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Mysterium

Eine Self-Insert-Story
von

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Unschönes Erwachen

Es regnete. Kalte Wassertropfen hagelten herab auf den umliegenden Asphalt. Die kleine Seitenstraße war bis auf ein junges Mädchen völlig verwaist. Wasser tränkte ihre Kleidung und perlte von ihrer Wange ab. Ein Regentropfen, der ihr versehentlich in den halboffenen Mund lief, weckte sie auf. Erschrocken fuhr sie hoch, wobei Spinnenweben vor ihren Augen auf und ab tanzten und ein Schwindelanfall sie überfiel. Sich mit dem rechten Arm abstützend, wartete sie bis ihr Körper zur Ruhe kam. Ihre Augen hielt sie dabei fest zugekniffen.

Nach wenigen Augenblicken schlug sie ihre Augen erneut auf. Ihre Arme schmerzten entsetzlich - fast so, als hätte man Brenneseln, vielleicht aber sogar glühende Ketten um sie gewickelt.

Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe und schüttelte nochmals den Kopf. Wie im Traum hob sie den Blick und sah sich um. Eine unbekannte Gegend begrüßte sie unfreundlich und der Regen trommelte um sie herum nieder. Die Kälte ließ sie erschaudern.

"Wo bin ich?", entfuhr ihr ungläubig, die Arme wegen der Kälte fest vor der Brust verschränkt. Im nächsten Moment weiteten sich ihre Augen in nacktem Entsetzen. Mit panischer Ruhe entschränkte sie ihre Arme und tastete über die Stelle, vor der sie sich zuvor noch befunden hatten. Unter einer dünnen Schicht Stoff ertastete sie ihre grauenhafte Befürchtung. In einer makaberen Faszination drückte sie mit den Fingern ihrer rechten Hand fest zu und verspürte beinahe augenblicklich einen zarten Schmerz aufflammen. Ein Schmerz, der erst abklang, als ihre Finger im nächsten Moment die Kräfte verließen.

"Oh nein, nicht, bitte nicht...".

Kreischend riss das Mädchen ihr Top samt BH schmerzhaft hoch und stellte ihre cremeweißen Brüste zur Schau, augenblicklich perlten sofort klare Regentropfen an diesen herab. "Scheiße, oh Gott, nein...". Das Entsetzen durchdrang jedes Wort, als sie apathisch an sich herabsah. Sie war ein Mädchen.
 

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Mysterium
 

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Kapitel 1 - Unschönes Erwachen
 

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Der Autor besitzt keine Rechte in den Charakteren und wird auch nicht für diese Tätigkeit bezahlt. Er versichert hiermit, dass er diese Geschichte lediglich zu seinem persönlichen Vergnügen und dem der Leser verfasst hat.
 

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Um nachzuvollziehen, warum ein scheinbar völlig normales, junges Mädchen kreischend und mit schreckverzerrten Augen ihre Brüste anstarrt, muss man das Rad der Zeit zurückbewegen. Und zwar bis zur vorherigen Nacht.

Was man nun erblickt, ist ein bläulich leuchtender PC-Bildschirm. Ein schwaches Summen vom Rechnerkühler schwingt in der Luft, zudem gesellt sich ab und an das Klicken von Tasten hinzu.

Eine junge Person sitzt in gekrümmter Haltung auf ihrem Drehstuhl. Geschäftig fliegen die Finger der besagten Person über ihre Tastatur. Ein beinahe fieberhafter Glanz liegt in ihren Augen, während sie leise vor sich hin murmelt.

Diese Person ist ein siebzehnjähriger Junge, trägt sein blondes Haar in einem Pferdeschwanz und geht seinem Hobby nach. Nun muss man allerdings erwähnen, dass ihm dieses Hobby manchmal sogar mehr als seine schulische Tätigkeit bedeutet. Denn für diesen jungen Mann ist es nicht unüblich erst gegen zwei Uhr morgens zu Bett zu gehen. Dass er aufgrund dessen über ständige Kopfschmerzen, insbesondere in der Schule klagt, ist daher nicht weiter verwunderlich.

Im Moment jedoch war das Leben perfekt. Zumindest empfand er es so und nichts konnte diesen Eindruck trüben. Denn er hatte endlich Ferien. Zwar nur für zwei Wochen, doch würde er sie vor seinem Computer und mit Kartoffelchips zubringen. Lernen konnte er schließlich auch während der Schulzeit.

Als er sich jedoch nach diesem kleinen Gedankensprung wieder auf seine Arbeit am Computer stürzen wollte, fiel ihm ein kleines Fenster im unteren, rechten Rand des Bildschirms auf.

"Seltsam", murmelte er. Er war sich sicher, dass er die Internetverbindung gekappt hatte und sein Pop-up-Blocker leistete für gewöhnlich sehr gute Arbeit und hielt ihm die Werbefelder vom Hals. Umso verwunderlich, dass es ihm erst jetzt aufgefallen war. Vielleicht war er ja lediglich zu abgelenkt gewesen. Sich selbst Zuversicht spendend, nickte er bekräftigend und warf einen näheren Blick auf das Fenster. Mit einem Klick vergrößerte er das Feld, bis es seinen ganzen Bildschirm einnahm.

Verwirrt zog er eine Augenbraue hoch und kräuselte die Stirn. Vor sich las er in blauen Druckbuchstaben "Bitte bestätigen" und unterhalb ein "Ja, ich bestätige und akzeptierte die Nutzungsbedingungen".

"Was zum...?" Er konnte sich nicht entsinnen, ein Programm heruntergeladen oder installiert zu haben. Eventuell war es ja nur ein neues Update seines Virenschutzes. Dennoch krallte sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengrube fest und weigerte sich los zu lassen. Er zögerte mit der Maus. Der Grund war ihm selbst nicht klar. Es war schließlich nur ein einfaches Pop-up-Fenster von irgendeinem Programm. Demnach bestand kein Grund zur Beunruhigung. Was sollte also das ganze Getue?

Er holte tief Luft und näherte den weißen Mauszeiger dem "Ja, ich bestätige und akzeptiere die Nutzungsbedingungen". Die Schrift wurde augenblicklich von einer weißen Linie unterstrichen. Sein Zeigefinger zitterte über der linken Maustaste, draußen vor seinem Fenster zwitscherte ein Vogel und er klickte.

Das Fenster verschwand.

Der Junge wartete noch einige Sekunden. Weiterhin geschah nichts und das blieb auch so, als bereits mehrere Minuten verstrichen waren. Erst dann entkrampfte sich sein Magen und er begann zu grinsen.

"Ich Idiot...", seufzte er und fuhr sich durch sein Haar. Was hatte er auch erwartet? Eine automatische Selbstzerstörung? Amüsiert schüttelte er seinen Kopf. Er hatte doch tatsächlich Beunruhigung empfunden über so etwas triviales wie ein Bestätigungsfenster?

Mit Schwung erhob er sich aus seinem Drehstuhl und öffnete seine Tür, von der aus ihm Ranmas weibliche Seite zugrinste. Ihr feuerrotes Haar schien geradezu zu lodern. Ein Knick lief durch das Poster, dort, wo es ihm einmal zu Boden gefallen war und er es ungeschickt aufgehoben hatte. Er könnte sich immer noch dafür prügeln.

Es war zwar nicht so, als ob er nicht genügend Poster besäße, doch handelte es sich hierbei um einen seiner Favoriten. Ein weiteres hing an der Schräge über seinem Bett und zeigte einen schief grinsenden Ryoga, auf dessen Kopf P-chan posierte und fröhlich ein Victory-Zeichen vollführte. Der Junge lächelte das Poster an, salutierte spielerisch und ging durch den Korridor in die Küche. Da seine Mutter momentan außer Haus war, spielte im ganzen Haus Musik. Der junge Mann besaß nämlich die leidliche Tendenz, sehr gerne und sehr laut Musik zu hören. Ein Umstand, der nicht nur seiner Mutter, sondern auch den Nachbarn außerordentlich missfiel. Doch wenn seine Mutter schon nicht anwesend war, so musste er das doch ausnutzen, oder? Die Nachbarn konnte man ja schließlich gepflegt ignorieren – etwa in dem man die Musik noch um eine Nuance höher drehte.

Somit betrat er pfeifend die Küche, öffnete den Kühlschrank und genoss die austretende Kälte auf seinem Gesicht. Eilig schnappte er sich zwei Hamburger, öffnete die durchsichtige Kunststoffverpackung und schob die zwei Brötchen in die Mikrowelle. Nach drei hastig aufeinander folgenden Piepstönen war es vollbracht. Das Summen ertönte und durch das Fenster konnte er beobachten wie der Käse eine golbbraune Färbung annahm. Er warf einen achtlosen Blick auf die Küchenuhr und schmunzelte angesichts der Uhrzeit.

03:24, verkündete die Digitaluhr auf dem Küchentisch.

"Ziemlich spät", kommentierte er ausgelassen und summte zu den Klängen eines Songs. Die Ferienzeit blieb einfach das Beste am Schüleralltag. Wann konnte man schon sonst ohne schlechtes Gewissen so lange aufbleiben?

Das Piepsen der Mikrowelle hallte in seinem Rücken. Mit wenigen Handgriffen entnahm er den Teller, bestrich das Fleisch mit Senf und setzte die andere Brötchenhälfte wieder obenauf. Dann schaltete er das Licht aus und kehrte zu seinem Zimmer zurück.

Mit einem beschwingten Grinsen – der Hamburgerduft stieg ihm betörend in die Nase und der Begriff Ferien echote unablässig hinter seiner Stirn - betrat er den Raum und sein Blick wanderte von seinem Bett zum Computerbildschirm. Dann erstarrte sein Lächeln und seine Augen wurden größer.

Ein neues Fenster war aufgetaucht. "Bitte bestätigen sie nochmals zur Überprüfung."

"Was für eine Überprüfung? Wovon zum Teufel redet das Teil?"

Vorsichtig näherte sich der Junge seinem Lieblingsutensil, das ihm so plötzlich unheimlich geworden war. Schritt für Schritt kam er in Reichweite der Tastatur, sowie der Maus.

Ein Klick auf das schwarze Kreuz rechts oben, würde dem Spuk ein Ende machen.

Der Teller klapperte als er ihn auf dem Schreibtisch neben den vielen Stiften und Blättern abstellte. Dampf stieg von den Hamburgern auf. Der Hunger jedoch hatte einer altbekannten Übelkeit Platz gemacht - sein Magen hatte sich erneut, diesmal heftiger verkrampft.

Plötzlich stürzte der Junge vor, ergriff die Maus und schleuderte den Mauzzeiger scharf nach oben in die rechte Ecke. Triumphal hämmerte er auf die linke Maustaste.

Nichts tat sich.

Panik stieg in ihm auf, als er es erneut versuchte. Und nochmals. Wieder geschah nichts.

Ungläubig sondierte er den Fleck an dem das Kreuz sein musste und musste mit Bestürzung feststellen, dass es fehlte. Er konnte die Seite überhaupt nicht wegklicken.

"Scheiße, was...?", dann versagte ihm die Stimme.

Vor ihm tauchten Zahlen auf. Zweistellige Zahlenwerte, die sich jede Sekunde änderten.

"Was...?", krächzte er hervor und verstand in diesem Moment. Tatsächlich veränderten sich die Zahlen, denn der Computer zählte. Und zwar rückwärts.

