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Zwei Sommer

Was passiert, wenn dir die Welt aus den Fingern gleitet?
von

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Olivia's p.o.v.

Der Wind wehte nur leicht und brachte vereinzelte Strähnen meiner blonden Haare dazu zu tanzen und sich vor meinen Augen zu bewegen, aber ich strich sie nicht weg. Es machte sowieso keinen Sinn, denn Sekunden später würden sie nur wieder zurück geweht werden.

Wir saßen ziemlich dicht am Rand. Ich hatte die Beine angezogen und die Arme um die Knie geschlungen, während mein Blick über die Dächer der Stadt glitt. Vereinzelt leuchteten Lichter auf, ich konnte die Straßenlaternen von hier oben nicht richtig sehen, nur den runden, gelblichen Lichtkreis, den sie auf die Straßen warfen. Die Sonne ging gerade erst unter, aber wir waren auch noch nicht so lange hier. Vielleicht eine halbe Stunde.

Neben mir ließ sich Madelyn auf den Rücken sinken, seufzte laut und streckte die Arme rechts und links von ihrem Körper aus.

Wir hatten noch nicht wirklich viel geredet, aber Worte waren im Moment auch nicht nötig um festzustellen, dass es uns beiden nicht gut ging.

Immer zu Vollmond - so auch heute Nacht - trafen wir uns auf dem Dach des Hyatt-Hotels. Das hatte angefangen, als wir noch kleiner waren. Als ich zehn war, war ich das erste mal hier oben, aus versehen, und hatte mich sofort in den Anblick verliebt. Von hier oben sah Berlin absolut nicht so hektisch aus wie von unten. Es war sogar richtig entspannend hier oben zu sitzen. Als würden alle Sorgen einfach weg fliegen. Als wäre man frei.

Lynn und ich trafen uns seit circa 5 Jahren hier oben und genossen es für eine Nacht frei zu sein. Hier konnten wir Themen ansprechen, die da unten ein riesiges Tabu waren. Sorgen, Ängste, Verluste- hier oben konnte man weinen ohne dafür verurteilt zu werden. Zumindest ich kann von mir sagen, dass ich auf diesem Dach einfach nur ich sein konnte.

Ein paar vereinzelte Sterne blitzten schon durch die leicht dunkelblaue Decke, die sich über den Himmel zog. Keine Wolken in Sicht. Das war gut. Es würde also nicht regnen.

Die Luft war ziemlich warm. Obwohl es hier oben eigentlich immer recht kühl war, war es in dieser Sommernacht noch warm genug, um zumindest zu diesem Zeitpunkt noch mit kurzen Ärmeln sitzen zu bleiben.

Ich seufzte ebenfalls leise und drehte dann den Kopf zu dem dunkelhaarigen Mädchen neben mir. Sie starrte in die Luft ohne sich zu bewegen. Ich konnte es mir nicht verkneifen zu grinsen und die Augen dann wieder von ihr abzuwenden, ehe ich den Kopf auf meine Knie legte.

„Die letzten Wochen waren beschissen!“, stellte ich trocken fest und grinste auch über diese meiner Bemerkungen. Lynn konnte nur zustimmend ein Murren von sich geben, ehe sie sich wieder hinsetzte.

„Total beschissen!“

Danach waren wir wieder still.

Die Sonne verschwand langsam hinter den Häusern und statt ihrem Licht erleuchtete schon bald nur noch der Mond sanft die Dächer Berlins. Wie ich vermutet hatte: eine klare Nacht. Die Sterne waren gut zu sehen und ich entdeckte den großen und den kleinen Wagen- die einzigen Sternbilder, die ich kannte.

„Ist es immer noch wegen Ryan?“, fragte ich schließlich in die Dunkelheit hinein. Eigentlich kannte ich die Antwort schon. Sie war schon die letzten zwei Mal so fertig wegen ihm gewesen. Das würde sich dieses Mal sicher nicht geändert haben.

Madelyn's p.o.v.

Wenn es einen Ort gab, der einem die Last der Sorgen ein wenig erleichtern konnte, dann war es dieser. Hoch über den Dächern Berlins durfte man all seine Ängste für den Moment frei lassen und einfach nur leben. Was die Zukunft bringen sollte und die Vergangenheit angerichtet hatte, sollte hier niemanden interessieren - das Hier und Jetzt zählte.

