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The Longest Journey - Beyond the Veil

Das Ende einer langen Reise steht bevor
von

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0. Fatalisima

Disclaimer: ‚The Longest Journey’ und ‚Dreamfall’ sind Markennamen, und alles, was dahinter steht, gehört Ragnar Tørnquist, Didrik Tollefsen und den anderen Mitarbeitern von Funcom Interactive. Diese Geschichte ist nur mein eigenes Geflecht aus wilden Theorien und Interpretationen, die versuchen sollen, Licht in die dunklen Stellen von Dreamfall zu bringen, und eine Handlung zu gestalten, wie sie vielleicht möglich sein könnte als einer der vielen Fäden, die hinter dem Schleier zusammenlaufen.
 

--- The Longest Journey ---
 

Beyond the Veil
 

nach einem Computerspiel von Ragnar Tornquist und Didrik Tollefsen
 

Buch und Regie: Fermin_Tenava
 

Leitende Rektorin: Dea ex Machina
 

In den Hauptrollen: April Ryan

Zoe Castillo

Kian Alvane

Krähe

Das Dreamnet
 

sowie weitere menschliche und unmenschliche Charaktere
 


 

~~~~~ { P r o l o g } ~~~~~
 

Aus den Schriften des Gleichgewichts:
 

Dort, wo im Anfang und im Ende die Vereinigung liegt, wo zwei verschiedene Wirklichkeiten Seite an Seite bestehen und einander nur im Traum begegnen… dort liegen Licht und Schatten, Magie und Technik, Ordnung und Chaos, und warten darauf, die Zeiten wieder gemeinsam zu überdauern im ewigen Wechsel… in Wachsen und Vergehen, im Leben und im Tod.
 

Das Eine, was alles andere zusammenführt - der Tod.
 


 

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Irgendwo, in einer anderen Welt…

Irgendwann, während der Ära des Dreizehnten Hüters des Gleichgewicht…

Ein gigantischer Wald, hoch gewachsen und im silbrigen Licht stehend, von Schatten durchwoben, treibt über den Westlichen Ozean.

Ohne festen Boden unter seinen Wurzeln schwebt er über den Wellen, wandert mit unbekanntem Ziel durch die Welt und ist doch stetiger Anlaufpunkt für jene Suchenden, denen es erlaubt ist, seinen derzeitigen Aufenthaltsort zu kennen.

Doch das ist nur Wenigen vergönnt, denn das dunkle Volk herrscht über diesen Wald: eine Rasse von Geistern und Seefahrern, die augenscheinlich nur aus einem blauschwarzen Kapuzengewand bestehen. Ein Volk wie sie wird man in unserer Welt vergeblich suchen.

Sie vertrauen kaum einem Sterblichen, und für gewöhnlich verweigern sie Fremden den Zugang zu ihrer Heimat, denn hier liegt das, was sie geschworen haben zu beschützen, jener Ort, der ihren einzigen Lebenssinn beherbergt:

Die Große Bibliothek, ein Hort des Wissens, wie es ihn in Arcadia kein zweites Mal gibt.

Für die meisten Menschen existiert sie nur als Gerücht, doch die Überlieferung kündet von Leuten, die dort gewesen sind, um hier Wellen für die Zukunft zu schlagen.

Denn für das Dunkle Volk ist das Leben wie eines ihrer Schiffe – man fährt alleine über das weite Meer, durchkreuzt Nebel und Untiefen, die nie aufzuhören scheinen, und trifft nur selten auf festes Land, wo es sicheren Grund zu fassen gibt. Doch bei alledem verursacht das Schiff auch Wellen, die den Wogen des Meeres zuwider laufen und Einfluss auf die Wellen anderer Schiffe haben, so dass die Ströme eines Lebens immer weiter getragen werden und irgendwann, in ferner Zukunft, an die Küsten eines unbekannten Landes schlagen.

Zwischen den Wurzeln der Bäume, im Geflecht ihrer tiefsten Äste und Zweige, liegt ein solches Schiff vor Anker. Für unsere Verhältnisse sieht es eher aus wie ein verlassener Bienenstock: es ist aus steinernen Ranken geformt, mit dünnen Membranen in den Fensterhöhlen und Leuchtfeuern vorne am Bug, und weder Segel noch Ruder treiben es voran – dennoch fährt es schneller als die meisten Schiffe der Menschen.

Und das muss es auch sein, denn von dieser Schnelligkeit ist das Dunkle Volk abhängig.

Rastlos - fast ruhelos, könnte man meinen, wenn sie sich nicht gelegentlich in großen Schlafsälen zusammenfänden - suchen sie überall in der Welt nach dem Wissen der verschiedenen Völker, zusammengefasst in Form von Büchern, Schriftrollen, Steinplatten, gravierten Kristallen…

Sie jagen nach jedem Wort, das jemals geschrieben wurde, ganz gleich wozu, und tragen es in ihre Bibliothek, um es dort zu verwahren, zu stapeln und zu ordnen. Sie werden weder lesen noch eigene Dinge ergänzen.

Niemand weiß, warum sie dies tun, und sie selbst geben dieses Geheimnis unter keinen Umständen preis, denn es ist den Angehörigen ihres Volkes vorbehalten, und man wird keinen unter ihnen finden, der es nicht treu behütet.

Ihr Leben hängt davon ab…
 

Eine drückende Stille erfüllt diese Stadt. Sie ist generell kein Ort vieler Worte oder großen Geplauders: das Dunkle Volk geht zügig und leise seiner Arbeit nach, wenn es nicht gerade ruht, und jeder seiner Angehörigen teilt seine Erinnerungen und Gedanken stillschweigend mit denen der anderen.

Lange Erzählungen sind weder notwendig noch erwünscht.

Das Schattenschiff von vorhin wird gerade bereit gemacht, zu seiner nächsten Fahrt auszulaufen. Tonlos gleiten die schwarzen Kapuzengewänder wie Geister über den Ankerplatz und transportieren Tauschobjekte in die Laderäume, die sie für ihre Mission benötigen.

Plötzlich zerreißt ein angstvoller Schrei die unwirkliche Stille dieses Ortes: eine helle Frauenstimme, die dem einzigen fremden Wesen gehört, dass diesen Ort dauerhaft sein Zuhause nennen kann.

Der Schrei ist nur kurz zu hören und wird beinahe sofort wieder verschluckt.

Einer nach dem anderen wenden sich die in Finsternis gehüllten Gesichter der Kapuzengestalten dem Ursprung des Geschreis zu - einem riesigen, alten Baum, unter dessen Wurzeln ihre Bibliothek liegt. Sie lauschen.

Es zeigt sich keine Reaktion in der gestaltlosen Leere unter dem Umhang, doch einen Moment lang liegt tatsächlich eine gewisse Anspannung in der Luft. Einige der dunklen Seefahrer erzittern leicht, wollen sich nur eine Minute losreißen vom Zwang des gemeinsamen Denkens, und ihr unerwartet individueller Drang geht wie eine Welle auf ihre Gefährten über.

Doch dann verlöscht auf einmal jeder Gedanke. Ein donnernder Ruf dringt in ihren Geist ein und füllt ihn in Sekundenschnelle ganz aus.

Die Dunkle Flamme… sie ruft zum Aufbruch!

Der Tag ist nahe… der große Tag…

Gerade jetzt!

Aufregung erfasst die wogenden Kapuzengewänder - ein Gefühl, dass ihnen normalerweise fremd ist… so fremd wie jede Art von Empfindung, ganz gleich ob Hunger oder Müdigkeit des Leibes…

Oberhalb des kleinen Hafens, auf dem höchsten Punkt einer breiten Wurzel, die ihn begrenzt, erscheint flatternd ein kleine Gestalt - ein blauschwarz gefiederter Vogel.

Keuchend lässt er sich auf der rauen Rinde nieder und schaut sich mehrere Mal hektisch um.

Das Dunkle Volk schenkt seiner Ankunft keine Beachtung, ist zu sehr gefangen in seinem kollektiven Gefühlsumschwung.

Erneut schwingt sich der Vogel in die Lüfte, nur um ein paar Meter weiter am unteren Ende der Wurzel zu landen.

Das Dunkle Volk nimmt ihn immer noch nicht zur Kenntnis.

„…rd!“ krächzt er, aufgeregt mit dem Kopf wippend.

Keine Reaktion…

Vielleicht war die erste Nachricht nicht deutlich genug, denkt der Vogel. „S…rde …rm…rdt!” schreit er noch einmal nachdrücklich. „D…ße Dr…che!“

Noch immer kein rückwirkender Effekt.

Der Vogel kratzt sich verwirrt im Gefieder. Er mag es überhaupt nicht, unbeachtet zu bleiben.

„H…bt …r …s …enn …cht …rt?“

Offensichtlich nicht, denn das Dunkle Volk rührt sich nach wie vor nicht vom Fleck.

Erst als er vor sich hin murmelt: „S…d d… …le t...b?“, erkennt der kleine Vogel, dass kein einziges Wort seinen Schnabel verlassen hat.

Normalerweise ist dies für einen Vogel kein Problem, aber dieses eine Exemplar kann sprechen, seit es denken kann, und das kann es schon sehr, sehr lange – so lange, dass es andere Formen der Kommunikation schlichtweg vergessen hat.

Doch selbst, wenn es anders wäre – das Dunkle Volk nimmt im Moment keinerlei Notiz von ihm. Sein Geist scheint in weite Ferne gerückt. Alle lauschen nur noch auf den einsamen Ruf in der Unendlichkeit, versinken in ihm, lassen sich von ihm davontragen bis an die Grenzen der bekannten Welt.

Alles, was die die triste Wirklichkeit betrifft, blenden sie vollständig aus.

Ohne auf das protestierende, aber tonlose Krächzen des Vogels zu hören, wenden sie sich ab und schweben an Bord ihres Schiffes.

Und plötzlich, auf ein geheimes Kommando hin, kehrt in die nebelige Enklave eine ungeheure Geschäftigkeit ein.

Überall geschieht dasselbe: die Schattenführer holen ihre Mannschaften zusammen, die von selbst aus ihrer gemeinschaftlichen Ruhe erwachen und hinaus zum Dock strömen. Kein einziges Wort wird gewechselt, als sie sich auf ihre Schiffe begeben und den ungeheuerlichen Geschehnissen der letzten Minute den Rücken kehren.

Ungerührt schweben sie am Körper einer jungen, weißhaarigen Frau vorbei, die in der Ecke eines Lesesaales liegt, die Augäpfel ins Weiße verdreht, tot wie ein Stein.

Ebenso unerschütterlich ziehen sie an den in Fels gehauenen Regalen vorbei, wo im Schatten einer Nische ein graubärtiger Mann mittleren Alters lauert und lächelt.

Sie sehen es zwar, wissen auch, was es damit auf sich hat, aber sie ignorieren alles.

Schon bald sind sie an Bord ihrer Schiffe und nehmen Kurs auf ein unbekanntes Ziel.

Währenddessen bleibt der Vogel, verblüfft und beeindruckt über so viel Kaltblütigkeit, auf der Wurzel des Baumes sitzen und schaut den davonziehenden Schattenschiffen hinterher, wie sie in den Nebel eintauchen und damit verschwinden…

Er weiß nicht recht, was er tun soll, hat keine Ahnung, was nun aus ihm werden wird, weiß sich nicht zu helfen…

Zu gern würde er von seinem reichhaltigen Wortschatz dolmarischer Schimpfwörter Gebrauch machen, doch ist alles, was seinem Schnabel zu entweichen vermag, ein kurzes, herzhaftes: „Sch…ße!“

Dann tut er das für ihn Naheliegendste: er breitet seine Flügel aus und erhebt sich in die Lüfte.

Er weiß nicht, wohin, und auch nicht warum.

Das sind ziemlich gute Voraussetzungen für ein Abenteuer…

1.1: Befreiung

~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~
 

Vielleicht zur gleichen Zeit, vielleicht auch später…

Die Feuerbucht im Osten des Nordlands, gelegen im Reich von Corasan…

Trübes Wasser unter einem dämmrigen Himmel…

Die Ufer sind gesäumt von gräulich-grünem Dickicht aus Farnen und Kräutern, umringt von knorrigen, dunklen Bäumen, die aufgrund der hohen Feuchtigkeit bereits von innen zu faulen beginnen. Sumpfgas schwebt in dunstigen Wolken zwischen den Pflanzen und verdichtet mit seinem fauligen Geruch die Luft zu einer räuberischen, gnadenlosen Waffe, die jederzeit bereitwillig den Kopf und das Herz aller Sumpfbewohner an die Grenzen ihrer Belastbarkeit treibt.

Es ist schwer, hier nicht den Atem anzuhalten, und dennoch gesund und wohlauf zu bleiben.

Doch einige Menschen schaffen es - dauerhaft.

Dort, in den hölzernen Pfahlbauten am Rande des Marschlandes, wohnen sie. Ihre Häuser sind an einer Reihe dunkler Piers aufgebaut, die weit in die Bucht hinausgehen und dem finsteren Urwald die Hinterfront zeigen.

Diese Menschen, obwohl sie wenig zu verlieren und noch weniger zu gewinnen haben, wollen zumindest das Licht der Sonne genießen dürfen, ohne von den Gesetzen fremder Mächte beanstandet zu werden.

Manche bezeichnen sie deswegen als ‚Terroristen’, andere nennen sie ‚Freiheitskämpfer’ – es kommt ganz darauf an, welches Volk dazu spricht.

Doch ganz gleich, wie man sie nun nennt - in diesem Augenblick sind sie wirklich nur Menschen, die eine Schiffsladung Lebensmittel und Medizin in Empfang nehmen wollen – Güter, die sie schon lange entbehren mussten.

Eine Frau mittleren Alters, gerüstet mit einem leichten Lederharnisch und eingehüllt in einen dunklen Mantel, beaufsichtigt das Verladen der Waren. Verschiedene Kisten und Tuchbündel werden einzeln am Pier abgeholt, während andere mit Seilwinden in die höheren Ebenen der Stadt transportiert werden.

Die Handgriffe sind geübt und die Stimmung der Arbeiter scheinbar gelassen, doch könnte ihre Freude kaum größer sein, Neuigkeiten und Waren aus ihrer alten Heimat zu erhalten.

Vertriebene sind sie - Angehörige eines Glaubens, den auszuleben ihnen nunmehr verboten ist.
 

Einst lebten sie in der großen Stadt Marcuria, der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs von Ayrede, doch Krieg und Not, gebracht von den barbarischen Heerscharen der Tyren, zerstreuten sie in alle Winde.

Verzweifelt mussten sie zusehen, wie die dürren, rattengesichtigen Krieger aus den westlichen Ebenen die Stadttore einrannten, ihre Mauern schleiften und ihre Lagerhäuser plünderten, begierig auf all den Reichtum, um den sie die Stadt seit alters her beneidet hatten.

Doch die Tyren konnten ihr Glück nicht lange genießen. Einige Tage nach dem Beginn der Invasion, als sie sich schon am Ziel ihrer Jahrhunderte währenden Racheträume sahen, tauchten an den Himmeln über dem westlichen Sonnenuntergang gewaltige Schatten auf – Luftschiffe aus Holz, Blech und schwerem Tuch.
 

Es gibt nur noch wenige Augenzeugen, die dieses Spektakel mit eigenen Augen gesehen haben, und keiner von ihnen wird unter den Rebellen zu finden sein, aber die Ereignisse werden in vielen Liedern und Geschichten lebendig gehalten, wenngleich kaum einer von ihnen sie hören möchte, denn zu dunkel sind die Bilder, die die Worte der Erzähler heraufbeschwören:
 

Menschliche Soldaten, gewappnet mit schwerer Leder- und Eisenrüstung, gekleidet in purpurne und blaue Gewänder, waren damals zu Tausenden vom Himmel gefallen, hinunter auf die Köpfe der Tyren, die ob dieses bestaunenswerten Schauspiels wie gelähmt dastanden und den Segen ihrer Stammesgeister erflehten.

Dieses Zögern sollte ihr Untergang sein: noch bevor die ersten von ihnen sich sammeln konnten, brachen auch schon die Krieger der Azadi - einer großen Hochkultur aus dem Flussland um Sadir - über sie herein und ließen ihre Schwerter unter ihnen tanzen.

Jene Tyren, die diesen ersten Vorstoß überlebten, formierten sich zwar umgehend auf dem im Zentrum der Stadt gelegenen Tempelmarkt zu einer Gegenoffensive, doch waren ihre Rüstungen und Waffen der fortschrittlichen Technologie der westlichen Krieger nicht auf ewig gewachsen.

Denn während noch an den äußeren Rändern des rasch gebildeten Verteidigungswalls gehieben und gestochen wurde, verfinsterte sich der Himmel über den Köpfen der Tyrenhäuptlinge in der Mitte des Kreises zusehends.

Nur ein paar Sekunden später regneten mehrere Ströme an Teer und Pech auf sie herab, die einen großen Teil der Barbarenkrieger binnen kurzem auf grausamste Art und Weise umbrachte. Wer auch nur ein paar Tropfen von den zähen, heißen Massen in die Augen oder in den Nacken bekam, verfiel darüber in eine dermaßen von Schmerzen erfüllte Raserei, dass er Freund und Feind nicht mehr voneinander zu unterscheiden vermochte. Zwar kämpften die zähesten Tyrenkrieger - trotz der Verbrennungen an ihren Armen und Schultern - tapfer weiter, doch der Rest der Truppen stürzte einfach nach vorne, blindwütig auf den vermeintlichen Gegner einstechend, ganz gleich, ob es ein Azadi war oder nicht.

Schon bald war innerhalb der Stadtmauern kein Tyren mehr am Leben.

Und bereits eine Woche später gewährten die Azadi den Einheimischen die unbehelligte Rückkehr in ihre Häuser und Werkstätten.

Doch mit solch großer Zerstörungswut waren die Tyren dort ans Werk gegangen, dass die Meisten von ihnen auf Jahre nicht würden bewohnbar sein. Auch die Stadtmauern waren teilweise bis in das Fundament hinein gespalten worden, was bedeutete, dass die Stadt für die nächste Zeit zur leichten Beute für Banditen und wilde Söldnerhorden werden würde.

Dies bedenkend versprachen die Azadi, weiterhin in der Stadt zu verbleiben und sie vor allen noch möglichen Bedrohungen, seien sie auch noch so klein und harmlos, zu beschützen.

Nie sagten sie, welche sonderbare Fügung des Schicksals sie im rechten Moment nach dem Nordland geschickt hatte, doch bekräftigten sie, dass ihre Präsenz nicht die Speerspitze einer neuen Invasion sei.
 

Das war vor zehn Jahren passiert, in einer Zeit gewaltiger gesellschaftlicher Konflikte, die nun dazu bestimmt waren, erneut in die Schatten des Unterbewussten zurückzukehren und dort zu warten, bis sie n ferner Zeit wieder aufbrechen würden.

In der Zwischenzeit hatten die Marcurianer einzig und allein die Sorge, sich in ihrem wieder halbwegs geregelten Leben zurecht zu finden… mithilfe der Azadi natürlich, die bis zum heutigen Tage nicht gegangen sind.

Kara (jene schwarz gekleidete Frau, die die Arbeiter beaufsichtigt) kann sich noch gut an diese Jahre erinnern. Sie hatte selber zu den Dummköpfen gehört, die den Versprechungen Glauben geschenkt und die Fremden für ein Geschenk des Gleichgewichts gehalten hatte.

Erst der Wandel der Zeit sollte sie ihre Torheit erkennen lassen…
 

Es dauerte eine Weile, bis die Dinge zu ihrer alten Ordnung zurückkehren konnten, doch dank der tatkräftigen Unterstützung der Azadi war dies auch nicht weiter notwendig.

Als Zeichen ihres guten Willens brachten die Fremden neuartige Technologien und Baumaterialien ins Nordland mit, die die Marcurianer bisher nicht gekannt hatten, die ihnen aber nur allzu gelegen kamen, denn den Geheimnissen der Technik hatten sie schon immer mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht als den Wundern ihres Alltags.

Schon bald sah man an allen Ecken Marcurias seltsame Dampfmaschinen stehen, mächtige Ungetüme aus Rohren und Ventilen, die die Häuser und Läden der Menschen mit Wärme und Energie versorgten. Ihre Bewohner schätzten diese neue Bequemlichkeit, die es ihnen erlaubte, schneller zu produzieren und angenehmer zu leben, und so wurden die Großtaten der Fremden von fast jedermann als ein wahrer Segen empfunden.

Doch die Westländer brachten auch eine andere Neuerung aus ihrer Heimat mit, und an ihr sollten sich alle Geister scheiden:

Der Glauben an das Licht der Göttin.

Im Gegenzug für ihren Schutz und ihre Freundlichkeit verlangten die Azadi nun von den Nordländern, das Wort der Göttin anzuhören und ihre Lehren zu beherzigen, denn nur durch sie würden wieder Recht und Ordnung in ihr chaosfürchtiges Leben einkehren.

Und weil viele Marcurianer (ohne nachzudenken) Sicherheit und Wohlstand höher als alles andere einschätzten, fügte sich schließlich die Mehrheit von ihnen in diesen Beschluss.
 

Doch längst nicht jeder war bereit, den Predigten der Missionare zu folgen: zu viele von ihnen hielten noch immer an dem Glauben ihrer Väter fest, und jene, die der Religion der Azadi kritisch gegenüberstanden, wurden von den Westländer schon bald der Häresie angeklagt und festgenommen.

Der Orden der Väter, der früher den Glauben an das kosmische Gleichgewicht und den tausendjährigen Dienst des Hüters rein gehalten hatte, wurde nun schlichtweg aufgelöst und verboten, seine Tempel zerstört, sein Eigentum beschlagnahmt.

Als die Azadi schließlich die vollständige Kontrolle über Marcuria und seine Regierung an sich gerissen hatten, zeigte sich auch bei ihrer Religion des Lichtes die Schattenseite.

Gemäß den Lehren der Göttin und ihrer Interpreten wurden die Menschen als die alleinige ‚Krone der Schöpfung’ angesehen. Ihnen war die Erde geweiht worden, und sie sollten es auch sein, die in vollem Maße über ihr Schicksal entscheiden konnten. Die magischen Rassen hingegen, zumeist weitaus älter und höher entwickelt als sie, waren direkt dem Schlamm der Sümpfe und Gräben entsprungen und deshalb nicht besser als wilde Tiere - Parasiten, die sich am Wohlstand einer Herrenrasse labten.

Hatten sie bisher als gleichwertige Geschöpfe des Gleichgewichts friedlich neben den Menschen gelebt, so wurden sie jetzt von ihnen abgesondert und in die Altstadt von Marcuria verfrachtet – vorgeblich, um sie vor Übergriffen zu schützen, doch in Wirklichkeit, um sie zu isolieren.

Oldtown, ein Gebiet, das kaum ein Achtel von Marcuria ausmachte, wurde zum einzigen magischen Ghetto der Stadt und zum Freiluftgefängnis von über zwanzigtausend Wesen verschiedenster Rassen.

Auf engstem Raum zusammengepresst, mit Krankheit und Tod als täglichen Weggefährten, führten hier Dolmari und Zhid, Banda und Irhadja ein kärgliches Dasein. Ohne Sicherheit, ohne Rechte, hatten sie keinen Platz in dieser Gesellschaft von heiligen Sündern. Ungeachtet jeglicher Verdienste gegenüber den Menschen, galten sie vor dem Kriegsrecht der Azadi ohne Ausnahme als Verräter, und kaum jemand kümmerte sich darum, was mit ihnen geschah, ob sie in den engen Gassen Oldtowns zugrunde gingen oder heimlich die Stadt verließen – es war einerlei.

Vielleicht hätten irgendwann auch die Hoffnungsvollen unter ihnen der unausweichlichen Auslöschung entgegen geblickt…

… wären nicht eines Tages die Rebellen auf den Plan getreten.
 

Wie diese Bewegung entstanden ist, ist schon lange in Vergessenheit geraten.

Es gibt Leute, die von heiligen Schwüren im Mondschein berichten, von Verschwörungen und Aufständen im direkten Umfeld von Oldtown, oder von waghalsigen Schlägereien auf den Straßen der Vorstadt.

Dennoch weiß heute niemand mehr, wer als Erstes das Schwert ergriff, um es gegen die Azadi zu erheben.

Selbst Kara weiß es nicht – sie kann es nicht wissen. Sie stieß erst vor acht Jahren zu der Bewegung und hat seitdem stetig mehr Einfluss auf deren Politik erlangt. Mit ihrer Ausdauer und ihrer Scharfsinnigkeit hat sie schon so manche Krise erfolgreich überwunden und dazu beigetragen, dass sich die Rebellion über viele Jahre hinweg am Leben halten konnte. Still und leise traf sie ihre Entscheidungen, nicht Dank oder Lob erwartend, und doch immer weitestgehend mit dem Gemeinwohl im Einklang. Deshalb ist sie im letzten Frühjahr einstimmig zur Bürgermeisterin der Sumpfstadt gewählt worden.

Mit diesem Titel geht eine große Verantwortung einher, denn sie ist es, die die neu angekommene Lieferung in der Stadt verteilen wird.

Während sie ihre Männer beim Abladen der Güterkisten beobachtet, geht sie in Gedanken noch einmal die genauen Bedürfnisse jedes einzelnen der fünf Stadtteile durch.

Bunnvik, Boldterre, Candredville… jeder von ihnen hat einen anderen Notstand. Fehlen bei einem nur neue Kerzen und Feuersteine, so benötigt ein anderer dringend Kräuter und Medizin.

Wieder einmal wird Kara bewusst, wie viele Flüchtlinge inzwischen den Sumpf bevölkern, und wie viele mehr täglich noch hinzukommen.

Die Unterdrückung durch die Azadi hat inzwischen einen traurigen Höhepunkt erreicht: sie haben in mehreren Nationen des Nordlands erfolgreich Fuß gefasst, und ihr Ziel, den zersplitterten Kontinent unter ihrer Herrschaft zu einen, erscheint mit jedem Tag realistischer.

Sogar im nicht weit entfernten Corasan, wo die Rebellengruppe viele Sympathisanten besitzt, glaubt kaum noch jemand an deren Sieg.

Und als wäre das nicht bereits schlimm genug, ist vor wenigen Tagen eine ihrer treuesten Verbündeten in Marcuria verhaftet worden.

Diese herben Schicksalsschläge an sich sind bereits tragisch… doch machen sie die Leute darüber hinaus auch anfällig für Panik und irrationale Ideen - zuweilen sogar für unangebrachten Wagemut.

Und der trägt in Karas Gedanken einen ganz speziellen Namen: Raven.

1.2: Raven

Im ähnlichen Maße wie Kara für die Politik ist sie für die militärischen Aktionen der Bewegung verantwortlich. Sie ist eine ihrer erfahrensten Kriegerinnen, berühmt und gefürchtet wegen ihrer Leidenschaft und wilden Unerschrockenheit im Kampf, und ihre Gruppe von Kämpfern hat den Ruf, auch ausweglose Situationen nahezu unbeschadet zu überstehen.

In erster Linie ist es ihr zu verdanken, dass die Azadi einen Teil ihres alten Fortschrittsglaubens eingebüßt haben und in ihrer Eroberung des Nordlandes inzwischen erheblich vorsichtiger geworden sind.

Sie ist das, was eine Bewegung in Zeiten wie dieser am meisten braucht – eine Heldin…

Doch Kara kennt sie besser, oder glaubt es zumindest.

Sie weiß, dass in Ravens Herz nicht der Mut regiert, sondern die Verzweiflung, denn der Kampf ist das Einzige, was ihr noch geblieben ist in ihrem Leben. Ungeachtet aller Konsequenzen wirft sie sich unerschrocken in die Schlacht… allein der Hoffnung wegen, endlich den Tod zu finden und ihre Schuld zu tilgen.

Für einen Außenstehenden ist nicht zu ermessen, mit welchen Dämonen sie in ihrem Inneren zu kämpfen hat, aber die Zeichen, die Gefühle, die immer wieder in ihren kalten, blauen Augen zutage treten, sind unmissverständlich.

Und nun sucht sie erneut die Schlacht…

Erst vor wenigen Minuten hatte sie Kara um ein Dutzend Männer gebeten, die ihr bei einer wichtigen, aber scheinbar völlig halsbrecherischen Mission helfen sollten: die Gefangene, eine Wirtin namens Benrime Salmin, aus den Händen der Azadi zu befreien.

Unfähig, noch länger auszuharren und Stärke zu sammeln, hatte sie zudem vorgeschlagen, den Krieg gegen die Azadi in das Herz ihres Nördlichen Imperiums hineinzutragen und einen vernichtenden Anschlag auf das am besten gesicherte Gebäude Marcurias auszuführen: den Weißen Turm.

Sollten sie dies nicht wagen, wären alle ihre Mühen umsonst gewesen…

Doch Kara hatte abgelehnt. Sie wusste – weiß - nur zu gut, dass ein solches Vorgehen ein nicht zu rechtfertigendes Maß an Dummheit und Egoismus verrät, und dies hatte sie Raven auch in aller Deutlichkeit gesagt.

Sicher war Benrime eine gute Freundin von ihr gewesen, und sicher hatte sie der Bewegung unglaubliche Dienste erwiesen.

Doch kleinere Opfer mussten nun einmal gebracht werden. Einzelne mussten sterben, damit die Bewegung und ihre Anhänger in Sicherheit leben können… unerkannt… unangreifbar… versteckt vor der unbarmherzigen Justiz der Westländer…

In einer derzeitigen Situation war es unklug, Aufsehen auf sich zu lenken und das Leben weiterer Leute zu riskieren. Die Bewegung brauchte jeden Mann und jede Frau, und Kara wollte nun einmal nicht dulden, dass irgendeiner von ihnen in einem Himmelfahrtskommando zu Tode kommen würde, nur weil Raven es sich so dringend herbei sehnte. Der große Schlag würde noch kommen, eines Tages, aber nicht durch Ravens Handeln…
 

Unwirsch schüttelt Kara die penetranten Gedanken an die Vergangenheit ab und konzentriert sich wieder auf die Kisten, die vor ihr abgeladen werden. Jiran, einer ihrer Assistenten, nennt ihr Sorte und Menge der darin enthaltenen Güter, und hält ihr eine Karte der Stadt hin.

Ihr Finger zittert ein bisschen, als sie ihn ausstreckt und auf Snapjake’s Cove als Bestimmungsort weist.

Seit langem schon hat sie das wahre Ziel ihrer Bemühungen nicht mehr so deutlich vor Augen gehabt. Die Wut, die sie einst zur Rebellion getrieben hatte, brennt noch immer, wie das Magische Feuer von Oldtown, aber sie hat es all die Jahre unter Kontrolle gehalten, es flackern und schrumpfen lassen, ohne noch einmal einen Gedanken daran zu verschwenden.

Vielleicht hätte sie in jungen Jahren dasselbe getan wie Raven.

Aber das Alter macht bekanntlich klüger… und nachdenklicher…

… Und vielleicht auch teilnahmloser…

Was auch immer man hätte tun können, nun ist es zu spät dazu.

Die nächste Fuhre wird vorbereitet, und so langsam gewinnt Kara ihre alte Ruhe zurück…

… da steigt plötzlich ein Zischen aus den Tiefen des Urwaldes hinter dem Dorf empor.

Augenblicklich fährt Kara herum, sucht mit ihren Augen zuerst die Schwärze des Dickichts und dann die samtblauen Weiten des Himmels ab.

Ein Leuchtfeuer fliegt vom Horizont auf und explodiert knapp unter dem Zenit mit einem lauten Knall, der in der ganzen Bucht zu hören ist.

Schnell werden auch die Arbeiter darauf aufmerksam. Einige von ihnen vermuten eine spontane Freudenfeier, andere vermuten Sabotage.

Kara teilt diese Auffassung: sie weist Jiran an, eine Patrouille in die Richtung zu schicken, aus der das Feuer gekommen zu sein scheint.

Bange Minuten vergehen. Kara ist zwar bemüht, sich ganz auf ihre Karte zu konzentrieren, doch nichtsdestotrotz zwingt die Nervosität sie dazu, die Finger in das Leder verkrallen.
 

Die Zeit verstreicht unaufhaltsam, und noch immer ist die Patrouille nicht zurückgekehrt...

Aber der Dschungel ist dicht… es braucht also nichts zu bedeuten!

Dennoch – die Stimmung bleibt weiterhin angespannt. Die Arbeiter verrichten auffällig laut polternd ihr Werk, als wollten sie damit gegen die verdächtige Friedlichkeit des Abends ankämpfen, und Kara sperrt verbissen die Ohren auf nach einem Geräusch, das sie eigentlich gar nicht wahr haben will.

Halb meint sie es zu hören, als ein Schwingen im hintersten Winkel ihres Trommelfells, doch gleich darauf schwindet es wieder, wie das sonore Brummen eines Moskitos.

Ein letztes Mal steigt es auf, lauter und drängender denn je, und dennoch fast unhörbar…

…dann verebbt es endlich. Die Abendruhe ist wieder eingekehrt.

Kara schließt die Augen und lässt die Schultern sinken.

Sie genießt diesen Moment der Erholung.

Dann reißt sie blitzartig die Augen wieder auf und schaut auf den unteren Rand ihrer Karte.

Ein schwacher Schatten ist dort aufgetaucht, der immer dichter und schwärzer wird und bald ihre ganze rechte Seite einhüllt.

Auch das Brummen setzt wieder ein und baut sich zu einem unvergleichlichen Lärm auf.

Kara merkt, wie sich ihre Kiefer verkrampfen und ihre Miene versteinert.

Sie erkennt die Geräusche dutzender Luftschrauben…

Wie betäubt dreht sie sich nach Westen und starrt in die dichte Wolkendecke, die sich nur für einen kleinen Fetzen Abendblau öffnet, damit jedoch das volle Ausmaß des Schreckens offenbart:

Wolkenschiffe! Eine ganze Flotte! Zwei von ihnen fliegen als Vorhut voraus, während mehrere andere, lediglich als Schemen erkennbar, im Nebel zurück bleiben.

Nur das Leitschiff, ein gigantischer Koloss mit einer gewaltigen Transportkabine, gleitet im Sinkflug nach Norden über den Uferwald hinaus und dreht bei. Seile werden herabgelassen, und ein gutes Dutzend Soldaten schwingt sich daran zu den Holzbauten hinab, nicht weit entfernt von dem Ort, an dem die Hafenarbeiter stehen.

Schon laufen Rebellenkrieger herbei und legen kampfbereit die Hände an ihre Waffen. Andere stehen regungslos an der Seite, drücken sich in die Schatten der Hauseingänge, wagen es aber nicht, sich in die trügerische Sicherheit ihrer vier Wände zu begeben.

Kara, die an die Überwältigung der Tyren zurückdenkt, untersagt jedoch den geordneten Angriff. Vielmehr gebietet sie den Leuten mit einigen knappen Worten, sich nur möglichst weiträumig zu verstreuen und ja nichts zu überstürzen. Einige protestieren zwar und bleiben in ihrer Nähe, doch der überwiegende Teil gehorcht der Weisung. Währenddessen beobachtet Kara weiter den Himmel.

Der Rest der Luftschiffflotte hat jetzt den Waldrand erreicht und beginnt ebenfalls, sich aufzuteilen. Eines der Geschwader fliegt nach Nordosten, Richtung Boldterre, das andere nach Snapjake’s Cove und Bunnvik im Südwesten.

Für Kara bleibt nur zu hoffen, dass diese Stadtteile den Angriff nicht zu spät bemerken, denn sie kann ihnen im Moment nicht zur Hilfe eilen.

In der Zwischenzeit sind die ersten Soldaten bereits auf dem Boden angekommen.

Überraschenderweise aber wenden sich sie nicht den Rebellen zu, sondern marschieren mit einem Hauptmann an der Spitze zum nördlichen Ende des Stadtbezirks, in Richtung einer kleinen Anlegestelle.

Kara überlegt, ob sie ihnen folgen soll, doch da gleiten bereits weitere Soldaten an den Seilen herab. Und sie sind durchaus kampfbereit. Mit unheilvoll gesenkten Lanzen bewegen sie sich auf die Streitkräfte von Candredville zu.

Einige Milizionäre ziehen Keulen und Äxte hervor, doch Kara hindert sie weiterhin am offenen Gefecht und drängt sie stattdessen in den Innenring des Dorfplatzes, von dem sie sich mehr Aktionsfreiheit und sicheren Untergrund verspricht.

Dort angekommen erwartet sie die Angreifer mit eisiger Ruhe.

Aber die Azadi folgen ihr nicht nach.

Sie halten die Lanzen weiterhin unten, lassen sie nur gelegentlich reflexartig vorstoßen, doch ein richtiger Angriff lässt auf sich warten. Stattdessen holen die Westländer kleine Holzstäbe unter ihren Umhängen hervor.

Was mag das nun wieder bedeuten?

Und warum verlassen nicht mehr von ihnen die Luftschiffe?

Eine Kriegerin wie Raven würde diese Chance nutzen, ohne lange Fragen zu stellen, aber Kara ist misstrauisch, und ihr gesunder Menschenverstand lässt sich nicht zum Schweigen bringen. Während sie prüfend ihr Gewicht verlagert, eine Hand auf dem Schwertgriff ruhend, schaut sie der Reihe nach in die Augen der ihr am nächsten stehenden Fremdlinge.

Dunkle Augen im Schatten von unförmigen Helmen.

Hasserfüllte Augen…

Ängstliche Augen…

Tote Augen.

Keiner von ihnen hat die Rebellenkämpfer aus dem Schatten heraus treten sehen, und erst zu spät hören sie die Geräusche von Füßen, die über das trockene Sumpfholz schaben.

Was dann geschieht, kann nicht einmal der schärfste Verstand erfassen: Lanzen schwenken herum; dunkle Messer mit matten Klingen schimmern kurzzeitig auf; tote Leiber mit durchgeschnittenen Kehlen oder durchbohrten Herzen sinken geräuschvoll zu Boden; ein Poltern ertönt; Feuer schwirrt durch die Luft…

In wenigen Sekunden haben sich auf dem Steg mehrere Lachen aus Blut gebildet, und aus dem feindseligen Mustern ist eine handfeste Schlacht geworden.

Die Rebellenkämpfer im Ring eilen ihren Verbündeten mit gezogenen Waffen zur Hilfe.

Sie versuchen nicht einmal, ihre Gegner zu entwaffnen, sondern töten in ihrer Angst und ihrem Hass, schlagen zu und kämpfen weiter, bis alle Stimmen erloschen sein werden.

Die Azadi ihrerseits geben ihr Bestes, um die Angriffe von allen Seiten abzufangen und zu erwidern. Unaufhörlich sirren ihre Schwerter, sausen ihre Speere, reißen ihre Umhänge. Bald haben sie die Rebellen brutal auseinander getrieben und können dem Ring, der sich um sie gebildet hat, entkommen. Die blutige Schlächterei löst sich auf, zerfällt in mehrere voneinander unabhängige Zweikämpfe, die jeder für sich mehr Raum beanspruchen, als auf den Planken eigentlich vorhanden ist, und die Verteidiger in die Reserve treiben.

Ehe sie sich versieht, steht Kara einem großen, hellhäutigen Offizier gegenüber: ein Mitglied der zweithöchsten Kriegerkaste, soweit sie das beurteilen kann – schlank, groß und kräftig, mit einem krummen Säbel an der Seite und einer massiven Hellebarde als Hauptwaffe.

Nervös lässt Kara das Schwert in ihren Fingerspitzen rotieren. Sie merkt, wie ihre Zunge gegen die fest zusammengepressten Zähne stößt, spürt den Schweiß, der über ihr Gesicht herab läuft…

Dann kommt ihr auf Bauchhöhe ein langer, schwertförmiger Dorn entgegen – nur knapp gelingt es ihr, ihn mit der Klingenspitze weg zu schlagen und beiseite zu treten, denn der Azadi reißt die Waffe noch im selben Atemzug wieder zurück.

Er tänzelt kurz auf der Stelle, einen Gegenangriff seiner Gegnerin erwartend, und sticht dann von neuem zu.

Diesmal saust der Dorn von links heran und sucht sich den direkten Weg zu ihrem Rücken.

Kara kann sich weg drehen und damit auch diesem Stoß ausweichen – doch dann kommt ihr langer Mantel ihr in die Quere, wickelt sich mühelos um Haken und Beil und wird so beim Zurückreißen der Waffe mitgezogen.

Wirbelnd und stolpernd geht die Rebellenführerin zu Boden und fällt direkt vor die Füße des Azadi-Offiziers. Das Stangenbeil wirbelt kurz durch die Luft… und wird dann mit einem satten Krachen in den Stoff ihres Mantels gerammt.

Ohne weiteres Zögern zieht der Krieger den Säbel aus der Scheide und richtet ihn auf seine vermeintlich wehrlose Gegnerin… die sich aber rasch von dem Mantel befreit hat und nun doch zur Attacke übergeht.

Noch einmal entbrennt der Kampf, und Kara muss bald feststellen, dass ihre Schwertkampffähigkeiten sowohl in Kunstfertigkeit wie in Ausdauer hinter denen des Westländers zurückbleiben: immer öfter muss sie ihre Position aufgeben, und ihre Paraden gelingen meist nur knapp, so schnell saust der Säbel des Angreifers um sie herum. Wieder und wieder werden ihrer Rüstung tiefe Scharten geschlagen, und nur zu gefährlich sind manche davon.

Schließlich passiert das Unvermeidliche: ihre Ferse trifft beim Zurücktreten auf Widerstand.

Der Azadi hat sie in die Enge getrieben. Rechts und links von ihr haben sich die Zweikämpfe inzwischen dermaßen zugespitzt, dass an ein Ausweichen nicht mehr zu denken ist, und in ihrem Rücken befindet sich die Türschwelle eines Hauses.

Neben ihr erstrahlt ein Fenster in rötlichem Lichtschein. Kara wirft einen kurzen Blick hinein und sieht dunkle Gesichter vor den Scheiben sitzen: einen kahlköpfigen Greis mit wässrigen Augen, einen etwa zwölfjährigen Jungen mit blutender Nase und ein beinahe erwachsenes Mädchen, dessen Augen voller Furcht auf dem riesenhaften Mann ruhen, der vor ihrer Haustür den Säbel schwingt.

Kara dreht sich kurz ab, um einen Hieb wegzuleiten, kann sich in ihrer Aufregung aber nicht zurückhalten und klatscht die Faust gegen das Glas.

Augenblicklich zucken die Köpfe zusammen und verschwinden. Das Licht erlischt.

Leider hat ihrem Gegner diese eine Ablenkung gereicht.

Als Kara ihm das Gesicht wieder zuwendet, ist es bereits fast geschehen: der Säbel schießt herab, das Holz neben ihr knarrt, und Kara spürt einen kurzen, dumpfen Druck an der linken Seite ihres Kopfes … blankes, scharfes Metall, welches von oben durch das Fleisch schneidet, dann wieder heraustritt und knapp über ihrer Schulter weg gezogen wird.

Der Schlag an sich ist fließend und schnell vorbei, er zieht nicht viel an Schmerz nach sich. Nur der Druck ist es, der Kara nach unten zwingt, doch auch er verschwindet fast augenblicklich wieder.