"Oh mein Gott." Sein vorheriger Witz über Bomben kam ihm in den Sinn und eine kalte Furcht ergriff von ihm Besitz.

20, 19, 18, ...

Was geschah da? Was zum Teufel war das?

14, 13, 12, ...

Befehl! Der Befehl! Was stand dort? Hektisch huschte sein Blick über die Zeile "Bitte bestätigen Sie nochmals zur Überprüfung".

Wo war das "Ja" oder "Yes" oder "Ich bestätige"?

9, 8, 7, ...

Zu seiner größer werdenden Bestürzung stand sonst nichts in dem Fenster, was ihm hätte weiterhelfen können. Keine Nachricht, kein Bestätigungsfeld, einfach nichts.

5, 4, 3, ...

ESC, Alt und Entf! Das war es! Weshalb hatte er nicht früher daran gedacht? Fanatisch hämmerte er auf die drei Tasten ein und der Task-Manager klappte auf. Überglücklich überflog er die Auflistung der geöffneten Programme und kam zu einer ernüchternden Gewissheit. Es gab das Programm überhaupt nicht. Da war keine Seite, zumindest dem Computer nach nicht.

Ohne noch einen Gedanken zu verschwenden, stolperte der Junge rückwärts und riss sich vom Monitor los, der mit einem Mal heller zu leuchten schien. Es konnte Einbildung sein, aber er würde nicht bleiben, um dass herauszufinden. Kopflos rannte er durch sein Zimmer. Der Weg von wenigen Metern erschien ihm wie mehrere Kilometer. Sein Blick huschte an dem Poster von Ryoga über seinem Bett vorbei und plötzlich verspürte er das Gefühl beobachtet zu werden. Ungeachtet der wachsenden Panik nahm das Poster seine gesamte Aufmerksamkeit ein. Ohne dass er es überhaupt wahrnahm, wurde aus seinem Sprint ein Schlurfen. Noch dazu bewegte er sich von der offenen Tür fort. Zentimeter um Zentimeter trugen ihn seine Füße näher an sein Bett, über dem das Poster wachte. Dann streckte er seine Hand aus. Kaum eine Handbreit vor dem Papier zögerte er, nur um urplötzlich aufzuschreien. Jetzt war er sich sicher. Jemand hatte ihn beobachtet. Denn nun stach Ryogas Blick in seinen und selbst P-chan schwarze Pupillen zentrierten sich auf ihn.

"Oh nein, nein,...", hauchte der Junge und stolperte nach hinten. Mit unsagbarer Mühe kappte er den Einfluss des Posters auf ihn und blickte wieder die Tür an.

Sie war geschlossen und Ranmas weibliche Hälfte lächelte ihn wissend an. Das Blaue in ihren Augen schien zu schimmern und ihr Haar wurde scheinbar immer röter.

Sein Magen kontrahierte abermals, nur diesmal so stark, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Ein Keuchen entrang sich seiner Kehle und entsetzt starrte er das Poster an der Tür an. Es wurde lebendig. Der Gedanke war so absurd, selbst im fortgeschrittenen Stadium der Panik, in dem sich der Junge befand. Dennoch oder gerade deshalb ließ er ihn nicht los und reifte binnen eines Augenblickes zur Gewissheit.

Der kalte Schauer über seinem Rücken stockte ihm den Atem - das Poster über seinem Bett.

Widerwillig drehte sich sein Gesicht. Er konnte nicht anders. Fast wie von selbst krochen seine Augen über das braune Parkett und von dort auf den Läufer. Dann wanderten sie die Schubfächer hoch und blieben kurz auf seiner Bettdecke hängen. Als sein Blick das Poster fixierte, erstarrte er vor Angst. Das Gefühl, das ihn befiel, war so mächtig, dass es alles verdrängte. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht starrte er auf das Poster und die Hand, die sich ihm näherte. Es war Ryogas Hand und sie war nicht dicker als ein Blatt und dennoch schwebte sie durch die Luft auf ihn zu. Die Finger bewegten sich wie echte Finger, fast so als ob sie aus mehreren Gliedern beständen. Und dann bemerkte er wie sich das Licht seines Computers auf dem Handrücken reflektierte. Fast so als ob die Hand schwitzte.

"Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott..." Der Junge war unfähig sich zu rühren und nahm nur am Rande wahr, dass das Licht vom Computerbildschirm gar nicht so intensiv sein konnte, als dass es auf diese Entfernung wiedergespiegelt werden könnte. Seine Panik war so dominant, dass er nur hilflos mit ansehen konnte wie die Hand einen Arm hinter sich herzog.

Und dann berührte sie ihn.

Er hatte nie sonderlich gerne gebastelt. Schon als Kind ließ er lieber die Finger von Schere und Papier und wendete sich vorzugsweise dem Lesen zu. Seine Abneigung gegen das Basteln rührte allerdings hauptsächlich vom Papier her. Denn die Erinnerung daran, dass er sich im Kindergartenalter einmal dermaßen an einer Papierkante geschnitten hatte, dass sein Ärmel vor Blut getropft hatte, war vielleicht verdrängt, aber nie völlig vergessen.

Als die Papierhand nun sein Handgelenk ergriff, riss der Kokon der Panik um ihn. Er schrie und zog seinen Arm zurück. Nur, um zu merken, dass es nicht ging. In seiner Furcht achtete er nicht weiter darauf und verstärkte seine Bemühungen eher noch. Das dünne Papier gab aber trotzdem nicht nach und umwickelte im nächsten Augenblick bereits sein Handgelenk wie eine Eisenkette.

Tränen traten ihm in die Augen und er schrie aus Leibeskräften, zog und zehrte.

Sein nacktes Entsetzen wuchs, als das Papier damit begann an seinem rechten Arm hinaufzuranken. Weiterhin versuchte er sich los zu reißen, stemmte seine Füße gegen das Bett und zog, rasend vor Hysterie und Angst. In seiner Verzweiflung ergriff er den unmenschlichen Arm und probierte sich daran diesen mit seinen Fingern zu zerfetzen. Seinen Fehler realisierte der Junge fast augenblicklich und doch zu spät. Als bestände es aus Honig oder Sirup, tropfte hautfarbenes Papier auf seinen linken Arm und zog lange Fäden zum Poster. Sofort breitete sich das Papier aus und kroch gierig über den bislang unbehelligten Arm hinweg.

"Mein Gott!" Sein Schreien wurde immer gequälter, als ihn das Poster unnachgiebig zu sich zog und sich allmählich an seinem Rücken und seiner Brust herunterarbeitete. Papier schlängelte sich in beängstigender Geschwindigkeit um seinen Körper und nahm zunehmend die Sicht auf seine Kleidung. Der grüne Pullover war bereits nicht mehr sichtbar, die Farbe seiner Jeans konnte man nur noch unterhalb der Knie erkennen.

Der Junge fühlte die Verzweiflung immer höhere Wellen in ihm schlagen. Plötzlich wurde aus Angst Wut. Eine Wut, die nur sehr selten anzutreffen ist und nur in bevorstehenden Todessituation an einem Menschen beobachtet werden kann. Es war die Art Wut, die Menschen dazu befähigte hunderte Kilo schwere Autos von sich zu heben, der Pranke eines Bären Paroli zu bieten und auf diese Weise den Tod zu betrügen.

Mit einem Kreischen, das seine Stimmbänder zum Bersten spannte, begann sich der Papierarm unnatürlich zu strecken. Der Junge trat Millimeter für Millimeter vom Poster zurück. In seinen Armen und Beinen kontrahierten Muskeln, von deren Existenz er noch nicht einmal etwas wusste. In seinen Augen standen Tränen und sein Gesicht glich einer schmerzverzehrten Grimasse. Dennoch wich er unter Höllenqualen vom Poster zurück.

Und dann riss der Arm. Er löste sich wie ein angeklebtes Blatt vom Poster und hing lose an seinem eigenen Arm herab.

Er hatte es geschafft. Der Arm hatte sich gelöst. Ungläubig starrte der Junge das Poster an, auf dem wie zuvor Ryoga schief grinste und P-chan ein Victory-Zeichen vollführte. Es hatte sich scheinbar nichts geändert. Außer, wenn man wusste, wohin man sehen musste, denn dem Ryoga auf dem Poster fehlte sein rechter Arm.

"Oh mein Gott...", krächzte er, das Bild vor sich keinen Moment aus den Augen lassend.

Das konnte nicht wahr sein. Unmöglich, dass das tatsächlich geschehen war, was ihm seine Erinnerung und sein Instinkt versichern wollten. Es konnte nicht sein, dass einer seiner Lieblingscharaktere nach ihm aus einem Blatt Papier gegriffen und ihn...

Ja, was? Warum war das geschehen? Wieso hatte der Poster-Ryoga nach ihm gegriffen?

Er wollte ihn doch nicht etwa zu sich ziehen?

Geistesabwesend streifte er mit seinen umwickelten Händen seinen Pullover. Zumindest hätte sich dieser dort befinden sollen, war allerdings unter Papier verborgen. Ebenso seine Jeans, die den weißen Papierbandagen gewichen war. Unmittelbar vor seinem Gesicht hatte das Papier verharrt. Fassungslos schüttelte der Junge den Kopf und bewegte sich einen weiteren Schritt vom Poster fort. Mit einem Aufschrei stieß er gegen seinen Bürostuhl.

Und dann fiel ihm das Licht auf. Es war nicht nur einfach Licht, sondern es schien sich geradewegs durch das Papier und seine Kleidung hindurch zu brennen. Es fühlte sich so an, als würde sich der Papierkokon langsam zuziehen, schärfer werden und ganz langsam durch die Fasern seiner Kleidung schneiden. Sich dabei stetig seiner Haut nähernd, Baumwolle wie warme Butter zerteilend.

"Oh nein. Nein, nein, bitte nicht..."

Nass vom Schweiß, der ihm über das Gesicht lief und mit ächzenden Muskeln drehte er sich schließlich unter großem Widerwillen zum Monitor um. Es war ein überwältigender Drang, der ihn lenkte und regelrecht zu dieser Handlung zwang. Denn das Letzte, was er wollte, war sich umzudrehen. Er wollte fort von hier. Sein Zimmer hinter sich lassen und trunken vor Freude über seine geglückte Flucht durch die Straßen taumeln. Selbst, wenn er dazu die Tür durchbrechen oder tatsächlich durch das Fenster aus dem zweiten Stock hinaus in die kalte Abendluft springen musste. Er konnte es schaffen, würde fliehen und die Polizei von einer Telefonzelle aus über den Vorfall in Kenntnis setzen. Dann würde er seine Mutter abpassen, wenn diese heimkam und er würde sie unter allen Umständen davon abhalten die Wohnung zu betreten. Alles war so klar in seinem Kopf – jedes wichtiges Detail. Er wusste genau, was er zu tun hatte, sobald er diesem Wahnsinn hier entkam.

Doch dann begriff er mit einem Mal und in einem makaberen Moment vollkommener Klarheit, dass seine Überlegungen – so gut durchdacht sie auch sein mochten – von der Bedingung abhingen, dass er überhaupt entkam und dass er es diesmal nicht schaffen würde.