Der Wind, oder vielleicht war es auch einfach nur die atemberaubende Aussicht, brachte mich dazu Gänsehaut zu bekommen. Ich legte mich zurück auf den immer noch warmen Boden, schloss meine Augen und atmete schwer aus. Allein der Gedanke daran, dass es jemand geschafft hatte mein Gefühlsleben komplett auf den Kopf zu stellen, ohne dass ich auch nur irgendwie eingreifen konnte, ließ mich erschaudern. Aber was noch viel schlimmer war- während Ellas Bruder in Lebensgefahr schwebte, weil er im Alter von 27 Jahren an Leukämie erkrankt war- konnte ich trotz alle dem an nichts anderes, als an ihn denken- Ryan. Ryan war mein Ex- Freund, der, weil er sich in seine beste Freundin verliebt hatte, mit mir Schluss machte und dann mit dieser durchbrannte.

"Madelyn- ich habe mich in Ash verliebt. Es liegt nicht an dir- es ist einfach- sie ist diejenige, die ich will, die ich liebe und mit der ich alt werden möchte. Es tut mir so Leid- bitte glaub mir, dass es rein gar nichts mit dir zu tun hat und du nichts falsch getan hast", seine Worte hallten immer wieder, Tag für Tag und besonders Nacht für Nacht, Traum für Traum in meinem Kopf.

Wie eine Zecke, die sich festgesetzt hat, um zu bleiben.

Bei diesen Gedanken wurde mir ganz flau und ich öffnete meine Augen wieder. Das Beruhigendeste in diesem Moment war genau vor mir.

Die Sterne am Himmel funkelten so unglaublich hell wie schon seit Monaten nicht mehr. Wenn die Sicht von hier schon so unglaublich war, wie sollte sie dann erst von dort oben sein? Wahrscheinlich nicht in Worte zu fassen.

Ich blickte von den Sternen zu Ella. Dass das blonde Mädchen neben mir schon seit Tagen keinen richtigen Schlaf mehr gefunden hatte, konnte man ihr nicht ansehen. Sie war die Art von Mensch, die es sich in der Öffentlichkeit- außerhalb unseres Daches- niemals erlauben würde Schwäche zu zeigen. Und auch hier oben schaffte sie es nicht ganz, diese Fassade abzulegen. Nicht dass sie schon immer so war, nein- diese Fassade baute sie erst auf seit der Arzt ihrem Bruder mitteilte, dass er an Blutkrebs erkrankt war- wahrscheinlich um sich selbst zu schützen.

Ich blickte wieder von ihr weg in den Himmel und versuchte mich einfach nur auf die Sterne zu konzentrieren. Jeder einzelne so wunderschön. Das Funkeln erinnerte mich aber doch nur wieder, an Ryan- wie er es immer wieder geschafft hatte mich zu Lachen und Glücklichsein zu bringen. Nervös schob ich meine Unterlippe vor und zurück, wie ich es immer tat, wenn der Schmerz zu groß wurde und ich mit den Tränen kämpfen musste.

"Die letzten Wochen waren beschissen!", riss mich Ella zum Glück aus meinem Gedankengang. Ich atmete nur kurz auf und stimmte ihr direkt zu. Besser hätte man es nicht ausdrücken können. Stille- die ich nutzte um meinem gleichmäßigen Atem zuzuhören und mich zu beruhigen. Auf Ellas Frage, ob es denn immer noch wegen Ryan seie, antwortete ich nur mit einem ehrlichen Nicken.

Ich beschloss sie nicht wie die letzten Male damit vollzumüllen, was für ein mieser Idiot er doch war und schwieg einfach nur.

Olivia's p.o.v.

Der Wind schlug mir weiterhin um die Ohren, als ich die Beine gerade ausstreckte und ein bisschen ausschüttelte; die Arme hinter mir abgestützt. Hier oben war es so schön still. Im Gegensatz zu da unten, wo sich vielleicht gerade in diesem Moment irgendwer stritt und anschrie- wo ein Baby weinte oder für jemanden vielleicht gerade die Welt zusammenbrach. Hier oben gab es nur Lynn und mich.

Ich musste unwillkürlich an Noah denken, meinen großen Bruder. An seine Frau Claire und die kleine Fabienne, die gerade erst 20 Monate war. Vielleicht würde er bald sterben und dann würde Claire alleine mit Fabi sein. Es würden so viele Welten zusammenbrechen, so viel würde sich verändern. Auch für mich.