Tatsächlich meint Kara sogar, dass ein bisschen zuviel davon verschwunden ist…

Sie kann sich nicht lange darauf konzentrieren, der Azadi hat den Schwung seines letzten Hiebes genutzt und den Angriff schon wieder aufgenommen.

Trotz ihrer Überraschung vermag Kara den Arm hochzureißen und den Schlag abzuwehren, doch geht ihr allein die Konfrontation der Klingen so durch Mark und Bein, dass ihr der Arm fast wegrutscht und schon wenige Sekunden später wieder auf Hüfthöhe ist.

Wie durch den Geist eines Anderen hindurch spürt Kara den Schmerz ihrer Ellenbogen, gedämpft und gleichzeitig beunruhigend heftig.

Es ist, als hätte eine seltsame Art von Lähmung ihre linke Körperhälfte befallen, und die kühle, schwere Abendluft bewirkt, dass ihre Gesichtshaut wie unter Feuer brennt. Der Lärm der Schlacht dringt nur noch leise und in verzerrter Weise zu ihr vor, so dass sie bald schon nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht.

Ihre Bewegungen werden unpräziser, manche Schläge gehen sogar gänzlich ins Leere.

Schon bald trifft der Säbel das zweite Mal sein Ziel: mehrere Hiebe sausen nacheinander mit roher Gewalt auf Karas Schulterplatten nieder; danach dringt die Schneide in ihren Knochen.

Ein unkontrolliertes Knirschen und Gurgeln dringt aus dem Mund der Rebellenführerin. Sie spürt, dass ihr Ende gekommen ist.

Schwankend fällt sie zu Boden, packt dabei noch den pelzverbrämten Umhang des Offiziers, kann ihn aber nicht mehr mit sich reißen. Der Westländer geht zwar gemeinsam mit ihr in die Knie, allerdings nur, um den Säbel noch fester in ihren Oberarm zu pressen.

Kara kann ihm dabei direkt in die Augen sehen.

Es ist keine Befriedigung in ihnen, nur eine würdevolle, ernste Entschlossenheit.

Diese Augen kennen den Anblick des Todes und begrüßen ihn wie im Gebet, als einen freundlichen Diener, der nur die Schlechten und Fehlgeleiteten zu sich holt.

‚Das typische Denken eines Azadi!’

So denkt Kara und fühlt dabei nicht einmal Gram ihm gegenüber.

Ihr wirklicher Hass gilt Raven.
 

War es das gewesen… was sie gewollt hatte? … Der Tod? Die willkommene Erlösung für die Schwachen, zu denen sie selbst gehörte, weil sie sich ihre eigene Torheit nicht eingestehen wollte…?

Was hatte sie mit ihrer Kampflust bezweckt,… wenn nicht den Tod… in der Gewissheit, dass sie nur damit ihrem Leben einen Sinn zu geben vermochte?

Es war doch nicht… der Sinn des Lebens… zu sterben!
 

Karas Augen verschleiern sich. Sie spürt überdeutlich, geradezu krampfhaft, wie ihr Körper auf die Wunde reagiert, aber sie schließt die Augen, um es nicht mit ansehen zu müssen.

Hoffend, bangend wartet sie darauf, dass der Azadi die Waffe herauszieht und sie sterben lässt.

Erst spät hört sie das Knistern und Knacken von Holz, wie es sich dehnt und verzerrt, bevor es zerbricht und zu flammenden Balken wird.

Überall um sie herum breitet sich ein flackernder Schein über die Dächer der Häuser aus, und das Lodern und Tosen des Feuers zieht ihm voraus, gleich einer waffenstarrenden Heerschar.

Über all dem erhebt sich noch einmal ein Krachen, ein Fauchen wie aus dem Maule eines Jèrgas, vermischt mit dem Quietschen beim Ausfahren metallener Bahnen.

Die Rebellenführerin hebt leicht den Kopf, nicht weiter als ein paar Zentimeter, und sieht das Chaos über ihre Heimstatt hereinbrechen.

Blankes Feuer regnet vom Himmel herab, in riesigen Ballen. Es explodiert, wandert, tobt, frisst…

Irgendwo mitten im Gedränge ist der Kampfschrei des jungen Brynn zu hören…

Der Riese Chawan bahnt sich seinen Weg durch die kämpfenden Massen, wild brüllend…

Überall ringsumher werfen die Azadi ihre Körper gegen die Türen der Häuser…

Die Planken beben unter dem Trampeln vieler Füße…

Und unter ihnen, im düsteren Wasser der Lagune, treibt ein einzelner menschlicher Körper dahin… alleine, denn bis jetzt ist keiner der anderen Streiter im Wasser zu Tode gekommen. Aus einem Schnitt über seinen Rippen tritt Blut aus und versickert im Wasser.

Auch dieser Körper lebt noch… gerade noch so.

Kara sieht ihn in den letzten Momenten ihres Lebens unter sich vorbeiziehen.

Zuletzt erblickt sie ein schmales Gesicht, bleich und hager, von halblangen, haselnussbraunen Haarsträhnen umrahmt, darunter blau gefrorene Lippen, eine rote Stupsnase voller Sommersprossen, und kobaltblaue Iriden hinter dunklen Lidern.

Die Pupillen bewegen sich noch immer in den dünnen Augenschlitzen, suchen das Umfeld nach Licht ab.

Doch das einzige Licht kommt durch die schmalen Spalte über ihrem Kopf, und es ist nichts weiter als das unstete Leuchten des Feuers.

Es spiegelt sich noch einmal in ihren Augen, bevor diese endgültig zufallen.

Der Mund öffnet sich zu einem letzten Seufzer, schließt sich jedoch nicht mehr, als die Kriegerin, einst unter dem Namen Raven bekannt, in die Tiefen des Sumpfwassers absinkt…

2.1: Aufblende

Zwei Wochen nach diesen Ereignissen

Greenvale im Bundesstaat Oregon

Stark – unsere Welt im Winter des Jahres 2219…
 

Obwohl sich in den letzten zweihundert Jahren einiges an den USA verändert haben mag – einsame Landstraßen durch dreckiggrüne Graslandschaften gibt es dort nach wie vor.

Und Motorräder gibt es auch, obwohl sie inzwischen als veraltet und unrentabel gehandelt werden.

Es stimmt zwar: seit der Realisierung neuer Massentransportmittel wie dem Vactrax oder dem Hovercraft sind Einzelpersonen im Straßenverkehr eine Seltenheit, sogar ein Sicherheitsrisiko geworden, aber es gibt immer noch genügend Enthusiasten – man bezeichnet sie allgemein hin als ‚Spinner’ -, die ihrer Leidenschaft frönen und auf zweirädrigen Kraftmaschinen durch die Gegend rasen.

Sie haben kein Anrecht auf Krankenversicherung, falls ihnen etwas zustößt, und es werden zu ihrem Gedenken keine Holzkreuze am Straßenrand aufgestellt, aber sie machen dennoch weiter…

So auch jener junge Mann, der gerade mit einem Gravycycle der neuesten Generation auf der Bundesstraße nach Salem unterwegs ist.

Um zu seiner Sorte Mensch zu gehören, muss man unter achtzehn Jahre alt, sehr risikofreudig sowie einzelgängerisch veranlagt sein. Nur unter diesen Voraussetzungen kann man sich würdig als ‚einsamen Ritter der Straße’ bezeichnen.

Obwohl der junge Mann dem Ideal in sonst jeder Hinsicht gerecht wird, hat er einen Passagier auf seinem Sozius sitzen, der sich ungeachtet der Gurte um seinen Leib an den Schultern des Fahrers festklammert und bedenklich auf und nieder schaukelt.

Die Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn dieser Tage beträgt 220 km/h, und dieser Verkehrsteilnehmer unterschreitet sie nur knapp. Ab und zu klatscht ein verirrter Vogel gegen die Fahrtscheibe und hinterlässt dort blutige Spuren, aber das mindert die waghalsig schlingernde Fahrweise des jungen Mannes nicht im Geringsten.

Nun jedoch bekommt er von hinten einen Schlag auf die rechte Schulter, was ihn so aus der Fassung bringt, dass er kurzzeitig über den Mittelstreifen fährt und dabei fast in ein Auto kracht, das gerade zum Überholen ansetzt.

Wenige Sekunden lang kreischt und pfeift es in seinen Ohren, dann schwenkt er nach rechts und ist wieder auf seiner Seite der Fahrbahn – in Sicherheit.

Die Ausfahrt nach Greenvale hat er dennoch verpasst, und für die nächsten zwölf Kilometer steht keine weitere in Aussicht.

Doch er wäre kein Ritter der Straße, wenn er sich immer an die Fahrbahnbegrenzungen halten würde.

Nachdem er mehrere hundert Meter in mäßiger Geschwindigkeitsstufe gefahren ist (so etwa 180 km/h), betätigt er einen Gravitationsregler an der rechten Seite des Tankes, beschleunigt jäh auf 290 Sachen, schlängelt sich an verschiedenen Gütertransportern vorbei, und als er endlich freie Fahrbahn hat, reißt er das Gravycycle in einer halsbrecherischen Bewegung weit nach links.

Wie geplant hebt das Rad vom Boden ab, trudelt, getrieben von der Fliehkraft, mit Schwindel erregender Schnelligkeit durch die Luft und über die mittlere Leitplanke hinaus in die andere Spur der Autobahn.

Während seine Beifahrerin sich voller Angst in seinen Rücken krallt, achtet der junge Mann peinlich genau auf den sich nähernden Asphalt. Es kommt jetzt darauf an, in der richtigen Richtung aufzusetzen, denn das Gravycycle dreht sich immer langsamer … die äußere Leitplanke ist schon bedenklich nahe...

Langsam und gefasst greift seine Hand nach dem Gravitationsregler… dreht ihn vorsichtig zurück… das Heck hängt ein wenig zu tief, gütiger Gott, sie muss sich doch nach vorne lehnen… verdammt, er kommt nicht mehr herum, das Vorderrad zeigt in die falsche Richtung…

Doch da! Das Hinterrad greift! Schnell reißt er die Finger vom Regler weg und wirft das Rad herum, so dass es sich noch um einen halben Kreisumfang weiterdreht, bevor es in annähender Fahrtrichtung auf dem Asphalt aufkommt und vorwärts schießt.

Unter der dicken Hülle seines Schutzhelms laufen dem jungen Fahrer dutzende Schweißperlen die Schläfen entlang. Beinahe wäre sein Manöver schief gelaufen…

Eines ist sicher – in Zukunft wird er sich konzentrieren und lange vor der Ausfahrt abbremsen müssen.

Und ganz bestimmt wird er das nächste Mal keinen Passagier dabei haben!

Ohne weitere Schwierigkeiten erreichen die zwei Motorradpassagiere die Ausfahrt nach Greenvale. Von dort aus sind es nur noch zwei Kreuzungen und eine Strecke von zwei Kilometern zu ihrem eigentlichen Bestimmungsort: dem Hamilton – Hospital in der Mount-Jefferson-Road.
 

Vor dem Besuchereingang erwartet sie bereits eine junge Krankenschwester, die mit belustigter Miene die Parkversuche des jungen Mannes verfolgt, die im Gegensatz zu seinem Fahrstil nicht unbedingt von Eleganz geprägt sind.

Doch schließlich, nachdem er die Bodenhaftung über den Gravy-Regler so weit hoch gedreht hat, dass man das Rad nicht einmal mehr mit einem LKW vom Fleck bewegen könnte, kommt das Vehikel endlich zum Stehen, und die zwei Passagiere können absteigen – wenn auch, im Falle der Beifahrerin, nur unter Aufbietung all ihrer Kräfte.

Sie vermag es kaum, den Helm abzunehmen, so sehr zittern ihre Hände, doch endlich zieht sie ihn mit einem Ruck vom Kopf und offenbart das müde Gesicht einer Frau jenseits der vierzig, deren dünne, rotblonde Haare bereits die Zeichen des Alters tragen.

Kaum hat sie einen tiefen Zug von der frischen Landluft genommen, fällt sie auch schon keuchend in sich zusammen und fasst sich ans Herz. Es dauert mehrere Minuten, bis sie endlich in der Lage ist zu sprechen.

„Um Gottes Willen… Owen…“ sagt sie schwer atmend. „Bitte…! Mach… so etwas nie wieder! Ich… wäre fast gestorben vor Angst!“

Der Angesprochene hat schon lange den Helm abgenommen und ist nun darum bemüht, sein schwarzes Haar mit einem Kamm möglichst gleichmäßig über den Kopf zu verteilen. Hin und wieder wirft er dabei einen Blick zu der Pflegerin, die zwar um einiges älter ist als er, aber auch noch lange nicht zu alt, um attraktiv auf ihn zu wirken.

„Hey, gib nicht mir die Schuld, Mom!“ sagt er dabei. „Du wolltest so schnell wie möglich hier sein, also bin ich auch so schnell wie möglich gefahren. Davon wirst du schon nicht sterben!“

„Sprich nicht… so mit deiner Mutter! Du weißt doch…, dass mein Herz… das nicht mehr mitmacht!“

„Ach, du machst dich wieder einmal älter als du bist. Du könntest mir immer noch den Hintern versohlen, wie du es früher getan hast – nur leider hast du es niemals getan.“

Diese leicht enttäuschte Feststellung wird von der lauten Stimme der Schwester übertönt, die inzwischen auf die beiden Gäste zugeeilt ist.

Mit einem herzlichen Händeschütteln begrüßt sie jeden von ihnen, während sie sie gleichzeitig schon ungeduldig in Richtung des Hauptgebäudes zieht. „Guten Tag, Ms. Ryan! Hi, Owen! Sie haben Glück – Doktor Nordhoff hat gerade für eine halbe Stunde Dienst in der Viszeralchirugie. Sofern sie nicht mit der Kalibrierung der Versorgungseinheiten beschäftigt ist, können Sie sie sofort sprechen.“

„Danke, June!“ flüstert die Frau dankbar, doch zögernd fügt sie hinzu: „Du… du hast am Telefon etwas gesagt von…“ Sie schluckt heiser, wird aber von Owen unterbrochen, der kurz vor den elektronischen Glastüren stehen geblieben ist.

„Du hast gesagt, dass sie es ist,“ sagt er grimmig, „aber du musst dich geirrt haben.“

Schockiert wenden sich die beiden Frauen zu ihm um. Seine Mutter, mit Vornamen übrigens Jennifer, betrachtet ihn mit einer Mischung aus Tadel und Trotz im Blick, June hingegen lächelt ihn milde an.

„Ach, komm schon, Owen! Was redest du denn da?“

„Sie ist tot, ganz einfach!“ protestiert der Jugendliche. „Egal, wo sie dort draußen unterwegs war - den Kollaps hat sie ganz bestimmt nicht überlebt… wenn nicht einmal-“

„Genug, Owen!“ weist ihn seine Mutter zurecht. „Willst du etwa behaupten-“

Sie ist tot, kapier’s doch endlich, Mom! Sie wird nich’ unsterblich, nur weil du's dir so dringend wünscht! Sinnlos, sich da was vorzumachen! Sowas wie Wunder gibt’s nun mal nicht, egal, was Pater Marduc dazu sagt!“

Mit diesen Worten stellt er sich breitbeinig hin und verschränkt die Arme vor der Brust.

Zusammen mit seiner rotschwarzen Lederjacke sieht das ziemlich männlich aus – allerdings nur solange, bis die knapp einen Kopf größere June hinter ihn tritt und ihm lachend den Kopf tätschelt.

Der junge Bursche verzieht das Gesicht. „Hey, was soll’n das jetzt?“

„Ach, ich muss bloß daran denken, was für ein süßer kleiner Fratz du einmal warst! Ich weiß noch, wie niedlich du damals aussahst, als du noch auf Aprils Unterhosen herumgekaut hast-“

Die Wangen des Jungen verfärben sich ferkelrosa. „Bitte, June – nicht vor Mutter!

„-und dann war da noch dein fünfter Geburtstag,“ fährt die Schwester unbeeindruckt fort, „als du April und mir unbedingt zeigen wolltest, was man mit dem Euter einer Kuh anstellen kann – Dori hätte dich fast gegen das Gatter getreten-“

Schon gut, ich komme mit!

Lächelnd nimmt June ihre Hand von seinem Kopf und gibt ihm einen kurzen Kuss auf die Wange, dann nimmt sie ihn bei der Hand und führt ihn, seiner Mutter voraus, den Gang hinunter.
 

Krankenhäuser wie das ‚Hamilton’ gibt es im 23. Jhd. beinahe überall in der nördlichen Hemisphäre: sie haben weder überdurchschnittliche Todesraten, noch können sie sich über fachlich inkompetentes Personal beklagen, doch trotzdem müssen sie gegenüber den hoch technisierten Privatkliniken Afrikas und Asiens langsam aber sicher das Feld räumen.

Nach dem großen Kollaps, der vor zehn Jahren die ganze moderne Welt heimgesucht hatte, waren es diese beiden Kontinente, die die Gunst der Stunde nutzten und sich zu den technischen Hochburgen eines neuen Zeitalters aufschwangen.

‚Biotechnik’ war der Schlüssel dazu.

Die vielen Tierreservate und Naturschutzgebiete, die man über zweihundert Jahre mühevoll am Leben erhalten hatte, machten sich nun zum ersten Mal wirklich bezahlt. Im Auftrag gewaltiger Konzerne konnten die dort ansässigen Forscher ihr Fachwissen endlich in die Praxis umsetzen und Entwicklungen starten, die das Bild der Wissenschaft als .

Viele technische Errungenschaften der Informatik basierten zum Beispiel auf der Kommunikation und Interaktion in Termitenbauten; die Anatomie eines Geparden brachte neue Erkenntnisse über das Zusammenspiel von Muskeln und Knochen, die der Robotik nützlich waren; und in den wenigen verbliebenen Urwäldern Costa Ricas kamen uralte und unbekannte Pflanzenarten zum Vorschein, deren hochkomplexe Verteidigungsmechanismen Botenstoffe enthielten, die die Funktionsweise von Biocomputern grundlegend veränderten.

Der Anbruch eines neuen, freundlicheren Zeitalters schien zum Greifen nah zu sein.

Doch aus derartigen Forschungen ging auch das System des allgegenwärtigen Netzes hervor: ein Datennetzwerk, das via Biotronik jede Art von elektrischem Gerät lückenlos miteinander verband – ganz gleich, ob es sich um Computer, Roboter, um Bildschirme oder technische Kampfanzüge handelte.

Es revolutionierte die Welt der Technik auf eine Weise, wie es seit dem Internet nie mehr geschehen war. Kostenlose Upgrades und Serverdienste waren nicht mehr nur auf Computer beschränkt, und das Prinzip der absoluten Informationsfreiheit rückte näher als jemals zuvor.

Leider bemerkten die Leute viel zu spät, dass dies in erster Linie unabhängigen Strafverfolgungseinheiten wie dem EYE zugute kam - geriet man mit dem Gesetz in Konflikt, konnte man seinen derzeitigen Aufenthaltsort nicht mehr sehr lange geheim halten.

Heute haben sich die meisten Leute mit dem plötzlichen Minus in ihrer Privatsphäre mehr oder weniger abgefunden. Wer keinen Ärger sucht und für sich lebt, hat mit dem ‚EYE in the Sky’ die meiste Zeit seines Lebens über nichts zu tun.

Doch es gibt auch Menschen, die lieber auf sehr seltene, sehr teure, und dafür vom Netz unabhängige Geräte umgestiegen sind, um dem Gefühl der ständigen Beobachtung zu entgehen.

Gerade diese Beispiele an Eigensinn und Freigeist sind es, die den Behörden immer wieder Schwierigkeiten machen…
 

An diesem einen Tag im Winter betrifft jenes Problem auch die Kommunikationsofficer des Newport Police Departments, und im besonderen Maße Ronald Summers, den neuen Chefinformatiker der Netzfahndungsabteilung.

Er sitzt vor seinem neuen Fiesta 4 Future, eine Zigarette im Mundwinkel und eine Maxidose ‚Bingo!’ Cola neben seinem Stuhl lagernd. Die von Nikotin verfärbten Finger seiner linken Hand liegen nervös zuckend auf der Armlehne, während er mit dem Zeigefinger der rechten den Touchscreen berührt und immer wieder neu ausrichtet.

Seine Augenlider flattern, jedes in einem anderen Rhythmus, als er von einem Videobild zum anderen wechselt. Er ist es nicht gewohnt, so lange auf eine einzelne Datei zu starren.

Dass er es nun doch tut, liegt in einer Akte begründet, die neben ihm auf dem Tisch liegt.

Es handelt sich um einen Fall, der bereits zwölf Jahre zuvor an das NPD herangetragen worden war, nach dem Kollaps jedoch fallen gelassen wurde.

Das Eye hatte den Auftrag schon kurz nach seiner Gründung wieder reaktiviert und an die Netzfahndung übertragen. Seitdem hatten mehrere Generationen von Informatikern ihr Glück daran versucht – jede mit ihren eigenen Spezialistenteams, jede mit der neuesten Spitzentechnologie im Computerbereich.

Und alle waren sie gescheitert.

Vor gerade einmal 23 Tagen hatte Summers Mentor und direkter Vorgesetzter, der steinalte Officer Sveen, das Feld räumen müssen – „sinnlose Budgetüberschreitungen“ wurden ihm vorgeworfen, und „eklatante Mängel in der Arbeitsweise“.

In Wirklichkeit hatte Sveen lediglich die gleichen Fehler gemacht wie seine Vorgänger: er hatte mit viel Energie und noch mehr Sachverstand eine umfassende Netzfahndung eingeleitet, dafür ein volles Jahresbudget ausgegeben… und nichts gefunden.

Was Summers eigenen Karriereplänen sehr entgegenkommt.

Er weiß sehr wohl, dass er Sveen eine Menge zu verdanken hat, und dass es eigentlich unfair ist, sich über seinen vorzeitigen Ruhestand mit 95 zu freuen. Dennoch – das eigene Fortkommen ist es, was zählt, und wenn man es in der heutigen Gesellschaft zu etwas bringen will, darf man sich nicht durch unangebrachte Sentimentalität davon abhalten lassen.

Und so etwas wie Fairness sollte man erst recht vergessen.

Dieses Prinzip wendet er auch in seiner Funktion als Abteilungsleiter an. Sollen die Leute doch ruhig 16 Stunden am Tag schuften – solange sie Ergebnisse vorweisen können, fragt niemand danach.

Und tatsächlich hatte einer von seinen Leuten heute Morgen einen Treffer erzielt – woraufhin ihn Summers in seiner Geistesgegenwart auf der Stelle gefeuert hatte.

Natürlich war der Treffer reiner Zufall gewesen, es hatte weder besonders viel Raffinesse noch einer Rechengeschwindigkeit von 40 GHz dazu bedurft, ihn zu machen, aber letztendlich sollte es trotzdem Summers Verdienst sein – und nicht etwa der eines kleinen, unbedeutenden Fahndungstechnikers, wie er es mal gewesen war.

Aus dem gleichen Grund hatte er auch dem gesamten Team sofort eine zweitägige Sonderpause eingeräumt: nichts und niemand sollte es möglich sein, ihm den Ruhm streitig zu machen.

Es war zwar ein einsames Spiel - aber es lohnte sich.
 

Noch einmal wischt sich Summers den Schlaf aus den Augen, nimmt einen Schluck Cola und reckt den Hals seinem Flachbildschirm entgegen, auf dem in einem leider nicht sehr gut aufgelösten Fenster Bilder aus dem internen Sicherheitsnetzwerk des Hamilton-Hospitals angezeigt werden.

Nach dem kurzen Intermezzo im Eingangsbereich geht es für ihn nun in die Viszeralchirurgie, was ihm zwar überhaupt nichts sagt, sich aber immerhin grob in den Fachbereich der ‚Chirurgischen Klinik’ einordnen lässt.

Summers wechselt zu einem Lageplan des Gebäudes, über den er sich bequem in die einzelnen Kameras einklinken kann.

Er überprüft zunächst die Korridore im Erdgeschoss, die er parallel schaltet und beobachtet. Nach etwa drei Minuten des Wartens findet er seine Zielpersonen wieder und folgt ihnen durch einen kleinen Garten in den Haupttrakt des Gebäudes. Wiederum geht es lange Flure entlang, unzählige Wartesäle müssen durchquert werden, nur damit die Besucher schließlich, von einem Krankentransport aufgehalten, einen Umweg gehen müssen…

All diese Ärgernisse zusammengenommen machen Summers ein klein wenig ungeduldig. Er nimmt die Zigarette aus dem Mund und bläst einige Rauchringe zur Decke empor. Schon springt er weiter auf die Intensivstation, in dem Glauben, dass dort der Weg seiner Zielpersonen enden müsse.

Dann aber stellt er fest, dass die Gruppe bereits einige Türen vorher beim Büro von Dr. Nordhoff stehen geblieben ist.

Der Chefinformatiker flucht leise vor sich hin, wenn auch nicht heftig.

Egal, wo man hinkommt: der hippokratische Eid gilt nach wie vor, und die Untersuchungsräume enthalten weder Kameras, noch sind ihre Computer an das Netz angeschlossen. Vielmehr müsste Summers sich, um dort Daten abrufen zu können, direkt in das Intranet des Krankenhauses hinein hacken, was selbst bei dem relativ niedrigen technischen Niveau der Klinik keinesfalls unentdeckt bliebe.

Es hilft nichts – er muss warten, bis die Konsultation beendet ist.

Und von seinen letzten Arztbesuchen vor dreißig Jahren weiß er, dass das eine Ewigkeit dauern kann.
 

Die Diagnose, die Dr.Nordhoff für ihre Patientin bekannt gibt, ist knapp und eindeutig.

„Wasserleiche.“

Miss Ryan schnappt nach Luft. „Wasserleiche?!“

„Beziehungsweise ‚mutmaßliche’ Wasserleiche. Wir sind uns inzwischen ziemlich sicher, dass sie nicht tot ist.“

„Warum?“ fragt Owen anstelle seiner Mutter. Er klingt immer noch ziemlich kritisch, was den Grund seiner Anwesenheit betrifft.

Doktor Nordhoff bedenkt ihn mit einem kurzen, scharfen Blick über die Ränder ihrer Bügelbrille, dann greift sie nach einem Aktenordner auf ihrem Tisch, ohne weiter auf seine Frage einzugehen.

„Die fragliche Person ist eine junge Dame knapp um die dreißig… etwa 1,78 m groß, dunkelhaarig, mitteleuropäischer Typ. Eine Gruppe Pilger fand sie im Baskett Slough Wildreservat, am Gleithang eines Wasserlaufs, mit dem Gesicht nach unten in einem Schwemmbecken treibend. Als man sie hier einlieferte, hatte sie an äußeren Verletzungen eine Stichwunde unterhalb des Brustkorbs, Erfrierungen zweiten Grades an den Fingerknöcheln, den Lippen und an der Ohrmuschel sowie eine Reihe von Bisswunden-“

Jennifer Ryans Gesicht verfärbt sich weiß. „Bisswunden?

Dr. Nordhoff nickt knapp und blättert um. „Ja, im Gesicht und an den Handgelenken. Darüber hinaus mehrere Bissversuche an der Kleidung, allerdings recht schnell wieder aufgegeben. Die Form der Wundränder und die Art der Zerfleischung sind charakteristisch für Piranha-Überfälle, allerdings waren die Zähne in diesem Fall deutlich läng-“

Wieder runzelt Owen die Stirn. Wie eine Dampfwalze schießt sein Kopf vor und schaut über den Rand der Mappe auf das Infoblatt. „Piranhas?“ höhnt er. „In Baskett Slough? Sie spinnen ja wohl, Wir waren dort sogar schonmal baden, da gibt’s keine Piranhas! Wie soll’n die überhaupt hinein gekommen sein?“

„Nun, vielleicht durch einen Dumme-Jungen-Streich!“ entgegnet die Doktorin verärgert und zieht ihm die Mappe vor der Nase weg, wobei sie ihm die Plastikhülle ganz bewusst um die Ohren schlägt. Ihre Stimme wird eine Oktave höher. „Straßenkinder kaufen oder stehlen sie sich aus der Tierhandlung, und sobald der erste Finger fehlt, werden die Fische in der nächsten Kanalisation ‚entsorgt’. Oder sie benutzen sie für eine Mutprobe, Sie wissen schon – irgendetwas Dummes und Verantwortungsloses, das möglichst vielen anderen Leuten schadet! Das ist jedoch nicht das Problem!“ erklärt sie energisch und tritt, noch immer in ihre Mappe vertieft, an den Bildschirm, „Tatsächlich scheint die Patientin ihre Verletzungen nicht direkt am Fundort erhalten zu haben. Eine Untersuchung der Pflanzenreste in ihrer Kleidung und der Bluttemperatur sprechen dafür, dass sie zuvor bereits längere Zeit in einem anderen Gewässer verbracht haben muss, wo ihr mutmaßlich jene Bisswunden zugefügt wurden, von denen wir eben sprachen. Was uns jedoch immer noch Rätsel aufgibt“ - sie zieht einen kleinen CCD-Sensor aus einer Seitentasche des Ordners hervor - „ist das hier!“

Sie schiebt den Sensor in eine Schnittstelle rechts neben dem Bildschirm. Circa eine Minute später hat sich eine Röntgenaufnahme aufgebaut, die Hals und Unterkiefer einer Frau zeigt. Deutlich sind die Halswirbel und der Kehlkopf zu erkennen, dazu das winzige Zungenbein unter dem Kiefer und die zwei klar getrennten Bereiche von Speiseröhre und Luftröhre.

Dann aber verschiebt Dr. Nordhoff das Bild nach unten und ein Fremdkörper erscheint – ein Schemen, so leuchtend hell und scharf abgegrenzt wie der eines Knochen.

Erst nach einer Abdunkelung über das Bildprogramm sind auch innerhalb des Fremdkörpers Variationen zu unterscheiden.

„Was ist das?“ fragt Miss Ryan verzweifelt, und auch ihr Sohn ist diesmal nicht imstande, eine schlaue Antwort zu geben. Beide schauen sie gebannt auf den Bildschirm.

„Ist das so was wie’ne Krabbe?“ bringt Owen schließlich zögernd vor.

„Voraussichtlich nicht!“ entgegnet Dr. Nordhoff zögernd. „Laut einer zoologischen Expertise ist es organisch und ähnelt im Körperbau sowohl einer Koralle als auch einem Polypen. Aber was es wirklich ist, vermögen wir nicht zu sagen! Bei einer ersten Röntgenuntersuchung, die wir kurz nach der Einlieferung durchführten, war dieser Teil des Halses fast bis zum Rand voll mit Wasser. Allerdings – und das ist es, was unerklärlich bleibt - schien das ihrem Organismus gar nichts auszumachen - sie atmete einfach weiter.“

Die Doktorin schweigt einen Augenblick, kramt gedankenverloren in ihren Unterlagen.

Diesen Moment nutzt Owen, eine vorsichtige Vermutung loszuwerden: „Meinen Sie… dieses Ding ist vielleicht der Grund dafür, oder?“

Ein zerknirschtes Nicken ist die Antwort. „Wir konnten bis heute nicht feststellen, wie das möglich ist. Nun, wie Sie hier sehen können,“ fährt Dr. Nordhoff mit Blick auf den Bildschirm fort, „ist der Fremdkörper bereits vollständig mit dem umgebenden Gewebe verbunden. Und nachdem sich erwiesen hatte, dass dieses Ding wohl keinen bleibenden Schaden hinterlassen würde, hielten wir es für unnötig gefährlich, einen Luftröhrenschnitt anzusetzen.

Soweit also zu den äußeren Verletzungen. Die inneren betreffen vor allen Dingen die Nachwirkungen der Stichwunde: beschädigt wurden unter anderem ein Abschnitt des Zwölffingerdarms, der Boden der Gallenblase und ein großer Teil der Leber, ferner auch Teile der Bauchspeicheldrüse und ein Stück des Dickdarms – eigentlich ein Wunder, dass wir das alles wieder heil gekriegt haben. Es war auf jeden Fall nicht billig.“

Mit diesen Worten knallt Dr. Nordhoff den Ordner auf den Tisch, um ihre Besucher, deren Blick während des Vortrags recht abwesend geworden ist, zu vollster Aufmerksamkeit zu zwingen.

„Um ganz ehrlich zu sein,“ fährt sie fort, „die Kosten dieser Maßnahmen haben den amtlichen Lebensrettungsetat für einen einzelnen Patienten bereits weit überschritten, und ich würde gerne heute mit der Gewissheit zu Bett gehen, dass irgendeine Versicherung für die Behandlung dieses jungen Fräuleins zahlt. Das ist der einzige Grund, weshalb wir Sie angerufen haben. Miss Fellea hier“, sie deutet auf June, „ behauptet, dass Sie beide mit der fraglichen Patientin verwandt seien, und um ehrlich zu sein, bin ich noch nicht geneigt, ihr das zu glauben. Darum muss ich Sie in Rücksicht auf die ärztliche Schweigepflicht bitten, diese Informationen für sich zu behalten, gesetzt den Fall, dass es sich bei dem Fräulein nicht um Ihre verschollene Tochter handeln sollte. Sind Sie damit einverstanden?“

Dieser Ansage folgt ein langes Schweigen, das von nicht viel mehr durchbrochen wird als dem nervösen Haarekämmen Owens und dem Händeringen seiner Mutter.

Ungeduldig holt Dr. Nordhoff ein Formular und einen Stift aus ihrem Schreibtisch und legt es ihnen vor die Augen. Dann schickt sie June mit einer schroffen Geste hinaus und wartet.

Als sich nach zwei Minuten des Überlegens immer noch keine Entscheidung auf den Gesichtern der Besucher abzeichnet, schaltet die Doktorin ihren Bildschirm ab, packt den Sensor zurück in seine Mappe und stellt diese mit einem lauten Knall zurück an ihren Platz im Regal.

Die Endgültigkeit dieser Handlung zeigt Wirkung: endlich nimmt Jennifer Ryan den Kugelschreiber in die Hand, wartet noch einen Moment… und unterschreibt dann mit fest zusammengepressten Lippen.

Sie reicht den Stift erleichtert an ihren Sohn weiter, der sich eigentlich ein anderes Ergebnis erhofft hat und finster vor sich hinbrütet.

Doch nach einigem Zögern unterschreibt auch er.
 

Summers hat in der Zwischenzeit genug Zeit gefunden, seine schal gewordene Cola weg zu schütten und sich stattdessen lieber einen Kaffee zu holen.

Die Brühe schmeckt zwar wie aufgewärmtes Abwaschwasser, aber immerhin hält sie die Sinne wach und klebt die Zunge nicht so am Gaumen fest.

Als sich Summers wieder auf seinen Computerstuhl fallen lässt, verlassen seine Zielobjekte auf dem Bildschirm gerade den Sichtbereich der Kamera, und er kann ihrem Weg gerade noch folgen.

Mit einer Anspannung in den Fingern, wie er sie seit den Tagen seiner Eignungsprüfung nicht mehr hatte, klickt er nacheinander die Bildschirme weg, bis er die Gruppe endlich auf Überwachungsstation J2 wieder findet.

Als Erste durchschreitet Dr. Nordhoff die Schwingtür, während Ms. Ryan zuerst tief Luft holen muss, bevor sie sich von ihrem Sohn in den Saal führen lässt.

Auch Summers atmet noch einmal keuchend aus und bläst dabei eine Wolke aus Nikotin und Oregano in die Luft. Dann schaltet er ungeduldig auf die Aufnahmegeräte im Stationsinneren um und aktiviert die Bildschirmkamera, die das weitere Geschehen mitschneiden wird.

Zeitgleich öffnen sich vier Fenster: zwei zeigen leere Betten, eines das Gesicht eines großen, blass aussehenden Mannes mit gewelltem Haar… und das Vierte eine junge Frau, die im gleichen Alter wie June sein müsste.

Ihre Augen sind geschlossen, aber ihr mit rosa Salben eingestrichener Mund steht immer noch offen, wie an dem Tag, an dem sie gefunden wurde. Das ganze kühle, sanfte Gesicht ist mit großen Flecken übersät, die teils die Farbe von Veilchen angenommen haben, und die Aorta an ihrem Hals schlägt nur minimal.

Die Ähnlichkeit mit dem Foto in seinen Akten ist unbestreitbar, nur die Haare sind ein wenig länger.

Allerdings dürfte die bloße Ähnlichkeit wohl nicht ausreichen, um Summers Chief-Inspektor zufrieden zu stellen, zumal das Bild - trotz der höchstmöglichen Auflösung - nicht besonders scharf ist.

Was zum Teufel nützen auch moderne Rechner, wenn die Krankenhauskameras veraltet sind?

Dann jedoch kommt Summers ein anderer Gedanke. Er schließt eines der Fenster und öffnet ein anderes: eine Hilfskamera im Bettkasten, die normalerweise die Bewegungen der Schwestern überwacht.

Damit hat er einen guten Blick auf die Miene der älteren Dame, die gerade von June lächelnd neben das Krankenbett gewunken wird.
 

„Treten Sie nur näher, Ms. Ryan!“

Es ist sichtlich schwierig für die Angesprochene, dieser Aufforderung nachzukommen. Obwohl sie folgsam einen Fuß vor den anderen setzt und schließlich sogar vor dem Bett stehen bleibt, kann sie sich nicht dazu durchringen, ihrer Tochter ins Gesicht zu schauen. Hilfe suchend blickt sie sich nach ihrem Sohn um.

Doch dieser hat sich dem Bett in der Zwischenzeit von der anderen Seite genähert. Sein trotziges Antlitz ist genauso ohne Regung wie das der Patientin.

„Das ist sie also.“

Mehr sagt er nicht. Es klingt schroff und trocken und erinnert sehr an seinen Vater.

Der Gedanke an ihren Mann verstört Jennifer Ryan zutiefst.

Aber schlussendlich bewegt gerade das sie dazu, doch noch den Blick zu senken und auf das missgestaltete Äußere des Mädchens zu blicken.

Mit einem Schluchzer der Erlösung streckt sie die Hand nach dem dunklen Haaransatz ihrer Tochter aus: „…April… Liebling…“

Ihre Finger berühren die Stirn.

Ihr Handteller schiebt sich über die Augenbrauen.

Und in dem Augenblick, da sie glaubt, alles, was sie die letzten zehn Jahre an Sorgen ausbaden musste, überstanden zu haben, beginnt der Alptraum von neuem.

Auf einmal geht ein Ruck durch den Hals der jungen Frau.

Die Umstehenden weichen zurück.

Eine Schrecksekunde vergeht, dann wiederholt sich das Zucken noch einmal. Es beschränkt sich jedoch nicht mehr nur auf den Hals, sondern erfasst den ganzen Oberkörper in einem epileptisch anmutenden Anfall.

Der Hinterkopf des Mädchens wird tief in die Kissen gedrückt, während ihre Halsschlagader sich der Decke entgegenreckt, so scharf hervorgehoben, als wäre sie aus massivem Stein gemeißelt.

Unmenschliche Laute dringen aus ihrer Kehle, einmal schrill und krächzend wie Vogelkreischen, ein andres Mal dunkel und tief, gleich dem Gesang des legendären Buckelwals. Dazu kommen noch die durchdringenden Pfeiftöne der EKG-Geräte, die plötzlich beginnen, verrückt zu spielen.

Währenddessen eilen die anwesenden Schwestern in Alarmbereitschaft durchs Zimmer, vorbei an den Ryans und einer seltsam gefassten Dr. Nordhoff, die im Vertrauen auf ihre Gehilfinnen die Patientin beobachtet und nur knappe Anweisungen gibt.

June greift nach einer der Beruhigungsspritzen in den Notfallschubladen, während ihre Kollegin Sylia Kalenko verwirrt die Kurven des Kardiogramms begutachtet.

„Doktor, die… die Herz-Kreislauf-Funktionen… da kann doch irgendwas nicht richtig sein.“

Die Ärztin tritt mit sachlichem Schritt neben sie und gibt Schwester Fallea, die neben ihr bereits den Arm fixiert und die Nadel angesetzt hat, ein beiläufiges Zeichen, damit noch zu warten.

„Interessant,“ flüstert sie dann, den Blick fest auf das EKG gerichtet.

Für einige Minuten schweigt sie, ignoriert sogar das tierische Geschrei ihrer Patientin, das ungehindert weitergeht und die gutmütige Jennifer Ryan in Angst und Schrecken versetzt.

In Gedanken sagt sie immer wieder den Sermon auf, den man ihr als Kind beigebracht hat: „Der Onkel Doktor weiß, was er tut! Der Onkel Doktor weiß, was er tut!“

Aber die leeren Worte schaffen es nicht, ihre Furcht zu lindern – eher schüren sie sie noch. Immer wieder sieht sie ihre kranke Tochter im Delirium kämpfen. Immer wieder spürt sie die Hilflosigkeit der Träumenden und vollzieht sie nach. Und immer wieder sieht sie ihr eigenes Mitleid im Nichtstun versanden. Selbst ihr Sohn, der ihr in der Zwischenzeit wieder pflichtschuldig zur Seite geeilt ist, spendet mit seiner Umarmung keinen dauerhaften Trost.

Letztendlich passiert es wohl eher durch Zufall als durch feste Absicht:

in einem Anfall absoluter Disziplinlosigkeit, wie sie ihn bis jetzt noch nie an sich erlebt hat, stößt sie sich ab, trudelt für einen Moment in der grausamen, lärmenden Wirklichkeit… und schafft es dann, sich auf den Hocker neben dem Bett zu setzen und die wild zuckende Hand ihrer Tochter zu ergreifen.

Mehrere Male entwindet sich diese ihrem tastenden Griff, doch schließlich bekommt die ältere Frau sie zu fassen und drückt sie in die weichen Laken zurück.

Die widerstrebende Gliedmaße erstarrt augenblicklich unter der Berührung, und auch der Rest des Körpers folgt diesem Beispiel.

Eine Sekunde lang liegt alles in der Schwebe... dann entspannt sich die Patientin.

Schon bald ertönen die Lebenszeichen wieder in ihrem alten, regelmäßigen Rhythmus, und der Mund des Mädchens schließt sich mit einem kaum vernehmbaren Seufzer.

Erleichtert und eingeschüchtert zugleich sinkt Jennifer Ryan auf dem Krankenhocker in sich zusammen. Ihre Wangen sind im Vergleich zu vorher noch ein wenig eingefallener, trotzdem geht es ihr in mancher Hinsicht besser als jemals zuvor.

„Ist… ist sie in Ordnung, Doktor?“ fragt sie zögernd.

Die Angesprochene reagiert nicht.

„Man hat Ihnen eine Frage gestellt!“ hakt Owen nach, den die sture Eigenbrötlerei der Ärztin allmählich wirklich zur Weißglut treibt.

Trotz des zynischen Untertones in seiner Stimme lässt sich die Doktorin noch ein wenig Bedenkzeit. Dann sagt sie, an die Pflegerinnen gewandt: „Miss Kalenko, bereiten Sie alles für eine weitere Röntgenuntersuchung vor! Miss Fallea, ich brauche ein Notfallprotokoll, Nummer 07973-A. Und geben Sie im Sekretariat Bescheid, dass ich alle Konsultationen für heute absage!“ Sie wirft einen kurzen, unergründlichen Blick auf ihre Gäste. „Und bringen Sie bei der Gelegenheit drei Tassen Kaffee mit!“

„Oh ja, Kaffee…“

Dieser Satz, an sich ganz unschuldig, kommt nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, von Owen. Auch nicht von June oder von Schwester Kalenko, die den Raum sowieso bereits verlassen hat.