Sirupartig verklangen die Sekunden, in denen er sich seinem Arbeitsplatz zuwandte. Er hatte hier viele Jahre voller Freude und Phantasie erlebt – und jetzt verlor er alle zukünftigen, die er wohlmöglich woanders verbracht hätte.

Was er sah, war ein weißes Licht. Sein Monitor war in einem pulsierenden Weiß verschwunden. Das Weiß bohrte sich ihm bösartig durch die Augen hindurch und schlug seine Augenlider unnachgiebig auf, statt das es sie verschloss. Noch ehe der Junge erneut hätte Schreien können, begann der Papierarm heftig zu flattern und zog mit der Kraft eines Tornados und zwar ihn hinein ins Licht. In diesem Moment wurden scheinbar alle seine Knochen gleichzeitig gebrochen. Tausende imaginäre Knochensplitter drängten sich in das empfindliche Haut- und Muskelgewebe und verbrannten seine Nervenbahnen.

Zum Papierarm gesellten sich flutartig weitere meterlange Papierstreifen, die ebenso dem lebenden Licht entgegenjagten, darin untergingen und sogleich ebenfalls zu ziehen begannen - die Papierstreifen, die wie Bandagen um ihn gewickelt waren. Hysterisch kreischend trat er mit den Füßen auf das Parkett ein und schlug mit den Armen nach den Bandagen. Seine Sicht wurde von einer Flut aus Tränen verwischt, die an seinem panikverzerrten Gesicht entlang strömte.

„Nein!“ Ein letzter kehliger Schrei überschlug seine Stimme und verwandelte diese in ein heiseres und zugleich schrilles Krächzen.

Bevor er in das pulsierende Leuchten eintauchte, verschwand auch sein Gesicht unter einer wilden Welle von hautfarbigem Papier - die einzige Gnade, die dem Jungen zuteil wurde.

Verloren zu sein

Noch immer war sie in Fassungslosigkeit erstarrt und bemerkte kaum den Regen. Katatonisch wanderte ihr Blick von einer Brust zur anderen. Fast so als erwarte sie eine Halluzination zu haben, aus der sie jeden Moment auffahren würde. Doch nichts geschah.

Wie aber konnte das sein? Was war ihr nur widerfahren?

Die Gänsehaut, die sich über ihre Unterarme ausbildete, nahm sie erst wahr, als ihre Zähne bereits zu klappern begannen. Derweil zitterte allerdings bereits ihr gesamter Körper wie Blätter im Sturm. Ob das Zittern alleine von der Kälte oder aber zu gewissen Teilen vom Schock herrührte war unklar, ihr aber grundlegend egal. Viel zu surreal erschien ihr alles.

Ein weiteres Mal schüttelte es sie, diesmal noch weitaus heftiger als zuvor. Trotzdem brachte sie kaum die Kraft dazu auf, aus ihrer Starre zu erwachen und sich zu rühren. Wahrscheinlich hätte sich an diesem Zustand auch weiter nichts verändert, hätte sie der Donnerschlag nicht aus ihrer Apathie gerissen. Unter dem nachfolgenden Blitz zuckte sie sogar noch stärker zusammen.
 

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Mysterium
 

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Kapitel 2 - Verloren zu sein
 

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Der Autor besitzt keine Rechte in den Charakteren und wird auch nicht für diese Tätigkeit bezahlt. Er versichert hiermit, dass er diese Geschichte lediglich zu seinem persönlichen Vergnügen und dem der Leser verfasst hat.
 

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Schließlich zog sie mit leichter Mühe ihren BH wieder über die Brust und das Top herab. Der Stoff war inzwischen nasskalt und klebte unangenehm auf der empfindlichen Haut. Haut, die bereits im Begriff war allmählich taub zu werden, außerdem zwickte sie schon beinahe schmerzhaft - ein Schmerz, an den sie sich vermeintlich würde gewöhnen müssen.

Sie war nämlich nun ein Mädchen und Mädchen froren leichter. Sie konnte es einfach nicht glauben, dass alles konnte nicht wahr sein! Ihr ganzes Leben war von einem Augenblick zum nächsten auf den Kopf gestellt worden. Erneut krochen ihre Augen über den nassen Stoff. Nasser Stoff, der einen Umstand ganz deutlich hervorhob – und zwar, dass sie nicht mehr länger ein Junge war.

Das war nicht fair. Nicht fair. Sie kniff ihre Augenlider zusammen und unterdrückte einen Wutschrei. Ein Wutschrei, der nichts an ihrer Situation verändert hätte. Eine Erkenntnis, die so kalt wie der Regen und so erschütternd wie der Donnerschlag selbst war.

Aber nichtsdestotrotz eine Erkenntnis mit der sie sich gezwungenermaßen abzufinden hatte. Nicht, dass ihr eine Wahl geblieben wäre. Denn das Leben war eben einfach nicht fair.

Ein Stoßseufzer entrang sich ihrer Kehle und sie warf einen nutzlosen Blick in ihre Umgebung.

Egal wie ihre Lage auch gerade aussehen mochte, eine Lungenentzündung würde ihr dabei nicht helfen. Ihr zielloser Blick blieb an dem Rucksack hängen. Der Regen trommelte hart auf ihn herab, während er auf dem pechschwarzen Asphalt auf seine Besitzerin gewartet hatte. Der Rucksack bestand aus dunkelbraunem Leder, das sich durch den steten Niederschlag fast schwarz gefärbt hatte. An mehreren Stellen wies er dennoch unmerkliche Erhellungen auf - Abnutzungserscheinungen und aufgerautes Leder. Drei Schlaufen sicherten die überhängende Lederklappe, die dazu gedacht war, das Innere vor den Wettergegebenheiten zu schützen.

Zwei Tragegurte hingen lose und fast erwartungsvoll in der Luft. Kurz zögerte sie. Sie konnte schließlich nicht wissen, ob dieser Rucksack nicht jemand anderem gehörte. Wenn sie ihn nun an sich nahm und er jemandem gehörte, so wäre das doch Diebstahl.

Dann schüttelte sie in einer bitteren Geste den Kopf über ihre eigene Dummheit.

"Und wenn schon."

Außer ihr befand sich niemand hier und wenn ihr schon das zweifelhafte Glück zuteil wurde, irgendwo im Nirgendwo als ein Mädchen zu erwachen, dann konnten ihr moralische Bedenken gestohlen bleiben. Mit diesem inneren Entschluss ergriff sie den Rucksack an einem Gurt und zog diesen über ihre Schulter.

Ihre Schritte waren kraftlos, als sie sich davon schleppte. Hohe Mauern ragten zu ihren Seiten auf und verstärkten in ihr das Gefühl des Verlorenseins und der Furcht. Wobei diese Gefühle sich wie fanatisch an einen Gedanken klammerten, der scheinbar ständig ihr Bewusstsein kreuzte.

Was war nur vorgefallen? *

Verwirrt schüttelte sie ihren Kopf und erhaschte den ersten Anflug von Kopfschmerzen. Somit versuchte sie erst einmal Ordnung in ihre diffusen Erinnerungen zu bringen. Sie musste alles rekonstruieren. Vielleicht würde sie ja auf diese Weise eine Antwort finden. Eine Antwort, die zumindest klärte, wie sie hier hergekommen war - wenn schon nicht, wo dieses hier genau war.

Doch alles schön der Reihe nach.

Das Mädchen schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern.

Sie begann bei dem Vorfall in ihrem Zimmer. Vor ihrem inneren Auge spielte sie die Geschehnisse nochmals ab. Sie fing an bei dem mysteriösen Pop-up-Fenster, das ihre Poster – so völlig irre wie es auch klingen musste - irgendwie zum Leben erweckt hatte. Zum Leben erweckt, um sie anzugreifen! Diese verdammten Schnipsel hatten sie wirklich attackiert!

Unter Anstrengung zwang sie sich zur Ruhe. Sie musste sich jetzt unbedingt konzentrieren.

Also, was war danach geschehen? Mit großer Mühe kämpfte sie sich durch das Gewirr von Eindrücken, die nun auf sie einprasselten. Es dauerte einige Sekunden und kostete sie eine Verschlimmerung ihrer Migräne, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Der Schlüsselpart war das weiße Licht gewesen, das ihren Monitor ersetzt hatte.

Ab da war für sie alles in einem grellen Weiß verschluckt worden, fast so als ob sie mit einem Flugzeug durch die Wolken flöge. Dabei hatte sie jedoch die Empfindung erlebt regelrecht zu zerfließen, so, als wäre sie ein Regentropfen, der in einen Teich fällt und darin verschwindet. Auf eben diese Weise war langsam ihr Bewusstsein zerfasert, bis ihr selbst der eigene Name abhanden gekommen war. Verloren hatte sie sämtliches Gefühl für Zeit und Raum, ihr Körper war taub gewesen und sie hatte zugleich gefroren und geschwitzt. Es war eine derart wirre Kombination von Empfindungen gewesen, dass ihr im Nachhinein nicht einmal klar war, ob sie dabei geweint oder gelacht hatte. Hatte sie überhaupt noch Augen zum Weinen und einem Mund zum Lachen besessen?

Urplötzlich war sie dann aus dem Weiß herausgeschleudert worden. Noch nie hatte sie ähnliche Schmerzen auch nur erahnt. Es fühlte sich an, als würde sie nochmals geboren wurde. Vulkanartige Hitze hatte ihr Fleisch verbrannt, Blasen quellen und Schwielen aufplatzten lassen, ehe eine Flut aus Eis ihren Körper mit feinen Nadeln penetriert hatte. Der Schmerz war so überwältigend und grauenvoll gewesen, dass sie unmöglich eine geeignete Entsprechung dafür finden konnte. Mit nichts war die Qual zu vergleichen, die sie durchlebt hatte und selbst jetzt noch schlich dieser Schmerz als Phantom am Rand ihres Bewusstseins entlang.

Gedankenverloren wanderte sie an den Mauern vorbei, wobei ihr der Regen unerbittlich ins Gesicht peitschte und der Wind sie schnitt. Wie lange sie so ging, war ihr selbst nicht klar. Grundlegend hätte sie nämlich nicht einmal sagen können, wo genau sie sich befand. Soweit sie wusste, könnte sie an jedem beliebigen Platz der Welt sein. Überall, nur nicht zuhause.

Abermals fuhr sie unter einem besonders heftigen Donnerschlag zusammen. Beinahe hätte sie das Gewitter über sich vergessen, so stark hatten sie ihre Überlegungen beschäftigt. Viel zu wahnsinnig und surreal waren die letzten Stunden gewesen, als dass etwas so triviales wie ein Gewitter sich damit hätte messen können. Aber waren es denn überhaupt Stunden oder aber Tage gewesen? Wie viel Zeit war eigentlich vergangen?

Das gab ihr zu denken und lenkte sie gnädigerweise von der rasant wachsenden Ungewissheit ab, die sich zusehends höher türmte.

Kurz hielt sie in ihrem Marsch inne und blickte hinauf in die grauen Wolken. Vielleicht war es ja Nachmittag, es konnte jedoch auch bereits früher Abend sein. Zu dunkel färbten Wolkenberge das Firmament als dass das Mädchen die Tageszeit hätte bestimmen können.

Ein schwacher Schmerz kroch ihr über die Schulter. Gedankenverloren verrückte sie den Riemen etwas, um eine Reizung ihrer Schulter zu vermeiden. Dann ging sie weiter.

