ich da…“
 

Keiner bemerkte wie der Mönch auf einmal begann zu grinsen.

„Vielleicht, müssen wir einfach eine Situation schaffen, in der Mai unbedingt in ihren Körper zurück will“, meinte Bou – san geheimnisvoll. Dann beugte er sich zu dem knienden Jungen und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
 

Mai wunderte sich. Was sollte das für eine Situation sein? Sie hörte noch kurz wie der Schwarzhaarige flüsternd fragte: „Meinst du wirklich?“ Bou – san nickte nur überzeugt.
 

Naru sah auf den bewusstlosen Körper. Mai konnte beobachten, wie immer näher rückte. Zentimeter für Zentimeter. Der sonst so selbstsichere Chef der SPR schien zu zögern. Dann beugte er sich herunter und küsste Mai.
 

Im ersten Augeblick wollte sie protestieren, wollte ihn fragen, was er da eigentlich mit ihrem Körper machte. Doch dann sah sie seine Lippen, die ihre berührten. Ganz sanft. Wie sie sich leicht dagegen bewegten und in ihrem ganzen Sein, existierte nur noch der Wunsch sie zu spüren. Sie wollte diesen Kuss erwidern. Das war ein Kuss! Von ihrem Traummann! Verdammt noch mal, sie wollte etwas davon mitbekommen und nicht nur als Beobachter daneben stehen.
 

Wie aufs Stichwort setzte wieder dieses Gefühl ein. Die Konturen des Raums wurden unscharf und Mai hatte das Gefühl, wieder in ihren Körper gesaugt zu werden.
 

Es dauerte nicht einmal eine Sekunde und ihre Lider begannen zu flattern. Mai fühlte die Schwere ihres Körpers, den Fußboden unter sich und was am schönten war, Naru’s Lippen, die sich immer noch ganz zart auf ihre pressten. Ganz kurz erwiderte sie den Druck, genoss das schöne Gefühl. Dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie driftete in eine ruhige, tiefe Dunkelheit.
 

*****
 

Als Mai die Augen wieder öffnete, befand sie sich in einem hellen, ruhigen Raum. Die Schülerin blinzelte kurz. Das viele Licht, das durch die Fenster fiel, tat in ihren Augen weh.
 

Erst durch eine Bewegung, die das Mädchen aus den Augenwinkeln wahrnahm, machte ihr klar, dass sie nicht allein im Raum war. Neben ihr saß, auf einem unbequemen Krankenhausstuhl Bou – san. Er schien eingenickt zu sein und Mai machte sich nicht die Mühe ihn zu wecken.
 

Mai wollte ihn noch zur Rede stellen und dafür war es besser wenn er richtig ausgeruht war.
 

Einige Zeit verging, Mai konnte nicht genau sagen wie viel, doch langsam begann sich ihr Besucher zu regen. Ohne die Augen zu öffnen streckte er sich und gähnte herzhaft.
 

„Na, auch endlich wach du Schlafmütze?“, fragte Mai sanft lächelnd. Angesprochener zuckte leicht zusammen, hatte er doch nicht damit gerechnet, dass das Mädchen wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht sein würde.
 

„Das selbe könnte ich jetzt auch zu dir sagen“, murmelte er noch leicht verschlafen.

„Das bringt mich zu sehr interessierten Sachen, über die wir uns unterhalten können, zum Beispiel, wie lange bin ich hier oder wo bin ich hier überhaupt? Was aber auch sehr interessant wäre zu erfahren, was ist passiert?“
 

Du hast dein Bewusstsein verloren. Du hast es zwar in deinen Körper zurückgeschafft, aber Lin war der Meinung, dass es wohl zu viel für dich war.“