Er kommt von einer ganz anderen Quelle, getragen von einer klangvollen, emotionalen Stimme, die momentan noch von den Nachwirkungen eines Komas gezeichnet ist.

Vier Augenpaare schauen auf das Bett Nummer Vier und beobachten, wie eine mit Erfrierungen und Blasen gespickte Frau sich in ihrem Bett aufsetzt und die Arme nach oben streckt, um sie dann mit einem tadellosen Kreisen ihrer Schultern wieder zu senken – alles so vollkommen flink und geschmeidig, als wäre sie nach einem kurzen Nickerchen aufgewacht.

Noch etwas schlaftrunken öffnet sie die Augen, blinzelt versuchsweise die Person an, die ihr gerade gegenübersteht, was in diesem Fall Owen ist.

Der scheint sich in diesem Augenblick nicht ganz sicher zu sein, ob er lachen oder schreien soll.

Um genau zu sein, ringt sein Gesicht darum, überhaupt noch irgendeine Form von Gefühlen auszudrücken.

„A-april,“ stottert er und wirkt dabei wieder wie das kleine Kind, das beim Kauen von Unterwäsche erwischt wird.

Eigentlich hat er keinen Grund dazu, denn der Blick, den ihm seine Schwester zuwirft, ist selbst bei großzügigster Auslegung nicht wiedererkennend. Lebendig zwar, und interessiert wohl auch, aber nicht wiedererkennend.

„Was soll das heißen? Warte - ist es grade April? Meinst du das damit?“

Verwirrung auf beiden Seiten.

„Was ist?“ fragt April ungeduldig weiter. „Ich bin aus dem Koma aufgewacht und frage nach dem Monat. Was ist daran so außergewöhnlich? Ich hätte auch gleich nach dem Jahr fragen können, aber so lange muss es ja nun auch nicht gedauert haben! Wir haben doch noch 2209, oder?“

Diese Frage erschüttert selbst die erfahrene Doktor Nordhoff, die nun zum ersten Mal einen Anflug von Unsicherheit erkennen lässt. „Sie befinden sich im Jahr 2219,“ erklärt sie langsam, ihre Worte mit übertriebenen Gesten unterbreitend. „Wir haben Sie erst vor zwei Wochen gefunden, Sie waren schwer verletzt. Ihre Mutter und ihr Bruder sind hier, um Sie zu identifizieren, sehen Sie?“

Das junge Mädchen blinzelt nur und zieht eine Augenbraue hoch. Ganz offensichtlich hält sie die ältere Dame vor sich für ein wenig bescheuert.

Dr. Nordhoff beginnt in der Tat ein bisschen die Nerven zu verlieren. „Wer wurde 2198 Präsident? Der Vereinigten Staaten, meine ich!“

‚Ganz klar, ich bin in der Klapse gelandet,’ mag sich April denken. Laut sagt sie: „Moment! Das war… Sam Folkhorn! Die erste Frau, die jemals ins Weiße Haus kam, ohne First Lady zu sein. Aber das machte nichts, weil sie lesbisch war. Sechs Monate später wurde sie von Auftragskillern nach einer Friedenskonferenz ermordet. Aber was sollen diese Fragen eigentlich?“

Darauf erwidert die Doktorin nichts mehr. Seufzend zieht sie die Stirn kraus und schreitet laut „…bitte nicht, bitte nicht…“ murmelnd zur Tür hinaus.

June, Owen und seine Mutter bleiben dagegen wie versteinert stehen. Auch sie werden von April mit diesem seltsamen, vernichtenden Blick bedacht.

„Also, was ist jetzt mit Kaffee? Ich nehme auch Bingo! Cola, wenn das das Einzige ist, was man auf diesem gottverdammten Planeten noch zu trinken bekommt.“
 

Quellen:

http://de.wikipedia.org/wiki/Baskett_Slough_National_Wildlife_Refuge

http://www.uni-bielefeld.de/psychologie/ae/AE14/ALLGEMEINES/Aktuelles.htm

2.2: Spuren im Nichts

Einige Zeit später im Polizeirevier von Newport:

Eine Reihe von Leuten drängt sich um Ronald Summers’ Computer und versucht, einen Blick auf das Bildfenster zu erhaschen.

Neben Summers’ Chief-Inspektor Henrik Farlan und dem Polizeipräsidenten, Commissioner Green, sind das auch zwei seltsame Herren mittleren Alters. Sie haben einheitliche blaugraue Trenchcoats an, und darunter schwarz-grüne Kampfanzüge. An der Seite tragen sie Schusswaffen.

Gerade beugt sich der Zweite von ihnen über den Schreibtisch zum Monitor hin und schließt einen Data Cube an, während der andere mehrere Codenummern in seinen Messenger eintippt.

„Sie haben gute Arbeit geleistet, Herrschaften“, sagt er zu seinen Gastgebern. „Wir hatten schon nicht mehr damit gerechnet, das Mädchen wiederzufinden.“

„Wer hat die schon nach zehn Jahren?,“ wirft Farlan grob lachend in die Runde. „Meiner Meinung nach war es ja reines Glück!“

Glück?“, blafft Summers seinen Vorgesetzten an. „Wenn man bedenkt, dass sie nicht einmal einen gültigen Bürgerstatus oder eine CID-Nummer im Netz besitzt, gehört dazu schon ein bisschen mehr als bloß Glück.“ Er wendet sich an den Commissioner. „Mal nebenbei – ich war schon immer dafür, dass wir diese ganzen Vogelparks unter Beobachtung stellen sollten. Wenn sich da mal einer von den richtig harten Jungs hinverirrt, bekomm’n wir ihn so leicht nich’ wieder raus.“

„Was versuchen Sie damit anzudeuten?“, fragt Green in einem höflichen, aber recht distanzierten Ton.

„Nicht viel“, antwortet Summers. „Starkstrombarrieren, Geoscanner, Bären-Abschreckungs-Systeme… Denken Sie drüber nach, wenn ihnen mal wieder’n Massenmörder davonläuft!“

Einer der Trenchcoat-Träger unterbricht ihn, noch bevor Green seinen Arbeitnehmer für diese infame Unterstellung zurechtweisen kann: „Unter welcher Frequenz haben Sie Mrs. Ryans Telefonat aufgespürt?“

„Oh, das war 127.14.18.0/8, Telefonnetzwerk“, antwortet Summers wie aus der Pistole geschossen. „Kaum zu glauben, dass die immer noch über’s Festnetz anrufen. Komische Landeier.“ Er grinst überheblich zu Farlan hinüber. „Zuletzt wollten Sie diesen Suchkanal sogar ganz dicht machen. Aber ich hab mir gesagt: ‚Irgendwann kommt es doch noch, die kann nicht ewig von ihrer Familie fernbleiben!’ Und… wie soll ich’s sagen: ich hatte Recht!

Farlan und Green werfen ihrem Kollegen tödliche Blicke zu, aber die zwei Männer nicken bloß. „Wir werden Ihre Tatkraft in unseren Berichten erwähnen“, meint der Agent, der am Computer beschäftigt ist. „Das Syndikat wird Ihrem Präsidium gewiss eine großzügige Spende zukommen lassen – natürlich über die üblichen Kanäle.“

Damit zieht er seinen Data Cube aus der Schnittstelle und steckt ihn in seine Tasche.

Summers beobachtet dies, und ein kleiner Riss zeigt sich in seinem Panzer der Selbstzufriedenheit. „Sind Sie sicher, dass Sie das Ding nicht hier lassen wollen?“, fragt er den Agenten. „Ihr Fräulein Ryan ist immer noch beim Röntgen. Ich könnte die Kamera mitlaufen lassen, falls sich noch was Interessantes ergibt.“

„Wir haben alles, was wir brauchen“, bekräftigt der Agent mit einer Spur Endgültigkeit in der Stimme. „Wenn Sie dennoch etwas Bemerkenswertes erfahren sollten, zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren!“ Er legt eine Visitenkarte auf den Tisch, nimmt die Akte von April Ryan an sich und geht gemeinsam mit seinem Kollegen zum Ausgang. „Und ich meine etwas Bemerkenswerteres als die Brüste einer nackten Frau“, fügt er hinzu.

Die automatischen Schiebetüren schließen sich hinter ihren Rücken.

Es vergehen einige Minuten, in denen die versammelten Polizeibeamten nur ihren eigenen Gedanken nachhängen. Sie stellen sich vor, wie die Schritte ihrer Gäste in der Ferne verhallen, und lauschen dem Summen Dutzender von Rechenmaschinen nur mit halbem Ohr.

Nach einer Weile, die, wie er denkt, lang genug gedauert hat, springt Commissioner Green auf und tritt an den Computer. „Okay, Summers“, befiehlt er. „Folgen Sie den beiden!“

Der Fahndungstechniker schaut ihn mit großen Augen an. „Folgen? Einfach so?“

Er will erneut an seiner Zigarette ziehen, doch der Commissioner knickt ihm den Klimmstengel dicht unter der Nase ab und drückt ihn nah bei seiner aufgestützten Hand in die Rückenlehne.

„Jawohl, folgen!“, faucht der Commissioner. „Mit den Kameras, falls Sie es immer noch nicht begriffen haben!“

„Was meinen Sie denn, was Sie von denen noch erfahren können, Chief?“, wirft Inspektor Farlan zögernd ein. „Der Fall hat sich erledigt und wir bekommen unser Geld! Warum sich also noch einmischen?“

„Weil das hier mein Revier ist!“, antwortet Green, während Summers seinem Befehl folgend auf eine Kamera im Foyerbereich des Gebäudes umschaltet. „Und weil der Fall nach über zehn Jahren und mehreren Amtswechseln merkwürdigerweise immer noch nicht als ‚Verjährt’ eingestuft worden ist. Nennen Sie es einfach persönliches Interesse!“

„Ihr persönliches Interesse kann uns vielleicht den Kopf kosten“, prophezeit Farlan, doch dann tritt er ebenfalls an den Bildschirm und blickt neugierig in das kleine blinkende Rechteck, das nun eine Luftbildaufnahme des großen Eingangsportals zeigt. Dicht unter der blauen Leuchtreklame im vorderen Bereich parkt ein grauer Liefercontainer mit dem Logo der MTI-Corporation, einem Konzern, der, wie Green sich noch zu erinnern meint, einmal zu den Hauptaktionären des Police Departments gehört hat, seit dem Kollaps jedoch in der Bedeutungslosigkeit versunken ist.

Aus diesem Grund vermutet Green hinter dem Container auch eher ein geschicktes Tarnmanöver: seine Besucher können unmöglich von dieser kleinen Firma stammen.

„Zoomen Sie noch dichter ran!“, befiehlt er, an Summers gewandt.

Die Vergrößerung offenbart jedoch nur, dass die beiden Agenten am hinteren Ende des Lieferwagens stehen und sich wortlos eine Ladung Amathin spritzen.

Summers grinst dreckig, und sein übersteigertes Selbstwertgefühl kehrt augenblicklich zu seiner früheren Stärke zurück. „Nicht gerade das, was Sie erwartet haben, oder, Chief?“

„In der Tat, nein!“, antwortet Green kühl. „Aber vielleicht wird es das ja, wenn Sie jetzt so freundlich wären, mir das Wageninnere auf den Bildschirm zu holen! Wäre das für Sie möglich, Mr. Noch-Abteilungsleiter?“

„Schon gut, schon gut, aber dafür wird eine Sonderprämie fällig, klar?“

Mit einem lauten Brummen kommt das NFA-Suchgerät neben Summers’ Monitor in Gang und tastet die nähere Umgebung nach Netzfrequenzen ab. Auf dem Bildschirm erscheint eine Liste mit mehreren Kurzwellenempfängern, die nach der Reihenfolge ihrer Entfernung zum Sendegerät angeordnet sind. Ein Lokalisierprogramm rechnet jeweils ihren genauen Standort aus, der dann auf einer Geländekarte im Computer angezeigt wird.

Und tatsächlich erscheint im Bereich des Lieferwagens eine außerordentlich starke Frequenzquelle, die es Summers gestattet, einen genauen Bauplan des Containers mitsamt seiner Ausstattungen erstellen zu lassen.

Doch etwas an dem Ergebnis macht ihn stutzig. „Merkwürdig!“

„Was ist damit?“, drängt der Commissioner. „Können Sie darauf zugreifen oder nicht?“

„’Türlich kann ich das! Das ist es ja grade: die Frequenzquelle ist ein NFA-Modell des neuesten Standards, ähnlich wie unsere hier, aber ohne die üblichen Firewalls. Da frag’ ich mich doch glatt: Warum tun sie das? Können die sich das leisten, ihre Computer ohne Hackerschutz zu lassen?“

„Was geht uns das an? Haben die Zwei einen Rechner dort drin stehen?“

Summers nickt unschlüssig.

„Gut“, bekundet Green, „dann nehmen Sie sich den vor!“

Dem Fahndungstechniker fällt vor Entsetzen der letzte Rest seiner Zigarette aus dem Mund. „Ich soll was– nein, nein, keine Chance, Mann! Wenn Sie unbedingt mitverfolgen wollen, was diese Typen mit dem Frequenzgerät alles aufspüren – meinetwegen! Dazu reicht diese Verbindung hier vollkommen aus. Aber auf den Hauptrechner werde ich ganz bestimmt nicht zugreifen! Wer weiß, was der für Sicherheitschecks hat!“

„Sie werden zugreifen“, entgegnet Green, „oder Sie können Ihren guten Job hier an den Nagel hängen und in die Finanzbuchhaltung gehen. Ich habe es satt, mir von einem Möchtegernsicherheitsdienst wie dem EYE Vorschriften machen zu lassen. Wenn diese Leute so weitermachen wie bisher, wird es bald keine offene Polizeiarbeit mehr geben, und wir alle werden nur noch die Aufpasser bei irgendwelchen Studentenprotesten spielen dürfen. Ich will den gesamten Datenverkehr dieser beiden Herren auf diesem Bildschirm angezeigt bekommen, und zwar pronto! Wenn Sie also für den Moment ihre eigene Feigheit vergessen und weiterarbeiten können, dann werde ich dafür sorgen, dass niemand Sie dafür zur Verantwortung zieht! Sie werden die besten Sicherheitsvorkehrungen bekommen, die unser Revier zu bieten hat!“

Summers lacht höhnisch. „Oh sicher!“, säuselt er. „Das allmächtige NPD gegen den größsten außerstaatlichen Geheimdienst, den die Welt je gesehen hat! Für wie blöd halten Sie mich eigentlich?“

„Für ziemlich blöd, nebenbei bemerkt. Aber etwas Verstand müssten selbst Sie haben. Sie haben schätzungsweise noch zwei Minuten, dann sind die beiden Herren wieder in ihrem Lieferwagen. Wenn Sie sich bis dahin nicht entschieden haben… nun, ich glaube kaum, dass so ein Hackvorgang unbemerkt bleibt.“

Summers schaut seinen Chef lange und eindringlich an. Dabei lässt er die Knöchel knacken wie ein Schläger, der seinen Trumpf noch nicht ausspielen konnte.

Nach fünfzehn Sekunden an reiflicher Überlegung dreht er sich wieder dem Bildschirm zu… und bemerkt ein kurzes Datenflackern in der Frequenzliste.

„…Scheiße…“

Ein flüchtiger Blick auf das Kamerabild bestätigt seinen Verdacht: die zwei Agenten sind weg, und die Aktivitäten in der Frequenzliste bestätigen, dass ihr eigenes Netzwellensuchgerät dabei ist, hochzufahren.

Weswegen Summers’ kleiner Eingriff schon bald kein Geheimnis mehr sein wird…

Der Systemtechniker zögert einen Moment … dann rollt er den Drehstuhl hastig zur Tastatur zurück und beendet auf der Stelle die Verbindung zum Lieferwagen. Auf seiner schmierigen Stirn sind mit einem Mal Schweißperlen aufgetreten.

„Sind Sie jetzt zufrieden?“, schreit er Green an, haltlos vor Panik. „Ich hoffe, dass Sie sich die letzte Frequenznummer aufgeschrieben haben, denn das war das Letzte, was Sie von mir bekommen werden! Ich brauch’ mich nicht für Sie zur Zielscheibe machen, sie Scheißkerl! Und noch was: die Prämie kriege ich doppelt und dreifach zurü-“
 

Das Toben des Systemtechnikers bricht ebenso plötzlich ab wie es gekommen ist, als er von Angst gebannt auf seinen Bildschirm starrt, wo eine kleine Meldung aufgetaucht ist:
 

Ihrem Wunsch nach Datenübertragung wird stattgegeben. Beginne mit Upload…
 

Ein beunruhigendes Funkeln tritt in Summers Augen.

Er hatte die Verbindung doch gerade beendet…

Sein Finger regt sich bereits nach oben, um den Vorgang abzubrechen, wird jedoch von irgendetwas Übermächtigem, dass er selbst nicht zu beschreiben vermag, zurückgehalten.

Er schaut fahrig zuckend über die Schulter zu seinen Vorgesetzten, doch diese meiden seinen Blick wie schuldbewusste Hunde und treten bereits, langsam aber sicher, den Rückzug an.

Erst jetzt bemerkt Summers ein schwaches, rot blinkendes Licht unterhalb seiner Schreibtischplatte, und mit einer kindlichen Neugier, wie sie ihm sonst eigentlich fremd ist, schiebt er die Hand darunter.

Er spürt, wie etwas Leichtes, Metallenes auf seiner Handfläche landet.

Er zieht sie unter dem Tisch hervor… und sieht darauf einen kleinen, vierbeinigen Roboter stehen, der im Aussehen an eine sehr massive Spinne erinnert. Mit seinem einzelnen roten Glasauge, das in der Mitte seines runden Kopfes sitzt, sieht er zuerst den Bildschirm, dann das NFA und zuletzt Summers an, der das kleine Objekt naiv kichernd betrachtet.

Im selben Moment kommt das System zum Ende seines Uploads, und ein kurzer, schriller Signalton schallt vom Computer ausgehend durch den ganzen Raum. Summers nimmt ihn nur ungenügend zur Kenntnis, würde er aber aufschauen, so sähe er etwas Schreckliches:

Aus jedem Winkel, von jeder Ecke her kommen Roboter angekrabbelt, alle in derselben Größe und Ausführung wie der kleine in Summers Hand, und alle mit der Zielstrebigkeit von Kakerlaken, die über eine Obstkiste herfallen. Wie hungrige Raubtiere setzen sie sich an seinem Drehstuhl fest, klettern auf die Tischplatte neben seinem Computer und machen sogar vor seinen Cordhosen nicht Halt.

Schon bald sieht sich der Systemtechniker von einem Heer aus kleinen schwarzen Roboterbestien umringt, die ihn mit blutroten Augen ausdruckslos anstarren.

Endlich erwidert Summers diesen Blick, aber er zeigt ein seltsames Lächeln, als würde ihn dieser Anblick nicht im Mindesten beunruhigen. Er streichelt den kleinen Roboter auf seiner Handfläche noch einmal über das Köpfchen… um es dann zu umgreifen, auf den Boden zu schleudern und genüsslich zu zertrampeln.

Farlan und Green betrachten das Geschehen bereits von außen. Im Gegensatz zu ihrem Kollegen haben sie das Blinken schon vorher gesehen und richtig gedeutet.

Nun pressen sie ihre Hände verzweifelt und müde gegen das Türglas und kämpfen gegen den Drang, nach oben durch das Fenster zu schauen.

Beide denken sie wohl den gleichen, tröstlichen Grundgedanken:

Gott sei dank lassen die Sicherheitstüren nicht jene Schreie durch, die den Computerpool in diesem Augenblick in ein Meer aus Schmerzen verwandeln.

Summers aus Wahnsinn geborene Attacke kommt ihn teuer zu stehen.

Sehr, sehr teuer…
 

Im Lieferwagen beobachtet man das Geschehen ebenfalls, aber nicht mit dem Abscheu, den die Police Officer verspüren.

„Sind sie fertig?“, fragte der eine Agent, dessen in den Kampfanzug eingravierte Dienstnummer ihn als Commander Knight auszeichnet.

„Positiv“, antwortet der andere, dessen Name Bishop lautet.

Er lässt den Blick eines der Spinnen-Bots über den Boden des IT-Raums schweifen.

Die rauchende Hülle des Systemtechnikers liegt schmerzhaft zusammengekrümmt auf den Rollfüßen seines Drehstuhls. Ein paar der Roboter, die ihm die Kehle gebraten haben, quellen ihm noch aus dem Schlund.

Einer davon kollert zu Boden, als sich der Drehstuhl nach hinten bewegt.

Inspektor Farlan scheint einen Blick auf seinen toten Mitarbeiter werfen zu wollen. Hinter ihm nähern sich zögernd die schwarzen Halbschuhe von Commissioner Green.

Der Augenblick ist günstig: Bishop schaltet die Sprachausgabe ein und bewegt seinen Mund dem Transmitter zu.

„Lassen Sie sich das eine Warnung sein, Herrschaften! Unsere Arbeit ist streng vertraulich und duldet keine Einmischung von zweitklassigen Ermittlungsbehörden wie Ihrer. Sie werden kein Wort mehr über diese Sache verlieren, zu niemandem! Sollten Sie es doch tun, werden wir von den in unseren Statuten festgelegten Rechten Gebrauch machen und Sie der EYE - Werksspionage anklagen! Ich brauche Ihnen hoffentlich nicht zu erklären, was das heißt?“

Über die Fernsteuerung bewegt er das Sichtgerät des Robots aufwärts, den Gesichtern der Officer entgegen.

Greens Gesicht bleibt, ob dieser Drohung, verhältnismäßig regungslos. Um seine Warnung zu unterstreichen, steuert Bishop seinen Roboter am Hosenbein des Commissioners hinauf, der ihn angeekelt abschüttelt und dann, nach einem weiteren Blick auf die Leiche, kleinlaute seine Zustimmung bekannt gibt.

„Gut!“, verkündet Bishop, insgeheim lächelnd. „Melden Sie sich bis heute Nachmittag um halb vier im Syndikatsgebäude in der Grendel Avenue, und berichten Sie alles, was Mr. Summers uns gesagt hat. Seien Sie pünktlich, und kontaktieren Sie in der Zwischenzeit niemanden außer uns! Kommando Shepherd – Ende!“

Mit diesen Worten schaltet er die Sprachausgabe aus und lehnt sich zurück. Im Befehlston spricht er zu seinem Kollegen: „Schick eine Memo an die Zentrale! Gib ihnen alle Daten durch, die wir bekommen haben! Das Verfahrensprotokoll werde ich gleich noch fertig machen. Sag ihnen, sie sollen uns einen Einsatztrupp zusammenstellen, möglichst ein paar von den japanischen Kollegen und die Veteranen aus der MT-7.“

Er wirft einen Blick auf die Akten in seinen Händen. Ohne genauer zu lesen weiß er, dass sie enorme Lücken enthalten – Lücken, die aus Geheimhaltung und Vergessen entstanden sind.

Heute noch wird er die Lücken füllen… wenn nötig mit Kugeln.
 

Die Person, die diese Akten betreffen, befindet sich zur gleichen Zeit in einem Zugabteil, gemeinsam mit der Frau, die behauptet, ihre Mutter zu sein.

Ihr ist ein wenig mulmig zumute, was durchaus nichts Schlimmes zu sein braucht, wenn man bedenkt, dass sie gerade nach mehrwöchigem Koma aus dem Krankenhaus entlassen worden ist.

Aber gerade die Geschwindigkeit dieser Entlassung macht April Ryan stutzig. Obwohl sie sich nicht mehr an besonders viele Dinge erinnern kann, so ist sie doch sicher, dass ein derartiger Akt normalerweise wesentlich mehr Papierkram mit sich bringt.

Einer der Gründe dafür liegt wahrscheinlich in der Röntgenuntersuchung, die sie gerade eben über sich ergehen lassen musste: sie hat ergeben, dass alle ihre Knochen und Organe ordentlich verheilt worden sind und dass sogar ihr Bindegewebe sich regeneriert. Nach und nach werden die Frostbeulen in ihrer Haut sich von innen heraus wieder aufbauen, bis zuletzt kaum eine Spur von ihnen bleiben wird.

Tatsächlich sind diese Stellen jetzt – eine Stunde nach Abschluss der Analysen – zu dünnen Flecken geworden, die man (so meinte zumindest June) nur noch beim nächsten Schaumbad abzuschrubben brauchte.

Ein höchst seltsamer Fall also, in dem sie sich befindet; ein Ereignis, wie es selbst in sehr schlechten Arztromanen nur höchst selten vorkommt.

Doch noch ein anderer Grund hat ihre Entlassung bewirkt, soviel weiß April, und diesen einen Grund hat Dr. Nordhoff ihrer ‚Mutter’ zuvor ins Ohr geflüstert, womöglich in der Meinung, dass es so ein Geheimnis bleiben würde.

„Sie meint, du würdest an retrograder Amnesie leiden“, verkündet Jennifer Ryan in gerade diesem Moment.

„An Gedächtnisschwund?“, wundert April sich.

Jennifer Ryan nickt. „Das hat sie am meisten erschreckt, glaube ich. Sie konnte Psychologie noch nie richtig ausstehen. Und Angewandte Chirurgie hätte sie nicht studiert, um sich hinterher mit, mit Phallus-Symbolen oder sowas zu beschäftigen.“

Aus irgendeinem Grund muss April lachen. Es ist offenkundig, dass diese Frau gar nicht weiß, was zur Hölle ein Phallus sein soll, auch wenn sie in ihrem Leben ganz bestimmt schon einen gesehen hat.

Sie wird jedoch gleich wieder ernst, als sie zum ursprünglichen Thema des Gesprächs zurückkehrt. „Aber… wenn ich angeblich an Amnesie leide, warum schickt sie mich dann nicht in die Psychiatrie? Ich meine, ich könnte ja auch eine ehemalige Kettensägenmörderin sein, die ausflippt, wenn sie Frauen mit gelben Schuhen sieht. So genau wissen kann man das ja nie!“

Ihre vorgebliche Mutter lächelt. Auch wenn Aprils Menschenkenntnis nicht sonderlich ausgeprägt ist, spürt sie dennoch, wie die Frau in diesen Worten ihre leibhaftige Tochter erkennt, ganz so, wie man sich an die Redeweise der Großeltern gewöhnt oder die Spracheigenheiten der heimatlichen Umwelt in sich aufnimmt.

Nur April selber fühlt leider nichts dergleichen. Die sterilen, kalten Wände des Zuges, so stilvoll designt sie auch sein mögen, erfüllen sie mit Unbehagen, und die schüchterne, duckmäuserische Art der Frau lässt sie einander auch nicht warm werden. Die meisten Fragen beantwortet sie nur ausweichend, und ihr unerschütterlicher Glaube, ihre leibliche Tochter vor sich zu haben, rührt April zwar… aber er macht ihr auch Angst.

Es ist möglich, dass sich dies mit dem Eintreffen in ihrem Heimatort ändern wird, aber noch kann April dazu nicht das Geringste sagen.

„Du wirst schon sehen“, antwortet die Frau ruhig, beinahe entspannt. „Es hat sich nicht viel verändert. Du wirst schon sehen“, wiederholt sie noch einmal, als sie, zum Fenster hinausschauend, die von Schnee bedeckten Heideflächen des Willamette Valley erblickt.

Auch im 23. Jh. gehört diese Region immer noch zu den fruchtbarsten der Erde. Die vielen landwirtschaftlichen Betriebe, die sich hier angesiedelt haben, mögen zum Teil industrialisiert worden sein, und sicher ist bei dem ein oder anderen immer noch diese Massentierhaltung gang und gäbe.

Aber andererseits ist gerade diese rückständige Region nach dem Kollaps regelrecht aufgeblüht.

Denn als sich mit dem Zusammenbruch des Hyperspace auch die Sehnsucht der Menschen nach einem Leben mit der Natur manifestierte, stieg die Nachfrage nach Bioprodukten und der Entwicklung umweltfreundlicher Anbaumethoden rapide an. Da die Landwirtschaft von den Entwicklungen der Raumfahrttechnik nicht in so hohem Maße abhängig war wie der Rest der Welt, konnte sie auch in den Schwarzen Tagen weiter bestehen, ohne viele bleibende Schäden davon zu tragen.

Darüber hinaus schafften sich die agrarwissenschaftlichen Institute eine starke Lobby in der Politik, und so ist es zum Teil zu erklären, dass Familien wie die der Ryans seit Jahrzehnten immer noch in diesem Geschäft tätig sein konnten.

Während der ganzen Fahrt spricht Jennifer Ryan von ihrem kleinen Bauernhof, berichtet von Fehlernten und Krankheitsfällen im Rinderstall, all diesen kleinen Ereignissen eben, die für Menschen wie sie wichtig und erwähnenswert sind. Dabei erwähnt sie auch immer wieder die Rolle ihres Mannes, Aprils ‚Vater’, der hart dafür arbeiten musste, dass alles so werden konnte, wie es jetzt ist.

April allerdings hat erhebliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Erzählungen. Außer ein paar höflichen Ermutigungen steuert sie zu diesem Teil des Gespräches nichts weiter bei.

Dann endlich fährt der Zug in den Bahnhof eines kleinen Dorfes ein, das still inmitten vieler Weizen- und Gemüsefelder liegt. Hier müssen die beiden aussteigen.

Jennifer Ryan wartet einen Moment, bevor sie den Bahnsteig verlässt, und blickt ihre Tochter, die noch in der Waggontür steht, fragend an. Ob sie diesen Ort wieder erkennt?

Nein, dem ist nicht so! Sie schaut sich kurz um, ahnt sogar, dass es sich bei diesem so genannten Bahnhof um nicht mehr als einen überdachten Schienenabschnitt handelt, wie es ihn in der Provinz zu tausenden gibt, aber im Grunde weiß sie mit den grauen Häusern um sich herum nichts anzufangen… und das ist für ein Landmädchen, dass nach zehn Jahren Abwesenheit in seinen Heimatort zurückkommt, schlicht und einfach unnormal.

Denn in einer Beziehung hat Jennifer Ryan Recht: in solch kleinen Dörfern ändern sich die Dinge nur langsam, und jeder, der dort aufwächst, kann meist die Straßen und Wege, die Häuser und die Geschichten ihrer Bewohner in- und auswendig hersagen, wenn er nur tief genug gräbt.

Aprils Verschwinden vor zehn Jahren gehört zu jenen Geschichten, und entsprechend verwundert ist man über ihr Wiedererscheinen. So kurz nach der Mittagsruhe und bei dem vergleichsweise kalten Wetter sind nur wenige Leute auf den Straßen, aber so gut wie jeder spricht die beiden Frauen im Vorbeigehen an, stellt Fragen, erkundigt sich nach dem werten Befinden oder gibt seiner Freude Ausdruck, dass April nach so langer Zeit endlich wieder hergefunden hat. Vor allem ein alter Bauer mit grauem Schnauzbart, der die Ryans gut zu kennen scheint, kann seine Genugtuung darüber kaum zurückhalten.

„…denn siehst du, es geht ja nicht mehr so einfach wie vor’n paar Jahren, und deine arme Mutter musste sich ganz schön abschuften mit eurem Hof und so, und dann ist ja auch noch der alte Harold – Gott hab ihn selig – und das alles. Natürlich, will nichts gegen Daniel sagen, er macht sich ja ganz gut, jetzt, wo er sich eingearbeitet hat, aber ’s is’ halt nich dasselbe, und das merkt man…“

Der Alte zieht gelassen an seiner Pfeife, und diesen Moment nutzt Jennifer Ryan aus.

„Wir müssen jetzt ernsthaft los, Rick“, sagt sie und zieht April weiter. „Owen ist schon nach Hause gefahren, und Pater Marduk wollte zum Tee kommen. Wir müssen los.“

Der Alte nickt beifällig und gibt dem Mädchen noch ein unaufgefordertes Schulterklopfen mit auf den Weg, was dieser mehr als übel aufstößt.

Ihr Weg führt sie weiter durch das verschneite Dorf. Nach etwa zweihundert Metern geht eine kleine Gasse vom Hauptweg ab und bringt sie eine halb Meile weit in die Gemüsefelder hinein, bis schließlich hinter einer Wegbiegung die Farm der Ryans in Sicht kommt: ein großes, klotziges Lagergebäude, das zusammen mit den Hauptgebäuden und den Stallkomplexen ein Rund um einen fünfeckigen Innenhof bildet, und etwas abseits davon der Wasserturm aus Plastik, an dessen Dach meterlange Eiszapfen hängen.

‚Nun, das ist es also’, denkt April. ‚Home, Sweet Home! So sweet, dass man es am liebsten auf eine Postkarte verbannen möchte.’ Ihre Augen folgen der ‚Mutter’, die kurz auf einen Feldweg tritt, um einige Messinstrumente, die aus dem Schnee ragen, zu überprüfen.

„Denn du weißt ja, die Winter sind wieder kälter geworden!“, fügt sie zur Erklärung hinzu.

„Nein, weiß ich nicht“, antwortet April leise, aber scharf. Ihr geht dieses ganze Getue um ihre Person allmählich gewaltig auf die Nerven. Wenn es nach ihr gegangen wäre, läge sie jetzt immer noch in ihrem Krankenbett, bewusstlos, aber glücklich, und bräuchte sich um nichts weiter Sorgen zu machen als um die seltsamen Träume, die sie verfolgen.

Falsch – sie müsste sich überhaupt keine Sorgen machen! Zum Sorgen machen braucht man so etwas ein Bewusstsein, und diese Träume waren das Bewusstsein.

Denn soviel weiß sie noch: Träume verarbeiten Erinnerungen. Demzufolge müssten auch die Träume, die April hat, eine verzerrte Spur des in ihrem Gedächtnis abgespeicherten Protokolls darstellen, eine Art Back Up-Liste ihres Gehirns.

Und theoretisch – nur theoretisch – müsste sie die dazugehörigen Erinnerungen irgendwo abrufen können.

Wenn sie nur wüsste wo…

In diesem Moment tritt Jennifer Ryan wieder auf die Straße hinaus und bedeutet ihr, mit zur Hinterseite des Hauptgebäudes zu kommen.

Dort ist das Wohnhaus der Ryans angebaut, rechterhand der breiten Einfahrt zum Hof.

Äußerlich ist es von den Einfamilienhäusern im Ort nicht zu unterscheiden: zwei Stockwerke hoch, rechteckige Vorderfront, ein Spitzdach, mit rotem Schiefer gedeckt. Es gibt Millionen solcher Häuser in der Welt.

Warum sollte April gerade in diesem aufgewachsen sein?

„Wir haben es neu streichen lassen“, erklärt Mrs. Ryan, und ein Anflug von Stolz klingt aus ihrer Stimme, wenn auch nur kurz. „Nach dem Kollaps sah es hier einfach fürchterlich aus, vor allem oben im Dorf. Es hat nur zwei Wochen gedauert, aber ich glaube, keiner von uns wird das jemals vergessen können.“

April bleibt schlagartig stehen. Ihr Überdruss hat gesiegt. Sie schafft es gerade so, die Zunge im Zaum zu halten, aber selbst die anderen Worte klingen noch wie hinter den Zähnen hervorgepresst.

„Was genau ist denn passiert?“ faucht sie. „Können Sie mir das nicht einfach sagen?“

Eine peinlich berührte Pause entsteht, die Jennifer Ryan einschüchtert und April tief durchatmen lässt.

„Hören Sie!“, fügt sie schließlich hinzu. „Ich will wirklich nicht undankbar erscheinen. Sie haben mich einfach so mitgenommen, ohne vorher nach Bedenkzeit zu fragen. Das ist zwar absoluter Wahnsinn, aber okay! Angeblich bin ich ja Ihre Tochter, und wenn Sie sich komplett sicher damit sind, werd’ ich wohl mitspielen müssen.

Aber meinen Sie nicht, dass sie mir trotzdem von Zeit zu Zeit etwas erklären könnten? Ich bin nach zehn Jahren aus dem Koma erwacht und habe meine gesamte Vergangenheit verloren. Ich kenne Sie nicht, ich kenne das Dorf nicht, ich weiß nicht, was ich mit all diesen Andeutungen anfangen soll. Ich weiß nicht einmal, ob sich das jemals ändern wird. Da wäre es doch einfacher, wir lassen diese ganze Vertrautheitsnummer und reden offen miteinander, oder?“

Schwer atmend schlägt Jennifer Ryan die Hände vor den Mund, und auch April kann das hektische Pochen ihres Herzens kaum unter Kontrolle halten. Es fühlt sich an, als würde sich eine kalte Eisenplatte auf ihre Eingeweide legen, die gleichzeitig zu rebellieren schein.

Doch seltsamerweise (und zu ihrem eigenen Erstaunen) lässt Jennifer Ryan die Finger schon wieder von ihrem Gesicht gleiten.

Sie sieht April in die Augen und lächelt tapfer. „Du hast Recht“, murmelt sie. „Dir muss das alles wie ein schlechter Witz vorkommen. Aber du... du wirkst immer noch so… so…“

Da ist er wieder - dieser Blick. Ängstlich, aber doch in dem festen, unabänderlichen Glauben, ein Stück Wahrheit entdeckt zu haben. „Also, was möchtest du zuerst wissen?“

„…Wie? Oh, ja… ähm… Moment…“

Die eine Hand zum Zeichen der Unterbrechung erhoben schaut sich April gedankenverloren im Hof um.

Zu ihrer Linken steht ein Scheunentor offen, aus dem ein Duft von Ammoniak und Haferstroh dringt. Rechts von sich hört sie das Wummern einer Maschine und das Knirschen von Kuhzähnen, das kurze Zeit später einem tiefen Brüllen Platz macht.

Nun, da sie den Zug und das sterile Krankenhaus hinter sich gelassen hat und mit ihren Augen und Ohren, ihrer Nase und ihrem Gaumen diesen Ort bewusst auskostet; nun, da sie die Angst einen Moment hinter das Erleben zurückgedrängt hat; nun, da diese Sinnesreize gleichzeitig auf sie einströmen, fühlt sie sich ein Stück weit wieder als Teil dieser Welt, und ihren Belangen verpflichtet.

Sie reckt die Nase in den Wind, und ihre Lungen füllen sich mit dem Geruch und der Kälte dieses Wintertages.

Dann tritt sie einen Schritt vor… und fühlt etwas Weiches unter dem Schuh.

Sie erbleicht. „Pfui Spinne… ist das…“

„Ja, mein Kind, das ist es.“

April fährt er herum – der Satz kam nicht von ihrer Mutter, sondern aus der Richtung des Hauses.

Dort, in einer schattigen Ecke der Veranda, steht, auf einen Gehstock aus Eiche gestützt, ein sehr athletisch wirkender, älterer Herr im schwarzen Anzug und mit einem breiten Schal aus violetter Wolle um den Hals.

Langsam tritt er aus den Schatten und schreitet die drei Stufen zum Hof hinab, direkt auf die beiden Frauen zu.

Obwohl er lächelt und seine dunklen Augen mit ihren Lachfältchen unerschöpfliche Geduld und Lebensfreude ausstrahlen, kann April nicht umhin, bei seinem Anblick zu erschauern.

Dieses Gesicht… und die schwarzen Haare… erinnern sie an jemanden…

Doch bevor sie etwas sagen kann, fällt ihre Mutter ihr ins Wort.

„Hochwürden! Sie sind schon da?“

Der Mann, der bis jetzt nur Augen für April hatte, wendet sich ab.

„Der Segen des Herrn sei mit Ihnen, Jennifer“, entgegnet er mit einer leichten Verbeugung. „Ich bin Owen zufällig auf der Hauptstraße über den Weg gelaufen, und - Gottes Gnade sei dank - hatte er die Freundlichkeit, zu bremsen.“

„Ich muss wirklich ein ernstes Wörtchen mit ihm reden. Er kann nicht dauernd mit neunzig durch die Ortschaft rasen. Und gerade vor Ihrer Haustür, Pater…“

„Schon gut. Hauptsache, ihm ist nichts passiert.“ Der Pater formt die Hand zu einer segnenden Geste und wendet sich dann wieder April zu. „Ich weiß, dass es sich in dieser Form eigentlich nicht gehört, aber – ich bin Pater Benjamin Marduk!“ Er reicht seinem Gegenüber lächelnd die Hand. „Erfreut Sie kennen zu lernen.“

April ist ein wenig erstaunt. „E-ebenso“, sagt sie und erwidert den Handschlag, der unerwartet fest ist.

Der Pfarrer erkennt den Ausdruck auf ihrem Gesicht, und sein Lachen weicht einem Anflug von Ernst. „Natürlich hat mir Owen alles über die seltsamen Umstände erzählt. Ich verstehe, dass Sie ihre Schwierigkeiten damit haben, dies alles zu akzeptieren.“

„Das kann man wohl sagen“, murmelt April, bevor ihr einfällt, dass ihre Mutter noch neben ihr steht. Doch Jennifer Ryan ist unerwartet ruhig geblieben, was April darin bestärkt, weiter zu reden: „Verzeihen Sie mir, falls ich Sie kennen sollte, aber…“

„Oh nein“, erwidert der Pfarrer lächelnd, „Sie können mich gar nicht kennen: ich bin erst vor knapp neun Jahren dieser Gemeinde zugeteilt worden, kurz nach dem…“

Das Wort liegt ihm sichtlich auf der Zunge, aber anders als Jennifer Ryan wagt er nicht einmal, es auch nur lautlich zu streifen.

„Vielleicht sollten wir lieber ins Haus gehen“, meint Aprils Mutter diplomatisch.

„Ja…“, bestätigt Pater Marduk sichtlich erregt. „Das ist kein Thema, über das man in dieser Kälte sprechen sollte. Kommen Sie, mein Kind!“

Während die beiden auf die Tür hinter der Veranda zustreben, wirft April noch einen letzten Blick auf die Umgebung, die von nun an ihr Zuhause sein wird:

Dunkles Holz und Wellblech, Schieferziegel und Metall, von einer leichten Schneeschicht bedeckt. Stroh auf dem Boden und kühle Feuchtigkeit in der Luft. Die Präsenz von Tieren und der Hauch von täglicher Plackerei.

Eigentlich sollte es nicht das sein, was sie anstrebt, doch nun, da sie einmal hier ist, kann sie sich diesem Ort nicht mehr entziehen.

Sie putzt ihren Schuh in einer Schneewehe, bevor sie zögerlich den älteren Leuten in die Küche folgt.

2.3: Kryostase


 

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Dunstige Wolken aus Eisnebel schlagen gegen die Scheiben des MTI-Lieferwagens, während er über die durch unterirdische Wärmeleitungen enteiste Fahrbahn braust.

Agent Knight sitzt gelangweilt am Steuer und fixiert starr das Messgerät für die Temperatur der Außenscheibe. Sein Kollege Bishop führt derweil ein Ferngespräch über den Eye Channel.

„Wie? So lange? Das darf doch nicht wahr sein, Pease, du hattest doch… Nein. Nein, es geht keine andere. Ich hatte dir ausdrücklich… Ja. Ja, verstanden! … Gut. Kommando Shepherd – Ende!“

Leise zischend schiebt Bishop das Kommunikationsgerät an seinem Handgelenk unter den Ärmel zurück. Sein Blick wandert ins Leere.

Knight am Steuer wendet das Kinn halb über die Schulter.

„Klingt nicht so, als bekämen wir bald Verstärkung.“

Bishop weiß nicht, wie er antworten soll. Er ist zu aufgewühlt.

Ruhe bewahren ist das absolut Wichtigste in einer solchen Situation, doch der Agent ist sich bewusst, dass ihm das gerade jetzt schwer fallen wird – der heilige Ernst seiner Mission überstrahlt sogar die Regeln der Eye-Dienstordnung.

Natürlich, das Mädchen ist orientierungslos und weiß nichts von seiner Bedeutsamkeit, doch das garantiert noch lange keine Sicherheit, erst recht nicht gegen die Eingriffe der so genannten ‚Unterdrücker’.

Schon so lange verbreiten sie ihre Lügen auf dem Planeten, und zu wenige sind übrig geblieben, die noch die Waffen gegen sie erheben könnten.

Gegen sie… und für die anderen.