Störrisch und niederträchtig schlugen ihr Wind und Regen ins Gesicht, während das Regenwasser zu beiden Seiten in den Rinnsteinen vorbeiplätscherte. Ihre Schuhsohlen schmatzten leise auf dem Untergrund und nasse Haarsträhnen peitschten ihr wie Kabel gegen Wangen und Stirn. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln, bedingt durch den harschen Wind und der nagenden Verzweiflung in ihrem Herzen. Nichtsdestotrotz bewegte sie sich ununterbrochen fort. Es war schließlich nicht so, als ob sie etwas anderes hätte tun können.

Die Krämpfe in ihrem Magen kämpfte sie derweil mehr schlecht als recht zurück - sie musste sich augenblicklich unbedingt konzentrieren. Hier irgendwo musste ja wohl schließlich eine Möglichkeit zum Unterstellen aufzutreiben sein. Irgendein Ort, an dem sie vor dem Wetter, wenn schon nicht vor der Kälte geschützt sein würde.

Doch sie fand nichts.

Stattdessen kroch die Zeit dahin und ihr wurde immer kälter. Die Arme hielt sie fest vor ihrer Brust verschränkt und das Klappern ihrer Zähne geriet zu einem monotonen Rhythmus. Fast im Sekundentakt schlugen ihre Zähne aufeinander und indizierten ihr damit, dass es bald an der Zeit wäre, einen Unterschlupf zu finden. Als ihre Zehen und Finger zu pochen begannen, wurde dieser Wunsch nur umso drängender.

Gerade als sie die Hoffnung schon fast aufgeben wollte, erblickte sie schließlich etwas aus dem Augenwinkel. Ihr Herz schlug unvermittelt höher, als sie sich dorthin wandte. Es war eine Treppe. Sie führte circa fünfzehn Meter schräg einen kleinen Berg hinauf. Was ihr jedoch das erste Lächeln seit Stunden entlockte, war der Tempel, der sich auf dem Berg stolz und prächtig erhob. Sie verlor erst gar keinen Gedanken daran, in welchem Land derartige Gebäude üblich waren. Solche Fragen schob sie erstmal von sich und behielt das Wesentliche im Blick und zwar die Chance auf einen Platz im Trockenen.

In einem gehetzten Trab lief sie die Treppenstufen hoch. Regenwasser floss durch zwei Rillen zu ihrer linken und rechten Seite ab. Trunken vor Glück stolperte sie die letzten Treppen hoch und stützte sich schwer am Tor auf. Das Tor überschattete ein schmales Vordach, an dem Wasserschleier rege zu Boden fielen. Durch einen dieser Schleier war auch sie gestolpert, als sie unter das Vordach getreten war. Lächelnd musterte sie die glatte Oberfläche des Tors vor sich.

Ihr Lächeln schwand als sie realisierte, dass sie nirgendwo eine Klinke oder etwas ähnliches finden konnte. Probeweise drückte das Mädchen gegen das Holz und erntete nur ein ungesundes Knarren des Tores.

Das Tor war zu. Sie konnte es nicht fassen. Wie verrückt vor Euphorie war sie hinaufgestürmt, nur um jetzt ausgeschlossen zu sein? Irgendwo hinter diesem Tor wärmten sich einige Typen die Füße, während sie hier draußen jämmerlich fror?

Zorn loderte in ihr wie eine heiße Flamme auf. Selten hatte sie dieses Gefühl so ausgeprägt, so leidenschaftlich erlebt und sie ertappte sich dabei, dass sie den Gefühlsausbruch genoss. Sie konnte förmlich spüren wie die Wut in ihr kochte und heranwuchs.

Doch brachte sie ihre Wut keinen Schritt näher ans Ziel. Als ihr das klar wurde, verließ sie die Empfindung schlagartig. Ähnliches geschah in ihren Beinen, die nun endlich nach der Tortur mehrerer Stunden unter stetem Niederschlag nachgaben. Mit einem heiseren Aufkeuchen fiel sie vorwärts und fing sich noch knapp an dem Tor ab, ehe sie zu Boden stürzen konnte - dann beendeten ihre Knie ihren Dienst und sie sackte kraftlos nieder.

Noch ehe sie es mitbekam, rollten bereits erste Tränen an ihrer Wange herab. Es war einfach nicht fair. Was hatte sie getan, um dieses Schicksal zu verdienen? Ihr war kalt, sie fühlte sich grässlich, war verloren in der Fremde und zu allem Überfluss von einem falschen Geschlecht. Immer mehr Tränen kullerten über ihre Haut und sie begann lauthals zu schluchzen. Es war einfach zuviel. Sie konnte nicht mehr.

Ihre Stirn stützte sie am Tor, während die Kälte an ihr hochkroch. Zwar hatte sie den Regen hinter sich gelassen, der Wind fühlte ihr aber dennoch unter die feuchten Kleider. Vereinzelt fegte er zudem einige verirrte Regentropfen über ihren Rücken, während der Donner hoch über ihr beständig dröhnte.

Zitternd kauerte sie sich behelfsmäßig unter dem Vordach zusammen. Ihren Rucksack presste sie zwischen ihren Rücken und das Tor. Ihr Kopf hämmerte, der Donner ließ sie zusammenfahren, die Kälte frieren und das Gefühl verloren zu sein - ein Niemand zu sein - senkte unter Trauer und Hoffnungslosigkeit allmählich und ganz langsam ihre Augenlider.

Der Regen sollte noch bis tief in die frühen Morgenstunden andauern. Silberweiß hob sich der Mond am Himmel empor, doch er blieb ungesehen. Die Decke aus Wolken nämlich, die an diesem Abend über der unbekannten Stadt schwebte, verdeckte ihn völlig. Dafür prasselte ein beständiges Stakkato an Regentropfen auf die Dächer herab, füllte die Kanäle auf und trieb zusammen mit dem Wind Falllaub durch die Straßen. Der Niederschlag sollte wie vorab erwähnt noch ungewöhnlich lange andauern, der Wind jedoch flaute bereits kurz nach Mitternacht ab.

Der nächste Morgen brach mit einem hellen Schiefergrau von Himmel und Regenpfützen auf den verwaisten Straßen herein.

Als das Mädchen die Augen aufschlug, lag es nicht mehr länger unter dem Vordach.

Verwirrt sah sie sich um. Sie befand sich in einer dunklen Kammer. Undeutlich konnte sie die Wände erkennen und schloss daraus, dass die Kammer relativ klein sein musste. Aufgrund des schlechten Lichts hätte sie besagte Wände nämlich gar nicht erst wahrnehmen können, wären diese weiter entfernt gewesen.

Neugierig suchte sie den Raum mit ihren Augen ab. Nur schemenhaft konnte sie dabei die Konturen einzelner Möbel ausmachen, immer vorausgesetzt es waren tatsächlich Möbel. Aber zumindest fand sie auf diese Weise ihre Lichtquelle.

Etwas Tageslicht fiel durch eine Ritze zwischen zwei Fensterläden zu ihr herein und spendete ihr somit genügend Helligkeit, um ihr dieses vages Bild ihrer Umgebung zu ermöglichen. Trotzdem löste die eilige Sondierung nicht ihre wichtigste Frage.

"Wo bin ich?"

"In unserem Tempel", und mit diesen Worten öffnete sich die Tür zu ihrer Kammer. Unscharf konnte sie einen gedrungenen Mann mit Glatze ausmachen - zuviel Licht strahlte ihn von hinten an.

"Geht es dir inzwischen besser?", seine Stimme klang aufrichtig besorgt und er betrat in maßvollen Schritten den abgedunkelten Raum. Er wartete gar nicht erst ihre Antwort ab und trat gleich zum Fenster. Mit einem Quietschen schwang er es nach innen auf und öffnete die Läden. Als Resultat stürzte eine Flut aus Licht auf sie ein und hinterließ sie für einen Augenblick völlig geblendet.

"Deine Augen dürften sich gleich daran gewöhnt haben."

Und tatsächlich normalisierte sich ihre Sicht wenige Sekunden später bereits. Zwar tanzten noch einige Funken vor ihren Augen, doch konnte sie nun wesentlich mehr erkennen. Ihre erste Vermutung bestätigte sich als sie sich ein weiteres Mal umsah. Sie befand sich tatsächlich in einer kleinen Kammer. Ein Schreibtisch, ein kleiner Schrank und ein Gebetsschrein stellten die einzigen Objekte in dem Raum dar. Fassungslos fixierte sie letztgenannten Gegenstand. Sie hatte sich nicht geirrt, an der gegenüberliegenden Wand hing ein spartanischer Gebetsschrein wie ihn buddhistische Mönche zu ihren Gebeten verwendeten.

Wie konnte das aber sein? Was tat ein buddhistischer Tempel hier? Und überhaupt, wo genau war hier?

"Wenn du Hunger hast, bereite ich dir etwas zu. Kleide dich an und warte einfach vor deiner Tür, ich schicke dann jemanden der dich holt." Kaum das seine Worte verklangen, setzte er sich auch schon in Bewegung und verließ die Kammer. Nicht jedoch, ohne zuvor die Tür gewissenhaft hinter sich zu schließen.

Das leise Klicken des einrastenden Schlosses zerrte sie zurück in die Wirklichkeit. Das hieß, sie konnte ihren Magen nicht nur knurren hören, sondern auch fühlen. Es war allerhöchste Zeit, dass sie etwas zu sich nahm. Und wieso sollte sie ein so freundliches Angebot ablehnen?

Dann erst registrierte sie einen wichtigen Aspekt, den sie vorher einfach überhört hatte. Ankleiden? Hieß das etwa, sie war nackt?

Ihr Blick wanderte an ihr herab. Sie trug nur noch ihren BH und als sie die Zudecke zurückschob, erblickte sie ein Paar Pantys. Beide Unterwäschestücke waren von einem geradezu grellen Gelb und wirkten bereits ein wenig verwaschen. Das ließ Rückschlüsse darauf zu, dass die Unterwäsche schon mehrfach getragen wurde. Aber von wem? Von ihr?

In dem Moment kam ihr in den Sinn, dass sie sich die wichtigste Frage noch überhaupt nicht gestellt hatte.

"Wer bin ich?" Mit Bestürzen musste sie feststellen, dass sie die Antwort darauf nicht kannte. Es klang unfassbar, aber sie hatte ihren Namen vergessen. Weder Vorname noch Familienname befand sich mehr in ihrem Gedächtnis.

"Oh mein Gott...". Sie hatte tatsächlich vergessen, wer sie war. Sie wusste zwar noch immer, dass sie ein Junge war, bevorzugt an ihrem Computer sich die Zeit vertrieb und hier absolut nicht hingehörte, das Wichtigste jedoch fehlte ihr - ihre Identität.

Entsetzt durchsuchte sie ihre Erinnerungen nach einem winzigen Hinweis auf ihren Namen. Ihr Gedächtnis antworte jedoch mit Schweigen.

Sie hatte einmal in einer Fernsehsendung über psychische Phänomene davon gehört. Man nannte es selektive Amnesie, also das Vergessen bestimmter Informationen, während ansonsten das gesamte Gedächtnis erhalten blieb. Konnte es sein, dass ihr genau das widerfahren war? Zumindest wäre es eine durchweg plausible Erklärung für ihren Gedächtnisverlust. Aber musste man sich dafür nicht irgendwo kräftig den Kopf stoßen?