„Lin? Der war doch gar nicht da…“

„Ja, er kam noch am selben Abend ziemlich spät aus dem Krankenhaus zurück, weil er sich solche Sorgen wegen Naru gemacht hat. Das bringt mich übrigens zu deiner zweiten Frage, du bist im Krankenhaus. Immer noch in Saga. Der Rest des Teams ist erstmal wieder nach Tokio zurückgefahren. Du liegst hier noch keine 24 Stunden, wärst du heute nicht aufgewacht, hätten wir dich nach Tokio transportieren lassen.“
 

„Okay, das heißt, ich war jetzt einen knappen Tag hier im Krankenhaus. Du bist hier weil…?“

„Ich mir Sorgen gemacht habe – Naru, Ayako, und Lin natürlich auch – und der Einzige bin, der es gewöhnt ist, auch im Sitzen zu Schlafen. Außerdem wollte unser Chef alles klären, was mit Minami’s Tod zu tun hat. Er bringt die Ausstattung zurück und sagt seinen Mitarbeitern bescheid. Den Rest überlässt er den Sponsoren seines Büros.“
 

Mai erinnerte die letzt Aussage an einen wichtigen Fakt. Sie war wieder ohne Job. Gut, so notwendig war es nicht, dass sie Geld verdienen musste. Trotzdem hatte Mai ihr kleiner Nebenverdienst das Leben etwas erleichtert.
 

„Ach ja“, riss der Blonde Mai wieder aus ihren Gedanken, „ich soll dir auch eine Entschuldigung a la Naru ausrichten. Ich zitiere: „Wenn Mai aufwacht, kannst du ihr ausrichten, dass sie nächste Woche Montag pünktlich um acht ins Büro kommen soll. Die restlichen Tage kann sie als wohlverdienten Urlaub ansehen.“
 

„Das hat er gesagt?“

„Ja. Also sei nächsten Montag pünktlich“, schmunzelte Bou – san.

Doch bei den Gedanken an die SPR, geisterten Mai die letzten Erinnerungen durch den Kopf, kurz bevor sie ohnmächtig geworden war.

Schlagartig wurde sie rot.
 

„Wa…was h…hast du ihm in…ins Ohr geflü…flüstert, du weißt schon, als…als er mich ge…gek…gekü…“, stotterte das Mädchen und blickte stur auf die Decke. Dann blickte sie ihrem Freund in die Augen und fragte ganz direkt: „Du hast ihm aber nicht erzählt, dass ich verliebt in ihn bin, oder?“
 

Hätte er gekonnte, hätte der Blonde im Kreis gegrinst.

„Das musst du ihn schon selber fragen.“ Der Ton seiner Stimme schwankte zwischen Amüsement und Mitleid.
 

*****
 

Es waren zwei Wochen vergangen, seitdem Mai aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Sie arbeitete wieder für Naru. Ob das nun gut war oder nicht, konnte das Mädchen nicht genau sagen, denn die gesamten Vorfälle, die nicht mit dem Geist im Hause der Familie Usui zu tun hatten, wurden einfach totgeschwiegen.
 

Naru und Lin erwähnten weder ihre Kündigung, noch die bösen Worte, die zwischen Mai und dem Siebzehnjährigen gefallen waren. Obwohl sie ja, laut Bou – san, ihre Wiedereinstellung, als Entschuldigung seitens Narus werten sollte.
 

Auch der Kuss wurde mit keinem Wort erwähnt. Weder von dem Chef der SPR, noch von dem Mönch, auch wenn dieser jedes Mal, wenn er Mai sah, wissend grinste und sie fragte: „Und, hast du ihn schon darauf angesprochen?“
 

Mai selber hatte sich bis her nicht getraut, das Thema anzusprechen, aber so wie jetzt ging es auch nicht weiter, denn sie traute sich nicht mehr ihrem Chef in die Augen zu sehen. Jedes Mal, wenn er sie ansprach, wurde sie rot und begann zu stottern. Alles ging in diesen Momenten dann schief. Mai ließ die Akten fallen, die sie in den Händen hielt Sie verbrühte sich mit heißem Wasser, wenn sie Tee kochte und regelmäßig gingen die Tassen zu Bruch.
 