„Also?“, fragt Knight, diesmal eine Spur härter.

Bishop weiß, dass sein Partner selbst nach jahrelanger Erfahrung gewisse Dinge auf die leichte Schulter nimmt. Das ist nicht ungewöhnlich oder gar fehl am Platze, wenn man für das Syndikat arbeitet.

Man lernt, seinen Befehlen zu gehorchen und allem anderen weniger Platz einzuräumen. Das ist das Grundprinzip der Polizei, und niemand hat es je in Frage gestellt.

So sollte es auch jetzt nicht sein…

Mühselig, leicht behindert durch seinen Kampfanzug, streckt sich Bishop nach unten, um aus einer Nische unter dem Zentralrechner den Behelfswerkzeugskasten für Waffentechnik hervorzuziehen.

Er zählt die magnetischen Schraubenzieher ab und greift schließlich nach einem Exemplar mittlerer Größe.

Äußerlich unterscheidet es sich rein gar nicht von den anderen. Doch wer seine Geschichte kennt, erblickt das Vermächtnis einer anderen Zeit.

Einer helleren, glücklicheren Zeit.

„Wir haben acht Stunden…“, sagt Bishop schließlich, bevor er den Apparat an die Fugen seiner Waffe setzt.

„Acht Stunden. Vielleicht noch mehr.“
 

16:00 Uhr.
 

Die Küche der Ryans liegt im letzten Licht des dämmernden Winternachmittags.

April sitzt, in dem Bemühen, eine gute Figur zu machen, neben Pater Marduk am Esszimmertisch und trinkt dampfenden Kaffee, während ihre Mutter in leisem Ton mit Owen redet, der gerade zur Vordertür hereingekommen ist. Aus irgendeinem Grund scheint sie verärgert zu sein.

„Zum Donnerwetter, Owen! Kann er nicht wenigstens dieses eine Mal…“

„Du weißt, dass das nicht einfach für ihn ist, Mutter. Gib ihm noch etwas Zeit, in Ordnung? Er wird schon irgendwann kommen, wenn er sich nicht von Rebecca auffressen lässt.“

Jennifer Ryan will noch einmal widersprechen, aber dann versagt ihr doch die Stimme, und sie setzt sich zu den anderen.

„Entschuldigung“, erklärt sie niedergeschmettert, „Daniel ist immer sehr konzentriert bei der Arbeit. Wenn er einmal eine Sache angefangen hat, führt er sie auch zu Ende, egal ob Besuch ansteht oder nicht.“

Pater Marduk lächelt wissend. „Das ist auch nicht verwunderlich, wenn es um Rebecca geht. Für sie hat er schon immer alles stehen und liegen gelassen.“

„Pater, das ist nicht dasselbe! Er wird langsam…“ Wieder hält Miss Ryan in ihren Worten inne, ganz so, als würde sie einen wunden Punkt aussparen wollen. Dichte graue Wolken schieben sich vor den mattgelben Horizont und lassen ihr Gesicht wie eine venezianische Pierrot-Maske erscheinen. Ein kleiner Schatten, der wie eine Träne aussieht, wandert über ihre Wange und verschwindet unter ihrem Kinn.

April schüttelt voll Missmut den Kopf. Sie versteht nicht, was diese Frau so sorgenvoll macht.

Wenn Daniel diese Rebecca wirklich so sehr liebt, sollte das für seine Mutter doch ein Grund zur Freude sein… es sei denn, das Mädchen wäre das letzte Scheusal!

Einen einzelnen stärkenden Schluck Kaffee lässt April noch durch ihre Kehle sickern, dann setzt sie die Tasse auf ihren Schoß und schaut dem Pfarrer, der ihr zublinzelt, fest in die Augen. „Sie hatten mir versprochen, etwas über den Kollaps zu erzählen. Ich weiß zwar überhaupt nichts darüber, aber nach allem, was ich gehört habe, muss es schrecklich gewesen sein.“

„Mehr als schrecklich, mein Kind, mehr als schrecklich. Ich kann zwar darüber nur sagen, was ich selbst erlebt habe, aber…“. Ein fiebriger Glanz schimmert in den Pupillen des Pfarrers, doch nachdem er sich vergewissert hat, dass Aprils Mutter ihm grimmig zunickt, beginnt er mit fester Stimme zu erzählen:
 

„Es geschah vor etwas mehr als zehn Jahren. Ich war damals noch Mitglied der Jesaia-Akademie von Neu-Babylon und dort im Institut für theologische Forschungen tätig. Wir waren eine private Einrichtung und dementsprechend von Fördergeldern abhängig, darum mussten wir auch Aufträge übernehmen, die sich… den eigentlichen Zielsetzungen unseres Fachs nur noch vage annäherten, für die wir aber aufgrund unserer Ausbildung am besten geeignet waren.

Wenn ich heute darauf zurückblicke, dann waren es wohl Zeiten der Dekadenz: wir ruhten auf unverdienten Lorbeeren und missachteten unsere eigentliche Mission, in dem Glauben, sie sei sekundär geworden. Die ersten Anzeichen für den Untergang… sie waren bereits da, doch sie kamen versteckt und im Trott der Gewohnheit.

In unserem Institut waren schon immer Nachrichten über seltsame Ereignisse eingetroffen, über Visionen und himmlische Zeichen, über Wunder, wie sie nicht einmal die Bibel beschreibt, doch wir betrachteten sie als nicht weiter bedeutsam, zumal so etwas in unserer Gegend häufiger vorkam.

Wenn wir etwas näher untersuchen konnten, so sahen wir es stets nur im Blendlicht der Wissenschaft, und nie hielten wir es für nötig, näher nachzufragen, denn nichts schien einer genaueren Überprüfung standzuhalten.

So schien es anfangs auch in diesem Fall zu sein, doch Gott strafte unsere Ungläubigkeit und lenkte unseren Blick in die einzig wahre Richtung… zumindest näherungsweise… wie auch immer!

Die Vorfälle, von denen ich sprechen will, müssen irgendwann im Juni begonnen haben, in der Zeit vor Pfingsten. Doch die Meldungen davon erreichten uns erst sehr viel später, und als wir begannen sie zurückzuverfolgen, waren einige Spuren bereits erkaltet.

Jedenfalls kam es im gesamten Stadtgebiet auf einmal zu merkwürdigen ‚Beobachtungen‘: kleine Dinge zunächst, die man nur aus dem Augenwinkel wahrnimmt. Sie waren anders als die Zeichen, die zu deuten wir normalerweise beauftragt wurden. Manche Leute hörten plötzlich Geräusche, die sie noch nie zuvor gehört hatten; Geräusche, wie sie nicht in die Großstadt passen: das Geklirr von Glockenspielen zum Beispiel, oder Tiergeräusche, wie aus den Regenwäldern zu Zeiten des Ozonlochs.

Am Anfang machte man nicht viel Aufhebens darum, aber dann, Mitte Juli, wurden aus den Geräuschen Bilder, und statt einzelner Beobachter waren es nun ganze Gruppen, die diese Erlebnisse teilten.

Natürlich hatten wir im Institut schon von ähnlichen Vorfällen gehört, im Umfeld von Marienvisionen etwa, daher war uns das Thema geläufig und wir glaubten uns erhaben gegenüber den Hysterien der Massen. Doch als wir sie dann näher betrachteten… wir waren überrascht… und leugneten es im gleichen Atemzug!

Zwei Wochen lang diskutierten und forschten wir täglich an diesem Problem. Wir wälzten Abhandlungen, verglichen Phantombilder, studierten Berichte und Bibelinterpretationen.

Doch nichts, was wir sahen, nichts, was wir hörten, erklärte vollständig die Ereignisse, die sich uns darboten: blaue Flammen, die über dem Meer tanzten, winzige Wesen, die ganz aus Holz zu bestehen schienen, Dämonen mit langen Fingern, die so gütig lächelten, als seien sie der Heiland selbst, und so viele andere Dinge, das allein die Vorstellung, sie aufzählen zu wollen, anmaßend erscheint.

Obgleich uns die schiere Menge an Daten zu überfluten schien, scheuten wir uns nicht, Theorien aufzustellen. Wir versuchten es mit allem: synthetische Drogen, Hologramme, kollektive Wahnvorstellungen… doch was es auch war, es blieb mit dem Makel des Unerklärlichen behaftet.

Indessen wurden unsere Forschungen mit Interesse beobachtet. Ganze Firmen hatten Analysen bei uns bestellt, weil ihre Mitarbeiter aufgrund der beunruhigenden Geschehnisse nicht mehr arbeiten wollten. Andere hatten … speziellere Interessen…“
 

Pater Marduk unterbricht für eine Weile. Wie von einem Zauber besessen, schaut er an Aprils Kopf vorbei zur Küchentür.

Die junge Frau verfolgt seinen Blick gespannt und merkt, dass er einem kleinen, dunkelgrünen Geschöpf gilt, das puppengleich auf dem Schuhschrank im Flur abgelegt ist.

April würde es gerne näher in Augenschein nehmen, doch bevor sie sich erheben kann, ist ihr schon ihre Mutter zuvor gekommen und hat die Küchentür geschlossen.

Mit geröteten Wangen lässt sich die Frau anschließend wieder in den Stuhl sinken. „Entschuldigen Sie das bitte! Manchmal glaube ich, ich rede hier gegen Wände,“ murmelt sie. „Aber bitte, fahren Sie fort, Pater!“

Der Pfarrer nickt zerstreut. Seine Finger wandern in merkwürdigen Schlangenlinien über das Porzellan seiner Tasse, während seine Daumen umeinander kreisen.

Dann spricht er weiter:
 

„Wie gesagt, begann der Druck auf uns zu wachsen. Die Ereignisse wurden zum Tagesgespräch in Neu-Babylon, und die lokalen Nachrichtensender fragten natürlich unaufhörlich nach Ergebnissen, die wir ihnen nicht liefern konnten. Unser Ruf als Forschungs- und Lehrinstitut stand in gewisser Hinsicht auf Messers Schneide – blieben wir erfolglos, so würden unsere Zuschüsse bald der Vergangenheit angehören.

Gottes Geschick wollte es, dass mich just zu diesem Zeitpunkt ein Anruf aus Amerika erreichte. Ein befreundeter Kunstdozent von der Venice Academy of the Visual Arts in Newport erkundigte sich nach mir, und als ich ihm gegenüber beiläufig dieses Thema aufgriff, berichtete er mir von einem ähnlichen Vorfall, der sich exakt zwei Tage zuvor auf einer belebten Fußgängerpassage in Venice ereignet haben sollte.

Zuerst war ich skeptisch: eine Art… gigantische Schildkröte soll mitten unter den Passanten materialisiert sein und hinter ihr ein Karren voller Waren und Kisten, den sie einige Meter über die Straße zog, bevor sie wieder verschwand - es klang sogar für unsere Verhältnisse absurd.

Andererseits passte es so gut auf die Visionen, die wir bearbeiteten, dass ich neugierig wurde! So drängte ich weiter auf ihn ein und erfuhr, dass es wohl Filmaufzeichnungen gab, die das Monster seh detailliert zeigten.

Spätestens jetzt war ich der Versuchung erlegen: ich musste sofort nach Venice aufbrechen und diese Fährte weiterverfolgen. Vor allem wollte ich die Aufnahmen mit eigenen Händen entgegennehmen und am Ort des Geschehens nach weiteren Spuren forschen, denn ich bezweifelte, dass dies ein Einzelfall war.

So saß ich einen Tag später in einem Shuttle nach Nordamerika. Meine Kollegen wussten nichts davon. Ich trug dieses Abenteuer auf eigene Rechnung und hatte nur wenig Gepäck bei mir. Für den Zeitraum meiner Nachforschungen hatte ich eine Woche anvisiert… eine Woche!

Es muss der 31. Juli gewesen sein, als ich Newport an der Station Metro Tower erreichte. Mein Freund erwartete mich dort und besorgte mir eine Unterkunft in West-Venice, wo das Ereignis stattgefunden hatte. Er konnte mir zwar außer einer Adresse und ein paar Informationsquellen nicht viel geben, aber das genügte mir letztendlich, um eine Reihe von Augenzeugen auszumachen.

Nun, ich will Sie nicht mit Einzelheiten meiner Recherche langweilen. Ich kam gut voran, obwohl es einige Male gefährlich für mich wurde, denn Newport war schon damals ein – wie nennt man es? – heißer Asphalt, gerade um diese Jahreszeit. Nach vier Tagen hatte ich unter einigen Blindgängern eine viel versprechende Spur isoliert, die nach Ost-Venice führte, ins direkte Umfeld der VAVA. Ich wollte mich dort mit einem jungen Studenten treffen, dessen Bekannter Zeuge von weiteren Visionen geworden war. Wir verabredeten uns in einem Club namens ‚Pavillon’.

Hätte ich damals gewusst, dass dieser Ort ein beliebter Umschlagplatz für Party-Drogen war, wäre ich sicher gar nicht erst hingegangen. So jedoch war ich an diesem Abend zum vereinbarten Zeitpunkt dort - doch weder der Student noch mein Interviewpartner ließen sich blicken. Ich rief ihn an, doch meine Anrufe fruchteten nicht. Schließlich hörte ich von der Barfrau, dass er möglicherweise eine Stunde zuvor zusammen mit einem weißhaarigen Fremden verschwunden war. Wohin, wusste sie nicht. Es war ihr auch gleichgültig.

Ich jedoch wollte nicht aufgeben und machte mich auf die Suche nach ihm. Das Wenige, was ich über ihn wusste, führte mich zurück nach Metro Tower und von dort aus an Orte, über die man lieber den Mantel des Schweigens breitet. Mein Glauben an Gott und seine Güte wurden damals beinahe zerstört.

Und dann, als ich zwei Tage später wieder nach Venice kam, fand ich ihn doch - an einem Ort, an dem ich ihn bereits lange zuvor gesucht hatte. Ich hatte ihn schon abgefangen und mit Fragen bestürmt, als ich merkte, dass er nicht alleine war.

Der weißhaarige Fremde stand bei ihm… und neben ihm, im Schatten, eine ganze Schar von maskierten Söldnern!

Ich sage ihnen, ich habe niemals wieder solch eine Angst durchlebt. Als sie begriffen, dass ich ihnen einen Verbündeten abspenstig machen wollte, wurden sie wütend. Einer der Söldner trat mich hart in die Kniekehle, ein anderer packte mich und schlug mir mehrere Male ins Gesicht und vor den Brustkorb, und ein dritter verdrehte mir die Armgelenke, bevor er mich schließlich im hohen Bogen in den Rinnstein schleuderte. Ich verlor das Bewusstsein, noch während ich flog.

Lange Stunden blieb es schwarz um mich. Betäubender Schmerz hielt meinen Körper an den Boden gekettet. Ich schwelgte in dunklen Träumen, die mir die Welt als weiße Spiegelfläche zeigten, leer und kahl und aller fleischlicher Erfahrungen beraubt. Schließlich erwachte ich in einem Krankenhaus. Ich hatte drei Tage in Ohnmacht gelegen. Und draußen… draußen war die Welt dabei, sich zu verändern: der Kollaps…!“
 

Der Kollaps…!

Dies ist die Stelle, die April mehr als alles andere herbei gesehnt hat. Sie beugt sich Pater Marduk entgegen, die Finger um ihre Kaffeetasse gekrallt, doch gerade jetzt steht der Priester plötzlich auf und geht zum Fenster. Einen Moment meint April ihn humpeln zu sehen, doch ist es wohl nur eine Sinnestäuschung.

Das letzte Tageslicht schwindet bereits. Trüber grauer Schnee schwebt federgleich in den weiß-braun gefleckten Hof herab, und große, perlfarbene Eisblumen von herrlicher Symmetrie bilden sich auf der Außenfläche der Scheibe. Durch das matt gefrorene Glas sind zwei dunkle Schemen zu erkennen, die sich zielstrebig über den Hof bewegen.

In einem langen Seufzer bläst der Pater einen warmen Luftstrom gegen die Scheibe, und all die Streben im Eisfeld beginnen mit einem Mal zu brechen. Aus den Lücken im Gefüge stürzen kleine Wassertropfen die Scheibe hinab. In dieser Sekunde schaltet Jennifer Ryan das Küchenlicht an, und die Tropfen, vorher metallisch schimmernd, werden zu glühenden Juwelen, die den matten Eisschleier durchstoßen und schließlich zueinander finden in einem flammenden Vorhang, der den Himmel, die Felder, und die zwei Schemen im Hof mit Feuer bedeckt.

April zittert. Sie versteht das alles nicht. Doch der trostlose Blick, den ihr die Mutter schenkt, und das erneute schwere Seufzen des Paters führen ihre Gedanken auf einen Pfad, der allen fantastischen Flammenbildern zum Trotze in Dunkelheit liegt.

Die zwei Schemen sind inzwischen stehen geblieben. Reglos schauen sie den Pater an, der ihnen stumm entgegenblickt. Dann setzen sich die beiden Schatten wieder in Bewegung, suchen zögernd gegenseitige Nähe. Schließlich verschwinden sie im Dunkel neben der Scheune.
 

„… Der Metro Tower war ein einziger abgebrochener Reißzahn gegen den Rauch geschwärzten Himmel,“ erzählt Pater Marduk weiter, „er ragte hervor aus einem Wust von Flammen und Stahl und Beton. Und hoch oben, noch viel weiter über ihm, stand in der Luft eine gewaltige Schwertklinge, deutlich gegen den Himmel abgehoben: die eine Schneide feurig-rot, die andere weiß.

Ein gewaltiger Ton schwoll an, und ehe er noch ganz abgeklungen war, flossen die beiden Schneiden ineinander, und hatten – ehe man sich versah - die Farbe der jeweils anderen angenommen. Dann leuchteten sie noch einmal auf… und verschwanden für immer.

Doch in dem Moment, da die weiße Schwertseite aufgeblitzt war, startete im Hintergrund ein grausiger Wolkenbruch: Wettersatelliten, Shuttles, Hovercrafts… alles fiel in einem großen Brand zur Erde nieder. Der entsetzliche Qualm, der empor stieg, bedeckte sogar die Sonne. Und selbst, als sich die Wolken nach Stunden zu öffnen begannen, blieb es finster im Schatten der Trümmerteile.

Drei Tage lang ging das so. Längst konnte ich mich wieder angemessen bewegen, doch ich wagte nicht hinauszugehen. Sogar in meinem Ruhezimmer konnte ich die Kollisionen hören, und das Weinen und Schreien war allgegenwärtig. Irgendwann musste ich aber doch gehen, weil mein Krankenbett gebraucht wurde. Auch konnte ich meine Feigheit nicht länger mit Gott vereinbaren, und so verließ ich das Hospital auf eigene Faust und kehrte in meine frühere Unterkunft zurück.

Was ich auf dem Weg dorthin sah… es war größtenteils das Newport von vorher, aber seine Bewohner hatten sich verändert. Das Bewusstsein ihrer Macht war fort gewischt und hinterließ nur bange Hilflosigkeit. Wir alle waren an den Boden gefesselt, einer wie der andere, und der Atem stockte uns, wenn wir mit Menschen auf der anderen Seite der Welt kommunizieren wollten. Ruhelos irrten wir umher. Manchmal suchten wir nach der Speise, die unseren Wissenshunger hätte stillen können, und manchmal auch einfach nur nach Brot, denn niemand brachte es uns vor die Tür, wie wir es gewohnt waren. Nach einigen Tagen erreichten uns zwar die Notfalltransporte der Regierung, doch sie machten die Sache nur noch schlimmer. Schon bald brachen Kämpfe zwischen verschiedenen Parteien aus: jenen, die Brot hatten, und jenen, die es dringend brauchten, aber nicht bekommen konnten. Binnen kurzem war das Chaos nicht mehr zu überblicken und in den Straßen brach der offene Krieg aus.

Venice war von all diesen Veränderungen am schlimmsten betroffen: da man dieses Viertel für eine ‚neoliberale Randzone’ hielt, wurden hier weniger Notrationen ausgeteilt als üblich. Wer keine ‚lebensnotwendigen’ Güter verkaufte, ging generell leer aus und musste sich mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser halten, … was alsbald fragwürdige Subjekte anzog.

Als sie herausfanden, wie wenig von den erhofften Schätzen noch übrig war, kam es zum Aufstand.

Mehrere Tage lang hielten Straßenschlachten und willkürlicher Terror das Viertel in Atem. Wir konnten nicht vor die Tür: jeder Versuch der Nahrungsbeschaffung konnte der Letzte sein. Manchmal sahen wir Menschen vor unseren Augen des Hungers sterben. Und dann krachten auch noch wieder und wieder Überbleibsel des großen Brandes auf uns nieder…“

„Die Einschläge hörten erst eineinhalb Wochen nach dem Beginn des Kollapses auf“, äußert sich Jennifer. Es ist das erste Mal seit langem, dass sie von ihrer Tasse aufblickt.

„Eines der letzten Bruchstücke schlug auf der Straße von Greenvale nach Newport ein. Sie… sie haben später im Fernsehen davon berichtet: zwei Kleintransporter aus unserer Gegend, die Nahrungsmittel nach Newport bringen wollten… und ein Auto mit einer Flüchtlingsfamilie. Die… die Frau war noch schwanger…“

Wie ein Blitz ist Pater Marduk bei ihr und auch Owen regt sich schnell, denn ganz plötzlich bricht Jennifer Ryan vor ihren Augen in Tränen aus, die ihren ohnehin zartgliedrigen Körper gräßlich erschüttern.

Widerliche Bilder formen sich vor April’s innerem Auge. Auf einmal ergeben viele Dinge, die sie bisher nur angedeutet fand, einen Sinn.

Nur zu gerne würde sie jetzt im Erdboden versinken oder sich einfach in Luft auflösen: alles wäre ihr lieber, als weiterhin in diesem Haus bei dieser Familie zu sein.

Schon möchte sie aufspringen, doch eine Hand fasst sie unsanft von hinten bei der Schulter. Raue, schwielige Finger graben sich in ihr Fleisch und drücken sie zurück in ihren Stuhl.

„Was hast du schon wieder angestellt, he?“

April zittert.

Diese Stimme, dieser raue, knurrende Ton versetzt sie in panische Angst.

Sie weiß selbst nicht, warum, aber auf einmal fürchtet sie um mehr als ihre Freiheit – sie sorgt sich um ihr nacktes Überleben.

Die grausamen Finger bleiben in ihre Schulter gekrallt, doch der dazugehörige Körper bewegt sich: er wandert an ihr vorbei, entfernt sich von ihr, bis er kaum noch zu hören ist. Ein Brechreiz erregender Geruch von Ammoniak, Schweiß und Bier dringt in Aprils Nase.

Unfähig, ihren Oberkörper zu drehen, blickt die junge Frau aus dem linken Augenwinkel nach der Hand hin, als plötzlich rechts von ihr eine Faust auf die Tischplatte knallt.

April zuckt zusammen, wagt es aber zuerst nicht, ihren Blick zu wenden. Erst, als sie all ihren Mut zusammen genommen hat, dreht sie den Kopf nach rechts und blickt ihrer Angst ins Gesicht.

Die Ähnlichkeiten zu Owen sind unübersehbar: die gleichen glatten, schwarzen Haare, die gleichen hohlen Wangen, die gleichen dunklen Augen. Doch während jene von Owen einen lebhaft leuchtenden Glanz haben, sind diese hier nahezu tot, starr und lichtlos wie ein tiefer Brunnen.

Der große, breitschultrige Mann, dem sie gehören, packt April jetzt grob am Oberarm. Langsam, den Druck ständig verstärkend zieht er sie zu sich.

Und während sein Gesicht immer näher kommt, wächst in April das Verlangen zu fliehen, diesem finsteren Blick und dem harten Griff zu entkommen, vor allem aber das gefährliche Glitzern, das jetzt in die Augen des Mannes tritt, nicht sehen zu müssen. Angst steigt in ihrer Kehle auf, und namenloses Grauen kriecht wie ein elektrischer Schlag durch all ihre Venen, sie über das Maß erfüllend und in fiebrigen Schauern badend.

Ein leichter Hauch von Bier schlägt der jungen Frau entgegen, als sich die schmalen Lippen des Mannes öffnen und er leise flüstert: „Wir hätten dich von Anfang an als faules Ei erkennen sollen. Du hast nie getan, was man dir sagte, du warst immer aufsässig, du hast mit uns gespielt und uns wie Dreck behandelt, du hast uns nur ausgenutzt, du gieriges, kleines… !“

EEEEYYYUUUU…

Ein markerschütternder Schrei gellt durch das ganze Haus und bringt die Scheiben in den Fenstern und Schränken zum Klirren. In einem Moment presst Owen sich die Hände auf die Ohren, im nächsten weicht der Mann taumelnd vor April zurück und landet polternd auf dem Allerwertesten. Aprils Mutter schreit vor Entsetzen.

Die Quelle des großen Gebrülls aber ist April selbst: wie ein wildes Tier windet sie sich in ihrem Stuhl, zischend, brüllend, nach allen Seiten austretend…

Einzig Pater Marduk nähert sich ihr, wenn auch langsam und wieder und wieder das Kreuz schlagend. Seinen Stock hält er vor sich wie einen Schild.

Von einer Sekunde zur anderen wirft er sich nach vorne und versucht seine freie Hand auf Aprils Stirn zu drücken.

Das Vorhaben misslingt, die Stirn entgleitet ihm, und Pater Marduk fällt strauchelnd nach vorn in Aprils Schoß.

Der Priester erstarrt zu Eis in der Erwartung drohender Gefahr, doch noch bevor er Aprils Knie berührt hat, ist der Schrei auch schon erloschen. April sitzt, heftig zitternd zwar, aber bei vollem Bewusstsein, in ihrem Stuhl und schaut sich aufgeregt um.

Ihre Augen wirken ruhelos, huschen von einer Ecke zur anderen, verweilen nirgendwo lange und scheinen doch unzählige Tage vor sich vorbeiziehen zu sehen, Tage, die niemals zu enden schienen – Tage in diesem Wohnzimmer oder der angrenzenden Küche.

Tage, die überschattet waren von einer Person…

Ihr Blick kehrt zu dem Mann mit den dunklen Augen zurück, der am Boden liegt und den jungen Owen, der ihm aufhelfen will, wütend beiseite schubst.

Keuchend starrt er zu April empor. Sein ganzer Anblick schreit nach Hass.

„Was machst du noch hier?“ knurrt er. „Warum musst du hier sein, Schwester?“

2.4 Familienbande

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Das Beben in Aprils Körper ist noch nicht abgeklungen – noch immer zittern ihre Muskeln vor unterdrückter Energie, und ihre Augen sind wie zum Angriff auf den vor ihr liegenden Mann fixiert:

Daniel…

„Was… was willst du von mir?“

„Was ich von dir will?!“, blafft der Angesprochene entgeistert. Seine dunklen Augen blicken ins Leere, während er sich an der Tischkante hochzieht. Dabei murmelt er keuchend vor sich hin. „Sie fragt mich, was ich von ihr will, gottverdammich!“

„Daniel…!“, schaltet sich Pater Marduk mit drohender Stimme ein, doch der junge Mann achtet nicht auf ihn. Er schaut niemanden an, steht nur da wie ein scheues Raubtier, das in seinem Käfig nervös vor sich hin vegetiert. Endlich kommt sein Blick bei April zum Stehen und mustert sie mit einer durchleuchtenden Intensität.

Alt sind seine Augen, findet April, älter als es die von Pater Marduk je sein könnten – älter und müder sogar als die ihrer Mutter, die vom Weltenkummer geplagt und in ewiger Reue mit sich selber gefochten zu haben scheint.

Doch Jennifer Ryan ist weit entfernt vom Zorn ihres ältesten Sohnes, auf dessen unter der Sportjacke verborgenem T-Shirt der Schriftzug „No Mercy, Morning Star Exile“ hervorblitzt, mitsamt eines bewaffneten Konzernsoldaten in lässiger Haltung.

Das „Morning Star Exile“ war ein Aufstand, blutig niedergeschlagen von den Schergen der Bingo Corporation und irgendwie die passende Projektionsfläche für einen Jungen, der Träume bereits mit fünfzehn Jahren auf die Müllabfuhr der Geschichte verbannt hat.

Der junge Mann wendet sich mit einem frustrierten Schnaufen ab und fixiert scharf seine Mutter, die gerade eine Tasse Kaffee an ihre zitternden Lippen hebt.

„Du hast sie hergebracht, nicht wahr?“, brüllt er sie an. „Und du nimmst an, dass ich sie für dich durchfüttere? Davon träumst du nur, der Herr im Haus bin immer noch ich, und solange dass so ist, entscheide ich, wer hier seine Beine unter meinem Tisch breit macht.“

„Du meinst Füße“, merkt Owen in lockerem Tonfall an.

„Du bist mal schön ruhig“, faucht Daniel zurück, doch Pater Marduk geht dazwischen. Im Gegensatz zu Owen vermag er, seine Missbilligung durch eine strenge Miene auszudrücken. Aufrichtig verwunder blickt er den keuchenden Daniel Ryan an, dem es plötzlich fieberhaft in den Fingern zu jucken scheint.

„Daniel“, hebt der Pater ruhig an, „ich muss mich sehr wundern, dass dir deine eigene Familie so fremd werden kann. Ich hätte erwartet, dass du den Banden der Familie etwas mehr Achtung zollst, wie schwierig sie auch manchmal zu ertragen sind.“

„Die da gehört nicht zur Familie“, knurrt Daniel, den Blick auf seine zuckenden Finger gerichtet.

„Und dennoch haben deine Mutter und dein Vater vor vielen Jahren beschlossen, sie bei sich aufzunehmen – ihr die Liebe zu geben, die ihr ihre wahre Eltern nicht geben konnten“, erwidert der Pater. „Solltest du ihre Entscheidung nicht ehren, wie es das Gebot verlangt? Von der Nächstenliebe ganz zu schweigen?“

(‚Von der Nächstenliebe ganz zu schweigen!’, bekräftigt April im Geiste. Sie beginnt sich wieder zu erinnern, welch seltsame Nächstenliebe ihr Vater für gewöhnlich gezeigt hat. Vorzugsweise mit harten Worten und seinen Fäusten.)

„Ach ja?“ Daniel Ryan hat sich inzwischen an der Tischkante hochgezogen, und seine Gestalt erinnert mehr denn je an einen wilden Tiger. „Entscheidung?“, faucht er. „Und wie hat sie ihnen diese Entscheidung gedankt, he? Bei Gott, gesündigt hat sie selbst mehr als genug, diese, diese…! Ihretwegen ist Vater doch überhaupt erst…“ Er stockt, ringt nach Luft, krächzt beinahe wie ein Rabe. Dann fährt er herum zu April, und seine pechschwarzen Augen funkeln gierig. „Sag du’s doch selbst!“, knurrt er. „Los, gib uns deine süße, kleine Ausrede zu kosten, du Miststück!“

„Daniel, es reicht!“, kreischt seine Mutter, doch April, die ihre Wut nicht mehr länger zurückhalten kann, schneidet ihr das Wort ab.

„Ausrede?“ schreit sie Daniel an. „Wenn du eine Ausrede willst, musst du dir jemand anderen suchen. Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen!“

„Werd’ ja nicht frech!“, grollt Daniel zurück. „Früher war das anders, aber jetzt kann ich dich im Nullkommanix in der Luft zerreißen.“ Ein gefährliches Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht. „Und das werde ich, für den Fall, dass du nicht spurst!“, fügt er leise hinzu. Dann wendet er sich von seiner Familie ab und geht bedrohlich langsam durch die Flurtür ins Treppenhaus.

‚Für den Fall, dass ich nicht spure?!’

April erschauert. Sie weiß jetzt wieder, was ein solcher Satz in diesem Haus bedeuten kann; weiß es, und würde es doch lieber nicht wissen. Zu viele tief vergrabene Ängste bringt dieses Wissen mit sich; Ängste, die nicht mehr weggeschlossen werden können, da der dazugehörige Schlüssel fehlt.

Doch sie darf nicht weinen. Schon allein aus Rücksicht nicht. Wie eigentlich seit Jahren… wie eigentlich immer.

Also hebt sie den Kopf und schaut zurück in die nunmehr wieder traulich versammelte Märchenrunde.

Owen ist der Einzige unter ihnen, der aus irgendeinem Grund lächeln muss.

„Herzlichen Glückwunsch - deine erste Todesdrohung. Die übliche Dosis ist zweimal am Tag, aber du kannst den Rekord sicher brechen.“

„Rasend komisch“, murrt April und erinnert sich dabei, diesen sarkastischen Ton früher häufiger angeschlagen zu haben.

Den Rest der Anwesenden scheint Owens Spruch jedoch zu beruhigen. Der Pater lockert den Griff um seinen Gehstock, und Aprils Mutter schiebt die dreimal ausgeleerte Kaffeetasse beiseite und beginnt, Teller und Besteck auf einen Haufen zu schlichten.

„Nun, Pater, ich danke Ihnen, dass sie sich die Zeit genommen haben…“

„Das ist meine Pflicht gegenüber der Gemeinde, Miss Ryan“, erwidert der Priester nachdenklich. „Die Pflege der Vergangenheit gehört seit Anbeginn der Zeiten zu meinem Stand. Schon länger, als ich manchmal glauben mag“, fügt er hinzu, bevor er seinen Mantel und seine Schirmmütze ergreift. „Gottes Segen mit Ihnen.“

„Und mit Ihnen, Pater! Owen, ich muss mich um den Abwasch kümmern; wenn du so gut wärst und April ihr altes Zimmer zeigen würdest …“

„… wäre ich endgültig dein Vorzeigesohn“, erwidert dieser. „Geht schon klar!“ - „Kommst du?“, fragt er an April gewandt.

Doch diese ist zunächst nicht gewillt, ihm zu folgen. Der bloße Gedanke daran, das warme Wohnzimmer zu verlassen und in der Kälte des Treppenhauses ohne den Schutz eines Erwachsenen zu sein, verursacht in ihr eine ihr selbst kindisch erscheinende Furcht.

Ihr Blick fällt wieder auf die Flurtür, durch die Daniel verschwunden ist, und auf den Schuhschrank dahinter.

Was auch immer sie vorhin dort gesehen hat, ist jetzt nicht mehr da. Dafür liegen jetzt mysteriöserweise mehrere Paar Sandalen über den Flurboden verstreut.

Die Entscheidung wiegt schwer, doch letzten Endes siegt der Wissensdurst über die Angst, und sie folgt Owen durch den dunklen Flur ins obere Stockwerk.
 

Zur gleichen Zeit

Das Meer der Lieder zwischen Nord- und Südland

Arcadia, die andere Welt – Winter des Jahres 13219 nach der Teilung
 

Zwei Wochen ist es her, dass der sprechende Vogel, für gewöhnlich ‚Krähe’ genannt, die Stadt des Dunklen Volkes verlassen hat, in der Absicht, von Ereignissen zu berichten, die im wahrsten Sinne des Wortes unaussprechlich sind.

Zwei Wochen voller Mühsal und Entbehrungen waren es - ein Flug vom östlichen Meer bis zur Wüste von Ch’angagriel, an den Küsten des Südlandes entlang und von da an immer weiter nach Norden über das Meer der Lieder, bis am Horizont die rostroten Türme von Ge’en in Sicht kommen – die letzte Station vor dem Endspurt nach Marcuria.

Denn das ist sein Lichtpunkt: ‚Marcuria’.

‚Marcuria’: jener Ort, an dem er Tage und Nächte in der Kiste eines alten Seemannes oder dem Käfig eines Hütchenspielers verbringen musste. Der Ort, an dem eine langjährige Freundschaft ihr Ende fand.

Der Ort, an den er sich geschworen hatte nie zurückzukehren. Und doch der Ort, an dem er ganz fest auf Hilfe hoffen kann.

Welche andere Wahl bleibt ihm da schon? Im Moment ist er von aller Welt verlassen und verloren.

Oder, wie er es ausdrücken würde: „(Hilf)flos (w)ie (ei)n (Ki)nd (i)m (Wa)lde.“
 

Als Krähe am dreizehnten Morgen seiner Reise den Kopf aus seinem Astloch steckt, ist er jedenfalls kein bisschen optimistischer als am Tag zuvor.

Müde schüttelt er das Gefieder, putzt sich die Flügel und begibt sich zum Frühstück ans andere Ende der Wiese.

Was dies betrifft, hat er außergewöhnliches Glück gehabt: Ge’en ist bekannt für seine süßen Äpfel, und die Spechthöhle, die er sich für diese Nacht erobert hat, liegt direkt an einem Wiesenstück gegenüber der Apfelhaine. So gesehen ist die morgendliche Nahrungsbeschaffung ein Zuckerschlecken, sieht man einmal davon ab, dass die Erntesaison beinahe ausgeklungen ist, weshalb auch nur noch die Bäume in den hinteren Reihen Früchte tragen.

Der Vogel Krähe kann sich also Zeit lassen: Gemächlich gleitet er über den Kronen der Bäume entlang, streckt seine Flügelspitzen majestätisch nach außen, geht dann in den Sinkflug über, nur um im letzten Moment durch ein paar kräftige Schläge dem Absturz zu entkommen und wieder aufzusteigen.

Gerade dieses Manöver wird von den Damen immer sehr geschätzt.

Endlich kommt die letzte Baumreihe in Sicht, und tatsächlich sieht der Vogel unter den Zweigen saftig rote Flecken aufblitzen.

Er lässt sich auf den nächsten besten Ast treiben und streckt gerade seinen Schnabel nach einem kleinen Musterexemplar der Sorte ‚Feuerrad’ aus, als ihm ganz plötzlich von hinten etwas ins Geneck springt: ein anderer Vogel, der ihn verscheuchen möchte.

Eigentlich ist Krähe auf einen solchen Kampf nicht eingestellt: seine Reserven wird er für den Flug brauchen, und überhaupt missfällt ihm das ganze hitzige Gezwitscher seiner Artgenossen. Doch der Anblick des Gegners – groß, schlank, schwarz und blau gefiedert – erinnert ihn zu sehr an seine eigene Jugend – das heißt: vor seinem unfreiwilligen Aufenthalt in der Seemannskiste.

Ist dieser Kampf also in Wirklichkeit die Aufarbeitung eines Kindheitstraumas?

Egal - Hauptsache, die Federn fliegen!

Ein schneller Hieb von Krähes Schnabel, und der Neuankömmling stürzt beinahe vom Ast.

Ein Flügelschlag von diesem, und Krähe taumelt bedenklich nach hinten, bedrängt vom aufgeplusterten Brustkorb des Jünglings.

Mit dem Mut der Verzweiflung macht Krähe einen Ausfall, kneift den Gegner mit dem Schnabel direkt in die gespreizten Schwanzfedern, so dass dieser nach vorne kippt, hilflos die Flügel ausstreckt, Krähe im gleichen Moment ebenfalls bei den die Schwanzfedern packt und mit sich reißt.

Ein Stockwerk weiter unten landen sie auf einem dicken Ast, verschlungen wie zwei Schlangen, die einander in den Schwanz beißen, und doch dem Sieg ferner als sonst etwas.

Wütend kratzt Krähe seinen Gegner mit den Krallen über die Flügel, worauf dieser seine langen Krallen durch Krähes Brustfedern zieht, womit er ihnen unbeabsichtigt den nötigen Schub für einen weiteren Fall verleiht.

Der nächste Ast kommt in Sicht, doch diesmal rutschen die beiden sofort weiter, womit die Endrunde vorraussichtlich am Boden stattfinden würde…

… wenn nicht gerade unter ihnen ein hölzerner Wagen mit einer offen stehenden Apfeltonne halten würde.

Krächzend und kratzend fallen die beiden Streithähne genau in diese Tonne und landen auf einer dicken Schicht bitter-süßer „Feuerräder“.

Augenblicklich lässt der jüngere Vogel von seinem Rivalen ab, schnappt sich einen der Äpfel und flattert davon. Krähe will es ihm gleich tun.

Doch noch bevor er sein Gefieder zum Abflug richten kann, wird über ihm ein Eimer voller „Feuerräder“ ausgeleert, welcher ihn unter sich begräbt.

Mit Müh und Not gelingt es ihm, seinen Schnabel durch die Äpfel zu schieben – da sieht er, wie sich ein rundes Stück Holz auf ihn herabsenkt.

„..in, …te ..cht, ..cht …sie..ln, ..cht …sie..lllnnn!“, schreit er laut dem letzten Stück blauen Himmels entgegen.

Doch sein Geschrei geht im Klopfen eines Hammers unter, der den Deckel in das Rund des Fasses schlägt.
 

Geduldig wartet das grüne Gorillatier auf seine Befehle. „Was möchtest du als nächstes spielen, Rebecca?“

Das kleine Mädchen schaut ihn gespannt an. „Tu so… als würdest du ertrinken!“

Sofort stellt sich das grüne Gorillatier auf die Zehenspitzen, strampelt mit den Armen und greift sich verzweifelt an den dicken Hals, bis es sich plötzlich nicht mehr regt und zur Seite umfällt.

Das Mädchen lacht und klatscht begeistert in die Hände. „Prima, Alvin! Jetzt fallen! Fall von einem hohen Turm!“

„Bist du sicher, dass du nicht langsam etwas anderes spielen möchtest?“

„Da hat er allerdings Recht, Becky.“ Soeben hat Owen mit April im Schlepptau das Zimmer betreten.

Das kleine Mädchen, das auf dem Teppich sitzt, streckt ihm die Zunge raus. „Misch dich nicht ein! Es macht gerade so viel Spaß.“

„Du weißt, dass Mutter es nicht gerne sieht, wenn du so mit Alvin umspringst… und ich auch nicht, nebenbei bemerkt.“

„Das liegt daran, dass du’n Muttersöhnchen bist – weiß doch jeder!“

„Jedenfalls musst du dir einen anderen Ort zum Spielen suchen“, übergeht Owen die letzte Bemerkung, „das hier ist Aprils altes Zimmer. Sie soll jetzt hier wohnen.“

„Pöh!“ Noch einmal streckt ihm das Mädchen Becky die Zunge heraus, dann steht sie auf und wendet sich an Alvin. „Komm, Alvin, wir gehen zu Daniel. Der is nich so ein Langweiler wie Owie-Bowie.“

Doch der angesprochene Gorilla kann ihrem Befehl nicht Folge leisten. Er wird von April in Augenschein genommen. „Was ist das? So einen putzigen Affen hab ich ja noch nie gesehen.“

„Lass ihn in Ruhe! Alvin is mein Watilla!“

„Ein Watilla? Der kann sicher eine ganze Menge!“

„Klar, er kann dich zum Beispiel ganz doll in den Magen boxen, wenn du ihn nicht loslässt!“

„Kann er nicht“, verrät Owen. „Die können keiner Fliege was zu Leide tun!“

„Sei still, Owie! Du hast doch keine Ahnung!“

„Okay, okay, hier hast du ihn“, unterbricht April den Streit. Sie stellt den Watilla vor Rebecca ab und streckt ihr die Hand hin. „Ich heiße April. Ich schätze, ich werde eine Zeit lang hier wohnen.“

Das Mädchen erwidert den Handschlag nicht. Sie schaut April mit einer Mischung aus Furcht und Neugier an, doch irgendwie scheint die Neugier zu überwiegen.