Ihr Kopf begann wieder zu pochen - eine freundlich gemeinte Warnung lieber vorerst eine Denkpause einzulegen.

Etwas unsicher erhob sie sich von ihrer Schlafstätte. Ihre Beine waren noch schwach und die Muskulatur schlaff, weshalb sie ein wenig torkelte. Schon bald jedoch hatte sie sich soweit gefangen, um problemlos stehen zu können. Aufmerksam blickte sie sich nach den versprochenen Kleidern um und fand sie auch vor. Eine schwarze Hose mit weiten Beinen und ein schmuckloses T-Shirt gleicher Farbe. Ohne ihren Körper auch nur eines einzigen weiteren Blickes zu würdigen, schlüpfte sie schnellstmöglich in die Hose, die ihr erstaunlicherweise auf Anhieb passte. Wahrscheinlich hatte der ältere Mann diese Hose mit ihrer alten verglichen, um die richtige Größe zu erhalten.

Das T-Shirt wiederum saß locker und eignete sich hervorragend, um sie von ihrem Körperzustand abzulenken. Als sie einen näheren Blick auf ihre Schlafstätte warf, war sie nicht überrascht einen Futon anzutreffen. Kein Bett wie sie es gewöhnt war, sondern lediglich eine flache Matratze, lag zu ihren Füßen. Erstaunlich, dass sie dennoch so gut und bequem hatte schlafen können.

Ein Klopfen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder zur Tür.

"Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber Tenko lässt anfragen, ob sie nun zu Frühstücken wünschen." Diese Stimme war eindeutig jünger und musste einem anderen Mönch gehören.

"Ja, sehr gerne", antwortete das Mädchen dankbar und machte sich auf dem Weg zur Tür. Zufrieden bemerkte sie, dass ihre Beine scheinbar wieder erstarkt waren. Sie hatte keine Probleme mehr ihr Körpergewicht zu tragen.

Knarrend drückte sie die Türklinke herunter und die Tür auf. Wie sie erwartet hatte, wartete bereits ein junger Mönch vor ihrer Tür. Er trug ebenso wie Tenko - sie schätzte, dass es sich dabei um den älteren Herren handeln musste - eine braune Leinenhose und ein weites weißes Gewand mit langen Ärmeln. Auf seinem Gesicht beherbergte er ein Lächeln, ehe er ihr zunickte und sich zum Gehen wandte.

"Folgen Sie mir bitte, Sie könnten sich ansonsten leicht verlaufen." Mit zielsicheren Schritten setzte sich der junge Mönch vor das Mädchen und schlug ein gemächliches Spaziertempo an. Bereitwillig folgte dieses ihm und blickte sich währenddessen neugierig um. Zuerst passierten sie lediglich einen Korridor, in dem sich alle paar Meter Tür an Tür reihte. Sonnenlicht fiel durch drei längliche Deckenfenster ein. Interessiert beobachtete sie den klaren, blauen Himmel, der erst vor etwa einer Stunde die grauen Wolken vertrieben hatte. Wenige Augenblicke später traten sie durch eine Tür am Ende des Korridors. Der Mönch trat hindurch und Sai kam ihm hastig nach.

Ein kurzer Gang verlief vor ihnen, in den durch zwei Seitenfenster Licht einfiel. Ein grüner Läufer bedeckte den Boden. Seitlich befanden sich drei Türen. Ihr Führer nahm gleich die erste und abermals blieb sie dicht an ihm dran.

Er hatte Recht behalten. Spätestens jetzt wäre es für sie unmöglich gewesen herauszufinden, wo sie hin musste. Sie beide befanden sich nämlich in einer Art niedrigen Halle. Der Geruch von Weihrauch hing schwer, aber nicht unangenehm in der Luft. Die einzigen Lichtquellen waren die überall im Raum verteilten Kerzen. Sanftmütig flackerten ihre Flammen und erhellten durch diese einen Schrein. Allerdings handelte es sich bei besagtem Schrein um nicht weniger als ein Meisterwerk der Schnitzkunst. Feine Reliefen waren in sein Holz eingekerbt, verschiedene Fächer beheimateten kleine Phiolen aus farbigem Glas und aus einem goldenen Kännchen drang weißer Rauch in die Luft.

Es fiel ihr schwer sich von dem Anblick loszureißen, ihr Führer wartete allerdings bereits vor einer anderen Tür auf sie und sie wollte ihn nicht noch länger warten lassen.

Als sie sich diesem näherte, lächelte dieser bloß wissend und öffnete ihr die Tür. Lautlos ging die Tür auf und gab den Blick auf einen langen Holztisch frei. Wie es schien war er bereits eingedeckt worden, denn mehrere Schälchen standen sorgfältig nebeneinander platziert.

"Tritt schon einmal ein. Tenko wird sich umgehend zu dir gesellen."

"Danke" und noch ehe sie sich zu dem jungen Mönch umgedreht hatte, war diese spurlos verschwunden. Verwirrt zog sie die Stirn kraus und starrte angestrengt in die Dunkelheit des Schreinraumes, aber dennoch blieb er unauffindbar. Er war einfach weg.

"Wie ich sehe, hat dich Meji hergeführt. Ein tüchtiger Junge, wenngleich er es auch stets so eilig hat wie der Wind."

Erschrocken wirbelte das Mädchen herum und erspähte Tenko, der bereits am Tisch Platz genommen hatte. Sie hätte schwören können, dass er vor einem Augenblick noch nicht dort gesessen hatte. Ihr Magenknurren schreckte sie aus ihren Überlegungen auf und ein wenig peinlich berührt, näherte sie sich dem Tisch.

Tatsächlich war bereits aufgetafelt worden. Zwei makellose Schalen mit Reis standen nebeneinander auf dem Tisch, daneben lagen je zwei Essstäbchen. Als sie sich neben den alten Mönch setzte, registrierte sie auch die weiteren Schälchen. In diesen befanden sich diverse Beigaben, darunter Gurkenstückchen, Tomatenwürfel, Mohrrübenscheiben und verschiedene Fleischsorten. Es roch köstlich und sie spürte wie ihr der Speichel im Mund zusammenlief.

Ein Räuspern lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Tenko. Dieser musterte sie mit einem belustigten Funkeln in den Augen, seine Mine blieb jedoch starr.

"Interessante Sitzgewohnheit muss ich gestehen, vielleicht ein wenig unkonventionell", sprach er im beifälligen Plauderton und sah sie dabei unverwandt an.

Das Mädchen blickte irritiert an sich herab und stellte nur ihren üblichen Schneidersitz fest. Dann schweifte ihr Blick zum Mönch über und sie verstand. Während sie sich nämlich ein wenig unrühmlich niedergelassen hatte, kniete Tenko vor dem Tisch und saß dabei auf seinen Fersen.

"Bitte entschuldigen Sie...", setzte sie an, wurde jedoch von einer beschwichtigenden Handgeste unterbrochen.

"Schon gut mein Kind. Du musst dich nicht entschuldigen. Ich lud dich schließlich an meinen Tisch ein, dass heißt auch, dass ich dich dazu einlud, mit mir deine Gewohnheiten zu teilen." Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen, als er wie in einem Nachgedanken noch etwas hinzufügte. "Wenngleich ich auch ein wenig über die dargebotene Ungeniertheit überrascht war."

Eine milde Schamesröte stahl sich auf ihr Gesicht, als sie betreten ihren Reis betrachtete.

"Mach' dir keine Sorgen darüber. Iss. Du wirst hungrig sein."

Dankbar nahm sie die Einladung an und begann zu essen. Mehrfach nahm sie sich etwas von den vielen Beilagen. Manchmal ein wenig Gemüse, ein anderes Mal etwas Fleisch.

Plötzlich verharrte ihr Essen wenige Zentimeter vor ihrem Mund. Ihre Augen waren schreckgeweitet.

"Ist alles in Ordnung? Mundet dir mein Essen nicht?", fragte der Mönch sogleich besorgt.

Das Mädchen allerdings achtete gar nicht auf ihn. Sie war zu beschäftigt damit, die beiden Stäbchen anzusehen, die soeben zu zittern begonnen hatten. Die beiden Stäbchen, die scheinbar mühelos den Reis und eine Mohrrübenscheibe balancierten. An und für sich war das nichts außergewöhnliches, schließlich dienten Stäbchen zu diesem Zweck.

Was sie jedoch erschreckte war die Leichtigkeit im Umgang mit den Stäbchen. Als sie noch ein Junge war, hatte sie nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, jemals Stäbchen zu verwenden. Umso amüsierter war sie dann auch gewesen, wenn sie andere Leute dabei beobachtete, wie diese mühevoll und ungeschickt mit den Stäbchen hantierten.

Das Problem war, dass sie wusste, dass es ihr eigentlich unmöglich sein sollte, die Stäbchen so sicher zu führen. Ein Nichtschwimmer sprang ja auch nicht einfach so in einen Pool und planschte daraufhin in diesem herum. Es erforderte Übung und Erfahrung um solche Dinge bewerkstelligen zu können. Übung, die sie nicht besaß und Erfahrung, die sie nie hatte.

"Alles in Ordnung?"

"Bitte verzeihen Sie, es war nur“, sie zögerte und setzte nach „eine Überraschung."

"Inwiefern?", seine Stimme klang forschend und er beobachtete sie aufmerksam.

"Nur, dass ich lange nicht von jemandem zum Essen eingeladen worden bin und das erst jetzt richtig realisiere." Sie probierte sich mit diesem fremden Gesicht an einem Lächeln und scheinbar gelang es ihr, denn Tenko erwiderte es.

Normalerweise hätte sie sich nun schlecht gefühlt. Das tat sie für gewöhnlich, wenn sie jemandem belog, weshalb sie bevorzugt die Wahrheit sagte oder einfach schwieg. Diesmal jedoch blieb die Empfindung aus. Kein schlechtes Gewissen fiel ihr zur Last, vielmehr verspürte sie die unerklärliche Gewissheit die Wahrheit gesagt zu haben. Dabei hatte sie doch erst vor einigen Tagen mit zwei Freunden einen Abstecher in ein Fast-Food-Lokal gemacht. Da sie jedoch ihr Brieftasche vergessen hatte, spendierte ihr einer ihrer Freunde eine Tüte Pommes. Und dennoch meldete sich ihr Schuldbewusstsein nicht zu Wort - seltsam.

"Schmeckt es dir?"

"Ja, sehr gut sogar. Nochmals danke für die Einladung." Nochmals probierte sich das Mädchen am Lächeln und siehe da, sie kam abermals gut an.

Zufrieden nickte der Mönch und widmete sich seiner Reisschale. So vergingen einige Minuten, in denen nur das Klicken von Stäbchen auf Keramik erklang.

Als sie satt war, stellte sie die Schale zurück auf den Tisch. Ein kleiner Rest Reis war zurückgeblieben, doch den Großteil hatte sie gegessen. Tatsächlich hatte sie sogar einen beachtlichen Anteil zu sich genommen, mehr sogar, als sie es als Junge hätte tun können. Sie war sich sicher, dass sie zuvor niemals eine solche Portion hätte essen können - halbverhungert oder nicht.