Jetzt stand die Brünette mit einem Tasse frisch gebrühten Tee vor seinem Büro. Sie nahm all ihren Mut zusammen. Jetzt würde sie ihn fragen, was Bou – san Naru ins Ohr geflüstert hatte.
 

Mai trat ein und stellte die Tasse auf den Schreibtisch ihres Bosses ab. Er registrierte das nur mit einem Nicken, sah dabei aber nicht von den Papieren auf, die er gerade las.
 

Als Mai nach mehreren Minuten immer noch vor dem Tisch stand, blickte er auf und sah sie fragend an.

„Ist irgendetwas Mai?“, wollte er wissen.
 

„Ja“, sagte Mai. Sie versuchte ihre Stimme etwas aggressiver klingen zu lassen, damit ihre Frage nicht all zu unsicher klang.

Der einzige Gedanke, der sich wie bei einer kaputten Schallplatte dabei in ihrem Kopf wiederholte, war: „Gott bitte lass ihn mich nicht für einen unreifes, verliebtes Fangirl halten. Davon hat er allein an meiner Schule genug. Gott bitte lass ihn mich nicht für einen unreifes, verliebtes Fangirl halten. Davon hat er allein an meiner Schule genug…“
 

Naru zog überrascht eine Augenbraue hoch. Sah das Mädchen vor sich abwartend an und bedeutete ihr mit einer Handbewegung weiter zu sprechen.
 

„Mich würde einfach nur aus Neugier interessieren, was Bou – san dir ins Ohr geflüstert hat, an den Abend, als wir Hitomi erlöst haben. Als ich wieder in meinen Körper gelangen wollte.“ Mai atmete noch einmal tief durch und machte sich gefasst darauf, alles zu leugnen oder zu gestehen, was er ihr jetzt sagen würde. Was von beiden sie wählen würde, wusste sie jetzt noch nicht genau.
 

„Ist das alles?“

„Ja, es lässt mir halt keine Ruhe!“, antwortete das Mädchen patzig.

„Er hat gesagt, ich sollte doch so tun, als würde ich dich küssen. Dann wäre dein Wunsch mir eine zu verpassen, vielleicht so groß, dass du in deinen Körper zurückkehren würdest.“
 

In ersten Moment war die Brünette sprachlos, dann atmete sie erleichtert auf.

„Ach so“, murmelte sie.

„War es das?“

„Ja. Ja und einen schönen Feierabend“, verabschiedete sich Mai mit einem Lächeln.
 

Als sie auf der Straße vor dem Gebäude stand, blickte sie noch einmal hoch zu dem Fenster, das zu Naru’s Büro gehörte und seufzte auf. Die Erleichterung, die sie noch vor wenigen Minuten gespürt hatte, wurde jetzt von einer starken Enttäuschung überschattet.
 

Fast. Fast hätte sie es ihm gesagt, aber vielleicht war es ja erst einmal besser so.
 

Sie war schon kurz vor ihrer Wohnung, als sich eine Erinnerung in ihr hochkämpfte.

Naru hatte nicht nur so getan, als würde er sie küssen. Er hatte sie geküsst!



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  GeezKatsu
2009-12-19T17:52:06+00:00 19.12.2009 18:52
Ich kannte die Serie nicht einmal und musste erstmal googlen. Doch ich bin begeistert! Ich weiß nicht mal, wie die anderen außer Mai und Naru aussehen, doch ich find die beiden echt süß.

Wie konntest du es wagen, mir so eine FF vor zu entahlten? Du Biest!! Ich find sie klasse.

Es waren viele Tippfehler. Da wurden einige Buchstaben am Ende verschluckt, doch das ist nicht so wild. Ich fand nur diese Flashbacks störend. Hätte es angenehmer empfunden, wenn alles hintereinander weg erklärt würde. Das waren doch etwas zu viele.

Aber... ich glaub, ich muss mir die Serie mal ansehen O.o


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