„Ich hab hier schon einmal gelebt, weißt du“, erzählt April weiter, doch mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung, denn noch ist ihr das Zimmer fremd. Die Wände sind nackt bis auf die Tapete, und die Schränke sehen so blitzblank und ordentlich aus, als hätte man alles Inventar aus blanker Ordnungslust entfernt und in den Müll geworfen. Owen hat ihr schon erzählt, dass es bisher als Gästezimmer genutzt wurde, aber dass ihr altes Zimmer so unpersönlich aussehen würde, hätte April nicht gedacht. Tatsächlich bezweifelt sie sogar irgendwie, dass es das gleiche Zimmer ist, denn nach der Manier ihrer Familie könnte es auch genauso gut sein, dass ihr wahres Zimmer als Abstellkammer dient.

„Es... hat sich verändert“, lügt sie schließlich.

Das kleine Mädchen sieht nicht so aus, als würde sie es ihr abnehmen. Wortlos verschwindet sie mit ihrem Watilla durch die Tür und poltert mit betont lauten Schritten die Treppe hinunter.

„Nimm’s dir nicht so zu Herzen“, sagt Owen resigniert, „so ist sie zu allen hier – außer Danny natürlich!“

„Wie lange habt ihr sie schon?“, fragt April, in der Hoffnung, sie wäre vielleicht auch nur adoptiert.

„Seit zehn Jahren“, murmelt Owen und macht sich daran, das Bettzeug auszuschütteln. „Der Herr im Himmel weiß, was sich Mum und Dad dabei gedacht hat, ich meine, er hatte sich ja noch nicht mal ganz von eurem letzten... Zusammenstoß erholt, ich meine: wie soll das überhaupt gehen.“

April beschließt, weitere Informationen in dieser Richtung abzuwürgen. „Also ist sie vor dem Kollaps geboren worden?“, unterbricht sie ihn.

Owen schüttelt den Kopf und das Kissen. „Nach dem Kollaps. Es war einige Zeit, nachdem Dad... den Unfall hatte.“

„Also ist sie quasi aufgewachsen, ohne jemals einen Vater zu haben? Das kann nicht leicht sein!“

„Oh, Danny hat sich schon um sie gekümmert. Deshalb mag sie ihn auch so gern. Mit uns beiden hat es dagegen nie so geklappt.“ Owen wechselt die Seite des Kissens, doch sein Geschüttel ist nur noch halbherzig. „Es war nicht leicht damals. Wir hatten nach dem Kollaps kaum noch Geld, und da Vater weg war, hat Danny die ganze Verantwortung übernommen. Mit vierzehn hat er die Schule geschmissen und die Arbeit auf dem Hof erledigt. Hat dabei auch ein bisschen was von ’nem Hitler-Komplex entwickelt, aber das ist wohl nur logisch. Jedenfalls ist er jetzt der Chef im Haus. Hast ihn ja erlebt.“

„Und Mum?“ Aprils Gedanken über den Mann, den sie als ihren Bruder akzeptieren muss, sind gerade erschüttert worden, doch nicht genug, um die Erinnerung an den Schmerz in ihrem Haar los zu werden.

Owen seufzt tief. „Siehst du ja - sie lässt es sich gefallen. Wenn wir nicht Pater Marduk hätten, würde es garantiert häufiger zum Streit kommen. Aber ändern tut sich nichts.“

Eine tiefe Schwermut überfällt April, und sie ist ihr nicht fremd. Dies sind die Menschen, die sie tief in ihrem Herzen als ihre Familie erkennt. Und Mitleid, Wut und Frustration sind die Gefühle, die sie schon immer mit ihrer Familie verbunden hat.

Dies in Gedanken schaut sie mit einem ganz neuen Blick auf ihren jüngeren Bruder. „Und du?“

Owen hält inne. „Ich?“

„Ja, was ist mit dir? Du kannst doch nicht ewig hier versauern.“

„Das ist meine Sache, okay?“, erwidert der junge Ryan, plötzlich sehr aggressiv.

„Es ist wegen Mum, nicht wahr? Du willst sie beschützen. Deswegen stellst du alle deine Träume zurück und bleibst hier.“

Das Kissen fällt mit einem Plumps auf die Decke. „Glaub bloß nicht, du wüsstest, was mit mir los ist – du bist erst vor ein paar Stunden aus dem Koma erwacht“, zischt Owen zwischen den Zähnen hindurch. Seine Hände sind plötzlich zu Fäusten geballt.

Doch April gibt nicht auf. „Doch es ist wahr, oder nicht? Danny ist in dieser Hinsicht kein Stück besser als Vater. Er hat alles aufgegeben für den Hof, und jetzt will er, dass du das Gleiche machst.“

„Natürlich will er das, und weißt du auch wieso?“ Owens Kopf ist ungewöhnlich rot geworden. „Weil du damals einfach abgehauen bist und uns alle im Stich gelassen hast! Deinetwegen ist Dad doch überhaupt tot.“

... Eine Lüge – April schaut ihr ins Auge.

Sie weiß nicht, warum sie das so genau erkennt, doch sie spürt in ihrem Innersten, dass Owen mit seiner Vermutung vollkommen falsch liegt.

„Es ist nicht wahr“, erwidert sie schwach. „Dad hat mich geliebt. Er konnte es nur nicht so zeigen.“

Owens Kopf bleibt rot, doch seine Fäuste lockern sich. „Woher willst du das wissen? Wir alle haben das Gegenteil gesehen!“

„Ich weiß es einfach. Er hat mir verziehen.“ April wundert sich selbst, warum sie derart hochtrabende Worte ausspricht, doch sie spürt, dass sie die Wahrheit enthalten. Es scheint ihr wie ein Bild eingebrannt: eine dunkle Gestalt, die von einem kleinen Mädchen mit Zöpfen einen Ring entgegen nimmt, in einer Landschaft von blauem Sand.

Ist es ein Traum? Möglich wäre es.

Unwillkürlich muss April an ein Gemälde denken, eine Ölarbeit in dunklem Blau. Ein Junge umarmt ein Mädchen. Er müsste glücklich sein, doch er ist es nicht. Er weint, denn er hat sie verloren.

Nun spricht eine weiche Stimme: „Kunst und Wahrheit, April: manches erscheint wichtig, ist es aber nicht. Anderes scheint unwichtig zu sein, ist aber unbezahlbar... wie Warrens Gemälde und deine Träume...“

‚In Träumen und den Bildern, die sie erschaffen, vereinigen sich Wahrheit und Illusion’, vollendet April den Monolog. Sie erkennt die Stimme nicht, die sie mitspricht, doch sie erkennt nun den Sinn.

Ihre Leidenschaft galt einst der Kunst – sie interpretierte sie, ordnete Farben, zeichnete! Sie hatte schon immer gezeichnet, selbst, wenn ihr Vater es als Zeitverschwendung betrachtete.

Und wenn sie es vor ihm verstecken wollte... wenn dies wirklich ihr eigenes Zimmer war...

Alle Fäden kommen zusammen – April kniet sich auf den Fußboden und befühlt die Holzdielen. Irgendwo hier...

„Was tust du da?“

‚Keine Zeit’, denkt April. ‚Sie muss noch hier sein.’

Da endlich findet sie ein lockeres Brett, das ein wenig hervorsteht. Sie bringt ihre Finger ein wenig unter die Kante und bekommt diese zu fassen.

Langsam, nur zögerlich, hebt sie die Diele an... und findet...

...nichts.
 

Anderswo, in einem abgedunkelten Raum in einer alten Markthalle, ist gerade ein Telefongespräch am Laufen.

„... sie ist es, ganz bestimmt. Sie haben nicht gesehen, was ich gesehen habe! Ein weißes Blitzen... ja, das ist es ... In der Tat! Nach all den Jahren hatte ich auch kaum zu hoffen gewagt... Wir müssen diese Chance nutzen. Wenn der Vestrum sie vor uns findet, werden wir... Ja, das müssen sie mir nicht sagen ... Ja, ich werde sehen, was ich tun kann. Aber es darf nicht auffallen. Vielleicht können wir das mit ... Ja, sie können sich auf mich verlassen! ... Ja, ich regele das ... Mit ihnen auch!“

Der Mann, der eben gesprochen hat, steckt sich eine Zigarette an und bläst gedankenverloren den Rauch ins Dunkel. Draußen wartet ein Wagen auf ihn, doch nun muss er sich auf Wichtigeres konzentrieren: einen Weg zu finden, das Ganze noch ein wenig hinauszuzögern.
 

„Ich hätte schwören können, dass sie hier waren.“ April steht auf und beginnt, ohne große Hoffnung die Regale durchzusehen.

„Dass was hier war?“, fragt Owen.

„Meine Zeichnungen“, erwidert und durchwühlt nun den Bettkasten.

„Ich wusste gar nicht, dass du überhaupt gezeichnet hast.“

„Tja, was für ein verkanntes Genie ich wohl war“, seufzt April im Scherz, als sie plötzlich ein plüschiges weißes Etwas aus dem Bettkasten zieht: eine Art Albatross mit Sattel.

Sie lässt ein wenig die Flügel auf und nieder flattern, doch erscheint ihr dies unvollständig.

„Sag mal, gab es noch irgendwas dazu?“, fragt April und zeigt Owen das Plüschtier.

Der junge Ryan läuft knallrot an. „Nö, nö, gar nichts.“

„Lüg mich nicht an! Ich weiß ganz genau, dass das hier ein Reittier ist.“

„Kann sein, aber ich hab… ich meine, es gibt keinen Reiter.“

„Gib ihn mir bitte - das könnte wichtig sein! Und hör auf, dich wie ein Möchtegern-Erwachsener aufzuspielen.“

Owen druckst noch ein wenig herum, doch dann sagt er: „Weiß nicht, ob wir ihn überhaupt noch haben. Becky macht sich nicht sehr viel aus Kuscheltieren, und jemand anderes hat ihn nicht.“

April stöhnt. „Aber was war es, Owen? Allein das würde mir schon reichen!“

Ein bitter anzusehender Zug tritt auf Owens Gesicht. „Kann mich nicht erinnern, wie er hieß. Sah aus wie ein Rabe mit Cowboy-Hut und Gürtel. Ich hab ihn immer auf eins meiner Motorräder gesetzt und damit fahren lassen. Hat echt Spaß gemacht, aber irgendwann wächst man ja aus solchen Sachen raus. Es hat einfach nicht mehr die Bedeutung von früher, wenn man selber auf dem Rad sitzt und die Landstraße unter einem hinweg fließt. Und wenn du siehst, dass die Krähen draußen an einem toten Fohlen herumnagen, dann... Hey, wart mal – warte, wo willst du hin?“

Sobald sie von den Krähen gehört hat, hat sich April in Bewegung gesetzt. Sie rennt die Treppe hinunter und aus dem Haus hinaus.

Sie kann sich nur auf ihren Instinkt verlassen, und der führt sie hinaus auf die Felder, in den Nebel des Wintertages.

Rabe… Krähe… Vögel… diese Worte wirbeln durch ihren Verstand und führen ihr Zug um Zug Bilder vor Augen, Bilder von Käfigen, von weiten Ebenen und hohen Schlössern, Bilder von der blauen Sandwüste, die sie schon vorher gesehen hat.

Ganz klar ist eine Verbindung da, doch April kann sich noch keinen Reim darauf machen.

Sie riecht kurz an der Jacke, die sie sich geschnappt hat, und merkt, dass es die Jacke ihrer Mutter ist: das Parfüm ist äußert spärlich gesetzt, doch ein nicht unangenehmer Geruch nach verbranntem Holz und Harz ergänzt ihn.

Während April weitergeht, verändert sich die Landschaft. Auf ihrer linken Seite weicht der Hof einer ausgedehnten Koppel, an deren oberster Kante die Straße nach Greenvale beginnt. Zu ihrer Rechten breitet sich eine Roggenkultur aus, die sich bis zum Schleier behafteten Horizont zieht.

Aufmerksam lauschend zieht April an der Koppel entlang und hält nach hohen Punkten wie Hochspannungsmasten und Bäumen Ausschau. Sie rechnet nicht damit, dass die Krähen auf dem Boden vor ihr sitzen. Umso erstaunter ist sie, als sie links neben sich, im Schatten eines Zaunpfahls, ein Tier mit schwarz-weiß gemustertem Gefieder entdeckt.

‚Eine Nebelkrähe’, erinnert sich April, ‚das passt ja!’ Sie bleibt kurz stehen, um das Tier nicht zu verschrecken, doch der Vogel scheint sie so oder so bereits entdeckt zu haben und mustert sie mit klugem Blick. Er hüpft sogar ein paar Mal auf sie zu, pickt nervös im Boden und schaut sie wieder an.

April zögert kurz und kommt dann näher. Erstaunlicherweise sucht der Vogel nicht das Weite: er setzt sich nur kurz auf die Spitze des Zaunpfahls und wippt mit dem Kopf in die Richtung der Straße.

Obwohl April sich neben ihn stellt und seinem Blick folgt, kann sie nichts erkennen. Dazu ist der Nebel zu dicht.

Ihrer Neugier folgend klettert sie über den Zaun und geht näher auf die Stelle zu, die die Krähe gezeigt hat.

Diese fliegt ihr voraus, ab und zu einen leisen Krächzer ausstoßend. Die beiläufige Eleganz, mit der sie fliegt, fasziniert April und bringt sie von selbst zum Laufen. Der Schnee rutscht unter ihren Schuhen weg, doch sie läuft weiter.

Schon bald kommen die Bäume an der Straße klarer in Sicht, und zwischen ihnen wird eine Forsteinfahrt erkennbar, die tiefer in den Wald hineinführt.

Ohne zu zögern überquert April die Koppel und läuft über die Straße in die Einfahrt hinein.

Es folgen zweihundert Meter ohne erkennbare Hindernisse, doch dann schält sich – urplötzlich – ein alter Kleintransporter aus dem Nebel. Er steht hinter einer Gruppe aus Nadelbäumen, die tief auf den Waldboden herunter reichen.

Nun hadert April doch ein wenig mit sich – sie hat zwar keine Erfahrungen damit, doch sie weiß, dass man als junge Frau nicht allein in der Wildnis sein sollte. Zumindest, wenn sich möglicherweise Männer in der Nähe aufhalten.

Doch die Krähe fliegt genau auf diesen Wagen zu, und April’s Neugier siegt.

Sie nähert sich vorsichtig dem Transporter und erblickt ein Zeichen an seiner Seite: einen durchgestrichenen Kreis, unter dem MTI steht.

Ein unangenehmes Gefühl bemächtigt sich ihrer, doch sie kann es nicht einordnen. Sie weiß nicht, was MTI ist, und hat keine Ahnung, was das Zeichen bedeuten soll. Warum also die Beschwerden? April kann es nicht sagen, nicht einmal ihr Instinkt ist sich sicher.

Dennoch schaut sie um die Ecke und sieht die Ladetüren des Transportes offen stehen.

Wieso kann April diesem Drang nicht widerstehen? Sie braucht sich nicht ins Ungewisse zu stürzen, sie kennt nun ihren Platz, obwohl sie ahnt, dass er für sie Leid bedeutet. Wieso also bricht sie aus diesen Kreisen aus? Ist es eine angeborene Neigung?

All diese Gedanken gehen April durch den Kopf, während sie sich der offenen Tür nähert. Sie hört darin eine Art Sensor piepen und Rechner rotieren und, ganz schwach, die Geräusche von Werkzeug, das an mechanischen Geräten eingesetzt wird. Dazu ein Keuchen.

Vielleicht also nur ein PKW mit kaputter Ladefläche...?

April nähert sich noch etwas. Als sie ihren Kopf durch das Gebüsch stecken will, sieht sie wenige Meter weiter einen Mann im Trenchcoat an der Fahrertüre stehen. Sein Gesicht ist leicht gerötet, sieht aber ansonsten unauffällig auf. Doch dann kommt aus der Ladefläche ein zweiter Mann, und seine Erscheinung ist ein wenig beunruhigend, geschmeidig und dabei außerordentlich steif und genau.

„Neue Nachricht!“, sagt er, und seine hohe Stimme klingt gleichzeitig befehlsgewohnt und kumpelhaft. „Die MT-7 kann in zwei Stunden da sein. Wenn wir auf die Truppe aus Japan verzichten, dann können wir loslegen.“

„Sollen wir vorher noch einmal das Subjekt observieren?“, fragt der unscheinbarere Mann.

„Nicht nötig“, erwidert sein Gegenüber. „Bei diesen christlichen Familien gibt es meistens regelmäßige Mahlzeiten. Sie wird zum Abendessen im Haus sein.“

„Also werden wir sie in einer Hauruck-Aktion rausholen?“ Der unscheinbare Mann klingt wenig begeistert. „Das wird nicht gerade wenige Zeugen geben.“

„Und wenn schon! Wir haben einen gesicherten Haftbefehl. Niemand kann das beanstanden.“

„Hast du dir schon mal die Namen darauf durchgelesen? Wenn wir auf die Truppe aus Japan verzichten, werden wir damit ein paar Leuten gewaltig auf die Füße treten.“

„Sie nehmen sich wichtiger, als sie sind.“ Die Stimme des Befehlshabers klingt auf einmal noch bedrohlicher als ohnehin schon. Eine gespannte Atmosphäre tritt zwischen die beiden Männer. „Die Leute mit den Beziehungen zum Syndikat stehen allesamt hinter der MT-7. Die werden uns schon den nötigen Spielraum einräumen.“

„Sam Gilmore ist nicht die wichtigste Frau der Welt, Bishop. Wenn ihr Projekt jetzt noch scheitert-“

„- es wird aber nicht scheitern, Knight!“, fährt der „Bishop“ genannte Mann seinen Kollegen an. Seine Stimme hat einen beschwörenden Ton angenommen, dem es jedoch keineswegs an Schärfe mangelt. „Und selbst, wenn es das täte, hat uns das nichts anzugehen. Wir haben jetzt einen neuen Befehl, und den werden wir umsetzen... notfalls auch ohne das ganze Protokoll. Sie hat nicht einmal eine CID-Nummer, also wird der lästige Papierkram sowieso nicht unsere Sache sein.“

Der Mann namens Knight entgegnet nichts, lehnt sich nur wieder gegen die Wagentür und zündet sich eine Zigarette an.

April aber ist zutiefst verwirrt. Sie weiß nicht viel über die aktuelle Politik, und auch das sogenannte „Syndikat“ ist ihr unbekannt. Aber als sie das Krankenhaus verließ, hatte ihr Dr. Nordhoff dringlichst geraten, sich schnellstmöglich eine CID-Nummer zu besorgen – ihre Familie würde ihr dabei behilflich sein.

Und nun suchen diese Männer eine Person – eine Sie – ohne eine solche Nummer.

‚Sie suchen mich’, denkt April, und alle natürlichen Zweifel können diese Gewissheit nicht ausräumen. Zwei Frauen mit diesem Problem kann es in dieser Gegend nicht geben.

Doch wenn das wirklich der Fall ist – was kann sie dann tun? Wer kann ihr helfen, wenn die Polizei hinter ihr her ist – und noch dazu eine ganze Einsatzgruppe? Konnte sie fliehen, oder würde sie ihr Schicksal erwarten müssen?

Sie weiß es nicht – nur, dass sie dringend hier weg muss, zurück zum Farmhaus. Wenn alles stimmt, hat sie noch zwei Stunden, um zu entkommen.

Leise versucht sie weg zu schleichen, doch faules Laub und Schnee knistern gleichermaßen unter ihren Füßen. Heißer Schweiß bricht auf Aprils Stirn aus, und ihre Bewegungen werden zunehmend zittrig. Sie ist sich unsicher, ob sie nicht lieber über die Schulter schauen oder auf den Weg achten soll. Zu nah sind die Agenten, zu nah die drohende Gefahr. Doch der Waldrand ist nicht fern, und von dort aus hat sie leichtes Spiel.

Sie bemerkt die Krähe, die still auf einem nahen Baumstamm sitzt. Wird sie krächzen oder wird sie nicht?

April versucht, sich nicht daran zu stören, als sie plötzlich über einen kleinen, aus dem Schnee herausragenden Baumstumpf tritt.

2.5 "Das Auge im Himmel"

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Die Gedanken überschlagen sich: Schmerz, Angst, Überraschung, Wut…

Aprils Sinne verwischen die Vielzahl der Eindrücke und konzentrieren sich auf einen konkreten Nenner: Flucht.

In Windeseile ist sie aufgestanden und rennt die Schnee bedeckte Ebene zur Straße hinunter. Sie kann die Rufe der Polizisten hören, die sie zum Stehenbleiben auffordern, doch es kümmert sie nicht. Sie setzt über die Fahrbahnbegrenzung hinweg und eilt die Straße entlang, immer den Blick auf das Gehölz zu ihrer Rechten gerichtet. Als sie schließlich merkt, dass es abwärts geht, hält sie mehr und mehr auf die linke Fahrbahnseite zu, wo die Felder zunehmend aufhören und einem Waldstück weichen, das über zwei Kilometer schließlich am Hof der Ryans endet.

In diesem Waldstück versucht April sich zu verstecken, denn es ist unbefahrbar und dicht genug, dass sie darin nicht auffallen wird. Ein wenig hat es vom Versteckspiel, nur dass sich April nicht erinnern kann, hier je eines durchgeführt zu haben.

Endlich gelangt April zu einer kleinen Lichtung, einem ehemaligen Wildschweinloch, an dessen Rändern dichte Nadelgehölze zum Verweilen einladen. Hinter eines dieser Gehölze hechtet April jetzt, presst sich gegen einen Stamm und wartet. Sie ahnt, dass ihr die Polizisten dicht auf den Fersen sein werden, und tatsächlich taucht fünf Minuten später der Agent namens Bishop auf der Lichtung auf.

Sein suchender Blick verrät genug - er hat April noch nicht gesehen, doch er ist auf alles vorbereitet: sein Gewehr liegt schussbereit an seinem Arm, der fahle Atem entlädt sich Zigarrenrauch gleich in die kalte Luft.

Mit dem Gewehr in Anschlag taxiert er ruhig den Rand der Lichtung, jedes Gebüsch einzeln. Unentschlossen tritt er einige Schritte vor, dreht sich nach allen Seiten, und kommt doch Aprils Versteck immer näher.

Deren Brust schmerzt inzwischen immer stärker, so heftig pocht ihr Herz vor Aufregung. „Bitte, bitte, hilf mir“, denkt sie flehend und weiß dabei doch gar nicht, an wen sie sich wenden soll. Sie glaubt nicht an eine höhere Macht, selbst wenn ihre Familie es tut. Doch ihr Leben steht auf Messers Schneide, das spürt sie, und so betet sie insgeheim einfach zu dem Gott Pater Marduks und zu dem, was sie den Kollaps überleben ließ.

In diesem Moment entsichert Bishop sein Gewehr und ruft noch mal eine Warnung in den Wind.

Vor Angst presst sich April noch dichter gegen den Stamm in ihrem Rücken. Dann zählt sie innerlich: eins, zwei, drei, vier….

Die Schüsse kommen. Donnernde Druckwellen fegen durch das Unterholz. Das Holz in Aprils Rücken splittert krachend, doch der Stamm bleibt ganz.

Noch einmal kommt eine Warnung, und es scheint fast so, als würde Bishop kommen, um die getroffenen Stellen zu inspizieren.

Doch in diesem Moment erreicht ihn ein Funkspruch, und er hebt seinen Handschuh an den Mund. „Du hast ihn? Wer ist es?... Alles klar, halt ihn fest! Ich bin gleich da!“

‚Wer kann das nur sein?’, denkt April, ein wenig mitleidig der armen Person gegenüber, die es da erwischt haben mag. Doch sie hat keine Zeit und auch nicht die Macht, dem entsprechenden Menschen aus der Misere zu helfen. Nach allem, was sie mitbekommen hat, sind diese Polizisten so oder so nicht jedermanns „Freund und Helfer“, und überstürzte Hilfeaktionen würden überhaupt nichts bringen.

Doch ihr geglücktes Entkommen kann nicht darüber hinweg täuschen, dass sie in der Klemme steckt. Sie hat nur noch wenige Stunden, um eine CID zu bekommen, ohne gleichzeitig den Funken einer Ahnung zu haben, wo sie eine zugeteilt kriegt.

Sie geht der Reihe nach jeden durch, an den sie sich wenden könnte, doch weder Daniel noch Owen kommen dafür wirklich in Frage, und ihre Mutter wäre zwar mehr als Willens, ihr zu helfen, doch würde sie nicht weit genug gehen, wenn es der Notfall erforderte.

Dann denkt sie an Pater Marduk und erkennt eine letzte verzweifelte Chance: der Pater hat Erfahrung in Gemeindeangelegenheiten und Krisensituationen – er wird ihr helfen können.

Doch dazu muss sie schnellstmöglich zurück ins Dorf kommen und herausfinden, wo der Pater wohnt.

Und wer könnte ihr da besser helfen als...?

April seufzt auf. Endlich hat sie einen Plan, endlich laufen die Dinge nach ihrem Willen.

Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hat, dass Bishop fort ist, läuft sie mit großer Eile durch den Waldstrich zum Hof hinunter.
 

Bishop hängt seine Waffe unzufrieden ins Halfter. Er hätte schwören können, auf der richtigen Spur gewesen zu sein, doch ohne die Ortungsgeräte seiner normalen Dienstrüstung ist er auf Funktionsfähigkeit seiner fünf Sinne angewiesen. Der Instinkt hat kein Mitspracherecht.

Er hofft, dass Knights Fang rein zufällig ein Treffer geworden ist, denn sonst steht er wirklich wie ein Einfaltspinsel da.

Genervt schiebt Bishop ein paar Zweige vor seinem Gesicht beiseite und schaut sich die Lage auf der Straße an: Knight hat den bewusstlosen Gefangenen in festen Griff genommen, ein kaputtes Gravycycle liegt wenige Meter entfernt auf der Fahrbahn.

Der Gefangene ist noch recht jung, trägt eine Lederjacke, passende Handschuhe und einen Helm. Als Knight den Helm abnimmt, werden glatte dunkle Haare sichtbar.

Bishop erkennt den Jungen von den Überwachungsvideos wieder – den Bruder der zu observierenden Person.

„Ich hab ihn hier am Waldrand erwischt“, sagt Knight. „Er hat sich zwischen den Bäumen verborgen und nicht auf meine Warnung reagiert. Als ich geschossen habe, ist er auf sein Rad gestiegen und wollte wegfahren.“

„Bravo, tolle Verhörmethoden“, zischt Bishop. „Woher willst du wissen, dass er es war? Dass ich darauf reingefallen bin...“ Er stöhnt genervt auf, winkt aber dennoch ab und hebt das Gravycycle auf. „Gehen wir zum Van zurück! Wenn es wirklich die war, die ich im Auge habe, dann wird sie früher oder später sowieso dorthin kommen, wo wir sie haben wollen.“
 

„Owen? Nein, der ist nicht hier“, antwortet Jennifer Ryan auf Aprils Frage. „Normalerweise bastelt er vor dem Abendessen immer an seiner Maschine herum. Vielleicht fragst du mal Daniel: er gibt ihm regelmäßig andere Aufgaben um diese Zeit.“

Doch April kann sich weitere Verzögerungen nicht leisten, und so schaut sie letztendlich ins Adressbuch der Familie.

Pater Marduk wohnt direkt in der Nähe der Kirche, die April auf ihrem Weg durchs Dorf gesehen hat – ein recht moderner Bau unter den alten Farmhäusern, die die Straßen ausfüllen.

April schaut auf ihre Uhr, die sie eingesteckt hat: von den zwei Stunden, die sie hatte, sind bereits vierzig Minuten vergangen. Was am Ende der Frist geschehen wird, entscheidet sich jetzt, als April die Klingel drückt und auf Einlass wartet.

Die Tür öffnet sich, und das im Schatten der Dämmerung überschattete Gesicht des Paters erscheint. „April“, ruft er erstaunt aus, „Sie habe ich gerade jetzt nicht erwartet.“

„Es geht um eine wichtige Angelegenheit, Pater. Darf ich hereinkommen?“

„Aber selbstverständlich! Kommen Sie!“

Das Innere des Hauses ist düster und elegant eingerichtet, mit lauter dunklen Hölzern und gedeckten Farben, dem Kleidergeschmack Pater Marduks nicht unähnlich.

Dieser geht jetzt die Treppe zum ersten Stock hoch und bedeutet April zu folgen. „In meinem Arbeitszimmer sind wir ungestört. Meine Köchin bereitet gerade das Essen zu, aber ich werde sie anweisen, es noch ein wenig warm zu halten.“

Oben angekommen schließt Pater Marduk die Tür hinter ihnen und setzt sich auf einen Stuhl gegenüber einem schmalen Schreibtisch. „Bitte setzen Sie sich“, sagt er und weist auf ein kleines Sofa an der Wand.

April folgt seiner Anweisung und setzt sich. Das Ticken einer altmodischen Wanduhr erfüllt den Raum und nimmt ihr fast den Atem, doch sie fasst sich den Mut und erzählt Pater Marduk nach und nach von dem angehörten Gespräch, von ihrer Identitätslosigkeit und ihrem Auftauchen mehrere Wochen zuvor im Wasser eines Nationalparks, denn das alles gehört ihrer Meinung nach zusammen und sollte nicht verschwiegen werden.

Pater Marduk hört geduldig zu und stellt Fragen, wann immer ihr Redefluss zu stocken droht. Einen Bruchteil dieser Fakten habe er schon vor ihrer Ankunft von Owen erfahren, doch die Probleme, die sie anspricht, sind auch ihm neu und unbekannt.

„Eine CID-Nummer ist nicht einfach zu erlangen. Allerdings wäre es mir neu, dass die Polizei deswegen Verhaftungen vornimmt.“

„Aber weswegen haben sie dann eine Einsatzgruppe gerufen? Was wollen diese Leute von mir?“

Der Pater schweigt einen Moment. Er steht auf und geht zum Fenster, um in das letzte Tageslicht zu blicken, wie es hinter die Dächer der Häuser sinkt.

„Möglicherweise – und das rate ich nur – haben Sie in ihrem früheren Leben etwas getan, was sie in Konflikt mit den Konzernen gebracht hat. Die Polizei soll angeblich dienen und schützen, aber sie ist den Interessen der Konzerne verpflichtet. ... Haben Sie irgendein Logo gesehen, als sie dort waren?“

„Doch! Einen durchgestrichenen Kreis, und einen Schriftzug, der MTI lautete.“

„MTI... MTI...“ Pater Marduk dreht sich wieder April zu, und seine Miene ist von Sorgen gezeichnet. „Das bedeutet in der Tat große Probleme... aber ich kann mir nicht sicher sein.“

Nun beginnt der Pater nervös im Zimmer umher zu laufen. Seine Lippen bewegen sich dabei, als spräche er mit jemandem. „Malkuth Technologies sind seit Jahren nicht mehr auf der Höhe ihrer einstigen Macht“, sagt er schließlich. „Früher gehörten ihnen ganze Planeten und Armeen, aber mit dem Kollaps ist vieles davon in die Brüche gegangen. Welchen Einfluss sie heute noch haben, ist ungewiss, aber es wird gesagt, dass sie mit mehreren Firmen fusionieren mussten, um zu überleben. Sie sollen auch Kontakte im religiösen Bereich gehabt haben, aber was davon übrig ist, weiß ich nicht.“

„Aber was hat das alles mit mir zu tun?“ fragt April ungeduldig. „Was habe ich getan, um sie gegen mich aufzubringen?“

Der Pater antwortet nicht sofort. Wieder geht er im Zimmer herum. Seine Stirn runzelt sich mehr und mehr.

Dann sagt er leise: „Das könnten wir wohl nur vor Ort erfahren… in Newport.“

April braucht eine Weile, um das Ganze zu erfassen. Sie soll nach Newport – zu dieser Stunde? Und was tut ihre Familie in der Zwischenzeit? Daniel und Rebecca sind ihr ziemlich schnuppe, aber Owen und Jennifer möchte sie keine Schwierigkeiten machen.

„Ich kann jetzt nicht weg!“, sagt sie schließlich. „Es gibt Menschen, die mich brauchen – Menschen, die ich brauche. Ich kann sie nicht ohne Nachricht zurücklassen.“

„Dann müssen Sie sie anrufen!“, drängt Pater Marduk. „Ich kann Sie nach Newport bringen, aber wenn wir unbeschadet fortkommen möchten, dann müssen wir jetzt los – sofort!“

„Wie soll ich das bloß erklären?“, murmelt April, mehr zu sich selbst als zum Pater. Aber dann nimmt sie doch den Hörer ab und lässt sich vom Pater eine Nummer sagen.

Mehrere Minuten nimmt niemand ab. April versucht es wieder und wieder, verwundert darüber, dass niemand da ist.

Dann jedoch klackt es. Eine barsche Stimme ertönt – Daniels Stimme.

April stockt kurz. Dass sie ihre Mutter überzeugen könnte, sich in Acht zu nehmen, weiß sie. Bei Daniel wird es schwieriger.

„Hallo, Daniel, hier ist April. Ich… bin gerade nicht zuhause und -“

„Du bist was? Erst schleichst du dich bei uns ein und dann bist du so unverfroren, einfach wieder zu verschwinden? Verdammt noch mal, ‚Schlampe‘ ist eigentlich noch zu gut für dich!“

„Das hat seine Gründe“, erläutert April, bevor die Schimpftirade weitergeht. „Ich habe noch keine CID-Nummer, und der Pater möchte mit mir wegfahren, um so schnell wie möglich eine zu besorgen. Wir…“ Sie hält inne. Kann sie die ganze Wahrheit sagen? Würde Daniel das verkraften?

Sie entscheidet sich für etwas anderes: „Sollte jemand kommen und nach mir fragen-“

„Sollte jemand kommen und nach dir… um Himmels Willen, was hast du getan?“

April seufzt. Der Schuß ging nach hinten los. „Das weiß ich noch nicht“, setzt sie hinzu, „aber falls jemand kommen sollte – verhaltet euch ruhig! Tut nichts Dummes! Und sagt ihnen, dass ich übermorgen wieder da sein werde! Es wird vielleicht jemand zur Überwachung da bleiben, aber ansonsten dürftet ihr unbeschadet davonkommen.“

Am anderen Ende der Leitung bleibt es einen Moment still, dann dringt ein Keuchen durch den Apparat, und es wird aufgelegt.

„Das lief in der Tat besser als erwartet“, merkt Pater Marduk an.

„Ich fühle mich schlecht“, erwidert April müde.

„Das kann ich mir vorstellen. Aber es ist notwendig. Ich denke, Daniel wird seine Sache gut machen. Er wird das Schicksal seiner Familie nicht für seinen Hass aufs Spiel setzen.“

„Wie lange werden wir fahren?“

„Gut sechs Stunden. Ich werde meiner Köchin Bescheid geben, dass sie uns das Essen einpacken soll. Dann fahren wir los. Ruhen Sie sich solange noch ein wenig aus!“

April nickt, aber sie weiß, dass sie weder schlafen noch zur Ruhe kommen wird. Die Zeit rennt davon, und für ihre Familie ist die Gefahr nur geringfügig kleiner als zuvor.

Nichtsdestotrotz schließt sie die Augen und versucht, sich zu entspannen.

Sie merkt zunächst gar nicht, wie sie in einen unruhigen Traum hinübergleitet.
 

Sie befindet sich auf dem Grunde eines tiefen Brunnens. Sie liegt auf dem Rücken. Von der Brunnenöffnung dringt kaum Licht her, außer durch dünne Spalten. Um sie herum liegen große, rote Äpfel.

April versucht sich zu rühren, doch ihre Arme sind unförmig und viel zu groß, und ihr Kopf schlägt immer wieder gegen die Äpfel an ihrer Seite, so oft sie ihn zu wenden versucht. Ihre Beine strampeln in der Luft.

Dann öffnet sich der Himmel, der grelle Lichtschein einer Lampe fällt herein. Eine Hand greift hinab in den Brunnen, tastet über Aprils Kopf und ihren harten Schnabel. Sie keucht, versucht zu schreien, doch nur die dünnen Endsilben dringen aus ihrer Kehle.

Plötzlich schnappt sie zu, erhascht einen Finger und zieht sich daran hoch. Ehe sie sich versieht, ist sie draußen. Als sie hinab schaut, sieht sie einen bärtigen Mann mit gebeugter Haltung sich zusammen krümmen.

„Bei Jaals verkrüppeltem rechten Zeh“, flucht er, „verdammter Vogel!“

Jaal? Der Name kommt April bekannt vor.

Sie schlägt noch ein paar Mal mit den Flügeln und landet auf einem Querbalken. Dort erst bemerkt, dass sie sich auf einem Schiff aus rotbraunem Holz befindet, einem Schiff, das gerade beladen wird. Unter ihr senkt sich ein Lastkran zum Deck hinab und lässt eine Kiste in den Laderaum hinabgleiten. Mehrere Matrosen sind sofort zur Stelle, um die Verankerungen zu lösen, während ein großer Mann mit brauner Jacke und Pfeifenpfriem in der Hand – offenbar der Kapitän - sie beaufsichtigt.

„Nicht so hastig, ihr Seegurken!“ ruft er seinen Männern zu. „Passt auf eure Beinarbeit auf! Ich will nicht während der Fahrt einen Haufen fußlahmer Schildkröten kommandieren.“

„Käpt’n!“ Eine blauhäutige Frau mit kurzem weißem Haar tritt an ihn heran. „Wir warten auf Angabe des Kurses.“

„Nimm die östliche Route nach Irhad, an der Feuerbucht vorbei, Tun!“, antwortet der Käpt’n, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. „Dank dieser häretischen Westländer können wir Corasan bis auf weiteres vergessen.“

„Die Azadi haben dort Fuß gefasst, Sir?“

„Letzte Woche, wenn man dem alten Spriem Hargutt glauben darf. Er sagt, sie haben schon angefangen, die Tempel dort niederzureißen, kurz nachdem sie das Rebellennest zerstört haben. Der Mo’jaal verdamm mich, wenn dabei etwas Gutes rauskommt!“

„Hat unsere Ladung etwas damit zu tun?“, fragt die junge Frau misstrauisch nach. „Irhad soll noch Verhandlungen führen, heißt es.“

„Das geht dich nichts an, Navigator!“, grollt der Kapitän zur Seite gewandt. „Kümmer dich um den Kurs, dann ist dein Apfel in der Tonne!“

Die Navigatorin salutiert etwas lax und wendet sich schon ab, als der Kapitän, auf einmal beinahe zärtlich, nachsetzt: „Aber du hast Recht, Tun: Sie führen noch Verhandlungen, und wenn mich nicht alles täuscht, dann sind sie auf Krieg aus.“
 

In diesem Moment erwacht April aus ihrem leichten Schlummer, da der Pater an die Tür klopft. „Wir müssen los!“, sagt er gedämpft. „Das Auto ist gepackt.“

April nickt, doch sie ist noch in Gedanken: Woher kam dieser Traum? Warum war sie ein Vogel? Und woher kennt sie diese Namen - aus einem Fantasy-Buch?

Sie beschließt, die Fragen hintenan zu stellen, da sie sie jetzt doch nicht beantworten kann. Vielleicht wird sie eines Tages darauf zurückblicken und über diesen Traum lachen, weil er so bedeutungslos war.

Denn am Ende sind es doch nur Träume…
 

Eine halbe Stunde später, im Haus der Ryans…

„Du hast sie gehen lassen?“ Jennifer Ryan ist ganz außer sich, ein Gefühl, das ihr sonst fremd ist.

Ihr Sohn Daniel schaut sie deshalb auch fassungslos an, denn weder ist er eine solche Lautstärke gewöhnt, noch kann er sich nicht erinnern, seine Mutter jemals so groß wahrgenommen zu haben. „Sie hat es so gewollt. Sie will übermorgen wieder da sein, hat sie gesagt. Verdammt, es würde mich wundern, wenn sie überhaupt wieder kommt, jetzt, wo jemand hinter ihr her ist.“

Jennifer Ryan bleibt ein gewaltiger Kloß im Hals stecken. „Hinter… ihr her?“, fragt sie fassungslos.

„Ja“, entgegnet Daniel nüchtern, „sie sagte, es würde jemand kommen, um nach ihr zu fragen. Purer Verfolgungswahn!“

„Sie wollen sie mitnehmen“, sagt Jennifer Ryan erschrocken zu sich. „Sie wollen sie einsperren!“

„Ach was“, widerspricht Daniel, erstaunlich ruhig diesmal. „Sie werden nicht mehr als ein paar Formulare ausfüllen wollen. Kein Grund, einen großen Wind darum zu machen.“

„Worum?“, fragt Rebecca, die gerade gemeinsam mit Alvin hereingekommen ist. „Was ist mit April?“

Daniel geht vor ihr in die Knie und streichelt ihr über den Kopf. „Nichts ist mit April“, sagt er sanft. „Sie ist nicht weiter wichtig. Geh und such deinen Bruder! Es ist gleich Essenszeit.“

Rebecca nickt mit dem Kopf und dreht sich auf der Stelle um, in die Garage zu gehen. Alvin krabbelt gemächlich hinter ihr her.

Jennifer Ryan aber macht keine Anstalten, den Tisch zu decken. Noch ist sie zu aufgebracht. „Ich finde es nicht richtig, wie du denkst. April ist Teil dieser Familie, ob du es nun willst oder nicht!“

Daniel schnaubt wieder - seine alte Wut ist zurück: „Familie! Sie hat uns schon einmal im Stich gelassen – sie wird es ein zweites Mal tun! Du wirst sehen: in zwei Tagen werden wir von ihr…“

Er kommt gar nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen: im gleichen Augenblick hört man das Reifenquietschen zweier Fahrzeuge im Hof.

„Was war das?“, ruft Daniels Mutter bestürzt.

Der junge Mann kann nicht antworten – entsetzt schaut er durch das Küchenfenster auf die Wagen der EYE-Einsatzgruppen und den MTI-Lieferwagen.

Wenige Sekunden später werden die Eingangstür und die Hintertür eingeschlagen, und EYE-Einsatztruppen kommen hereingestürmt.

Daniel bleibt regungslos am Küchenfenster stehen. Sein Blick ist abwartend und berechnend: er bedeutet seiner Mutter absolute Ruhe und Gelassenheit.

Doch Jennifer Ryan ist weit entfernt von Gelassenheit: zu lange war sie passiv und diplomatisch. Nun tritt sie an einen EYE-Kommandeur heran und verlangt zu wissen, was hier gespielt wird. Der aber schiebt sie beiseite und betritt das Wohnzimmer, sein Betäubungsgewehr im Anschlag. Andere Agenten schwärmen in der Küche aus und stoßen Türen und Klappen auf: Geschirrschränke, Kühlschränke, den Ofen…

Jennifer Ryan möchte am liebsten einschreiten, doch ihr Sohn hält sie bewusst zurück. Im selben Moment erstattet einer der Soldaten dem Kommandeur Bericht: „Das Untergeschoss ist gesichert. Die restlichen Einheiten warten auf Anweisungen, das Obergeschoss zu untersuchen.“

„Der Stall und die Betriebsgebäude sind auch gesichert, Sir“, meldet ein weiterer Soldat. „Wir haben ein kleines Mädchen und ihren Watilla in Gewahrsam genommen. Sie behauptet, nichts zu wissen.“

„Obergeschoss ist freigegeben. Bringen Sie das Mädchen in den Einsatzwagen.“

Beim Klang dieser Worte reißt sich Jennifer Ryan los und stürmt auf den Kommandeur los. „Was erlauben Sie sich?“ ruft sie. „Sie ist noch ein Kind!“

„Bleiben Sie bitte auf Abstand, Ma’am!“, antwortet der Kommandeur scharf, ohne auch nur eine abwehrende Geste zu bemühen. „Wir versuchen Opfer während dieses Einsatzes zu vermeiden.“

Jennifer Ryans Augen verengen sich zu kummervollen Schlitzen. Opfer? Was haben diese Agenten vor?

Die EYE-Truppen sind inzwischen die Treppe hochgestürmt und besetzen alle Schlafzimmer. Jennifer Ryan kann deutlich den Lärm ihrer Durchsuchungsaktionen hören.

Eine halbe Stunde lang geht das so, dann kommt ein Adjutant die Treppe herunter und meldet, dass nichts gefunden wurde.