"Du hast einen guten Appetit. Bemerkenswert."

Irgendwie wusste sie nicht so recht, ob sie diesen Kommentar als Lob oder Beleidigung auffassen sollte. Deswegen ließ sie ihn vorsichtshalber ignoriert.

Mit einem unmerklichen Scheppern stellte auch Tenko seine Schüssel zurück auf den Tisch und warf ihr einen merkwürdigen Seitenblick zu. Seine Mine wurde ernst und verlor ihren spielerischen Zug.

Dem Mädchen wurde mit einem Mal sehr unwohl. Sie wusste nicht, was genau diesen plötzlichen Wandel ausgelöst hatte. Aber was auch immer es war, sie trug keine Schuld daran. Zumindest diesbezüglich konnte sie sich sicher sein.

"Bist du gekommen, um uns herauszufordern?", seine Stimme hatte einen beinahe geschäftlichen Unterton angenommen. Kühl und selbstsicher betrachtete er sie von der Seite. Der Eindruck eines gedrungenen, lustigen Mönchs war gänzlich abgefallen.

Das Mädchen registrierte das alles kaum. In ihrem Kopf kreiste lediglich das eine Wort, auf das er besondere Betonung gelegt hatte. Herausfordern?

Sie konnte sich darauf keinen Reim machen und sah ihn nur mit unverhohlener Überraschung an.

"Wie meinen Sie das?" Sie musste ganz sicher gehen, dass sie ihn auch richtig verstanden hatte. Vielleicht hatte sie sich ja nur verhört?

"Du bist offensichtlich eine Praktizierende, versuch' es nicht zu leugnen. Man sieht es jeder deiner Bewegungen an. Also wiederhole ich meine Frage erneut. Bist du gekommen, um uns herauszufordern?"

Praktizierende? Bewegungen? Meinte er wirklich ihre tapsigen Schritte? Sah der alte Greis tatsächlich dasselbe, was sie an diesem Körper wahrnahm?

Nein, dass konnte sie einfach nicht ernst nehmen. Der Alte war ja ganz nett, hatte aber einen ernsthaften Knall. Sie würde ihm einfach für das Essen danken und dann ihrer Wege gehen.

Nichtsdestotrotz konnte sie nicht der Versuchung widerstehen ein sarkastisches Grinsen spielen zu lassen. "Würden Sie mich ernsthaft als Herausforderung erwägen?"

Als seine Miene sich falls möglich noch erhärtete, überkam sie ein kalter Schauder. "Hey, kommen Sie, das war doch nur ein Spaß. Ich bin so wenig Praktizierende wie Sie einer sind." Um ihren Punkt zu unterstreichen, winkte sie mit der Hand ab und überprüfte sein Gesicht auf eine Regung. Der Mann konnte das alles doch schließlich nicht ernst nehmen, oder? Martial-Arts-Mönche, also mal ehrlich.

Seine Lippen bildeten einen weißen Strich. Seine Stimme war kalt wie Bergwasser.

"Es ist eine Sache unseren Ehrenkodex auszunutzen, um ins Innere unseres Tempels zu gelangen, eine weitere ist es, uns in unseren heiligen Hallen herauszufordern. Doch ich drückte beide Augen zu. Nun aber hast du es zu weit getrieben. Niemand beleidigt unsere Schule oder einen ihrer Praktizierenden - ich fordere dich also heraus."

Ihre Augen waren weit vor Schreck. Das konnte doch nicht sein Ernst sein? Ehrenkodex? Schule? Beleidigen?

"Oh-Oh." Anscheinend nahm der alte Mann vor ihr die Kampfkunst doch etwas ernster als sie vermutet hatte. Demnach hatte sie ihn nicht nur spöttisch herausgefordert, indem sie ihn fragte, ob sie ihm denn würdig wäre, - wodurch sie gewissermaßen seine Fähigkeiten kritisiert hatte - sondern hatte auch noch seine Schule und vor allem seine Fähigkeiten nicht nur wie bereits zuvor entwertet, sondern zusätzlich in Frage gestellt.

"Es tut mir leid. Ich wollte sie nicht beleidigen. Das war keine Absicht."

"Folge mir." Mit diesen beiden Worten erhob er sich vom Tisch und ging auf eine zweiflügelige Schiebetür zu. Er warf einen Blick über seine Schulter zurück.

"Komm' und zeige mir dein Können." Dann schritt er auch schon voraus.

Entsetzt beobachtete das Mädchen den Rücken des alten Mönchs. Er forderte sie heraus.

Eigentlich wäre diese Situation beinahe komisch gewesen, würde sie nicht im Moment Todesängste durchleben. Dies war etwas gänzlich anderes als die Beat'em-up-Games ihrer Kindheit und die Martial-Arts-Filme, die sie sich zu Chips und Cola zusammen mit ihren Freunden angesehen hatte. Das hier war Realität. Der Alte wollte tatsächlich kämpfen und meinte es ernst.

Ihre Beine waren weich wie Gummi als sie sich erhob. Sie wusste, jeden Moment würde sie umknicken und ihr Gleichgewicht verlieren. Es war völlig unmöglich, dass ihre Beine sie in diesem Zustand tragen konnten - sie taten es dennoch. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen und kleinen Schritten näherte sie sich der Tür. Die Tür führte nach draußen, in einen gepflegten Garten. Ziersträucher und Blumen wuchsen in prächtigen Farben und selbst das Gras schimmerte auf einheitlicher Höhe. Selbst ein kleiner Koi-Teich fehlte nicht, indem sie einige Zierkarpfen schwimmen sehen konnte. Seerosen wuchsen zudem auf der Teichoberfläche und strahlten in einem sanften Rosa und einem kräftigen Gelb. Seltsamerweise musste sie lächeln, - das denkbar schlechteste, was sie in einer solchen Situation tun konnte - als sie die gelbe Seerose betrachtete. Sobald sie sich Tenko nämlich zuwandte, funkelte sie dieser mit kalter Ruhe an.

"So stellt es also eine größere Herausforderung für dich dar, deine Augen von den Koi-Karpfen fortzureißen, als dich mir entgegen zu stellen? Beweise mir deine Überlegenheit." Tenko floss geradezu in seine Kampfstellung. Im einen Moment noch stand er aufrecht da, da zog er im nächsten Augenblick seinen linken Arm wie eine Schlange hoch, während seine rechte Hand wie ein halboffenes Löwenmaul neben seiner rechten Hüfte verharrte. Sein linkes Bein setzte er aggressiv vor, mit seinem Standbein rutschte er einen Schritt zurück. Er war bereit. Und er nahm sie de facto ernst.

Diese Situation jedoch ließ keinen Grund zu falschem Stolz. Wenn Tenko nur halb so professionell kämpfte wie er im Augenblick stand, würde ihr Geschlechtswechsel zu einem Mädchen bald ihre geringste Sorge sein.

"Kommen Sie, Tenko, bitte lassen Sie das. Nicht, dass jemand verletzt wird."

"Verhöhnst du mich auch noch? Beweise endlich, dass deine Worte nicht nur heiße Luft sind", forderte er das Mädchen vor sich heraus.

"Zum Teufel! Hören Sie mir zu, ich sage Ihnen doch, dass meine Worte nur heiße Luft sind. Jetzt beweisen sie doch bitte endlich einmal etwas Realitätssinn und kommen Sie zu Verstand! Lassen Sie den Quatsch!" Immer verzweifelter versuchte sie Tenko zu überzeugen. Es musste doch einen Weg geben dem sturen, alten Greis ins Gewissen zu reden. Irgendeine Möglichkeit musste doch bestehen.

"Bereite dich nun vor. Ich greife an." Und das tat er auch. Seine Füße huschten über das Gras wie die einer Wildkatze, während seine Arme förmlich hinter ihm herflatterten.

Dann schoss seine rechte Hand wie ein Schlangenkopf auf sie zu. Das Mädchen konnte die angespannten Sehnen unter seiner Haut beobachten, wie sich der Bizeps zusehends verkrampfte, der weite Ärmel im Wind flatterte und seine Handkante wie eine Axt vorschnellte.

Eine harte Lektion

Sie war von Kopf bis Fuß erstarrt. Alles was sie mitbekam, war wie sich ihr die Hand näherte. Die Zeit schien so dick wie Sirup zu fließen. Nur noch wenige Zentimeter trennten die Hand ihres Widersachers von ihrem Gesicht. Mit erschreckender Intensität wurde ihr etwas klar.

Er würde sie treffen und wenn er sie traf, würde das fatale Folgen für sie haben. Der Hieb würde ihr den Wangenknochen brechen, mindestens aber ihr Gesicht entstellen. Seine Handkante würde ihre Haut wie Papier durchschneiden und alleine von der Wucht des Treffers würde sie meterweit zurückgeschleudert werden.

Wenn sie aber Pech hatte, dann konnte sie dieser eine Angriff umbringen. Die Energie, die Tenko in seinen Angriff gelegt hatte, würde sich auf ihren Kopf übertragen und sich das schwächste Glied in der Kette suchen. Hierfür würde die Energie an ihrer Wange entlang über ihr Kinn zu ihrem Hals wandern. Ihr Genick würde brechen wie Spanholz.

Und plötzlich war er wieder da. Dieser selbstgerechte Zorn, der sie schon gestern vor dem Tempeltor befallen hatte. Diese Wut, die darauf bestand, das elende Tor einzutreten und ähnliches mit den Gesäßen der Mönche anzustellen. Die kleine Flamme züngelte in ihr, bereit zu einem Inferno binnen kürzester Zeit zu avancieren. Es war ein unglaubliches Gefühl, dieses Brennen zu verspüren. Noch nie hatte sie eine solche Energie in sich gespürt. Diese Energie war ihr Leben, das fortbestehen wollte. Es weigerte sich vehement aufzugeben und kribbelte wie eine Armee aus Ameisen in ihr. Abermals spürte sie einen Impuls. Der Impuls war so heftig, dass sie ihm nicht hätte widerstehen können, selbst wenn sie dies vorgehabt hätte.

Sie reagierte.

Mit einem schnellen Ausfallschritt und einer starken Neigung ihres Kopfes wich sie der Handkante um wenige Millimeter aus. Der scharfe Wind, der durch die verdrängte Luft entstand, peitschte ihr brutal ins Gesicht und ließ ihr Haar wild flattern.
 

...
 

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Mysterium
 

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Kapitel 3 - Eine harte Lektion
 

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Der Autor besitzt keine Rechte in den Charakteren und wird auch nicht für diese Tätigkeit bezahlt. Er versichert hiermit, dass er diese Geschichte lediglich zu seinem persönlichen Vergnügen und dem der Leser verfasst hat.
 

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...
 

Eine merkwürdige Befriedigung durchlief ihren Körper. Fast fühlte es sich so an, als würde sie nach einem anstrengenden Dauerlauf in einen Swimming-Pool eintauchen. Es war reine Euphorie und das, was man im Allgemeinen einen Adrenalin-Rush nannte.

Dann war die Empfindung so rasch vorbei wie sie eingesetzt hatte und hinterließ nur ein seltsames Kribbeln. Ein frenetisches Kribbeln, das ihren linken Arm wie ein Stromschlag entlang sauste. Was zurückblieb, war ein Gefühl wie eingeschlafene Füße, dass sich in ihrem Arm breit machte. Es gab allerdings einen bedeutenden Unterschied, der ihr sogleich im nächsten Moment offenbart wurde.