Noah war elf Jahre älter als ich und meine Eltern nicht mehr die Jüngsten. Ich war erst achtzehn und mir dessen vollkommen bewusst, dass ich noch nicht reif genug war um mein Leben zu führen. Ich vermisste es sogar manchmal ein Kind zu sein. Ohne Pflichten, ohne Sorgen. Dafür würde ich all meine Rechte aufgeben.

Ein Schmunzeln legte sich auf meine Lippen, als mein Blick sich ein paar Meter weiter an einem schwarzen Van fest klammerte und eine handvoll Personen ausstieg. Bestimmt wieder solche reichen Schnösel, die hier eincheckten.

„Er ist es nicht wert, dass du dir wegen ihm so den Kopf zerbrichst!“, ich drehte meinen Kopf zu Lynn, wobei mir wieder die blonden Haare ins Gesicht flogen. „Du hast was Besseres verdient. Jemanden, der dich auf Händen trägt und dir die scheiß beschissenen Sterne vom Himmel holt. Du brauchst ihn nicht!“

Ich erinnerte mich noch gut an meine letzte Trennung. Über ein Jahr war vergangen und ich hatte seither niemanden näher als es sein musste an mich heran gelassen.

Jonas und ich waren ein knappes Jahr zusammen gewesen und er war das, was ich mir immer erträumt hatte- zumindest dachte ich das damals. Heute weiß ich, dass er ein Idiot ist.

Ich habe damals Tag und Nacht – wochenlang – geweint. Noah war immer für mich da, bis es ihm auch irgendwann reichte.

„Olivia Ella Mégan Taylor, reiß dich gefälligst zusammen. Die Welt ist nicht untergegangen, nur weil dich dieser Vollhorst verlassen hat. Da draußen läuft irgendwo einer rum, der dich auf Händen tragen wird und dir die scheiß beschissenen Sterne vom Himmel holt. Wieso weinst du einem Jonas nach, wenn du was viel besseres verdient hast? Du brauchst ihn nicht!“

Ich lächelte leicht und ließ meinen Blick verträumt zu den Sternen schweifen, als mir auffiel, dass Noah damals die selben Worte gewählt hatte, wie ich es heute tat. Trotz des Altersunterschiedes und der Tatsache, dass wir Geschwister waren und sich angeblich ja die meisten Geschwister nicht ausstehen können, oder vielleicht auch gerade deswegen, war mein Bruder für mich einer der wenigen Menschen, denen ich mich anvertraute. Außer ihm und Madelyn gab es kaum jemanden, der mich so in- und auswendig kannte und immer zu mir hielt, egal wie falsch es war.

„Es läuft eben nicht alles so wie wir es wollen... so wie es soll. Das Leben ist hart und grausam und ungerecht- aber das interessiert da unten keinen. Da unten sind wir auf uns alleine gestellt. Wer Schwäche zeigt ist ganz schnell unten durch!“, meine Zähne gruben sich vorsichtig in meine Unterlippe, ließen sie los und bisschen wieder darauf. Das tat ich immer, wenn ich mich aufregte. Ryan war ein Arschloch. Genau wie Jonas und der beschissene Blutkrebs von meinem Bruder. Sie alle waren ungerecht, aber das scherte da unten keine Sau. Alle sind auf ihr Geschäft aus. Auf das, was dabei rausspringt, wenn sie etwas tun. Die Gefühle anderer interessieren fast keinen.

Ich muss zugeben, Noah war auch lange Zeit einer dieser karrieregeilen Frauenhelden gewesen. Jede Woche eine Neue, was die andere fühlt und denkt interessierte ihn nicht – das war so, bis er Claire kennen lernte und nicht mal da konnte er das alles ablegen. Wirklich verändert hatte er sich erst, als die Ärzte Leukämie diagnostizierten. Als hätte er gemerkt, dass es im Leben noch um etwas anderes als Ruhm und Reichtum ging.

„Es kann uns nicht immer alles in den Schoß fallen, aber weil einmal etwas anders läuft als wir uns das vorstellen, ist noch lange nicht alles vorbei... wir sind noch viel zu jung, um unser Leben einem Tiefschlag hinzugeben...“



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