„Haben Sie überall nachgesehen?“, fragt der Kommandeur nach.

„Bestätigt! Sie ist nirgends.“

Der Kommandeur seufzt und nimmt den Helm ab. „Okay, dann sind wir jetzt bereit für den schwierigen Teil.“ Gleich darauf wendet er sich an Jennifer Ryan. „Wir suchen die Verdächtige April Ryan. Sie wurde zuletzt in diesem Haus gesichtet. Wir haben einen Zeugen, der sie hier herumgeführt hat.“

„Owen?“ unterbricht ihn Jennifer Ryan. „Was haben Sie mit ihm gemacht? Bitte, sagen Sie es mir.“

„Er ist unverletzt – das muss ihnen genügen! Beantworten Sie jetzt einfach meine Frage: Wo ist ihre Tochter, wenn nicht hier?“

Jennifer Ryan muss sich zwingen, nicht gleich Daniel anzusehen und um Rat zu bitten. Jetzt ist ihre eigene Entscheidungskraft gefragt. „Ich habe sie seit zwei Stunden nicht mehr gesehen. Sie könnte überall sein.“

„Seien Sie sich bewusst, dass wir nicht mit uns spielen lassen!“, schärft ihr der Kommandeur mit leiser, aber schneidender Stimme ein. „Wir können ihre ganze Familie in Gewahrsam nehmen, bis sie uns den Aufenthaltsort sagen. Wir werden jedes ihrer Worte gegen Sie verwenden. Wir werden…“

„Sparen Sie sich die Vorrede, Knight!“, kommt es plötzlich von der Eingangstür: ein anderer EYE-Kommandeur, der ebenfalls seinen Sensorhelm abgenommen hat, betritt das Wohnzimmer. Er hat einen magnetischen Schraubenzieher in der Hand. „Wenn diese Frau sie wirklich nicht gesehen hat, dann werden wir andere Möglichkeiten der Investigation in Erwägung ziehen müssen.“

Der mit Knight angesprochene Agent scheint nicht recht zu begreifen. „Wovon reden Sie, Bishop?“

„Spirituelle Möglichkeiten, Knight!“, antwortet Bishop erregt. Seine Augen bekommen auf einmal einen merkwürdigen Glanz. „Möglichkeiten, die sich ihr Polizeiprotokoll nicht vorstellen kann. Möglichkeiten, die nur Eingeweihten offen stehen.“ Er hält den Schraubenzieher hoch. „Möglichkeiten der Magie.“
 

Draußen, in einem der Einsatzwagen, liegt Owen bewusstlos auf dem Boden. Nachdem ihn Knight versehentlich ausgeschaltet hat, haben ihn die beiden Agenten tatsächlich eine Weile befragt, doch da er nichts wusste, haben sie ihn wieder schachmatt gesetzt und zu ihren Kollegen vom MT-7 in den Wagen gelegt.

Nun rüttelt eine kleine Hand an seiner Schulter und versucht ihn wach zu kriegen.

„Owie“, flüstert Rebecca, „Owie-Bowie!“

„Ich glaube, er wird noch länger schlafen, Rebecca.“

„Er darf aber nicht! Weck du ihn auf!“

Der Watilla setzt einen schrillen, elektronischen Weckton an. Doch Owen reagiert nicht darauf.

„Sein Gehör scheint gelähmt zu sein. Ich tippe auf Sonarwellen. Wenn ich du wäre, würde ich auf Schocktherapie setzen!“

„Oh ja - das wird so cool!“ Rebecca schlüpft schnell aus dem Wagen und kehrt eine Minute später mit einem großen Eimer Wasser zurück. SPLASH – kippt sie ihn über Owens Kopf.

Keuchend und prustend ersteht ihr Bruder von den Schlummernden auf.

„Das war jetzt aber echt nicht nötig – Becky? Was machst du hier?“

„Ich hab Angst gehabt“, erwidert diese unschuldig. „Die Männer haben gesagt, sie suchen April!“

„Das haben sie zu mir auch gesagt“, erinnert sich Owen träge. „Sie wollen April wegen… wegen… Verdammt! Wo sind wir überhaupt?“

„Na, im Hof“, antwortet Rebecca. „Sie sind hier reingefahren, als ich in der Garage war. Mummy und Danny haben sie auch gefangen genommen.“

„Das sieht nicht gut aus“, murmelt Owen und versucht aufzustehen. Seine Beine tragen ihn noch nicht ganz, aber es reicht gerade so, dass sie ihn aus dem Wagen tragen, bevor er auf dem Pflaster des Hofes wieder zusammenbricht.

Ihm ist grauenvoll zumute bei dem Gedanken, dass seine Mutter und sein Bruder – so blöd er auch manchmal sein kann – Geiseln sein könnten. Er hat schon einige Geiselnahmen im Film gesehen, doch eine hautnah mitzuerleben, ist eine viel schrecklichere Erfahrung und übersteigt seinen Horizont bei weitem.

Noch einmal steht er auf, diesmal, um sich auf dem Hof umzusehen, der seltsamerweise menschenleer ist: alle EYE-Soldaten scheinen im Wohnhaus versammelt zu sein.

Ein solches Verhalten von Polizeieinheiten ist ihm zwar neu, aber es macht die Sache vielleicht einfacher.

In einer vagen Hoffnung schleppt Owen sich zum MTI-Lieferwagen hinüber. Er hat die verschwommene Erinnerung, dass sich dort sein Gravycycle und vielleicht auch der dazugehörige Schlüssel befinden könnten.

Tatsächlich findet er sein Cycle in einer Ecke des Kleinlasters, direkt hinter einer großformatigen Funk- und Werkbank. Doch der Schlüssel steckt nicht, und Owen sieht ihn auch nicht herumliegen. Systematisch probiert der erfahrene Bastler die Schubladen der Werkbank durch, doch außer dem obligatorischen Werkzeug findet er dort nichts.

„Soll ich dir helfen, Owie?“, fragt Rebecca, die ihm klammheimlich gefolgt ist.

„Danke, Becky, aber ich glaube, mir kann niemand helfen“, antwortet ihr Bruder. „Das Cycle antwortet nur auf die entsprechenden Funksignale eines Schlüssels.“

„Aber Alvin kann Funksignale nachmachen. Danny hat mir so eine App runtergeladen…“

Owen glaubt, nicht recht zu hören. „Danny? Unser Mr. Hochanständig?“

„Nun, er weiß es nicht direkt, aber…“

„Wenn das wirklich wahr ist, werd‘ ich ihn nie wieder einen ‚Rübenkopf‘ nennen! Nicht, dass man jemanden überhaupt so nennen darf…“

„Soll er es nun machen, oder nicht?“

Owen nickt und hebt den Watilla in den Kleinlaster. Geduldig positioniert er ihn über der Funkschnittstelle des Gravycycles und wartet, während Alvin eine Reihe von Interferenzen durchprobiert.

Lange Zeit passiert nichts. Owen schlafen sogar die Arme ein.

Dann plötzlich leuchten die Augen des Watillas auf. Ein seltsames Zappen ertönt, und die Maschine des Gravycycles springt an.

„Klasse!“ Sofort lässt Owen den Watilla fallen und legt seine Hände über die Lenkgriffe. „Okay, jetzt schnell aus dem Weg gehen, Becky, sonst…“

--BLAAAAST--

Im Handumdrehen ist aus Owens Hoffnung grelle Panik geworden. Der Klang einer Blasterkanone dringt nur gedämpft an sein Ohr – doch der ihm folgende weibliche Schrei ist unverwechselbar der seiner Mutter. Nicht einmal Rebecca kann ihn ignorieren, so durchdringend ist er.

Mit Owens Vorsicht ist es aus – mit einer schnellen Handbewegung dreht er die Motorenleistung hoch und lässt gleichzeitig das Gravycycle los. Wie ein Pfeil pfeift es über Rebecca hinweg und in die Hauswand hinein, wo es mit einem lauten Krachen zerschellt.

Schnell zieht Owen seine zu Tode erschrockene Schwester in den Wagen, schlägt die Türen zu und klettert auf den Fahrersitz.

„Schnall dich an - na los!“, brüllt er Rebecca zu und startet den Motor. Er ist noch nie zuvor Auto gefahren, aber er hat oft genug Danny oder seine Mutter dabei beobachtet. Außerdem besitzt er ein gewisses Gefühl für Maschinen, wie es nur jemand haben kann, der seit zehn Jahren Melkmaschinen und Traktoren kontrolliert.

Bei seinem zweiten Versuch – die EYE-Soldaten kommen gerade aus der Haustür geschossen – schafft er es bereits, den Motor anzulassen und die entsprechenden Gangschaltungen vorzunehmen, damit das Auto auf Hochtouren kommt.

Die Drehzahlen überschlagen sich, als er noch im dritten Gang über den Hof rast und immer weiter hochschaltet. Er fährt mitten hinein in die Soldaten, die nur panisch beiseite springen oder sich ihrem Schicksal ergeben können. Zwei von ihnen nimmt Owen auf der Motorhaube mit.

Rebecca auf dem Beifahrersitz schreit und kreischt vor Angst, doch Owen fährt weiter wie ein Berserker, über die Einfahrtsstraße und hinauf auf die Hauptstraße, kontrolliert, doch ohne auf den Sinn und Zweck seines Vorgehens zurückzublicken. Eine Ablenkung wollte er schaffen, seine Mutter und seinen Bruder retten! Aber das hat nun an Bedeutung verloren: nun gilt es nur noch, seine kleine Schwester so weit weg wie möglich zu bringen.

Doch schon nach mehreren hundert Metern lässt seine Wut und seine Panik nach. Die Realität holt ihn ein – die Menschen, die vor seine Räder kamen – , und er fährt weiter mit heißen Tränen in den Augen…

3.1 Libido

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

3.2 "Kahina Damja"

In der Vergangenheit

Das Haus der Ryans, etwa 18:30
 

„Seien Sie sich bewusst, dass wir nicht mit uns spielen lassen!“, schärft der Kommandeur Jennifer Ryan mit leiser, aber schneidender Stimme ein. „Wir können ihre ganze Familie in Gewahrsam nehmen, bis Sie uns den Aufenthaltsort sagen. Wir werden jedes ihrer Worte gegen Sie verwenden. Wir werden…“

„Sparen Sie sich die Vorrede, Knight!“, kommt es plötzlich von der Eingangstür: Ein anderer EYE-Kommandeur, der ebenfalls seinen Sensorhelm abgenommen hat, betritt das Wohnzimmer. Er hat einen magnetischen Schraubenzieher in der Hand. „Wenn diese Frau sie wirklich nicht gesehen hat, dann werden wir andere Möglichkeiten der Investigation in Erwägung ziehen müssen.“

Der mit Knight angesprochene Agent scheint nicht recht zu begreifen. „Wovon reden Sie, Bishop?“

„Spirituelle Möglichkeiten, Knight!“, antwortet Bishop erregt. Seine Augen bekommen auf einmal einen merkwürdigen Glanz. „Möglichkeiten, die sich Ihr Polizeiprotokoll nicht vorstellen kann. Möglichkeiten, die nur Eingeweihten offen stehen.“ Er hält den Schraubenzieher hoch. „Möglichkeiten der Magie.“

Niemand im Raum sagt ein Wort, doch Daniel Ryan fühlt die Verwunderung selbst bei den EYE-Soldaten. Möglicherweise ist manchen von ihnen sogar nach Lachen zumute, aber im Gegensatz zu ihnen weiß Daniel die Lage besser einzuschätzen.

Diese Typen sind wahnsinnig! Und April hat sich mit ihnen angelegt, in ihrer typischen aufsässigen Art! Wie kann seine Mutter jetzt noch darauf bestehen, sie zu ihrer Angelegenheit zu machen?

Doch das ist jetzt nicht der springende Punkt – er muss seine Familie aus dieser Sache herausholen, um jeden Preis. Selbst, wenn er dafür Aprils Plan folgen muss.

„Hören Sie!“, sagt er schließlich in den Raum hinein, und alle Augen richten sich auf ihn. „Wir können Ihnen nicht viel mehr sagen. April hat mir vorhin Bescheid gegeben, dass sie übermorgen wieder da sein wird. Sie wird sich eine CID besorgen, so schnell wie möglich. Es gibt also keinen Grund…“

„Eine CID wird ihr nichts bringen“, unterbricht ihn Bishop, der den Schraubenzieher wieder gesenkt hat, leise. „Es geht um viel mehr als eine CID.“ Er denkt eine Minute nach. „Aber ich denke, Ihre Kooperation hat uns sehr geholfen. Wir wissen nun schon eher, wo sie hin will. Gehen wir!“, richtet er seine Worte nun an den Rest der Gruppe. „Wir haben hier genug Zeit verloren.“

Die EYE-Einsatztruppen folgen seinem Befehl.

Nur der andere Kommandeur, Knight, bleibt, wo er ist.

Bishop dreht sich nach ihm um. Seine Faust krallt sich noch fester um den Schraubenzieher. „Sie wollen uns wohl nicht mehr mit ihrer Anwesenheit beehren?“

Knight antwortet nicht darauf, sondern hebt nur seine Kanone und stellt sie auf eine andere Stufe ein.

„Ich glaube, es wäre wirklich besser“, fährt Bishop gelassen fort, „wenn Sie sich meinem Befehl unterordnen würden. Alles andere führt nur zu… Komplikationen.“

„Für Sie vielleicht“, entgegnet Knight, „aber was ist mit mir?“

Daniel hat komplett den Überblick verloren. Seit wann treten EYE-Truppen nicht als geschlossene Formation auf?

Er schaut zu seiner Mutter herüber, die ihm gegenüber zwischen den Kommandeuren steht.

Und auf einmal überkommt ihn die Panik.

„WEG MIT DIR!“

Er hechtet nach vorn, doch im gleichen Moment schießt Bishops Arm vor, Knights Kanone gibt einen Blasterschuss von sich, und Daniels Mutter schreit. Zwei hochauflösende Strahlen, einer in kaltem Technoblau, der andere orangegelb und funkelnd, treffen sich in der Luft. Doch anstatt sich gegenseitig aufzulösen... verschmelzen sie.

Sie verschmelzen zu einer Kugel. Nur für einen winzigen Moment tanzen Funken in komplizierten Bahnen über seine Oberfläche, blendend hell für jeden Beteiligten, ein Krachen fährt durch die ganze Küche, und Jennifer Ryan Schrei erstirbt und weicht einem verzweifelten Röcheln.

Als Daniel wieder klar sehen kann, erblickt er zwei Personen auf dem Boden. Eine ist der Agent Knight, dessen Gesicht beinahe nicht mehr als menschlich zu erkennen ist, so schwarz und verkrustet ist es nun.

Die andere Person ist Jennifer Ryan.

Daniel rennt sofort zu ihr, und obwohl es ihm Widerwillen bereitet, dreht er sie so, dass sie freier atmen kann, und fühlt ihren Puls, der langsam schwächer wird. Die Bewegungen gehen ihm geradezu mechanisch von der Hand, denn er hat Angst, dass er, wenn er auch nur einen Moment die volle Tragweite der Verletzungen anerkennt, sich sofort übergeben müsste.

Hinter ihm wendet sich Bishop zum Gehen, doch Daniel hält es für absurd, aufzustehen und ihm ins Gesicht zu sehen. Vielmehr versucht er, den Blick seiner Mutter zu erhaschen, denn sie muss ihm bestätigen, dass seine Erste-Hilfe-Maßnahmen von Erfolg gekrönt sind.

Dass sie, anders als sein Vater, überleben wird.

Doch Jennifer Ryan starrt bis zum Ende ins Leere, die Emotion des Augenblicks zwischen Hoffnungslosigkeit und Ergebenheit verschwimmend. Im gleichen Moment, da es mit ihr zu Ende geht, hört Daniel draußen an der Hauswand etwas explodieren, die EYE-Truppen machen sich schleunigst auf den Rückzug, und die Küche erbebt ein weiteres Mal.

Daniel hört das Glas der hofseitig liegenden Fenster splittern, fühlt die Aufhangschränke krachend von der Wand fallen, zuckt zusammen unter dem brutalen Splittern des Geschirrs.

Dennoch wagt er nicht aufzusehen. Vielmehr nimmt er den Körper seiner Mutter in die Arme, stemmt sie hoch und trägt sie halb stolpernd zum Sofa im Wohnzimmer, wo er ihre Hände über der Brust faltet.

Dann rennt er auf den Hof.

Er sieht einen der EYE-Einsatzwagen auf die Hauptstraße hinausfahren, ein paar EYE-Soldaten mit sich nehmend, die danach leblos am Boden liegen bleiben. Owen und Rebecca haben sich anscheinend befreien können.

Eigentlich sollte dies Daniel beruhigen, doch das Gewicht der toten Mutter auf seiner Seele hält ihn von derlei Gedanken ab. Das einzige Gefühl, das ihn beherrscht, ist der Gedanke des Verrats.

Nun ist niemand mehr da, der ihm diese Last abnehmen kann!

Zehn Jahre seines Lebens hat er geopfert, um den Hof zu erhalten, zehn Jahre ohne vernünftige Schulausbildung und den Hauch eines richtigen Soziallebens – immer hat er verzichten müssen, bis er schließlich jegliche Aussicht auf Belohnung abgestreift hat.

Und nun verliert auf einmal all das, wofür er gearbeitet hat, an Sinn und Bedeutung – er ist allein… und das nur wegen…

Daniels Atem bleibt stehen – blinder Hass beginnt sich in ihm auszubreiten. Gegen April. Gegen all ihre verpesteten Worte und verfluchten Taten.

Reicht es ihr nicht, dass sie seinen Vater zerstört hat? Muss sie ihm auch den Rest der Familie nehmen? Wann wird sie endlich lernen, sich unterzuordnen? Warum sieht sie nicht ein, dass ihr vermaledeiter Eigensinn nur Katastrophen über sie alle bringt?

Er kann dies nicht auf sich beruhen lassen. Er muss sie suchen. Muss sie finden. Und dafür büßen lassen.

Und das EYE – so wertlos es auch ist – wird ihm dabei helfen.

Er sieht die überlebenden Soldaten wiederkommen, deswegen geht er zum Wohnzimmer zurück, wo er neben Jennifer Ryan niederkniet, als ob nichts geschehen wäre.

Hinter ihm taucht bald Agent Bishop auf.

Daniel möchte ihn nicht ansehen, doch das braucht er auch nicht – seine Trampelschritte auf den Dielen verraten bereits genug.

„Vier Auffahropfer, ein gestohlener Einsatzwagen, Diebstahl von Polizei-Equipment - das haben wir alles Ihrer Verwandtschaft zu verdanken“, sagt er gereizt.

„Zweifellos“, bestätigt das Familienoberhaupt und fühlt plötzlich einen ungeahnten Stolz in seiner Stimme.

„Sie sind sich darüber im Klaren, dass Ihre Kooperation nun noch nötiger als jemals zuvor ist. Behinderung der Staatsgewalt ist ein schweres Vergehen.“

„Fahrlässige Todesfälle beim Einsatz ebenso“, erwidert Daniel, einen vorsichtigen Blick zur Seite werfend.

Nun schauen sich die beiden Männer doch an, und Daniel fühlt, wie sich dabei die Energien austauschen – das Feuer seines Hasses gegen Bishops Energiesparlampe.

Bishop knickt schon bald ein. „Sie erhalten ein Schmerzensgeld in angemessener Höhe“, schlägt er vor. „Dazu Begräbniskosten und eine persönliche Entschuldigung unseres Abteilungsleiters. Das kommt alles ohne großes bürokratisches Zutun Ihrerseits aus.“

„Bestimmt. Solange ich keine Anzeige stelle.“ Daniel blinzelt nicht mal.

Bishop entgleiten kurz die Züge, doch er hat sich schnell wieder unter Kontrolle. „Wollen Sie uns ernsthaft erpressen?“, bringt er mit einem schwachen Lächeln hervor.

„Ich will, dass meine Geschwister bald wieder hier sind.“ Daniel wendet nun seinen gesamten Oberkörper Bishop zu. Seine Herausforderung ist unmissverständlich. „Das ist nicht zuviel verlangt. Ich verlange auch“, fährt er fort, als Bishop bereits nach seinem Messenger greift, „dass Sie mich noch einmal vor Verhandlungsbeginn mit April reden lassen – und zwar unter vier Augen. Sie können gerne Sicherheitsvorkehrungen treffen, wenn Sie wollen. Aber all das ist nicht mehr länger eine Staatsangelegenheit. Ist das soweit klar?“

Bishop kalkuliert die Situation kurz, dann willigt er ein. „Wir werden Sie direkt ins Syndikatshauptquartier in Newport bringen. Dort wird die Verdächtige abgeliefert werden, wenn unsere Ringfahndung denn erfolgreich ist. Mehr können – und wollen – wir nicht für Sie tun. Sonst verklagt man uns noch wegen Polizeiwillkür.“

„Mir kommen gleich die Tränen“, antwortet Daniel müde. „Und jetzt gehen Sie bitte! Solange Sie kein wirklicher Bischof sind, ist das hier nicht Ihre Angelegenheit.“

„Das bin ich nicht“, erwidert Bishop leise. „Da haben Sie unzweifelhaft Recht.“

Nachdem sich die Hoftür geschlossen hat, richtet Daniel die Gedanken wieder ganz auf seine Mutter.

Er hat ihr ihre Weichherzigkeit immer vorgehalten. Schon als Kind fühlte er, dass sie nie für ihn einstehen konnte, wenn es um irgendetwas Wichtiges ging. Diese Verantwortung hatte sie immer Vater zugeschoben, der dann doch nur die Härte eines echten Mannes predigte.

Als Katholik muss er ihnen beiden dies verzeihen, wie alle menschlichen Sünden…

Aber in seiner Seele, jener, die Gott ihm bei der Geburt gegeben hat, ärgert ihn dieser ewige Anspruch der Nächstenliebe – es fühlt sich immer so an, als wäre er nur für die anderen da. Als könne er für sich selbst kein Glück einfordern.

Doch das Gebet ist Pflicht, und er fühlt, dass er wenigstens dies seiner Mutter schuldig ist.

So spricht er leise:

„Ewiger Gott, Herr des Lebens

deine Tochter ist uns im Leben und im Sterben vorausgegangen.

Jesus hat gesagt:...“
 

~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~
 

Die Landstraße etwa 0:20 Uhr...
 

„... Er hat gesagt: ‚Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Ich bin die Auferstehung, wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist.‘ Jennifer Ryan hat aus diesem Glauben zu leben versucht, in diesem Glauben hat sie nun das irdische Leben in deine Hand zurückgegeben.

Vollende du, was unfertig geblieben ist, und schenke ihr in deiner großen Barmherzigkeit das Leben in Fülle.

Uns aber, die wir noch unterwegs sind zu dir, lass uns deine Hilfe erfahren. Hilf uns, den rechten Weg zu finden und bewahre uns vor Irrwegen und falschen Entscheidungen.

Jetzt aber legen wir das Leben von Jennifer Ryan vertrauensvoll in deine Hände, denn du bist unser Vater, durch Christus, unseren Herrn. Amen.“

„Amen“, bekräftigen April, Eléna Saucédo und Carol Denvers die improvisierte Totenmesse des Paters.

Es ist stille Nacht auf dem Parkplatz der Autobahntoilette, doch in April glühen noch immer die Ereignisse der letzten Stunde nach, wie die verbliebenen Kohlen in einem Kachelofen. Ihre Augen brennen von den Tränen um ihre Mutter, doch ihr Atem geht nun ein wenig ruhiger und hält sie bei Bewusstsein.

Der Pater kommt zu ihr und legt eine Hand auf ihre Schulter. „Ich hätte nie gedacht, dass unsere Entscheidung diese Konsequenzen haben würde. Verzeih mir!“

„Da gibt es nichts zu verzeihen“, antwortet April gereizt. „Das EYE hätte mich mitgenommen, wenn ich dageblieben wäre. Und was dann passiert wäre… ich weiß es nicht.“

Das ist in etwa so viel, wie April preisgeben möchte. Denn eigentlich weiß sie, dass sie nie im Leben kampflos mitgegangen wäre. Möglicherweise hätte sie ein noch größeres Chaos angerichtet... und das macht ihr im Moment sogar noch mehr Sorgen.

Eléna Saucédo scheint ihre Zweifel zu erahnen. „Laut Bericht kamen auch einer der beteiligten Offiziere und drei Mitglieder der Einsatztruppe ums Leben. Angeblich hatte diese Gruppe konspirative Aktivitäten geplant, und das anschließende Feuergefecht löste Querschläger aus. Die genauen Umstände sollen noch geklärt werden, aber so wie ich das EYE kenne, werden sie eine öffentliche Untersuchung vermeiden und nur Disziplinarverfahren durchführen. Zeugen werden mit Schmerzensgeld zum Schweigen gebracht.“

„Großartige Aussicht!“, murmelt April. Sie geht einige Schritte von den anderen weg, um ein wenig Privatsphäre zu erhalten. Sie muss sich jetzt auf die Zukunft konzentrieren... so gut ihr das nach einem langen und anstrengenden Tag noch möglich ist.

„Wenn Sie von Zeugen reden, wen meinen Sie da speziell?“, fragt sie an Eléna gewandt. „Was ist mit dem Rest meiner Familie?“

Eléna lässt sich von Denvers schnell eine Kopie des Berichts übergeben, der im Handschuhfach lag, und blättert die dritte Seite auf.

„Also… die Aussage über Ihre Fahrtrichtung wurde scheinbar kurz vor dem Tod ihrer Mutter von einem gewissen D. Ryan abgegeben. Doch nach dem Unfall war er ‚zu geschockt‘, um noch etwas auszusagen, also wurde das Telefon gecheckt und die letzte gewählte Nummer abgerufen. Eine Anfrage bei der Zulassungsstelle in Greenvale ergab dann das Fahrzeugkennzeichen. Von Ihren anderen Familienmitgliedern ist nichts bekannt, nur, dass sie unter der Beobachtung eines Sergeants der EYE-Truppe die Ankunft der Notfallfahrzeuge erwarten würden, und dass dieser Sergeant eine unterschriebene Bevollmächtigung für die Leitung des Abtransports hätte.“

„Lachhaft“, schnaubt Denvers. „Eine unterschriebene Bevollmächtigung, wenn alle Anwesenden entweder minderjährig oder geschockt sind. Nicht mal die Protokollfälschungen sind heutzutage noch besonders sorgfältig.“

„Und ich nehme an, wir können niemand auf die Farm schicken, um die Drei auf einen Prozess vorzubereiten?“, fragt April weiter.

„Außer mir sind vielleicht ein, zwei andere Offiziere in die Sache involviert“, antwortet Eléna kritisch. „Und das kann ich auch nur vermuten, weil Commissioner Green nur vage Andeutungen gemacht hat. Unsere Leute sind nicht so vertrauenswürdig oder diszipliniert, als dass wir offen zueinander sein könnten.“

„Ja, das wurde mir gesagt“, erwidert April zerknirscht. Sie muss an Andrew denken, der von ihnen - immer noch nackt und zum Entsetzen des Paters – auf die Sitzbänke im Heckteil des Transporters gelegt und mit einer Notfalldecke eingewickelt wurde. Laut Eléna würde er in einer Viertelstunde wieder wach sein und sich dann hoffentlich in das neu gegründete „Team der Unabhängigen Ermittler“ einfügen. Schon allein aus reinem Ehrgefühl.

Und April kann nicht einmal sagen, dass das unglaubwürdig wäre. Doch sie weiß, dass es auch einen anderen Grund gibt, und sie hat den Verdacht, dass Eléna diesen Grund durchaus einkalkuliert hat.

April wird sie bei Gelegenheit fragen müssen.

Im Moment ist die Offizierin aber dabei, mit Denvers im Führerhaus des Transporters einen unabhängigen Sendekanal einzurichten, auf dem sie Commissioner Green oder seinen nächsten Verbindungsmann, Inspector Farlan von der Netzfahndung, erreichen können.

Der alte Veteran Denvers ist aber noch immer weit von allgemeiner Zuversicht entfernt. „Green ist ein geborener Crasher – der brächte es höchstens fertig, den Zentralcomputer zu überhitzen“, sagt er, während er verschiedene Leitungen durchcheckt. „Farlan von der Netzabteilung könnte uns eventuell helfen, aber ich bezweifle, dass er in der Sache mit drin steckt. Er war niemals der Typ, dem Commissioner schöne Augen zu machen.“

Denvers versucht noch einmal eine unabhängige Verbindung aufzubauen. Doch der Computer bringt schon bald eine Fehlermeldung.

„Zwecklos!“ murmelt Eléna. „Alle Verbindungen zum Hauptquartier werden automatisch über die staatlichen Verteiler geschickt… und die werden garantiert abgeschirmt. Warum ersetzen sie uns eigentlich nicht gleich durch verdammte Watillas?“ Sie scrollt noch einmal durch alle Einträge, dann kehrt sie zur Übersicht zurück. „Hilft nichts. Auf diese Weise können wir ihnen nicht Bescheid geben.“

„Ich nehme auch nicht an, dass du darauf gesetzt hast“, murrt Denvers. „Was hattest du ursprünglich geplant? – Schätze gar nichts“, fügt er hinzu, als er Elénas leicht verzweifeltes Grinsen sieht.
 

In der Zwischenzeit hat sich Andrew Johnson im Heckteil des Wagens aufgerichtet. Sein erster Blick fällt auf April und den Pater, die sich vor ihm gegenüber sitzen und leise ein Gespräch führen, das April jedoch sofort abbricht, als sie ihn wach erblickt.

Währenddessen reibt sich der Pater geistesabwesend die Oberschenkel. „Ich werde mir noch ein wenig die Beine vertreten“, murmelt er. Er wirkt reichlich verstört, und es fällt Andrew auf, dass ein harter Zug um seine Mundwinkel liegt, bevor er die Tür aufreißt und hinausspringt.

April bemerkt seine Verwirrung. „Er hat mir eben die Beichte abgenommen – zwölf Vaterunser und vierzehn Ave Marias. Umtauschbar in zwei Werken der Nächstenliebe, wenn er gnädig ist“, ergänzt sie halb im Scherz.

„Das ist etwas, was ich über Katholiken nie begriffen habe“, seufzt Andrew. „Aber ich will nicht meckern.“

„Überhaupt nicht?“

„Überhaupt nicht“, bestätigt er. „Also, was geht hier vor?“

April erzählt es ihm zum größten Teil. Er hört geduldig zu, drängt sie nie zu irgendwelchen Details, obwohl Vieles von dem, was sie erzählen kann, einer Erklärung bedarf. Nur ihre Visionen während des Beischlafs behält sie für sich.

Sie schließt ihren Bericht mit einer beinah schüchtern zu nennenden Frage. „Also, steht es noch?“

„Kann man wohl sagen“, murmelt Andrew unwillkürlich, doch er korrigiert sich schnell, als April schamrot wird. „Also, wenn du das Versprechen meinst, heißt das! Ja, das steht noch. Du kannst mit mir rechnen. Auch, was die weiteren Prozesse angeht, und so. Ja, genau…“

„Du hast ein verdammt großes Verständnis für jemanden, der gerade verraten wurde“, spricht April bitter. „Ich hätte dich töten können.“

„Hast du aber nicht“, wendet Andrew sanft ein. „Wenn du jetzt so freundlich wärst, mir meine Uniform zurückzugeben…“

„Oh ja!“ April greift schnell neben sich und legt ihm das Bündel auf die Bank. Andrew kann sie schniefen hören.

„Ich komm dann gleich raus zu dir“, ruft er ihr nach, als die junge Frau eilig hinausspringt.

Sie gibt ihm keine Antwort. Aber wenn Andrew sie richtig einschätzt, ist das wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches für sie. Frauen wie sie müssen sich von selbst öffnen…
 

Wenig später meldet er sich bei seiner Vorgesetzten zurück, die bei einem Kaffee aus der fahrzeugeigenen Espresso-Maschine die Lage überdenkt.

Denvers setzt natürlich gleich zu einer Strafpredigt an, doch Officer Saucédo unterbricht ihn schnell. „Trag ihm einfach ein paar Strafpunkte ein“, sagt sie gelassen, „und mir gleich dazu – ich hab ihn ja dazu angestiftet.“

Andrews Vorahnungen haben sich bewahrheitet. Er weiß nicht, ob er von hier aus vorpreschen kann. Immerhin steht er in der Hierarchie nicht sehr weit oben. Aber wenn er tatsächlich bei dieser Verschwörung mitwirken soll, braucht er einen genauen Überblick.

„Sie hätten mich auch einweihen können, Officer“, bringt er zögernd vor.

„Ich habe nicht einmal Denvers eingeweiht“, erwidert Saucédo bitter. Sie nimmt einen letzten Schluck aus ihrem Becher, bevor sie ihn wegstellt. „Green hat mich erst vor einigen Wochen ins Vertrauen gezogen“, erzählt sie dann. „Ich hatte gerade einen Bericht über einen Fall von übermäßigem Amathin-Schmuggel auf dem Schreibtisch liegen. Alle Zeichen deuteten nach Venice als Umschlagplatz, also hätten wir eigentlich nur eine weitere Razzia bei den Shakespearianern vorbereiten müssen. Aber nach dem Zwischenfall im ‚Pavillon’ von vorigem Sommer… na ja, sagen wir, ich hatte keine Lust auf ein weiteres Massaker.

Es gab ein paar Unregelmäßigkeiten, die mir auffielen. Zum Beispiel Lieferungen von medizinischem Equipment – Nadeln, Regulatoren, Messgeräte – in das Victory Hotel bei der Rialto-Brücke. Gleichzeitig hatte der Verwalter dieses Hotels, ein gewisser Marcus Crozier, größere Mengen Amathin bestellt, doch angesichts der sonstigen Anfragen konnten wir nicht sagen, ob als Privatkunde… oder als Hersteller. Und als wäre das nicht schon genug gewesen, stellte sich das Gebäude auch noch als Eigentum der WATIcorp heraus.“

„WATI?“, unterbricht sie Denvers. „Seit wann haben die Verbindungen im Hotelgewerbe?“

„Ist mir auch ein Rätsel“, gibt Eléna zu. „Wenn sie eine firmeneigene Unterkunft wollten, warum dann in dieser verrotteten Gegend? ...

Na ja, ich habe das Zeug dem Commissioner gezeigt und ihn gebeten, uns einen Durchsuchungsbefehl zu verschaffen und das EYE zu informieren, falls es delikat werden würde. Ich wollte derweil mit Krooks persönlich dort unten warten und das Hotel im Auge behalten – Undercover natürlich. Nur für den Fall, dass sich ein paar erhärtende Beweise ergeben würden.

Aber irgendwas muss schief gegangen sein. Wir haben eigentlich nur die anliegende Straße examiniert, als wir plötzlich...“

„... von hinten angegriffen wurden“, beendet Denvers den Satz unleidlich. „Investigationsprotokoll 1-4, Mädchen: Rückendeckung halten, selbst bei klarem Feld! Als nächstes willst du mir noch sagen, dass sie von oben kamen.“

„Sie kam von oben – es war eine Katze!“

Der alte Offizier scheint seinen Ohren nicht zu trauen. „Katze?“

„Katze“, antwortet Eléna peinlich berührt. „Hat sich an Krooks ‘rangehängt wie ein Löwe an den Büffel. Und als nächstes kamen dann die zwei Tokyo-Chicks“, fährt sie fort, bevor Denvers sie erneut unterbrechen kann. „Eine rosa, eine violett. Haben sich an unseren Rücken festgeklammert und uns in Richtung Kanäle gezogen. Wir haben versucht, die Notfallwaffen zu ziehen, aber diese Mädchen waren schneller und haben sie uns quasi aus der Hand gequetscht. Sie haben nicht mal losgelassen, als wir nach unten ins Wasser stürzten – wahrscheinlich, weil das Wasser nicht so tief war und sie womöglich mit dem Ertrinken etwas nachhelfen mussten.“

„Aber wie kommen ‚Tokyo-Chicks‘ nach Venice?“, fragt Andrew, als seine Vorgesetzte einen weiteren Schluck Kaffee nimmt. „Da treiben sich doch normalerweise nur Obdachlose oder Bandenmitglieder rum.“ Er errötet. „Nein, Moment! Vielleicht haben sie sich ja als ... na ja... also...“, der strenge Blick Denvers liegt auf ihm, „... als... Hostess verkleidet?“

„Ja, so sahen sie irgendwie aus“, antwortet Eléna arglos. „Der Szeneclub ‚Fringe‘ soll angeblich ein japanisches Ambiente haben. Da könnten sie ohne weiteres hinter dem Tresen stehen.“

„Unter anderem“, bemerkt Denvers trocken. „Komm zum Punkt, Eléna!“

„Okay, okay. Ich hab’s gerade noch geschafft, mich im Fall um 180 Grad zu drehen, sodass ich mit dem Rücken voran im Wasserbecken landete. Einen Moment glaubte ich... hoffte ich sogar... dass Mädchen wäre tot... doch dann schlang sie schon wieder ihre Arme um meinen Hals und drückte zu... mit einem Griff hart wie Stahl... während irgendwo anders Krooks ächzte und schrie...“

Andrew gefällt es nicht, wie seine Vorgesetzte hier verharrt. Eléna Saucédo hatte nie den Ruf einer Frau, die sich einschüchtern lässt.

Er hört zwei Paar Schritte hinter sich näher kommen, fühlt, wie April ihre Hand fast automatisch an seinen Nacken führt.

Der Pater geht an ihm vorbei und stellt sich vor Eléna. Er spricht sie an, als würde sie ihn von früher kennen, und tatsächlich tauschen sie ein paar Neuigkeiten aus, die für Andrew böhmische Dörfer bleiben.

Denvers gibt dem Pater dann noch eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Erzählung, bevor die junge Offizierin – dank des Kaffees wieder bei der Sache - fortfährt.

„Warum das Mädchen mich nicht getötet hat, weiß ich bis heute nicht – sie hörte einfach nur auf zu pressen und versteifte den Körper, als wäre sie in Trance. Wie ein verdammter Roboter, dem der Strom ausgeht!“

„Könnte eine biomechanische Geheimwaffe sein“, vermutet Denvers. „Bei einem Gebäude, das der WATI gehört, würde mich das nicht wundern.“

„Hab ich auch gedacht im Nachhinein“, murmelt Eléna. „Jedenfalls hab ich mich schnell aus ihrem Griff gezwängt und bin zu einem nahe gelegenen Baugerüst gewankt. Als ich wieder auf dem Trockenen stand, sah ich, dass das Mädchen immer noch im Wasser lag. Von Krooks hörte ich nichts mehr, und nach einem Blick über das Geländer sah ich auch, warum... Ich holte mir die Waffen zurück, die wir vorhin fallen gelassen hatten, und rief beim Hauptquartier an. Stellte sich heraus, dass der Untersuchungsbefehl nicht erteilt werden würde, und außerdem, dass das EYE den Fall diskret behandeln sollte...

Und noch während Green mir das so erklärte, kletterten diese gottverdammten Tokyo-Chicks aus dem Kanal heraus und rannten mich über den Haufen. Hab sie noch einige Straßenecken weiter verfolgt, bis sie mich in eine Bande verfluchter Shakespearianer hineinmanövriert haben. Als ich da endlich raus war, waren diese Schlampen natürlich schon über alle Berge. Und dann kamen die Männer vom EYE...“ Andrew sieht Elénas Hände sich zu Fäusten ballen.

„Ich hab Green deswegen später die Hölle heiß gemacht. Hat den EYE-Leuten bestätigt, ich wär hier mit Krooks privat unterwegs gewesen, weil... Banane! Hat nicht einmal widersprochen, unser schöner Polizeichef. Erst, als wir in seinem Büro waren, hat er mir erklärt, dass das EYE uns den Fall wegen Kompetenzüberschreitung entzogen hat – wenn unsere Abteilung nicht das Gesicht verlieren wolle, müssten wir das unter Verschluss halten.“

„Was meinte dein Vorgesetzter mit privat unterwegs?“, fragt Pater Marduk aufgebracht. „Wollte er dir etwa unterstellen, du hättest...“

„Er hatte Grund dazu“, erwidert Eléna geknickt. Trotz ihrer braunen Haut werden ihre Wangen rot vor Scham. „Ich hatte während meiner Ausbildung und danach ein paar... enthusiastische Verehrer in meiner Klasse. So enthusiastisch, dass ich sie manchmal sehr scharf bremsen musste. Auf ... unkonventionelle Weise.“

Obwohl Andrew versucht, seine Phantasie im Zaum zu halten, kann er sich die Art und Weise gut vorstellen. Eine peinliche Situation, wie er sie durchleben musste, ist wahrlich kein Stoff für Prahlereien unter Kollegen.

Was er sich nicht vorstellen kann, ist Elénas Part in dieser Sache.

Sicher, es war letztendlich ihre eigene kalkulierte Entscheidung. Doch wie kann man sagen, dass dies für sie in irgendeiner Weise freiwillig war?

Und vor allem: Sind die entsprechenden Nebenwirkungen – Gerüchte, Gewissensbisse, die immerwährende Scham - es wirklich wert?

Vielleicht hat er vor April doch unbewusst den „edlen Cop“ gespielt, ohne sich über die Bandbreite der Konsequenzen im Klaren zu sein...

„Lassen wir das Thema lieber ruhen!“, rät Pater Marduk, als er Elénas Verschwiegenheit in dieser Sache wahrnimmt. „Der Commissioner zog es also vor, nichts zu tun?“

„So kam es mir zunächst vor“, erwidert Eléna zögernd. „Aber er hatte Zweifel bekommen angesichts der Vorkommnisse in diesem Haus. Unser Archiv hatte ihm Querverweise auf unautorisierte Firmentätigkeit in dieser Straße beschert... und einen Link zu einer Akte, welche den Namen ‚April Ryan‘ trug. Der Fall war zehn Jahre alt, doch irgendein Schlaukopf hatte ihn nach dem Kollaps neu aufgerollt und unbefristet weiterlaufen lassen. Eine ganze Reihe Vergehen, von Einbruch und Firmenspionage bis hin zu Cyberterrorismus. Dabei aber keine Details - nur vage Standortcodes für längst aufgelöste Firmenarchive.“

„MTI...“, seufzt April.

Eléna nickt. „Der Chef meinte, er würde versuchen, an die neuen Standorte dieser Archivposten heranzukommen. Meines Wissens hat er aber damit noch keinen Erfolg gehabt. Und leider hat ihm seine Ungeduld mit dem EYE heute Nachmittag einen Termin in der Grendel Avenue eingebracht. Sozusagen Nachsitzen beim Rektor.“ Andrew kommt nicht umhin, eine Spur grausamer Genugtuung um ihre Mundwinkel zu bemerken.

„Ich nehme an, deswegen wollten Sie mich auch direkt dorthin bringen“, schlussfolgert April. „Das EYE will ihn bestimmt gar nicht mehr aus den Augen lassen.“

„Hat er denn keinen anderen Ansprechpartner genannt?“, fragt Andrew zweifelnd. „Wenn sie uns dort erwarten...“

„Das tun sie längst“, entgegnet Eléna grimmig lächelnd.

Sie steht auf und nimmt zum allgemeinen Erstaunen ihren Messenger hervor. Dort ruft sie eine Radio-Live-App auf, wo gerade eine müde Frauenstimme die Verkehrsmeldungen durchsagt:

„... und zuletzt haben wir noch eine Meldung vom Interstate 605 Richtung Newport. Dort ist kurz hinter der Abfahrt nach Longview vor einigen Minuten ein Massencrash verursacht worden...“

„Du willst mich doch wohl...“, entfährt es Denvers, doch Eléna bringt ihn mit erhobenem Finger zum Schweigen. Währenddessen fährt die Nachrichtensprecherin im monotonen Singsang fort:

„Die Polizei in den angrenzenden Bezirken rät allen Fahrzeugen, die zu dieser Stunde noch unterwegs sind, vorerst auf die kleineren Straßen auszuweichen und eine Zeitverzögerung von mindestens ein bis zwei Stunden einzuplanen. Alternativ sei auch ein Besuch im ‚Saucy Presidential Club‘ in Kelso anzuraten, um sich bei einer Bingo!-Cola den Freuden des Lebens hinzugeben. Getreu dem Motto: ‘Let Saucy bring you through the pain of life!’ Rettungsfahrzeuge sollen bereits auf dem Weg sein, um die Toten zu bergen. Wir werden sie natürlich über den Vorfall auf dem Laufenden halten. Ich bin Lucinda Carlyle von Metro Channel Midnight News, wir melden uns wieder um eins nach diesem Song von ‚Postmodern Chat‘...“

„War das eben... ernsthaft...“ Andrew fühlt Zynismus in sich aufsteigen.

‚Saucy Presidential Club' Wirklich?

„Jap“, bestätigt Eléna mit mühsamer Zurückhaltung. „Sonderprotokoll EXC.PLT - anonym anwendbar, nicht zurückzuverfolgen, und praktisch sofort wirksam. Die Verkehrsbehörde wird den Interstate sperren und ein Hologramm erzeugen. Alle unautorisierten Fahrzeuge werden gebeten, sich sofort aus der Sicherheitszone zu entfernen. Erfordert im Nachhinein immer einen Haufen Papierkram wegen der ganzen Beschwerden, aber das soll mal nicht unsere Sorge sein. Wir haben nämlich freie Fahrt!“

Pater Marduk ist davon ganz und gar nicht überzeugt. „Und wenn das jemand von deinen Kollegen oder vom EYE bemerkt? Sie wissen, auf welcher Strecke du gefahren kommst.“

„Damit rechne ich“, entgegnet Eléna. Ihren Mund umspielt wieder diese grausame Genugtuung „Umso mehr ein Grund, dass wir uns den Vorsprung nehmen, solange wir ihn haben.“
 

Zur gleichen Zeit schaut Inspektor Farlan im Newport Police Department entgeistert auf den Bildschirm seines Messengers, aus dem jetzt der weichgespülte Discobeat von ‚Postmodern Chat‘ erklingt.

Saucy Presidential Club‘? Soll das wirklich das Codewort sein, das Green ihm in Aussicht gestellt hatte – ein dämliches Wortspiel?

Diese Saucédo musste wirklich gute Nerven haben, um solche Spinnereien durchgehen zu lassen.

Andererseits musste man die sowieso haben, wenn man sich mit dem Commissioner einließ.

Aber egal! Wie war der Rest der Nachricht noch einmal? Longview und Kelso...

Farlan schaltet auf das digitale Kartensystem seines Messengers um und gibt einen neuen Streckenverlauf ein.

Sofort wird der Interstate 605 hervorgehoben – die lang geplante Verbindungslinie zwischen dem Interstate 5 in Oregon und der ehemals kanadischen Grenze. Und gleichzeitig – seit dem Kollaps - die einzige Auffahrtstrecke zu den oberen Leveln von Newport und dem Syndikatsgebäude, wo die Gesuchte Ryan abzugeben ist. Es ist etwa 0:32.

Das bedeutet, er hat noch knapp eine Stunde, um Vorbereitungen für die anstehenden Prozesse zu treffen – eine Aufgabe, die er gern an jemanden anderen abgeben würde, aber sei’s drum!

Missmutig stemmt er sich aus seinem Drehstuhl hoch, fährt sich über den breiten Schnauzer und das stoppelige Kinn und dehnt den sehnigen Hals.

Manchmal fragt er sich, wie er vom Preisboxen ausgerechnet auf die Informatikschiene geraten ist. Sicher, er hat schon immer einen Hang zu technischen Fachsimpeleien gehabt - speziell, wenn es um Bildschirmtechnologie geht – aber seine alte Karriere hatte wesentlich besser zu seinem Charakter und seiner Veranlagung gepasst.

Allerdings sorgten speziell die Kämpfe in der Goldklasse für eine deutliche Ernüchterung – wenn man sich da nicht in jeder Hinsicht als ‚flexibel‘ erwies, war man schneller draußen, als man ‚Ukrainischer Bruderschaftskrieg‘ sagen konnte (eine Anspielung auf politische Geschehnisse im frühen 21. Jahrhundert, die Farlan am Allerwertesten vorbeigehen).

Aber er war gut mit Datenbanken, und das hatte ihm nach dem Kollaps sehr genutzt.

Er hatte sich auf Datenrestauration spezialisiert und für das Polizeiarchiv eine ganze Menge alter Computersysteme angeschafft, um sie mit Hilfe von Decodierungs-Back-Ups wieder in Schwung zu bringen.

Leider dauert die entsprechende Arbeit schon einmal mehrere Monate, und so ist es ihm bis heute nicht gelungen, den gesamten Datenvorrat aus den Jahren 2200 bis 2209 wiederherzustellen und an die entsprechenden Eigner zurückzugeben.

Selbst die Übernahme einer ganzen Abteilung von Kommunikationsexperten hatte die Entschlüsselung nicht etwa beschleunigt, sondern – vor allem dank Leuten wie diesem Summers – eher aufgehalten. Von der Ablenkung durch die alltägliche Cyberfahndung ganz zu schweigen.

Nun allerdings ...

Farlan verlässt sein Büro und geht durch einen kurzen Korridor zu einem der Decodierungsräume. Er zieht seine Identifikationskarte kurz durch den Schlitz, dann nimmt er einen alten Metallschlüssel heraus und schließt den abgedunkelten Raum auf. Nur ein vergittertes Fenster steht auf, lässt durch einen Feuchtigkeitsfilter die eisige Abendluft und das Geräusch von prasselnden Regentropfen herein. Gegenüber dieses Fensters, hinter einer Abblende, steht ein gewaltiger Berg von Cyberschrott.

Farlan bemerkt noch ein kurzes Aufblitzen von Glasperlen, bevor er sich umdreht und die Tür abschließt.

„Könnten Sie bitte mal das Fenster zumachen, Mister?“, ruft eine weibliche Stimme. „Ich bin hier bald fertig.“

Farlan tut ihr den Gefallen – nicht zuletzt, weil sein Dauerschwitzen ihn in Erkältungsgefahr bringt – dreht sich zum Fenster und betätigt die entsprechenden Schalter. Lautstark schnappen die Schlösser zu.

„Nicht gerade die neueste Technik, die Sie hier haben?“, redet die Frau weiter. „Das klang nämlich sehr eingerostet, wenn Sie mich fragen.“

„Das Budget muss für die Vorortausrüstung reichen“, erwidert Farlan trocken, während er das Licht anmacht. „Und für die Sicherheitschecks!“

„Ja, ja“, seufzt die Frau. „Hacker können echt lästig sein. Machen sich ‘nen Spaß daraus, Computer zu crashen, Daten zu klauen... mit ihren fetten weißen Wurstfingern...“

„Stellen Sie mal ihr Licht nicht unter den Scheffel, Miss“, erwidert Farlan und tritt an den Computertisch hinter der Abblende heran. „Ihr neues Decoderprogramm haben Sie ja sicher auch nicht aus dem freien Handel.“

Eine etwa zwanzigjährige, schlanke Berberin mit etwas gebeugtem Rücken blickt ihn an.

Vielleicht liegt es an den traditionellen Gesichtstätowierungen, aber etwas in ihren Augen erweckt den Eindruck ständiger Belustigung.

„So frei wie es sich für einen echten imazighen gehört“, antwortet sie ausweichend. Dann greift sie zur Seite und setzt eine seltsame rosa Brille auf, deren Bügel mit dem altertümlichen Rechner vor ihr verbunden sind.

„Was macht das Ding noch mal?“, fragt der Inspektor. „Ich würde über die Anschaffung nachdenken.“

„Eigentlich ist es nur zur Übersicht: man klickt ein Datenfragment an und bekommt sofort die entsprechende Liste von Interlinks, die irgendwie damit arbeiten. Kombiniert man das jetzt noch mit einem entsprechenden Berechnungsprogramm, kann man die einzelnen Binärcodes nach und nach wieder zusammensetzen. Gilt allerdings nur für einfache Infospeicher, nicht für Bearbeitungsprogramme.“

„Und das Ding hat keine Speicherchips?“, fragt Farlan süffisant. „Wär doch ein Jammer, wenn es keine kleine Kamera eingebaut hätte.“

„Oh, die hat es.“ Die Frau tippt mit dem Finger auf einen winzigen blauen Schlitz, über dem ein Druckknopf sitzt. „Allerdings hab ich das Teil leider ohne Chip gekauft. Passiert eben, wenn man in einer fremden Stadt auf Shoppingtour geht – man weiß nie, wem man trauen kann.“

„Wenn das kein guter Grund ist, sich zu betrinken...“

Doch obwohl Farlan witzelt – insgeheim ist er dankbar: eine Hackerin mit genau der passenden Ausrüstung in der Ausnüchterungszelle kann man wahrhaftig als glückliche Fügung bezeichnen.

Fast schon ein bisschen zu glücklich...

Er schaut noch einmal genauer auf den Bildschirm, wo gerade der Ladebalken die 100% erreicht. „Die letzte Datei?“

Die junge Berberin nimmt die Brille ab. „Sie haben nach den inoffiziellen Aktivitäten für ’08 und ’09 gefragt – nun, das hier sind sie: Knapp fünfhundert Seiten, fünf gleichzeitig einsehbar! Wann wollen Sie anfangen?“

„Jetzt gleich – suchen Sie mal diese Stichworte hier!“ Er reicht ihr einen Zettel.

„Venice... Victory Hotel... Fiona Chamberlain... April Ryan...”

“Kennen Sie den Namen?”

Die junge Frau lehnt sich zurück, schaut müde zur Decke. „Hat vielleicht meine Trinkpartnerin gestern erwähnt“, murmelt sie dann. „Muss ’ne echte Bombe im Bett sein.“

Farlans Wangen färben sich rot, und er wendet sich mit einem Hüsteln zur Wand. „Name?“

„War mir nich‘ mehr so wichtig, nachdem sie mir diesen Charro Negro spendiert hat“, seufzt sie. „So süß, die Kleine! Hat mich an meine beste Freundin erinnert...“

Genervt winkt Farlan ab. „Machen Sie einfach weiter! Und heulen Sie hier nicht rum!“

Bei genauerer Betrachtung war die Frage sowieso unsinnig – wozu nach den Kontakten einer Frau fragen, deren Aufenthaltsort man längst kennt?

Aber wo es sowieso schon um den Aufenthaltsort geht...

„Können Sie mir noch einen Gefallen tun?“, fragt er verhalten. „Nicht viel, nur eine Nachricht über eine unabhängige Netzsingularität.“

Die junge Frau wischt sich die Tränen weg. „Für den richtigen Preis? Ganz sicher! Oder denken Sie, ich mache das hier nur, um die Freilassung aus einer Ausnüchterungszelle zu erwirken? Sie sind mir vielleicht eine Ulknudel...“

„Schon gut!“ Farlan seufzt. „V-Mann-Status und geheimer Zahlungskanal also. Wie war noch mal der Name... nur für die Akten?“

Ein Schniefen. Wieder Tränen auf den Wangen, die im grellen Licht des Monitors genauso glitzern wie die Perlen in ihren Dreadlocks und der Glitter auf ihrem Lidschatten. Dann die leise, verzweifelte Antwort.

„Olivia. Olivia de Marco.“
 

Es ist bereits viertel zwei, als der Polizeitransporter nach 100 km Fahrt endlich die Vororte hinter sich lässt und über den Centralia-Tunnel ins Herz von Newport eintaucht.

Eléna auf dem Beifahrersitz kann trotz der anstehenden Probleme nicht die zwickende, nagende Ehrfurcht unterdrücken, die sie seit jeher bei dieser Stadt verspürt hat.

Der gigantische, technokratische Moloch hat sich in erst in den letzten hundertfünfzig Jahren gebildet, als die USA ihre Bundesverwaltung neu bedachte und die Gegend um den Puget Sound, Washington zu einer Art Kolonie für Landflüchtler machte. Nach und nach verleibte sich die Verwaltung von der Hauptstadt Olympia aus die wichtigsten Städte der Region ein - Seattle, Tacoma, Lacey, Aberdeen und dergleichen – und machte durch die Ansiedlung der wichtigsten Rüstungskonzerne diesen Ort zu einem Kerngebiet in den zeitweiligen Aufständen. Es wurde zum Ausgangspunkt von Raumreisen, zum Hauptsitz einiger der gewaltigsten Firmen der Welt und zu einem Machtzentrum, neben dem sich das alte Washington D.C. wie die reinste Provinz ausmachte.

Doch die großen Kriege sind seit gut dreißig Jahren vorüber. Nun hat die Stadt mit einer Anzahl kleinerer Kriege zu kämpfen. Wie so ziemlich jede amerikanische Großstadt irgendwann in seiner Geschichte.

Eléna dachte einmal, sie würde in diesen Kriegen – dank ihrer Affinität zu Kunst und den schönen Dingen des Lebens – etwas erreichen können.

Nun weiß sie, dass es eine Menge an Mühsal und Entbehrungen verlangt, bevor man einen „politischen Gestaltungswillen“ überhaupt ausdrücken kann. Bevor man Macht erlangt.

Sie schaut auf das Navigationsgerät. „Wir sollten jetzt aus dem Gröbsten raus sein“, sagt sie zu Denvers, der am Steuer sitzt. „Wenn du willst, können wir noch einmal eine Pause machen, bevor wir auf die oberste Ebene fahren.“

„Es würde mich wesentlich mehr erfreuen, wenn wir auf Letzteres ganz und gar verzichten“, murrt der alte Officer und gähnt. Für einen Moment lässt sogar seine übliche kerzengerade Haltung nach.

‚Derartige Überstunden sollten nicht mehr üblich sein mit 65‘, denkt Eléna.

Sie überlegt, ob sie ihn nicht im Hauptquartier vorbeibringen und aus der ganzen Sache heraushalten soll.

„Was glotzt du so?“

„Nichts, nichts!“

„Du denkst schon wieder, ich würde weich werden, nicht? Mit 65! Pah!“

Ein Piepen von der Messengerablage erspart Eléna jede Antwort.

Sie nimmt das Gerät in die Hand, doch die Adresse auf der Anzeige lässt sie stutzig werden: „‘Kahina Damja‘? Was soll das denn für ein Name sein?“

„Ist das etwa dein Privatmessenger?“, fragt Denvers streng. „Du weißt, dass ich den normalerweise konfiszie-“ möchte er weiterhin sagen, doch Eléna unterbricht ihn, indem sie auf den Annahmeknopf drückt, und eine sanfte Frauenstimme setzt ein:

„Wollten Sie nicht schon immer die Außenwelt aussperren? Sich für einen Abend von den Erwartungen der High Society abschotten? Buchen Sie für sich und eine Begleitung ihr eigenes Separee in ‚The Fringe‘! Lassen Sie sich von uns mit dem besten Sashimi der Stadt verwöhnen und entfliehen Sie für eine Weile in das Arkadien ihrer Träumxtlgoootlfx...“

‚Was zum...‘, denkt Eléna noch. Doch dann hört sie eine vertraute Stimme.

„Saucédo am Apparat? Officer Saucédo, bitte kommen!“

„Inspektor Farlan, sind Sie das? Gott sei Dank, ich da-“

’Saucy’ - wirklich?”

Eléna hat das Gefühl, dass sie diesen Witz noch oft hören wird an diesem Abend. Und er wird kein bisschen witziger werden.

Dieser verf... Orlando Green!

„Ich freue mich auch, Sie zu hören!“, sagt sie unter größter Beherrschung. „Wir wollten schon lange Kontakt aufnehmen, aber es gab keinen anderen Weg, auf dem wir hätten frei kommunizieren können! Haben... lassen Sie mich ausreden... haben Sie einen Ort gefunden, an dem wir vor dem EYE ein paar Stunden sicher sind?“

„Könnte sein“, murmelt Farlan. „Es ist zwar ein Risiko, aber es könnte für uns von Vorteil sein. Wir haben einen exklusiven Club im Auge – so etwas wie ein VIP-Separee, ganz exklusiv und durch die höchsten Kreise geschützt. Na ja... könnte auch durchaus kontraproduktiv sein.“

„Wieso? Das klingt gut. Wissen die dort schon Bescheid? Haben sie einen Abstellplatz für den Transporter?“

„Tja, damit bin ich noch nicht ganz im Reinen. Sehen Sie – laut Karte liegt der Laden ganz in der Nähe von diesem ‚Victory Hotel‘, in Venice! Und der Manager dort würde mit unserer Ankunft ziemlich überrumpelt. Seine Gäste wollen nicht die geringste Störung.“

‚The Fringe‘. Natürlich!

Darum auch die automatische Werbeschaltung: Farlan benutzt die Verbindungsstation des Clubs als Transmitter, allerdings von einem Privatlaptop.

„Und inwiefern haben wir dort überhaupt einen Fuß in der Tür?“, fragt sie genervt. „Hat die Kantine dort einen Jahresvorrat Sashimi bestellt?“

Farlan antwortet nicht gleich, sondern scheint etwas im Hintergrund zu besprechen. Doch dann kehrt er zurück.

„Also, wenn meine Quellen mich nicht täuschen, dürfte Ihr Fahrgast unsere Eintrittskarte dort sein. Mehr kann ich nicht sagen!“

Eléna schmeckt die Sache ganz und gar nicht. Aber die Müdigkeit überwältigt langsam auch sie.

Und irgendeinen guten Grund muss Farlan ja haben für seine Vermutung.

„Riskieren wir‘s!“, erwidert Eléna störrisch. „Schicken Sie uns doch die Adresse gleich rüber und sagen Sie dann irgendwie dem Commissioner Bescheid! Wir sehen uns dort um Zwei. Over und aus!“

Die Verbindung wird beendet. In Bruchteilen von Sekunden aktualisiert sich der Eintrag auf ihrem Navigationsgerät. Gleichzeitig kommt eine Kurznachricht, wiederum von ‚Kahina Damja‘.

Während Denvers die neue Route in Augenschein nimmt, klopft Eléna über ihre Schulter an die Sprechklappe. Dann schiebt sie sie vorsichtig auf.

Pater Marduk streckt sich ihr entgegen. „Sie schläft gerade. In den Armen von... von deinem Kollegen.“

„Johnson. Sagen Sie ihr bitte, dass wir eine Planänderung haben! Wir fahren nach Venice, ‚The Fringe‘. Und fragen Sie sie nach Charles Layou, wenn Sie...“

Sie wird abrupt unterbrochen durch ein krachendes Rumpeln, Andrews überraschte Rufe... und ein Wimmern, das durch Mark und Bein geht.

3.3 Das neue Bewusstsein

A/N:

Beim näheren Recherchieren von Polizeigraden in den Vereinigten Staaten ist mir aufgefallen, dass das Ranggefälle, was bisher zwischen den Figuren des NPD herrschte, eigentlich hinten und vorne nicht stimmen kann:
 

Eléna Saucédo und Carol Denvers werden meist als Officer angeredet – dabei ist das der unterste Rang in der Polizeihierarchie, und die beiden sind ganz klar höher graduiert als der Rest ihrer Kollegen.

Da Eléna bei der Fahndung trotz ihrer nur 23 Jahre als führende Kraft mitwirkt, sollte sie eigentlich den Rang eines Junior-Sergeants haben. Dies wäre nach den Regelungen des Seattle Police Departments (theoretisch der Vorgänger des Newporter Departments) zwar erst nach fünf Jahren Polizeidienst möglich (wozu sie erst mit zwanzig zugelassen wäre); aber da dies alles zweihundert Jahre in der Zukunft spielt und das NPD ziemlich heruntergekommen ist, wäre eine Änderung dieser Vorgaben ohne weiteres möglich.

Carol Denvers wäre nach der Zahl seiner Dienstjahre eigentlich zu einem höheren Dienstgrad berechtigt und hätte damit mehr Befehlsgewalt als Eléna. Allerdings hat er wahrscheinlich nie einen Beförderungsantrag gestellt und genießt es, als Senior Trooper / Senior Officer die Neuzugänge zu überwachen.

Andrew Johnson dagegen ist nicht, wie bisher gedacht, ein Sergeant (nicht einmal ein frisch gebackener), sondern kann höchstens den Grad eines Erste-Klasse-Officers mit vielleicht drei Jahren Diensterfahrung haben. Er wird außerdem erst vor kurzem Elénas Einheit zugewiesen worden sein.

Krooks, Elénas toter Kollege, dürfte früher Mitglied ihrer Einheit gewesen sein, allerdings ebenfalls niedrigeren Ranges.

Henrik Farlan wurde als Inspektor eingeführt, was sich von den anderen Rängen darin unterscheidet, dass er in Zivilkleidung arbeitet. In den USA kann man sowohl mit als auch ohne Patrouillenerfahrung eine Detektivausbildung absolvieren, und bei Farlan ist letzteres der wahrscheinlichere Fall – seine Profession vor der Boxerkarriere war in der Informatikbranche. Da er Leiter der Netzfahndung und Informatikabteilung ist, dürfte er im gleichen Rang oder oberhalb eines Captains stehen.

Orlando Green ist Polizeichef und Police Commissioner von Newport und damit der höchste Beamte der städtischen Polizei, muss sich allerdings der staatlichen EYE-Abteilung unterordnen.
 

Das EYE selber hat ebenfalls ein militärisches Rangsystem, allerdings wesentlich autoritärer und straffer organisiert. Die national gegliederten Divisionen sind in sogenannten Zirkeln organisiert, die einem Commander unterstehen. Die Zirkel ihrerseits unterstehen Fraktionen im Syndikatsrat, die normalerweise nach gewissen Standards beantragt und genehmigt sein müssen.

Allerdings werden diese Standards schon seit Jahren unterlaufen, und so unterstehen die Zirkel nunmehr einem einzigen Konzern und haben je nach dessen Einfluss eine umfangreiche Exekutivgewalt auch innerhalb des EYE.

Der an dem Einsatz im Haus Ryan beteiligte MT-7 trägt eigentlich den Titel „Nordwestamerikanische Division für den Dreizehnten Zirkel“, hat aber in Sachen Konzernloyalität seine ganz eigene Geschichte...
 

~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~
 

„Wollen Sie noch einen Schluck, Liv?“

„Danke, Charlie – aber der erste Schluck wird vollauf reichen. Sie sagten, das sei haitianischer Kaffee?“

„Meine persönliche ‚Hausmarke‘, könnte man sagen – ich stamme von St. Vincent, das ist dort gleich um die Ecke. Ich hab das Zeug gerne weiterempfohlen, als das hier noch ein Café war. Doch die meisten Leute, die jetzt herkommen, brauchen in der Regel andere Muntermacher.“

„Aber heute nicht?“

„Nein, heute haben wir unsere zweitägige Ruhepause. Wir öffnen erst morgen Abend wieder.“

„Dann werden wir uns bald nach einem anderen Hauptquartier umsehen müssen?“

„Ja, das müssen Sie! Wir haben zu viele Vorbestellungen, und so gern ich auch aushelfe – das Geschäft muss stabil bleiben.“

Schweigend nimmt Olivia noch einen kleinen Zug von dem Kaffee. Der sanfte, rauchige Geschmack lässt sie die Kälte der Garage beinahe vergessen, doch – zu ihrer eigenen Überraschung - könnte auch die derzeitige Gesellschaft dazu beitragen.

Charles Layou (von den meisten Leuten ‚Charlie‘ genannt) schlägt die langen Beine übereinander und schaut über die Schulter zur Einfahrt, wo Inspektor Farlan über den Messenger mit seinem Commissioner spricht.

„Polizeipräsenz ist in meinem Gewerbe nicht sehr förderlich“, sagt er angespannt, „ich hätte Sie ohne Absprache mit meinem Boss eigentlich nicht hier reinlassen dürfen.“

„Mr. Farlan und ich könnten auch das verliebte Pärchen spielen, wenn Ihnen das lieber ist“, scherzt Olivia. „Die exotische Liebhaberin des alten abgehalfterten Junggesellen...“

„Apropos ‚exotisch‘“, unterbricht sie Charlie, „sie kommen doch aus Nordafrika, nicht wahr?“

„Ja“, antwortet die junge Berberin verhalten, „aber das braucht eigentlich nicht jeder zu wissen.“

„Ich werde diskret sein, keine Sorge! Es ist nur so, dass ich vor kurzem Besuch von einer jungen Frau aus Casablanca hatte, und sie hatte eine Freundin namens Olivia. Sie war hier, um nach ihrem Freund zu suchen, und ich verwies sie auf denselben Ort, wegen dem Sie jetzt hier sind.“

Zu ihrem nicht unbeträchtlichen Ärger muss Olivia feststellen, dass ihre Zunge trotz vorprogrammierter Antwort an ihrem Gaumen klebt.

„Ja“, sagt sie dann langsam, „das Victory-Hotel!“

„Hat Zoë Ihnen jemals erzählt, was dort passiert ist?“

„Ich habe Aufzeichnungen darüber gesehen. Sie hat mich über einige Details in Stand gesetzt, aber nachdem sie in WATI City angekommen war, habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich weiß aber, dass sie den Namen April Ryan erwähnte, und als ich dann genau diesen Namen in der Akte las, bin ich beinah ohnmächtig geworden...“ Sie seufzt theatralisch. „Es war ein viel zu unglaublicher Zufall.“

„Zufall, ja...“

Charlie senkt den Blick. Schon holt er aus, um etwas zu erzählen, als ihn eine Klingel unterbricht.

Hinter ihnen schaltet Inspektor Farlan hastig den Messenger aus.

„Das müssen meine Leute sein. Sind Sie bereit, Mr. Layou?“

„Ich komme gleich“, antwortet dieser, bevor er sich noch einmal Liv zuwendet.

„Bleiben Sie in meiner Nähe! Dann finden Sie vielleicht Ihre Antworten.“
 

Die Außenkameras zeigen wirklich einen Polizeitransporter mit halbblinden Scheiben, hinter ihm gewaltige Schwaden von Eisnebel.

Charlie schaltet schnell die Scheinwerfer über dem Tor ein und richtet sie aus, bis ihr Schein auf

eine uniformierte Frau fällt. Hinter ihr rennt ein junger Mann vom Führerhaus weg zum Heckraum.

„Das ist Sergeant Saucédo“, erklärt Farlan über den Bildschirm gebeugt. „Und der Mann dahinten ist... Jackson, oder so. Viel versprechender Neuling. Irgendwo müsste da auch Denvers sein, einer unserer erfahrensten Streifengänger. Gibt den Frischlingen ein bisschen Starthilfe. Absolute Profis. Ich bin sicher, Ihrer Miss Ryan geht es bestens...“

Die Hecktüren werden zugeknallt und enthüllen zwei Männer, die eine ohnmächtige Frauengestalt in den Armen haben, sowie einen älteren Polizisten, der an der Krücke geht.

Charlie drückt den mit offenem Mund dastehenden Inspektor Farlan etwas unsanft beiseite und betätigt sofort den Knopf für das Rolltor.

Wenig später nimmt er die Gruppe in Empfang und führt sie im Eiltempo durch die Küchenräume zur Lounge, wo Eléna Saucédo (der jüngere Polizist ist zurückgeblieben, um den Wagen hineinzufahren) und ein älterer Herr, der wie ein Priester aussieht, die bewusstlose April auf eine Polsterbank sinken lassen.

„Sie hatte einen ihrer Anfälle“, erklärt der ältere Herr. „Ich habe derartiges schon miterlebt – es scheint Teil ihrer Amnesie zu sein.“

„Eine Panikattacke?“, fragt Charlie

„Das war keine einfache Panik“, stößt Sergeant Saucédo aufbrausend hervor. „Wir hatten keine Ahnung, was da... Sie war wie eine Furie! Wir sind beinahe in die Fahrbahnbegrenzung gekracht. Carol hat sich beim Abbremsen das Bein verrenkt, und wenn ich nicht an seiner Stelle gegengesteuert hätte, wären wir jetzt tot.“

„Eléna, bitte!“, beschwichtigt sie der Priester. „Ich kann mir auch keinen Reim darauf machen, es ist...“

„Pater, kommen sie mir nicht mit Entschuldigungen – wir hätten sterben können!“

„Was genau ist passiert?“, fragt Charlie noch einmal nach, die aufgeheizte Stimmung bewusst ignorierend.

Der Pater pustet unsicher auf seine gefalteten Hände. „Es war Ihr Name!“, sagt er dann in Charlies Richtung. „Sobald sie ihn hörte, fing sie an zu zittern. Sie flüsterte, flehte: ‚Nein, nein, bitte nicht, nein‘. Sie war nicht mehr sie selbst – die Luft um sie herum glühte weiß und vibrierte. Wir - das heißt, der junge Johnson und ich - versuchten auf sie einzureden, aber sie warf uns einfach zur Seite und schlug dann mit beinah dämonischer Kraft auf die Heckraumwände ein. Und ihre Schreie...! Wie gesagt, ich habe all das schon einmal erlebt, aber nicht in dieser Größenordnung! Schließlich brachte sie ein besonders heftiger Schlenker zu Fall und wir konnten uns auf sie stürzen und sie beruhigen.“ Er hält inne, lässt seine Worte einen Augenblick auf Charlie einsinken. „Ich weiß, das klingt alles geradezu unglaublich...“

„Oh nein“, widerspricht Charlie aufrichtig. „Ich verstehe das vollkommen.“

„Was soll das heißen – ‚verstehen‘?“, schreit Eléna Saucédo ihn aufgebracht an. „Denvers braucht vielleicht Tage, um wieder ordentlich laufen zu können, und wir sind sowieso schon so wenige, und... wo ist Green?“, fährt sie Farlan an. „Hängt er etwa immer noch in der Grendel Avenue fest?“

„Er hat noch keinen Anwalt gefunden“, wehrt Farlan irritiert ab. „Glauben Sie etwa, die Leute würden Schlange stehen, um sich mit dem EYE anzulegen? Die haben sich durch alle möglichen Fallstricke schon vor Jahren unangreifbar gemacht...“

„Bei Gott, erklären Sie mir das nachher!“ Die junge Unteroffizierin bricht auf einer Chaiselongue neben Charlie zusammen und reibt sich die müden Augen.

In Charlies Augen macht sie den Eindruck einer sonst unabhängigen Frau, für die außerordentlich viel auf dem Spiel steht... professionell genauso wie persönlich.

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, fährt er an Inspektor Farlan gewandt fort. „Ich kümmere mich um April, und Sie gehen erstmal hoch in mein Arbeitszimmer, um ihre Besprechung vorzubereiten. Officer Denvers kann sich solange in unserem VIP-Separee im oberen Stockwerk hinlegen...“

„Ja klar, lassen Sie mich ruhig die ganzen Treppen hochhumpeln“, erwidert dieser trotzig mit hoch erhobener blutiger Nase. „Geben Sie mir lieber was Handfestes zu essen!“

„Gut. Ich hole Ihnen dann was aus der Speisekammer. Wir haben auch ein Badezimmer für das Personal im rechten Flügel“, fügt er mit einem Blick neben sich hinzu. „Ich werde Sergeant Saucédo den Schlüssel dazu geben.“

Der Inspektor nickt abwesend. „Wir müssen dann noch einmal ihre Aussage erfassen. Kommen Sie mit Johnson hoch zu mir, sobald er mit dem Transporter fertig ist. Miss DeMarco – Sie kommen bitte auch mit!“ Dann entfernt sich Farlan mit dem frustrierten Seufzen eines Mannes, der sich selbst extrem bemitleidenswert findet; Olivia folgt ihm, die schwere Laptoptasche fest an sich geklammert, eine Hand an ihren Perlenzöpfen.

Denvers wartet derweil noch auf seine jüngere Kollegin. „Jetzt steh schon auf! Soll ich mich etwa genauso gehen lassen wie du, nur weil ich müde bin?“

Eléna schenkt ihm einen giftigen Blick, doch der alte Offizier kümmert sich gar nicht darum und humpelt unverdrossen in die Küche davon.

Charlie spürt, wie hinter ihm eine Atmosphäre aus Anspannung und unausgesprochenen Schuldgefühlen zurückbleibt: April liegt bewusstlos, aber keuchend auf der Polsterbank; der Pater fingert nervös an seinen Manschetten; und Eléna Saucédo begräbt ihr rotes Gesicht in den Händen, als wolle sie gerade überhaupt nicht angesprochen werden.

Charlie wagt es dennoch und legt vor ihr die Hand auf den Tisch. „Wie gesagt – hier ist der Schlüssel! Das Bad ist das dritte Zimmer im Flur rechter Hand zur Mikrowelle. Das wird Ihnen gut tun“, möchte er weitersagen, da schieben sich Elénas lange braune Finger schon über den Schlüssel und ziehen ihn weg.

„Danke!“, sagt sie steif und steht auf.

„Sie müssen nur ein wenig warten, bis das Heißwasser kommt“, setzt Charlie ruhig nach.

„Sie sind sehr zuvorkommend.“

„Das ist der Service unseres Hauses.“

„Genau wie diese Reproduktion eines emaki von Takeshi Sunuke dort an der Wand.“

„Inwiefern ist sie zuvorkommend?“

„Sie weiß, wann sie den Schnabel zu halten hat.“

Charlie registriert schmunzelnd ein zurückhaltendes Lächeln auf Sergeant Saucédos Lippen und erkennt, dass dies nicht als Angriff gemeint ist.

Doch gleich darauf bemerkt er, wie April sich mit einem Stöhnen zur Seite dreht, und seine Gedanken kehren voller Scham in die Gegenwart zurück, und er sieht noch immer Eléna vor sich stehen, die dunklen Wimpern wie einen Vorhang über ihre Augen gelegt.

An irgendetwas erinnert ihn diese Scheu... diese Verlorenheit...

Als hätte sie ihren Koffer neben sich stehen und würde ihn für die Suche nach einer Wohnung um Rat bitten.

„Ich gehe besser in die Küche“, spricht er zögernd, „bevor ihr Kollege...“

Das Scheppern von zerbrechendem Geschirr, das Fluchen eines alten und das Flehen eines jungen Mannes schneiden ihm das Wort ab.

Eléna schüttelt wehmütig lächelnd den Kopf. „Wissen Sie, wir sind eigentlich alle Profis – auch wenn man uns das nicht ansieht!“
 

~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~
 

Es ist eine schmerzhafte Erfahrung, an Tage des Scheiterns zurückzudenken.

Wenn eine Welt in die Brüche geht, die man nicht bereit ist zu verlieren. Wenn die eigenen Entscheidungen sich auf andere, geliebte Menschen auswirken.

Es ist noch keine zwei Stunden her, dass April diese Erfahrung machen musste, als sie vom Tod ihrer Mutter erfuhr. Und nun schleudert sie ihr Geist auf noch weit ältere Erfahrungen zurück.

Ihr ganzer Körper wird davon geschüttelt. Ein schwerer, betäubender Druck legt sich auf ihre Hände und Unterarme, so dass sie keinen Finger mehr rühren kann.

Viel schlimmer aber ist der endlose Strom an Gedanken und Bildern, die alle miteinander grausam sind.

Sie erkennt, dass sie Rebecca Ryan sehr lange und gleichzeitig nicht lange genug gekannt hat. Sehr gern hätte sie gewusst, was jenseits der allgegenwärtigen Hilflosigkeit sonst noch in diesem Menschen steckte.

Sie war sicherlich sanft gewesen; hatte ihr Geschichten vorgelesen, wenn Vater nicht zu Hause war; hatte sie gelegentlich gefragt, was sie im Fernsehen schaute; hatte sie zum Lesen und Malen... nun ja, nicht gerade ermuntert, aber sie hatte sich wohl dafür interessiert.

Aber was war das für sie? Eine mütterliche Pflicht? Echte Hingabe? Das Amüsement einer Zoobesucherin beim Anblick eines niedlichen kleinen Bären?

Ein Ersatz für Vaters Gefühlskälte?

April kann ihn hören, wie er brüllt. Wie er die Treppe herunterpoltert. Wie er vor Schmerzen stöhnt und April hinterher ruft, sie solle zurückkommen.

Doch sie ist bereits unterwegs, niemand weiß wohin. Es ist ein wahnsinniger, doch bestimmter Wunsch, der sie in die Ferne leitet.

Hohe Wolkenkratzer wachsen um sie herum. Geländer aus korrodiertem Messing und tiefe Abwasserkanäle formen ihren Weg zu einem hohen Reihenhaus direkt vor einer kleinen Bogenbrücke; auf einer Seite ziert ein Wandgemälde mit grünen Schlieren und einem weißen Drachen das Bild.

Sie hört Lachen in diesem Haus, das Scherzen und Gezanke zweier innig verliebter Frauen; Filmklassiker und Dokumentationen auf einem großen Bildschirm... und dann plötzlich: einen Schuß.

Emma - ihre beste Freundin mit den langen schwarzen Haaren und den wilden Ideen – fällt zu Boden.

Zack – ihr schmieriger Zimmernachbar mit dem selbstgefälligen Gehabe – hebt die Hände in Notwehr, doch auch er wird getroffen.

Fiona Chamberlain – ihre Vermieterin – ringt die Hände und weint.

Und über all dem eine weibliche Gestalt im Anzug, ohne Gesicht, mit einer kalten monotonen Stimme, die vom Äther verzerrt wird: eine unnahbare Logik im Dienste eines größeren Übels.

Obwohl sie nicht besonders nah bei April steht, spürt die junge Frau dieses Wesen mit einer kaum zu ignorierenden Präsenz. Es scheint fast, als läge sie wie eine Wolke über jedem einzelnen ihrer Gedanken und könne ihn hören und ersticken.

‘Deine Rolle endet‘, hat er gesagt“, verkündet die Logik mit unendlicher Ruhe und auch ein wenig Traurigkeit. „‘Lass es einfach sein‘, sagte er! Warum hast du dich nicht einfach dran gehalten?“

‚Was meint sie damit?‘, denkt April kraftlos. ‚Was hätte ich sein lassen sollen?‘

Ganz einfach alles!“, antwortet ihr die Stimme kühl. „Sieh dich doch an: Kein Schiff wird bleiben, dass dich fort trägt. Kein neues Ziel erwartet mehr, dass du dich darauf zubewegst. Die Wogen, auf denen dein Lebensschiff reitet, sind längst ermattet. Gib das Leben auf! Es wird dir nur noch wehtun.“

‚Wie kann ich das Leben aufgeben?,‘ fragt April verzweifelt. ‚Gibt es keinen Grund, warum ich überhaupt noch da bin?‘

„Du warst nur da, um seine Ankunft vorzubereiten“, entgegnet die Gestalt. „Was vorher war, spielt keine Rolle mehr. Also auch du!“

April fühlt sich bis ins Mark erzittern‚ aber der Druck auf ihrem Kopf ist zu stark für eine Erwiderung. Das Wesen bleibt auf Abstand, betrachtet sie nur mit fühlbarer, spöttischer Geduld.

„Eigentlich ist es nicht schade drum“, sagt es schließlich. „Papa und Mama hätten dich sowieso den Rest deines Lebens verfolgt. Du hättest niemals einen positiven Einfluss auf die Welt haben können. Nun sind sie beide tot... deinetwegen.“

‚Das ist... nicht wahr!‘, presst April hervor.

Und aller Logik nach sollte das stimmen: Papa starb in einer weltweiten Katastrophe; Mama wurde von einem wahnsinnigen Killer erschoßen.

Doch während sie das denkt, fühlt sie auf einmal das gesichtslose Wesen auf ihrer Brust sitzen, obwohl es doch nach wie vor über ihr in der Luft steht.

„Es ist wahr!“, fährt die Gestalt fort, doch ihre Stimme ist jetzt ein scharfes Flüstern. „Als du in der Zwischenwelt deinen großen Heldenmoment gefeiert hast, ist die Welt der Technik aus den Fugen geraten. Jeder Mensch, der beim Kollaps ums Leben kam, verdankt dies nur deiner Einmischung. Also liefst du weg, weil du dachtest, du könntest Abstand von dir und deinen Opfern gewinnen. Du wurdest zum Monster, denn alles, was du konntest, war Zerstörung. Also lief es darauf hinaus, dass du dich irgendwann selbst zerstören würdest. Aber du bist gescheitert... und deine jetzige Existenz gefährdet alle, die dir noch geblieben sind.“

Warum kennt April all diese Gedanken? Sie scheinen wie ein Bündel in ihrem Herzen eingeschnürt, selbst wenn der Kopf sie längst vergessen hat.

„Du ... du provozierst mich nur!“, krächzt sie zwischen ihren Qualen hervor. „Sei... sei still!“

‘Sei still‘!“ Die weibliche Gestalt spuckt die Worte verächtlich aus. „Hast du immer noch nichts anderes gelernt? Zehn Jahre ist es her, dass du mir dasselbe gesagt hast... und es ist genauso abgeschmackt.“

Ein wenig Ordnung stiehlt sich in Aprils Kopf: Sie ist wie ein zappelndes Zelltierchen, das die Nesseln nach seinen Nachbarn ausstreckt.

April erkennt die Dynamik; erkennt die kalten, zielsicheren Verletzungen.

Und sie fühlt die Nähe einer Hoffnung.

„Du wirst dir meine Worte gefallen lassen müssen“, ruft sie der Logik zu. „Du weißt, dass du mir nicht entkommen kannst. Wir sind unzertrennlich.“

„Natürlich weiß ich das, du Zicke“, faucht das Phantom zurück, ihr Panzer aus Unnahbarkeit nun bröckelnd, ihr Gesicht immer mehr seiner alten Form ähnelnd. „Ich bin bei dir, seit du in diese Welt kamst. Zehn Jahre lang habe ich friedlich mit dir gelebt. Du hattest endlich eingesehen, was für ein kolossaler Fehlschlag du warst. Endlich waren wir Partner. Aber nun beginnt alles von vorne.“

Partner nennst du das?!“, höhnt April, während der Druck auf ihre Hand immer stärker wird. „Du hast eine komische Art das zu zeigen... April.‘

Ihr Gegenüber verzieht das Gesicht, Aprils Gesicht, das nun in jugendlicher Verbissenheit auf sie herab starrt. „Oh, diese Schlauheit von dir!“, gibt sie spöttisch zurück. „Du denkst, wenn du mich mit meinem Namen nennst, dann kannst du mich kontrollieren. Vergiss es! Ich habe die Dinge im Griff. Du kannst nicht anders sein als ich. Ich bin du.“

„Eine Illusion von mir“, antwortet April. „Du bist nicht mehr, als ich glauben möchte.‘

Glauben!“ Die Phantom-April scheint auf einmal zu einer Wolke aus Schatten heranzuwachsen. April fühlt ihre Last auf dem Brustkorb anwachsen, fühlt den Schweiß auf ihrem ganzen Körper rinnen.

„Glauben - das heißt sich an Halbwahrheiten und Hoffnungen zu klammern“, brüllt Phantom-April im Wahn. „Dein Glaube hat dich all deine alten Freunde gekostet. Und Glaube schlachtet nun in der anderen Welt die letzten deiner Kameraden ab. Hättest du mir geglaubt, dann würden sie alle noch leben. Alles wäre gut gewesen!“

Eine Eiseskälte breitet sich in Aprils Kopf aus. Sie fühlt es wieder... die letzten Atemzüge... die schwindende Wärme... Phantom-April möchte sie aufgeben... sie möchte sich selbst aufgeben...

Doch die echte April weiß, dass sie noch eine Chance haben... die Wärme hat sich nur zurückgezogen... doch von anderer Stelle kommt sie zurück.

Ihre taube Hand fühlt einen fremden Druck... zwei lebendige Hände, warm und voller Vertrauen.

Es ist beinah wie damals... sie fürchtet sich, aber die Furcht soll sie diesmal nicht beherrschen...

Der Druck ruht kurz... und schwindet dann mit rasender Geschwindigkeit.

Phantom-April hat sich von Aprils Brustkorb zurückgezogen. Noch steht sie kerzengerade über ihr, aber ihre Ränder beginnen bereits zu verschwimmen.

„Du willst also wirklich bleiben, Zicke – nun gut. Aber die Schlacht ist noch nicht beendet.“

„Noch lange nicht“, bestätigt April, während das Leben in ihre Hand zurückkehrt. „Was ich auch immer zu tun kriege, das werde ich tun. Du wirst nicht an mich herankommen. Ich bin nicht allein.“