Ihr Arm fühlte sich nicht taub an, sondern vitaler denn je. Er pulsierte geradezu vor Kraft. Ehe ihr Blick auch nur zu ihrem Arm wandern - und sie dadurch vom Kampf ablenken - hätte können, schoss abermals ein Impuls durch ihre Nervenbahnen hindurch. Wie ein Blitz schnappte ihr Arm vor. Ihre Hand - schmächtig und schwach gebräunt - quetschte im nächsten Augenblick bereits Tenkos Handgelenk. Mit maßlosem Erstaunen wie Entsetzen bemerkte sie, wie die schlanken Finger das Blut aus Tenkos Hand pressten und diese augenblicklich blässer wurde.

Im Gesicht des Mönchs spiegelte sich dieses Erstaunen jedoch nicht. Dafür lag auf diesem ein zutiefst berechnender Ausdruck. Er war nicht erstaunt - er hatte damit gerechnet.

Ihre Vermutung bewahrheitete sich einen Augenblick später und zwar als sich das Knie des Mönchs in ihrem Bauch vergrub. Heiß und schmerzhaft stieß sie einen Luftschwall aus. Der Schmerz war für den Zeitraum eines Wimpernschlages geradezu qualvoll. Sterne schossen ihr durchs Blickfeld und ein Gefühl der Übelkeit explodierte in ihr. Sie würde umkippen, darin war sie sich sicher. Gleich würden ihre Knie nachgeben und sie würde zu Boden gehen. Aber vielleicht konnte sie ja auch so diesem Wahnsinn entgehen? Da geschah etwas Unerwartetes. Der Schmerz, der zuvor noch so unerträglich gewesen war, verblasste abrupt zu kaum mehr als einem dumpfen Pochen und selbst das begann unmittelbar zu verblassen.

Die fassungslose Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sicher war sie als kleiner Junge häufig hingefallen, so wie jedes Kind es beim Fangenspiel einmal tat. Mit aufgekratzten Wunden war sie dann weinend zu ihrer Mutter gerannt. Diese hatte den kleinen Jungen lediglich angelächelt, auf die Wunde gepustet und ein Pflaster darüber geklebt. Beim Pusten handelte es sich zwar nur um einen psychologischen Trick, funktionieren tat er aber nichtsdestotrotz. Nun jedoch schien es ihr, als wäre ein Orkan über den schweren Treffer gezogen - denn so rasch klangen unmöglich derart gewaltige Schmerzen ab.

Wie konnte das sein?

Erneut zuckte greller Schmerz auf und sie torkelte getroffen rückwärts. Gerade noch rechtzeitig nahm sie die Hand von unten wahr - abermals kribbelte es in ihrem Arm. Schneller als es möglich wäre, prallte ihr Ellbogen in die Handfläche und ein zweites Kribbeln meldete sich in ihrem anderen Arm. Ohne darüber nachzudenken, schnellte der Arm hoch und blockte die Attacke der anderen Hand. Ein schwaches Brennen zuckte über den Arm, da wurde dieser erneut von einem Impuls erfasst.

Inzwischen reagierte sie nur noch. Jede Bewegung war kaum mehr als ein Reflex - zu schnell und unmittelbar, als dass sie selbst folgen konnte. Schlag wechselte sich mit Block und Konter ab. Das Kribbeln in ihrem Körper hüpfte stetig schneller durch ihre Nerven.

Impuls jagte Impuls.

Einen besonders heftigen Tritt ließ sie über ihren Kopf hinwegsausen und trat Tenko ihrerseits das verbliebene Bein weg. Geschickt rollte sich der Mönch zur Seite und sprang sofort wieder auf - sein Gewand wehte dabei wie eine Briese hinterher.

Ihr Atem ging schnell und spülte heiß über ihre Lippen. Die Muskelstränge in ihren Armen begannen schon zu stechen und ließen sich zunehmend schwerer mobilisieren. Ihre Kräfte fingen an nachzulassen und ihr Körper erhitzte zusehends mehr. Schweiß sammelte sich bereits an mehreren Stellen ihres Körpers - einschließlich unterhalb ihrer zwei neuen Zugaben - und ihre Haut begann zu jucken.

Lange würde sie nicht mehr durchhalten können. Das Stakkato von Schlägen ermüdete sie mit jedem Block und Ausweichmanöver, das sie ausführte. Einzig ihr Gesicht blieb größtenteils schweißfrei - bis auf ein paar Tröpfchen an ihren Wangen. Ihre Augen blieben jedoch scharf und fokussiert, auch wenn ihr Haar immer wieder knapp unter ihren Augenbrauen schwankte und tanzte.

Ihr Kontrahent zeigte keine Anzeichen von Erschöpfung. Er wirkte noch immer vergleichsweise fit und griff sie mit vielen kleinen Bewegungen an. Seine Strategie zielte darauf ab, ihre Kondition soweit zu senken, dass sie begann müde zu werden und Fehler zu machen. Wie es schien ging sein Plan auf.

Immer häufiger reagierte sie zu spät auf das einsetzende Kribbeln und steckte als Konsequenz harte Treffer ein. Und während ihre Schmerzen sich zwar rasch abschwächten, beanspruchte diese nützliche Eigenschaft zusehends mehr Energie. Sie wurde schwächer und schwächer - sie würde verlieren.

Und wenn schon? Solange sie halbwegs unbeschadet aus diesem Kampf herausging, sollte ihr das Recht sein. Dennoch wehrte sich ihr Körper instinktiv gegen diese Einsicht. Fast fanatisch trieb sie das Kribbeln in ihrem Körper an. Ohne Unterlass wies es sie an, steuerte ihre Reaktionen.

Dazu gesellte sich alsbald eine makabere Ruhe. Eine Ruhe, die ihre Schmerzen noch weiter dämpfte. Ihr Körper würde alles daran setzten, bis zur völligen Erschöpfung zu kämpfen. Er würde sie nicht aufgeben lassen und allmählich kehrte auch so etwas wie ein Kampfgeist in sie ein.

Vielleicht konnte sie ja tatsächlich siegen? Und wieso erlaubte sie diesem Irren eigentlich auf sie einzuprügeln? Verfügte sie damit nicht etwa auch über das Recht, ihm die Leviten zu lesen? Mit einem Mal vollführten ihre Gedankengänge eine 180-Grad-Wendung.

Sie würde nicht verlieren. Sie durfte nicht verlieren.

Das Flüstern ihres Kampfgeistes verhärtete sich zum drängenden Raunen. Ein Raunen, das unablässig fortklang und sie anfeuerte.

Mit zusammengebissenen Zähnen konterte sie Schlag um Schlag. Seine Tritte trafen nur Luft oder ihre Knie. Der Schmerz wurde zunehmend bedeutungsloser und erreichte erst gar nicht mehr ihr aktives Bewusstsein. Das Feuer in ihr flackerte zornig auf und mit jedem Aufflackern steigerte sich die Lautstärke ihres Kampfgeistes.

Sie würde gewinnen. Sie musste einfach gewinnen.

Im Kampf vollzog sich ein langsamer Wandel. Das Mädchen vernachlässigte zusehends ihre Deckung zugunsten ihrer Offensive. Tenko nahm diese Veränderung mit einem passiven Gesichtsausdruck auf - seine Gefühle blieben unlesbar. Kontinuierlich ließ er ihre Schläge an seinen Armen abgleiten, wodurch sie am wenigsten Schaden anrichten konnten oder wich ihnen gewandt aus. Trotzdem kämpfte sie ihn Stück für Stück zurück.

Das Blatt wendete sich. Das war alles, was sie registrierte. Mehr Zeit blieb ihr nicht zum Denken, zu beschäftigt war sie damit auszuteilen und anzugreifen.

Jede Öffnung nutzte sie aus und wenn es kein Loch in Tenkos Verteidigung gab, versuchte sie einfach auf besagte Verteidigung einzuprügeln. Sie wurde zum regelrechten Berserker.

Schlag, Schlag, härter, härter. Ihre Augen konzentrierten sich nur mehr auf ihr Ziel, verfolgten jede Aktion aufmerksam, um entsprechend darauf zu reagieren - ein Tunnelblick stellte sich ein.

Einen Konter schlug sie brutal zur Seite und hieb auf das Gesicht des Mönchs ein, nur um dieses knapp zu verfehlen. Auch dem nachfolgenden Haken entging Tenko durch geschicktes Ausweichen. Ihre Attacken wurden immer rasender und heftiger und zwar solange, bis sie den Mönch mit dem Rücken gegen einen Baum getrieben hatte.

Der Baum war eine prachtvolle Erscheinung, obwohl nur noch wenige Blätter im Astwerk hingen.

Das Mädchen verlor keinen Gedanken an den Baum, denn für sie gab es wichtigeres. Etwa ihren Kontrahenten zu treffen. Und als sie ihn gegen den Baum genagelt hatte, witterte sie ihre Chance. Ein unschönes Grinsen legte sich auf ihre Lippen. Das schwache Stechen auf ihrer Unterlippe registrierte sie überhaupt nicht. Triumphal brüllte die Stimme in ihrem Kopf auf und sie realisierte ohne sonderliches Erstaunen, dass es sich dabei um ihre eigene Stimme handelte.

Dann ergriff sie ihre Chance und schlug mit einem wilden Kampfschrei zu. Ihre gesamte Kraft konzentrierte sich in diesem einen Schlag. Ihre Faust krachte mit einem tiefen Dröhnen gegen ihr Ziel.

Ein breites Lächeln bildete sich auf ihren Lippen, ihr Haar fegte wie ihre Kleidung hinterher und ein Zittern durchlief ihren Ober- und Unterarm gleichzeitig. Dann fiel das Lächeln innerhalb von Sekundenbruchteilen ab.

Sie hatte ihr Ziel verfehlt. Mit einem lauten Knacken zersprengte die Baumrinde in alle Richtungen und ein Löwenanteil des nackten Stammes explodierte wie eine reife Kokosnuss unter der Wucht eines Vorschlaghammers. Holzspäne flogen ihr um den Kopf und ein Schwall von Harzgeruch wehte ihr entgegen. Schützend hielt sich den zweiten Arm vor die Augen und stolperte hastig zurück.

Wo war er?

Hektisch sah sie sich im Garten um. Ziellos schossen ihre Augen über den Teich und die wilden Blumenbeete hinweg. Augenscheinlich hatte sich Tenko in Luft aufgelöst - er war unauffindbar. Ein Anflug von Panik beschlich sie, als sie wie wild um die eigene Achse wirbelte.

Ein unmerkliches Rascheln aus der Baumkrone über ihr war die einzige Warnung, die sie erhielt. Augenblicklich schleuderte sie ihren Körper herum, sodass ihr T-Shirt nur so flatterte und ihr die Strähnen ins Gesicht peitschten. Die Arme zog sie reflexartig vors Gesicht. Trotzdem traf sie der Doppeltritt fatal und unvermittelt. Zwar hatte sie ihr Gesicht geschützt, dabei jedoch die Verteidigung ihres Rumpfes vernachlässigt. Als Konsequenz bekam sie Tenkos Füße zu spüren, die sich ihr hart in den Magen gruben. Sämtliche Luft entwich ihr - im wörtlichen Sinne - mit einem Schlag und sie wurde von dem Drall wie eine Stoffpuppe durch die Luft katapultiert. Der Schmerz war so intensiv, dass sie eine Spur aus Tränen hinter sich herzog. Ihre Augenlider waren krampfhaft zusammengekniffen und in ihrem Bauch brannte Feuer - ein toxisches Gemisch aus Zorn und Schmerz.