„Wir werden sehen“, erwidert Phantom-April. „Wenn du bereit bist... wenn du wieder Zweifel spüren solltest, dann triff mich an dem Ort unseres letzten Kampfes.“
 

„... unseres letzten Kampfes...“

„Sie hat etwas gesagt, Pater!“

„Barmherzigkeit! Schnell – drehen Sie sie auf den Rücken!“

Wie aus einer anderen Welt hört April Dielen knarren und Polstermöbel knirschen. Aber all das ist ihr ganz egal. Noch nie zuvor schien ihr der Klang der eigenen, unverfälschten Stimme so schön und verlockend.

All diese weinerlichen, knurrenden Untertöne; dieses beharrliche Genörgel...

Nicht einmal ihre musikalische Unbegabtheit würde sie jetzt noch daran hindern, ein schmissiges und total geschmackloses Seemannslied anzustimmen.

„Wir lagen vor Madagaskar und hatten... den Mann mit der Pest an Bord...“

„Was singt sie da?“

„Ihr Blick ist immer noch verschleiert. Schenken Sie mir einen Schluck von dem Whiskey dort ein, Pater – nur einen Fingerhut voll!“

„Kann ich ihn bitte auf Eis haben?“

„Natürlich, April...“

Das Männergeplapper hält inne. April kichert leise und hebt ihre Hand vor die Augen, während ihre schweren Lider zu blinzen versuchen.

Doch was sie zu sehen bekommt, erschüttert sie.

Die Innenseite ihrer rechten Hand glüht, als hätte sie gerade eben eine Herdplatte berührt. In der Mitte ihres Handtellers wölbt sich eine rotglänzende Kugel empor, die von einem langen Schlitz gespalten ist. Unter der Haut, die sich wie ein Augenlid öffnet und schließt, funkelt ein weißes Licht hervor.

April krümmt unsicher die Finger und spürt einen festen Gegendruck – das Ding ist ganz bestimmt massiv.

Aber dann stupst sie es mit den Fingern der anderen Hand an, und es zuckt zusammen. Ein Prickeln wie von Nadeln begleitet den Vorgang.

Dennoch hält April mit zusammengebissenen Zähnen an dem Gedanken fest es zu berühren, und das Lid öffnet sich gehorsam und lässt sie gewähren.

Die Oberfläche fühlt sich kalt und glatt an, wie ein Gelee, aber der Glanz in ihm bewegt sich frei und strahlt unabhängig von äußeren Lichtquellen.

Er scheint April lauernd, geradezu begierig anzusehen.

„Unglaublich!“, hört April Pater Marduk kommentieren.

„Was ist das?“, fragt sie schleppend. „Wann...?“

„Es muss während deines Anfalls entstanden sein – du hattest seitdem die Hand zur Faust geballt. Eine Art... Stigmatisation. Das ist eine psychosomatische Erscheinung, bei der Gläubige anfangen, die Wundmale Christi zu generieren.“

Wundmale...?

„Genug damit, Pater“, mischt sich die andere anwesende Person ein. „Überdramatisieren Sie das Ganze nicht!“

April kommt nicht umhin, die Augen kurz wieder zu schließen. Es erscheint ihr einfach so unglaublich, dass sie diese Stimme jemals vergessen konnte, diese Stimme, die ihr in einer dunklen Stunde einst sagte, sie sei nicht allein.

Gerade das hatte die Rückkehr dieser Erinnerungen so grauenvoll gemacht – eine alte, unbegleichbare Schuld.

Doch sie zwingt sich, Charlie wieder ins Gesicht zu sehen, sie erkennt die vertrauten Züge, den alten Glanz in seinen Augen...

Doch er lächelt nicht, als er sagt: „Wie geht es dir? Nicht sehr gut, nehme ich an.“

„... nicht sehr gut, nein“, antwortet sie ungelenk. Sie würde sich gerne aufstützen, aber das Ziehen in ihrem Handteller raubt ihr jegliche Zuversicht, die sie in dieser Richtung hat.

‚Du lieber Himmel, reiß dich zusammen! Das ist nur Charlie – der tut dir nichts.‘

Doch April ahnt, dass das nicht wahr ist - Charlie konnte seinen Ärger schon immer gut verstecken.

Allein, das Mädchen seiner Träume konnte diesen Ärger nicht auf sich ziehen… damals nicht.

„Ich könnte immer noch einen Whiskey vertragen“, sagt sie schließlich.

„Weißt du, das könnte bei näherer Betrachtung keine gute Idee sein... du warst ziemlich lange bewusstlos...“

„Ich werd‘ es aushalten“, antwortet sie schnippisch.

Sie nimmt das Glas mit der linken Hand spitzfingrig entgegen und stürzt es in einem Zug hinter.

Sie braucht dieses Brennen in ihren Adern und den plötzlichen Schock des Alkohols. Ihr ausgelaugter Körper könnte sonst nicht verarbeiten, was sie gleich versuchen wird…

Sie lässt dem Whiskey ein bisschen Zeit, sich auszubreiten. Dann hält sie die Hand mit dem Auge vor ihr Gesicht und konzentriert sich auf den Gedanken von zwei Cowboys im Duell.

Das seltsame Auge zuckt widerspenstig – April fühlt die verspannten Sehnen – aber das ist genau, was sie beabsichtigt hat. Ihre Gedanken ergreifen die Handmuskeln, dehnen sie, ziehen sie ein.

Unter großen Schmerzen zieht sich der Augapfel in die Handfläche zurück. April ballt die Faust und knetet mit den Fingern nach.

Es tut unsagbar weh, doch sie fühlt das störende Rund zerfließen wie ein gebratenes Ei, und sein Material zieht sich bis auf Weiteres in die Knochen zurück – wohin genau, weiß April nicht.

Das Einzige, was von ihm verbleibt, ist ein Symbol auf dem Handrücken: eine Art pupillenloses Auge mit blaugrauer Iris, um das sich zwei Schlangen winden.

Charlie beobachtet verwirrt dieses bizarre Schauspiel, während ihm April – schwach lächelnd - das Glas zurückgibt. Sie fühlt sich ein wenig mutiger.

„Weißt du, es gäbe da eine Menge zu erklären“, setzt sie an, „aber in manchen Sachen bin ich ehrlich gesagt selbst überfragt. Vieles davon ist mir fremd.“

„Verstehe...“, erwidert Charlie knapp. Ihm liegt auf einmal viel daran, das Glas an den Tresen zurückzubringen.

Doch noch bevor er sich erheben kann, umschlingt ihn April schon am Hals und zieht ihn zu sich herunter. Tränen laufen ihr über die Wangen, als sie ihre Augen in seinem Jackett vergräbt.

Wenigstens ist es kein Anfall mehr…

Charlie ist zuerst wie vom Donner gerührt. Dann weint auch er, schweigend.

„Ich habe dich vermisst.“
 

Sie bemerken nicht mehr, wie Pater Marduk sich davonstiehlt. Sie bemerken nicht Eléna Saucédo, die –frisch geduscht und ihrer Rüstung entledigt - in der Tür zum Küchentrakt steht und sie mit steinerner Miene beobachtet. Und sie sehen auch nicht Andrew, der seine Chefin vorsichtig wegzieht und ihr etwas ins Ohr flüstert, woraufhin sie sich abrupt abwendet und die Treppen hochsteigt.

Erst, als Andrew April auf der Schulter berührt, wird diese seiner – mit einem allzu entlarvenden Gefühl von Verlegenheit – gewahr.

„Inspektor Farlan und Sergeant Saucédo erwarten euch im Arbeitszimmer“, sagt er schlicht. „Erst Mr. Layou, dann du. Kommt einfach hoch, wenn ihr soweit seid.“

‚Wenn wir soweit sind...‘

Eine Zeitangabe, wie sie gröber kaum sein könnte. Für April gibt es noch so viel zu entdecken, so viele rohe Eindrücke, so viel fragmentarisches Wissen...

Doch sie möchte es intim halten – der Gedanke, dass jemand Fremdes ihre Geschichte hören und verurteilen könnte, macht ihr Angst.

„Versprichst du mir,“, fragt sie Charlie, nachdem Andrew gegangen ist, „dass wir nachher... nun ja... eine...“

„... ein Symposium haben?“, antwortet Charlie mit einem Lächeln, das nicht den kleinsten Hinweis auf irgendwelche Zweideutigkeiten zulässt. „Sicher. Es wird eine Zeit für alles geben, April. Hab keine Angst!“

April hat gehofft, dass er das sagen würde.

Nur seine Stimme kann diese Worte so glaubhaft machen...
 

~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~
 

„Also, Miss Ryan - lassen Sie mich noch mal zusammenfassen“, fragt Inspektor Farlan mit einem Blick auf die Notizen. „Sie sind am Sonntag, dem 06. August 2209 in das ‚Grenzhaus‘ genannte Miethaus zurückkehrt und wurden dort von einer Meute Roben und Masken tragender Söldner überfallen?“

„Und Energiehandschuhen.“

„Energiehandschuhe, ja ... und ihr Anführer war ein Mann mit weißen Haaren, weder jung noch alt, Trenchcoat, monotone Stimme und gerade Haltung?“

„Als hätte er einen Besenstiel verschluckt. Und er hieß Halloway, Gordon Halloway.“

„Aber sie haben keine Ahnung, was er von Ihnen wollte? Ebenso wenig wie Mr. Layou.“

„Habe ich Ihnen doch gesagt. Das Einzige, was mir nicht aus dem Kopf will, ist dieser... andere Name... ich weiß nicht, es ist...“

Der Inspektor wirft ihr unter seinen buschigen Augenbrauen einen zweifelnden Blick zu. Er nimmt von seiner Assistentin – die April als Miss DeMarco vorgestellt wurde – eine Akte entgegen und blättert einige Seiten durch. „Nur zu – wie war der Name?“

Sein lauernder Ton beunruhigt April. Sie schaut kurz zu Charlie, der neben Eléna Saucédo am Fenster steht, jedoch der bedauernd den Kopf schüttelt.

In seiner Aussage hatte er zwar rekapitulieren können, dass April und der Mann namens Halloway ein längeres Gespräch hatten. Da er aber zu diesem Zeitpunkt von den maskierten Schergen im Hinterhof festgehalten wurde, hatte er nur wenig verstehen können.

Doch selbst für April ist der Inhalt ihres damaligen Verhörs schwer zu erinnern. Sie entsinnt sich einiger Wörter, mit denen sie Grauen verbindet, aber der Sinn der Wörter übersteigt ihren Verstand.

„Jacob... Jacob... nein, Roper... Roper... Roper Mc... Gribbles?“

Andrew, der das Protokoll führt, muss ein Lachen unterdrücken, während Inspektor Farlan stöhnt.

„Es war nicht eher - Sie wissen schon - etwas Anderes?“, sagt er langsam. „Nur damit wir Klartext reden...“

„Entschuldigung, aber noch genauer hab ich’s eben nicht. Können Sie mir nicht einfach die Bilder zeigen?“

Farlan brummt ungehalten, aber schließlich sucht er einige Ausdrucke heraus und reicht sie ihr. „Video-Stills - nicht die beste Auflösung. Die Ursprungsdateien waren verschlüsselt und hatten veraltete Polizei-Codes.“

Wie April feststellen muss, hat er nicht übertrieben – die Bilderfolge ist größtenteils Schnee, und manche der Farben stimmen hinten und vorne nicht. Ein Schnappschuss zumindest zeigt Gordon Halloway in all seiner Kaltblütigkeit, die grauen Augen seelenlos auf den Fotografen gerichtet.

Danach folgt eine Reihe von unbearbeiteten Fernaufnahmen – ein Balkonvorsprung unter gewaltigen Statuen scheint der Fokus zu sein – und schließlich...

„...McAllen.“

Der Inspektor horcht auf.

Es ist eine etwas körnige Froschperspektive. Der alte Mann steht vor einer Wand von Mikrofonen und hat die Hände gönnerhaft ausgestreckt. Dünnes weißes Haar und dichte Brauen geben seinem Gesicht ein beinahe großväterliches Aussehen, doch das Licht der Scheinwerfer und die davon geworfenen Schatten lassen Falten erkennen, die eine rasende Leidenschaft verraten... einen Willen, der jeden Menschen in seiner Umgebung berührte und ihn entweder zum bedingungslosen Gehorsam erhob oder in Demut niederschmetterte.

Er konnte charmant sein, beinah witzig... aber die Seele hinter dieser Fassade war unerbittlich und grausam. Ihre Gefühle sind stark bei diesem Namen, doch sie zeichnen sich nicht durch dieselbe Art von Angst aus wie etwa, als sie Charlies Name hörte.

Es ist eine Angst, die scharf und schneidend ist, sich in die tiefsten Winkel ihres Herzens gefressen hat und in den Fibern ihres Bewusstseins wartet: eine Urangst, die sogar über ihr altes Leben hinausgeht – was auch immer das heißen mag. „Der Name war McAllen“, sagt sie noch einmal lauter. „Halloway und seine Männer... sie haben für ihn gearbeitet. Für seinen Kult.“

Eléna und Andrew lauschen beide ihren Worten, während Charlie gedankenverloren aus dem Fenster starrt.

In Inspektor Farlans Augen aber glüht es regelrecht. Unter seinem braunen Kurzhaarschnitt rotieren eine Menge Räder, doch April hat nicht den Eindruck, als würden sie wirklich ineinandergreifen.

„Ich kann also annehmen, dass sie ihm schon einmal gegenüberstanden?“, hakt der Inspektor nach. „Vielleicht schon einige Stunden später... in seinem Geschäftsbüro in der Grendel Avenue... auf der Spitze des höchsten Turmes?“

„Warum interessiert Sie das so sehr?“, fragt April brüskiert. „Als Nächstes wollen Sie mir noch erzählen, ich hätte ihn er...“ Sie bereut ihre Worte augenblicklich.

Bestürzt schaut April zu Eléna, die ihr doch früher, auf dem Autobahnparkplatz versichert hatte, dass die Anschuldigungen gegen sie sich auf Dinge wie Cyberterrorismus und Industriespionage beliefen.

Wieso erwähnte sie den Mordverdacht nicht?

Aber Eléna wirkt so steinern wie vorher.

Endlich zieht der Inspektor ein Dokument aus dem Stapel und liest es laut vor.
 

„11. September 2209

Auf der Aktionärsversammlung der Firma Malkuth Technologies Incorporated (MTI) wurde vom Aufsichtsrat sowohl der Tod des Geschäftsführers, Jacob McAllen, als auch das Verschwinden seines Stellvertreters, Gordon Halloway berichtet. Das letzte verbliebene Vorstandsmitglied John Bishop (Sicherheitschef und Forschungsleiter der Firma) gab daraufhin einen kurzen Überblick über die finanziellen und moralischen Verluste, die der Firma durch diese und andere Krisen im letzten Monat zugekommen wären. Ferner beklagte er den ungeheuerlichen Druck, den staatliche Organe seit dem Absturz der Station „Morgenstern“ vom 08. August und den damit verbundenen Schäden auf die Firma ausübten. Um den Aktionären weitere untragbare Belastungen zu ersparen, verkündete er die Auflösung der Aktiengesellschaft mit einer großzügigen Abschlagszahlung, und erklärte ferner die Aufnahme von Verhandlungen mit der einzigen Firma, die MTI in Zeiten der Not immer beigestanden hätte: die WATI-Corporation in Hokkaido, Japan.

Der Geschäftsführer und Vertreter der WATI-Corporation, Augustus Gilmore, erklärte sich öffentlich mit der Aufnahme der Verhandlungen einverstanden, mahnte aber konfessionelle und personelle Verschiebungen an, welche die alten Geschäftsideologien, vor allem die Lehren der dem Unternehmen vorgeschalteten Revolutionären Vereinigungskirche (Voltec) aus dem Fokus nehmen würden. Nachdem Mr. McAllens proaktiver Kurs im Kampf gegen die Feinde des Neuen Bewusstseins gescheitert sei, müsse nun ein selbstkritischer Kurs beschritten werden, der unter anderem Säuberung der Markenzeichen mit sich brächte...“
 

„Säuberung der Markenzeichen...“, murmelt April. „Feinde des Neuen Bewusstseins... das bedeutet nichts anderes als...“

„Die Auslöschung alter Brandflecken“, erwidert Farlan. „Die neue Mutterfirma möchte frisch und frei neu Wege beschreiten; aber das kann sie nur, wenn es niemanden mehr gibt, der sich erinnert, dass es etwas zu erinnern gibt. Augustus Gilmore gab seinen Posten als Geschäftsführer später an seine Tochter Samantha weiter. WATI hat seitdem seine Vormachtstellung ausgebaut – manche sagen, dass es nunmehr die treibende Kraft im Syndikat ist.“

„Aber was habe ich damit zu tun?“

„Das kommt weiter hinten. Im ausführlichen Protokoll werden Maßnahmen gegen eine Person angesprochen, die McAllen gelegentlich erwähnte: die ‚Lady Arcana‘.“

‚Hört sich wie ganz schöner Fantasy-Kitsch an‘, denkt April. ‚Wer will denn bitte Lady Arcana heißen?‘

„Der Name steht auch in der inoffiziellen Version ihrer Akte.“

„Das ist nicht ihr Ernst.“

„Lesen Sie’s nach, wenn Sie mir nicht glauben.“

Er reicht ihr einen getackerten Blätterhaufen:
 

Projekt „Arcana“
 

RYAN, APRIL

Col. 0050253254193670 (eingetragen am 08.08.2209)

Alter: 18

Bestandsaufnahme: 01.01.2207 bis 11.09.2209

...

‚Lady Arcana‘ – Zerstörerin der Gerechtigkeit, Feind der neuen Ordnung (Erweckungsschrift 131.4)

Erstmals gesehen in Proph. 23 (G. Halloway) während Sitzung vom 28.07.2209.

Verbindung mit ‚Alter Trugbestie‘, der Blenderin aus tiefstem Schwarz

Anleitung durch ‚Hornträger‘, den Trickster (gef. 31.07.2209)

Antritt der Großen Reise – auf Anweisung der Wächter?

Erfüllung der Großen Aufgaben – Wiedervereinigung der Scheibe

Anweisungen des Kardinals gemäß einmaligen, unwiederbringlichen Erlasses

Verdächtigt im Zusammenhang mit dem Tod des Kardinals, Einladung des Hornträgers

Wurde von Gerold Rosenberg (Portalwächter a.D.) unter eindringlicher Befragung als mögliche Täterin identifiziert

Offizieller Suchauftrag wird mit Erlass von Polizeipräsident Harold Snouser als unverjährbar eingestuft

Eine Kopie dieser Akte wird hiermit an Rechtsnachfolger (WATIcorp, Japan) weitergereicht (Geschäftsführer und neuer Kardinal: Augustus Gilmore)
 

April schwirrt der Kopf. „Was ist das alles?“

Sie reicht das Papier an Eléna Saucédo weiter, die sich ihr vorsichtig genähert hat.

„Religiöse Symbolsprache“, sagt diese nach genauerer Analyse. „Durchdringung des formalen Ablaufes mit Heiligkeitsfloskeln und Euphemismen. Ganz klar das Werk von religiösen Fanatikern.“

„Aber was hat das alles zu bedeuten?“, kreischt April unwillkürlich auf. „Die Bestandsaufnahme beginnt 2207 – damals war ich noch gar nicht in der Stadt. Soll das heißen, sie haben mich...“

„Setzen Sie sich erstmal! Sie sind ja ganz rot im Gesicht.“

Zitternd lässt sich April auf einem Stuhl nieder, den ihr Charlie hinschiebt.

„Sie haben nach einer Figur aus ihren Prophezeiungen gesucht“, klärt sie Eléna auf. „Und sie sind –scheinbar rein zufällig – bei Ihnen fündig geworden. Der Inspektor hat vorhin die Voltec-Kirche erwähnt, erinnern Sie sich? Das war eine gigantische New-Age-Bewegung des 22. Jahrhunderts, die ihren ganzen Kult auf der Schaffung eines neuen Bewusstseins aufgebaut hatte... und sie war ein eingetragenes Markenzeichen von MTI, mit McAllen als Kardinal. Offiziell existiert sie nicht mehr“, fügt sie hinzu, als sie April die Arme voller Angst um den Körper schlingen sieht, „aber wie es aussieht, lebt sie in den Gedanken der WATIcorp weiter... und der Dreizehnte Zirkel, ihre bevorzugte Eingreiftruppe, wird vom letzten verbliebene Vorstandsmitglied der MTI-Corporation, John Bishop, angeführt.“

„Dieser Bishop...“, murmelt April, „den haben Sie schon einmal erwähnt. Beschreiben Sie ihn!“

„Groß und breitschultrig“, antwortet Farlan auf Elénas Nicken hin. „Etwa vierzig, aber glattes Gesicht. Blaue Augen und gewelltes blondes Haar. Ziemlich bombastisch - auf eine unterkühlte Art und Weise.“

April braucht nicht tief in ihr Unterbewusstsein zu greifen – sie erinnert sich noch sehr gut an den Mann mit der befehlsgewohnten hohen Stimme, den sie im Wald beobachten konnte.

Er hatte sie danach verfolgt und beinah geröstet.

‚Und später hat er es bei Mutter zu Ende gebracht‘, denkt sie grimmig.

Ihre Wut und Angst bekommt endlich ein richtiges Gesicht. Wenn sie diesen Bishop ausschalten kann, ist jede Bedrohung aus ihrem Vorleben gekappt. So vieles wäre dann vorbei...

Sie fühlt Charlies Finger auf ihrem Handrücken legen: „Du weißt, dass das sehr gefährlich ist. Bitte überstürz nichts!“

„Dazu ist es zu spät“, antwortet April mit zusammengebissenen Zähnen. „Sie haben mich bereits angegriffen – ich kann mich nicht mehr zurückziehen. Ich hab... ich habe eine Verantwortung.“

„Ich weiß“, erwidert Charlie. „Aber soweit ich verstehe, wird das nicht allein ein persönlicher Rachefeldzug.“ April sieht ihn zu Eléna schauen, die betreten die Augen niederschlägt.

„Wir wollten nur gegen ein Unrecht vorgehen, das an uns begangen wurde“, sagt diese mehr zu sich selbst. „Aber nun wissen wir, dass das Haus, in dem Sie vor zehn Jahren angegriffen und bedroht wurden, für ein ganz neues Unrecht verwendet wird.“ Sie beugt sich unerwartet zu April herab, kniet vor ihr und ergreift ihre Hand. „Es scheint so, als wären Sie der Schlüssel zu einer größeren Geschichte. Wenn Sie uns helfen können, mehr über die Ereignisse vor zehn Jahren herauszufinden, dann können wir vielleicht gegen Bishop und seine Handlanger vorgehen.“

Es liegt eine sonderbar sakrale Ernsthaftigkeit in Eléna Saucédos Stimme, die Aprils Angst gleichzeitig abschwächt und anfeuert.

Ihre Ambition ist groß, doch April sieht wenig Realismus in ihrem Plan: Wenn die WATIcorp so mächtig ist wie gesagt, dann kann Sie schwerlich in einem einzigen Prozess besiegt werden.

Zudem basiert diese ganze Verbindung nur auf Indizien und Vermutungen – der klare Ablauf ist verschwommen.

In diesem Sinne ist es nur verständlich, dass Eléna ihr Wissen braucht.

„Wo wollen Sie denn anfangen?“, fragt sie zögernd.

„Nun, was sie vor ihrer Rückkehr zum Grenzhaus gemacht haben, wäre ein guter Anfang. Danach würden wir uns um die Reaktivierung Ihres Bürgerstatus‘ kümmern – da Sie zuletzt in Newport gemeldet waren, müsste Ihre Nummer noch irgendwo gespeichert sein.“

„Und danach?“

„Danach wird die Stadt Newport sich in den Fall einschalten. Wir werden etwas Hilfe bei der Formulierung der Anklage brauchen, aber mit genug Klägern und ausreichend Zeugen hätten wir zumindest die Mittel, den Prozess fortzuführen.“

‚Bis zum bitteren Ende‘, fügt April hinzu. Sie ergibt sich.

Ihre Finger graben sich unwillkürlich in jenen Handteller, wo das Schlangenauge eingebrannt ist – vielleicht nur ein weiteres Zeichen der Lady Arcana, von dem sie nichts weiß.

Sie merkt, wie der Druck ihre Sinne steigert – sie erinnert sich, wie ausgebrannt sie schon damals war. Als sie sich die Worte aus der Akte vor Auge ruft – Wächter, Scheibe, Kardinal – wird ihr bewusst, dass es noch eine andere Verbindung gibt.

Sie war nicht ganz unwissend nach Hause gegangen – etwas hatte ihren Geist beschäftigt. Etwas wie...

...Misstrauen.

Ein älterer Mann mit dem Kragen eines Priesters... hohe Säulen... Spitzbögen... und dahinter... eine uralte Stimme...

„Ich glaube, ich war in einer Kirche“, verkündet sie. „Neogotisch, mit einer Fensterrose, Wandbildern und... holografischen Kerzen? Ich weiß nicht, jedenfalls ziemlich groß und alt. Ich hab dort mit dem Pater gesprochen.“

Elénas Augen leuchten vor Freude auf. „Danke, das ist ein großer Schritt für uns.“ Sie steht auf und wendet sich dem Inspektor zu. „Meines Wissens gibt es nur eine Kirche dieser Art in Newport – die ehemalige Kathedrale an der Hope Street. Die habe ich mit meinem Vater einmal besucht.“

„Hope Street? Die ist doch im Kollaps komplett zerstört worden.“

„Das ist jetzt nicht das Problem. Wir müssen nur herausfinden, wer dort 2209 als Pater eingesetzt war und ob er noch lebt. Und ob vielleicht noch Kontakte zur dortigen Gemeinde bestehen. Die bischöfliche Verwaltung sollte uns dazu Auskunft geben können.“

„Hhm, gut“, brummt Farlan. „Darum kümmere ich mich. Gehen Sie solange runter und warten Sie auf weitere Befehle! Sorgen Sie auch dafür, dass Denvers auf den neuesten Stand gebracht wird. Weiß der Geier, wie wir aus dieser Sache heil herauskommen...“
 

Als Eléna die Tür hinter Ms. Ryan und Mr. Layou schließt, scheint sich für einen Moment die ganze Welt hinter ihnen auszuschalten.

Sie hat dieses Gefühl bereits befürchtet – es hat sie schon vorhin überfallen, als sie unten im Foyer das Wiedersehen der beiden Freunde mitangesehen hat.

Es ist die gleiche alte Sentimentalität, die sie schon immer heimgesucht hat. Eine Sentimentalität, die ihr eigentlich nicht zusteht - immerhin ist sie jünger als April und bedeutend jünger als Charlie.

Und doch hat Eléna schon mehrmals Leben in ihrer Hand gehabt – jegliche Wehmut ist also noch unangebrachter.

April Ryan verschränkt verdrießlich die Arme vor der Brust. „Ich könnte noch ein bisschen Schlaf gebrauchen. Mein Körper fühlt sich an wie gerädert.“

„Leider habe ich nur ein richtiges Bett hier im Gebäude“, antwortet Charles Layou. „Ich könnte einige der Bänke unten im Foyer herrichten, wenn das ausreicht.“

Eléna rechnet kurz nach, dann schüttelt sie den Kopf. „Wir sind zu acht, und Sie haben maximal drei Bänke dort unten, die groß genug wären. Geben Sie einfach Miss Ryan das große Bett und die Bänke an Pater Marduk und Denvers – wir anderen kommen schon klar.“

Sie will sich entfernen, doch Mr. Layou stellt sich ihr in den Weg. „Sie können um diese Tageszeit nicht mehr viel tun“, drängt er sie. „Gönnen Sie sich wenigstens ein paar Stunden Schlaf.“

„Charlie hat Recht,“ mischt sich April Ryan ein. „Sie haben für heute genug getan. Nehmen Sie das Bett! Ich hab mein Chaiselongue dort unten sowieso schon angewärmt. Und – nein“, unterbricht sie Elénas Widerworte, „ich habe nicht vor, gegen Sie anzukämpfen. Gute Nacht, und vielen Dank nochmal!“

‚Diese Frau...‘, denkt Eléna für sich, als April Ryan sich entfernt. Sie weiß nicht, ob sie einer solchen Frau vertrauen oder in Angst und Panik vor ihr davonlaufen soll: Sie reagiert zwar logisch und nachvollziehbar, doch sie hat mehr als nur einen Knacks davongetragen.

Was natürlich verständlich ist – nach all dem, was in ihrer jüngsten Vergangenheit passiert ist.

Doch was vorhin im Transporter geschehen ist... das war ganz bestimmt nicht von dieser Welt.

Der Pater hatte es kurz darauf als Effekt ihrer Amnesie zu erklären versucht, aber das ist nicht mehr als ein Kratzer in der Patina, die dieses Geheimnis verbirgt.

Sie wendet sich noch einmal an Charles Layou. „Mr. Layou, könnten Sie...“

„Nennen Sie mich ruhig Charlie!“

„... Charlie, könnten Sie vielleicht auf schnellstem Wege eine Wohnung für Miss Ryan finden? Wir können Sie nicht auf dem Revier beherbergen und zurück nach Hause kann sie auch nicht.“

„Ich kenne einige Wohnungsgesellschaften in der Oberstadt, die auf dieser Ebene Grundbesitz haben. Solange sich nichts anderes ergibt, werde ich sie in meiner Wohnung unterbringen... außerhalb von Venice.“

„Gut. Das hier ist kein guter Ort zum Leben... nicht mehr.“

Charlie nickt versonnen. „Sie sind hier aufgewachsen, nicht wahr? Ich erinnere mich an einen Dozenten für Kunstgeschichte an der VAVA, der auch Saucédo hieß.“

„Das war mein Vater – Héctor Saucédo.“ Eléna antwortet ausweichend. Sie mag Small Talk nicht, auch wenn sie zugeben muss, dass ihr Gegenüber gut darin ist, Interesse zu zeigen. „Er hat später ein Antiquitätengeschäft in der Oberstadt aufgemacht“, fügt sie hinzu. „Nicht übermäßig groß, aber es hat zum Leben gereicht.“

„Ja, ich habe dort einmal einen Art Déco-Schrank gekauft: ‚Alvarez Colomar‘– sehr schönes Modell.“ Er lässt den Satz ein wenig in der Luft stehen, als wolle er irgendeinen Vergleich erlauben.

Was durchaus nicht dumm wäre – Art Déco ist einer von Elénas Lieblingsstilen.

Widerstrebend löst sich Elénas Zunge, und schon bald ist sie mit Charlie in ein Gespräch über St. Vincent und andere Teile Mittelamerikas vertieft; über die jährlichen Calypso-Festivals, über die Backsteinfabriken und Bananenplantagen, über die alte Hazienda, in der er wohnte, und über die Fußball-Ligen, die er als Kind mitverfolgte.

Vieles davon kennt Eléna nur vom Hörensagen, doch manches erinnert sie an Familienbesuche in Mexiko. Es spricht eine Note in ihr an, die sie lang vergessen zu haben glaubte...

Sie stehen noch immer da und reden, als Andrew Johnson hinter ihnen die Tür öffnet und sich die Augen reibt.

„Ähm, Sergeant... wollten Sie nicht zu Denvers gehen?“

Eléna hält inne und merkt, dass sie unwillkürlich mit einer ihrer Locken gespielt hat. „Stimmt! Übernehmen Sie das, Johnson! Ich muss noch einmal... telefonieren.“

Sie drückt sich an dem jungen Trooper und Inspektor Farlan vorbei ins Arbeitszimmer, wo die Assistentin des Inspektors, Olivia DeMarco, hinter ihrem Laptop sitzt und eine seltsame rosa Brille in den Händen hält.

Sie wirft Eléna einen fragenden Blick zu.

„Gibt es noch irgendwas, wobei ich Ihnen helfen kann, Miss Saucédo?“

„Einen Anruf“, antwortet sie hastig und versucht, ihr Schamgefühl in den Griff zu bekommen, indem sie jede ihrer Locken fest hinter die Ohren streift. Gleichzeitig lauscht sie darauf, wie Charlie den Inspektor und Andrew Johnson nach unten begleitet. „Sie waren es doch, die diese Netzsingularität für den Inspektor hergestellt hat, nicht wahr? ‚Kahina Damja‘...“

„Eine legendäre Gestalt, da wo ich herkomme“, erwidert Miss DeMarco verträumt und beginnt bereits zu tippen. „Ich benutze das als Ausweichprofil – der ID-Code ist schwerer nachzuverfolgen.“

„Das brauche ich jetzt. Stellen Sie eine sichere Verbindung in die obere Ebene her. Ich würde gern ein Dienstgespräch führen – unter vier Augen, wenn sich das machen lässt.“

Miss DeMarco hält inne und leckt sich angespannt über die Lippen. „Ich glaube nicht, dass Inspektor Farlan das gefallen würde. Er meinte, es müsse die höchste Vertraulichkeitsstufe gelten – in der Gruppe darf es keine Geheimnisse geben.“

„Weshalb Sie auch sicher nicht dabei waren, einen Kameraspeicher in diese Decoderbrille einzulegen?“

Die Berberin errötet. Dann legt sie die aufgeklappte Brille vor sich auf den Tisch. „Es war nur für Sicherheitskopien. Ich hatte bestimmt nicht vor, die Daten über das Netz zu verbreiten.“

„Und wie sicher sind Ihre Sicherheitskopien?“, fragt Eléna, während sie die Brille in Augenschein nimmt. „Haben Sie eine Geheimtasche im Slip oder vielleicht eher... einen Schnappverschluss in den Ohrringen?“

„Nah dran“, erwidert die Berberin seufzend. „Es sind die Haarperlen – die konnte ich nicht einfach so rausnehmen, bevor mich der Inspektor durch den Scanner geschickt hat. Also hat er den Kopf weggelassen.“

„Ich werde nicht fragen, warum sie das tun“, fährt Eléna fort, „aber wenn sie unser Vertrauen behalten wollen, dann werden Sie mich besser so bald wie möglich in diese Geschichte einweihen.“ Sie lässt sich den Speicherchip in die Hand legen und wartet geduldig, bis die junge Frau eine Verbindung zur obersten Ebene von Newport aufgebaut hat.

„Das ist ein Bokamba/Mercer-Kanal“, erklärt Miss DeMarco. „Teil einer Werbespur in der ganzen Stadt, aber nur über ihre Firmen-Server zurückzuverfolgen. Es ist selten genug, dass um diese Zeit noch eine offene Verbindung herrscht, also sollten Sie sich vermutlich ein bisschen beeilen mit ihrem Gespräch, bevor es abbricht.“

„Gut. Wenn Sie dann bitte kurz rausgehen würden...“

Eléna wartet noch eine gute Minute, nachdem Miss DeMarcos Schritte im Flur verhallt sind. Dann steckt sie ihren Messenger an den Laptop und tippt die Privatnummer eines Messengers ein.

Hoffentlich ist es Wut, die ihre Finger so hart zudrücken lässt. Sie wünschte, es wäre nur Wut.

Es dauert eine Weile, bis der Besitzer abhebt. Doch dann ertönt die wohlbekannte Stimme, der gleiche exotische Zungenschlag.

„Eléna?“

Er ist es... der alte Schweinehund.

„Hallo, Greeny!“
 

„Glaub mir, das kam mir ebenfalls sehr ungelegen. Aber als ich bei Metro Channel dieses zweite Sonderprotokoll hinterlegen wollte, haben sie verlangt, dass es sich vom ursprünglichen EXC.PLT unterscheidet. Und weil ich nicht damit gerechnet habe, dass wir so bald mehr werden...“

„Nicht damit gerechnet???“ Elénas Stimme überschlägt sich fast. „Du fängst einen Krieg mit dem EYE an und denkst nie daran, dass wir irgendwann neue Mitstreiter brauchen? Ich glaub’s nicht!“

„So meinte ich das nicht“, verteidigt sich der Commissioner, dem der Schweiß aus jeder Pore tritt. „Ich hatte ja schon dieses Gespräch mit dem Bürgermeister ausgemacht – es sollte übermorgen stattfinden. Aber dann hat dieser Dummkopf von Summers gegen alle Erwartungen doch noch diese Miss Ryan gefunden und ich musste schnell handeln. Ich hatte nie im Leben gedacht, dass das EYE den Computerraum präparieren würde.“

Einen Moment herrscht Ruhe am anderen Ende der Leitung, dann knackt es und Eléna seufzt in ihrer üblichen tiefen Tonlage.

„Darüber können wir ein andern Mal sprechen“, sagt sie dann. „Jedenfalls haben wir sie jetzt.“

„Wer ist das: wir?“

„Erstmal natürlich Farlan und Denvers. Dann hab ich noch den jungen Johnson eingespannt – ziemlich grün hinter den Ohren, aber ich denke mal, er wird durchhalten. Das machen die Hormone“, fügt sie mit leicht diabolischem Ton hinzu.

Green versucht die Kränkung so gut es geht herunterzuschlucken. Es bringt nichts, darüber jedes Mal eine Szene zu machen.

„Hat dir Farlan diese Verbindung eingerichtet?“

„Nein, das war seine neue Bekanntschaft aus der Ausnüchterungszelle. Sehr hübscher Teint, wenn du mich fragst. Und ziemlich... aufgeschlossen.“

„Zum Donnerwetter, lass den Quatsch!“, flucht Green aufgebracht. „Habt ihr sie an einen sicheren Ort gebracht und ihre Aussage genommen? Was hat sie zu dieser Sache sagen können?“

„Also – erstens: ‚haben wir‘, zweitens: ‚haben wir‘, und drittens: ‚das musst du schon selbst herausfinden‘. Ist das genug für’s Erste?“

„Ja... ja, das ist genug“, lügt Green zerknirscht. Er könnte sich in den Hintern beißen für seine Eselhaftigkeit. „Hör zu, ich werde schon bald zu der Bezirksleitung vorgelassen. Bishop persönlich wird mich vernehmen wollen, aber wenn alles klappt, werde ich ihn auf ein Gespräch mit meinem Anwalt vertrösten können.“

„Du hast einen Anwalt bekommen?“

Green stellt mit Genugtuung fest, dass sich Elénas Stimme schon wieder ein wenig sanfter anfühlt. Geradezu fürsorglich.

„Das habe ich“, spricht er weiter. „Eine größere Kanzlei – Harrington, Warden und Klaas. Sie haben bereits damals kurz nach dem Kollaps mit den Bewohnern dieses ‚Grenzhauses‘ gearbeitet und damals eine Menge Schmerzensgeld für diese verletzte junge Frau aus Europolis rausgeschlagen – diese Performance-Künstlerin.“

„Emma de Vrijer – ja. Wir haben mit einem ihrer Mitbewohner gesprochen – er hat sich sehr kooperativ gezeigt. Vielleicht wird er Miss Ryan unterstützen und als Zeuge auftreten, wenn wir Glück haben.“

„Das klingt gut – wirklich gut“, setzt Green eilig nach. „Behalt die Lage erstmal weiter im Griff! Ich werde dann morgen früh bei euch sein – versprochen!“

„Du sagst das so, als sei es eine Selbstverständlichkeit!“

„Ich bin der Polizeichef. Egal, wieviel Einfluss das EYE haben sollte, das Syndikat wird keinen Skandal riskieren, indem sie mir die Lizenz entzieht. Wir haben die öffentliche Meinung auf unserer Seite – eine Widerstandsgruppe im eigenen Haus...“

Eléna seufzt wieder. Green kann sogar ein Schluchzen hören. „Komm schon – reiß dich zusammen!“, beschwichtigt er sie. „Wenn es soweit ist, mache ich alles wahr, was ich dir jemals versprochen habe. Vertrau mir.“

Aber Eléna schluchzt erneut. „Vergiss es – ich habe die Schnauze voll davon. Ich will nur noch meine Leute da durchbringen und dann bin ich draußen. Das war alles ein Fehler, Orlando – ein großer Fehler.“

Green wartet eine Weile, bevor er antwortet. „Es tut mir leid, das zu hören“, sagt er dann sanft. „Wie wäre es damit: Ich lasse dich noch deine Aussage machen, dann suspendiere ich dich und übernehme die volle Verantwortung. Dann werdet ihr – außer als Zeugen – keinen Anteil mehr an dieser Sache haben.“

Elénas Antwort lässt wiederum auf sich warten. „Ich kann diese Sache nicht ruhen lassen – das ist alles zu persönlich geworden. Ich hab mich von dir reinreden lassen, also muss ich jetzt die Konsequenzen tragen.“ Sie schweigt noch ein paar Sekunden, dann sagt sie: „Wenn du uns morgen noch erwischen willst – wir sind im Fringe in Ost-Venice. Dandolucci-Kai.“

„Gut.“ Erleichterung macht sich in Green breit. „Dandolucci-Kai. Ich werde da sein.“ Er will schon auflegen, da hört er noch einmal Elénas Stimme.

„Danke für dein Verständnis! Ich wollte nicht undankbar klingen, aber...“

„Ich weiß“, erwidert er hastig. „Bye.“ Dann drückt er auf den Abbruchknopf.

Gleich darauf geht neben ihm eine Tür auf und ein EYE-Agent aus Japan tritt ein mit donnerndem Schritt in die Verhörkammer. Hinter ihm tritt die etwas müde Gestalt von Commander Bishop in den Raum.

„Dandolucci Kai also“, wiederholt er.
 

Zur gleichen Zeit klingelt irgendwo anders in Newport das Bildtelefon.

Ein älterer Herr mit Halbglatze und einem silber-schwarzen Kinnbärtchen erhebt sich mit mechanischer Leichtigkeit von seinem spärlichen Lager.

Als er auf dem Display ein vertrautes Gesicht erblickt, drückt er sofort auf „Annahme“.

„Entschuldigen Sie die späte Störung, Vestrum“, dringt die Stimme von Augustina Harrington zu ihm. „Aber ich konnte mich nicht früher frei machen.“

„Das ist für mich kein Problem, Augustina“, erwidert der ältere Herr ruhig. „Um was geht es?“

„Um April Ryan, Sir. Sie ist nach all den Jahren zurückgekehrt. Aber es scheint, als hätten die Neuerer die Jagd nach ihr nicht aufgegeben. Bishop selbst ist scheinbar an dem Fall beteiligt.“

„Das sind schlechte Neuigkeiten“, bestätigt der ältere Herr. „Haben Sie mehr dazu herausfinden können?“

„Sie ist bereits in Polizeigewahrsam und auf dem Weg nach Newport. Man hat uns um unsere Unterstützung in diesem Fall gebeten, aber wir müssen noch abwarten, bis sie hier ankommt.“

„Halten Sie mich auf dem Laufenden, Augustina. Mit Gott und dem Gleichgewicht auf unserer Seite mag sich eine Gelegenheit ergeben, mit der wir Bishop zuvorkommen.“

„Ich habe meine berechtigten Zweifel daran, Sir.“

„Das ist nicht ungewöhnlich, Augustina. Aber sie haben nicht Unrecht. Wenn es brenzlig werden sollte, schicken Sie Adrian – er wird April vielleicht sogar nützlicher sein als ich.“

„Das habe ich mir auch gedacht, Sir. Gute Nacht!“

„Möge das Gleichgewicht uns beschützen.“

Trotz der leider allzu fortgeschrittenen Stunde entschließt sich der Vestrum, den Schlaf lieber sein zu lassen und sich auf den folgenden Kampf vorzubereiten.

Er geht zum Regal und zieht ein Handbuch über die kirchenhistorische Bedeutsamkeit der Apokryphen hervor, zwischen dessen Seiten eine Reihe handgeschriebener Blätter steckt.

Eine Abschrift der Schriften des Gleichgewichts, von ihm selbst in seiner Jugend angefertigt und seither sorgsam verwahrt.

Er greift nach seiner Hornbrille und beginnt zu lesen.

In seinen Augen hat der letzte Abschnitt dieser Geschichte längst begonnen...



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von: abgemeldet
2009-08-12T09:52:05+00:00 12.08.2009 11:52
Booooa... O__o
...
...
Das ist soooooo... toll! <3 <3 <3
Wahnsinn! Der Anfang ist sooo Spannend! Und so toll geschrieben!
Irgendwie ein wenig... gruselig? o.O°
Einfach nur toll!!! ^0^
Ich finde es sooo schade, das "the longest journey" so unbekannt ist, und das die schöne FF noch keinen Kommi hat! >___<
Aber noch mal: Einfach nur genial geschrieben!


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