Wie betäubt schlug sie auf der Wiese auf - dreieinhalb Meter von ihrer Ausgangsposition entfernt. Vor Qual gekrümmt und zuckend, hustete sie blutgetränkten Speichel hervor. Diesmal ließ ihr Körper sie im Stich. Zu häufig und extrem waren die Misshandlungen, die er hatte erdulden müssen. Jede winzige Rührung schoss spitze Nadeln durch ihr Nervensystem. Kaum merklich huschte die Luft durch ihre blutbesprenkelten Lippen und tat ihr in Mund und Hals weh. Die Welt verblasste hinter einem Schleier aus Tränen, dem Pochen ihrer protestierenden Muskeln und dem Eisengeschmack von Blut auf ihrer Zunge. Es fiel ihr schwer auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Der Schmerz machte jede Klarheit zunichte – und trotzdem nagte sich eine Erkenntnis zu ihrem Bewusstsein vor. Es war die Erkenntnis über ihre eigene Niederlage und damit verbunden, machte sich die bisher unbekannte Empfindung der Scham über sie her. Ein alles verzehrendes Gefühl, das einen wünschen ließ, durch die Hände des Kontrahenten umgekommen zu sein.

Sie hatte verloren, weil sie ihren Gegner unterschätzt und sich selbst überschätzt hatte. Ihre Überzeugung, dass sie gewinnen würde, hatte sie gegenüber den außergewöhnlichen Fähigkeiten Tenkos geblendet.

So unwirklich es auch klingen mochte, war der Mönch dennoch mindestens zwei Meter in die Höhe gesprungen, um ihrer Attacke auszuweichen. Dann musste er sich an einem der kahlen Äste festgehalten haben. Während sie sich nach ihm umblickte, hatte er die Gunst des Augenblicks ergriffen und sie aus der Luft angegriffen - nicht jedoch, ohne ihr zumindest eine kleine Warnung zukommen zu lassen. Wie ein Falke war er daraufhin auf sie herabgestürzt und hatte auf diese Weise den Effekt seines Doppeltrittes erheblich verstärkt. Er hatte die Schwerkraft nämlich für sich arbeiten lassen. Denn als er herabstürzte, beschleunigte ihn die Gravitation und verlieh seiner Attacke zusätzlich dazu die Wucht seines Körpergewichts.

Mit einem Stechen in ihrem Herzen, das sie als Wut identifizierte, begriff sie, dass Tenko mit ihr gespielt hatte. Durchaus konnte dieser Gedanke übertrieben sein, - schließlich entstammte er ihrer Verbitterung über die erlittene Niederlage - aber inwieweit er tatsächlich der Wahrheit entsprach, war ihr zu diesem Zeitpunkt eigentlich verdammt egal.

Ihr Zorn erreichte neue Höhen. Zorn auf sich selbst, auf ihr Schicksal, auf diesen alten Mönch, ihr neues Geschlecht und die Schmerzen, die sie durchlebte. Vor Wut begann ihr Körper zu erbeben. Sie würde diesen alten Knacker nicht damit davon kommen lassen. Ihm würde das Lachen schon bald vergehen. Mit knirschenden Zähnen begann sie sich trotz der Schmerzen von der Wiese abzudrücken.

Derweil hatte Tenko abgewartet. Ihm waren einige Schulen geläufig, deren Taktik darauf hinauslief, ihren Kontrahenten im Glauben des Sieges zu lassen und dann heimtückisch anzugreifen. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, dass dieses Mädchen in den nächsten Tagen überhaupt schmerzfrei würde atmen, geschweige denn aufstehen können. Er hatte also gewonnen. Einen anderen Ausgang des Kampfes hatte er sich allerdings auch nicht erwartet. Trotzdem musste er diesem Mädchen ihre beachtenswerte Ausdauer zugute halten. Ihm waren nicht viele Praktizierende der Kunst begegnet, die auch nur einen Bruchteil der Treffer hätten einstecken und danach weiterkämpfen können. Sie musste wirklich über eine rigide Selbstdisziplin verfügen, um ihren Körper solche Schmerzen ertragen lassen zu können. Sie hatte durchaus Potential.

Hätte sie einfach gefragt, wäre sie vielleicht sogar unterwiesen worden. Mit diesem Gedanken wandte er sich von ihr ab. Normalerweise war es nicht seine Art einem Gegner den Rücken zuzudrehen, da einige Clans wie bereits vorab erläutert zur Verwendung reichlich unehrenhafter Techniken neigten. Wenn er da nur an diesen korpulenten Typen und dessen Sohn dachte, stellten sich ihm bereits alle Haare auf. Ein Yen-Schein auf dem Boden und der Dicke hatte wirklich geglaubt, dass er darauf reinfallen würde? Hoffentlich entwickelte sich sein Sohn nicht auch zu einem solchen Schwachkopf.

Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort. Immerhin musste er sich bei dem Mädchen darüber keine Sorgen machen. Selbst, wenn ihr solche Techniken geläufig waren, würde ihr das in ihrer jetzigen Lage kaum helfen. Niemand stand nach einer solchen Attacke wieder auf. Dieser Tritt hätte einen Baum gefällt. Vielleicht sollte er einen der Mönche schicken, um sich um das junge Mädchen zu kümmern.

"Da habe ich wohl einmal wieder übertrieben. Ich und mein Temperament." Mit einem Seufzen schüttelte er den Kopf und kratzte sich das Kinn.

"Bleib' da."

Unvermittelt erstarrte er in seinem Vorwärtsmomentum. Er musste sich verhört haben, es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass das Mädchen überhaupt noch sprechen konnte. Es war völlig unmöglich, dass sie noch bei Bewusstsein war. Die Stärke der Schmerzen hätte ihren Verstand schon längst benebeln müssen.

"Ich bin noch nicht mit dir fertig." Das Röcheln schnitt durch seine Zweifel wie eine Klinge. Ungläubig drehte er sich um und dachte gar nicht daran, das Erstaunen aus seinem Gesicht zu verbannen.

Das Mädchen kniete - so unglaublich es auch klang - auf der Wiese. Schwer keuchend stützte sie sich auf ihre zitternden Hände und hob langsam den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. Erst jetzt im Nachhinein entdeckte Tenko die Spuren seiner Angriffe an ihrem Körper. Mehrere blutende Schnitte verliefen unterhalb ihres T-Shirts und zeichneten sich durch tiefrote Spuren auf diesem ab. Kratzer und Schmutz zogen sich über ihr Gesicht und dekorierten beide Arme. Ihr Haar hing strähnig und schweißnass in ihr Gesicht. Das Stirnband war ihr im Verlauf des Kampfes herabgerutscht und saß nun knapp über ihren Augenbrauen.

Besagtes Stirnband war ihm das erste Mal aufgefallen, als sie beide zusammen gesessen und gegessen hatten. Als sich das Mädchen vorgebeugt hatte, um sich zu ein paar Fleischstücken zu verhelfen, hatte der Stoff dunkel hervorgeschimmert. Es war ein gewöhnlicher schwarzer Leinenstreifen, der bei eingehender Betrachtung mehrere gelbe Sprenkelungen aufwies und an ihrem Hinterkopf fest verknotet war. Es diente wohl dazu ihr den Schweiß aus den Augen zu halten - eine Aufgabe, der es nur noch unzufriedenstellend nachkam.

Das Mädchen blickte Tenko unter Aufbietung all ihrer Kräfte ins Gesicht. Er war vielleicht acht, höchstens aber zehn Meter von ihr entfernt. Sie war zu wütend, um sich darüber zu wundern, dass er tatsächlich stehen geblieben war. Was für sie zählte war, dass er stehen geblieben war. Es war qualvoll auch nur daran zu denken, aufzustehen. Ihr gesunder Menschenverstand riet ihr davon ab, doch schob sie dessen Argumente ärgerlich beiseite. Sie wusste schließlich selbst, wie schwer sie verletzt war.

Mit einem gellenden Schmerzensschrei begann sie sich aufzurichten. Ihre Wirbelsäule knackte widerspenstig und ihre Knie protestierten unter den Schmerzen. Ihre Arme waren wie Blei und dennoch zog sie diese – entgegen dem Bedürfnis ihres Körpers nach Ruhe – auf Augenhöhe zu einer Grundform des klassischen Boxens zusammen. Beide Fäuste zitterten vor ihrem zerschundenen Gesicht, bereit das Letzte zu geben. Sie bezweifelte, dass sie die Anstrengung lange durchstehen würde. Vielleicht drei Minuten, allerhöchstens vier blieben ihr, bis sie zusammenbrechen würde. Das hieß jetzt oder nie.

Die kleine Flamme flackerte erneut in ihr auf. Sie konzentrierte sich auf die Schmach der Niederlage. Sie rekapitulierte ihre Entführung in diese Welt. Sie durchlebte nochmals ihre Odyssee durch die Straßen dieser Stadt. Ihr Zorn nährte sich zu einer Flamme und erfüllte sie mit Wärme. Sie war bereit.

Tenko beobachte das alles stumm. Dieses Mädchen musste völlig wahnsinnig sein. Nach einem solchen Angriff nochmals aufzustehen, war einfach nur irre, wenn auch tapfer. Jedoch grenzte es an Selbstmord, sich in diesem Zustand nochmals zum Kampf zu stellen. Trotzdem musste er die Kleine bewundern und es war hart, seine Bewunderung zu ernten. Zwar behandelte er alle seine Schüler gütig und schon beinahe väterlich, doch vermisste er in ihnen den Eifer, der einst ihn zum Kämpfen getrieben hatte. Beim Kämpfen ging es nicht darum, besonders einfallsreich Angriffe zu parieren oder hübsche Tricks vorzuführen. Das war nicht der Kern der Kampfkunst.

Der wahre Kampf fand auf drei Ebenen statt. Die erste stellte den Kampf gegen das Selbst dar, die Bezwingung der Furcht. Die zweite war der Kampf gegen die Überwindung, der Wille seinen Gegner anzugreifen. Erst bei der dritten handelte es sich um den tatsächlichen Kampf gegen den fleischlichen Gegner.

Dieses Mädchen war die Manifestation dieser drei Prinzipien und erfüllte ihn auf seltsame Art und Weise mit Stolz. Egal wie der Kampf auch ausging, er hatte sich für Tenko vollauf gelohnt. Wie häufig erhielt man schon die Möglichkeit der Schönheit des Kampfes so lebensnah beiwohnen zu dürfen?

Sie spannte ihre Beinmuskulatur an. Es sah nicht so aus, als würde sie der Mönch angreifen. Er wartete stattdessen. Worauf? Das sie den ersten Schritt machte?

"Das kannst du haben", keuchte sie hervor.

Wie viel Energie blieb ihr? Genug für einen Schlag? Vielleicht sogar zwei?

Es war egal wie viele Schläge sie auch brauchen würde. Sie würde es schaffen.

Entschlossen setzte sie einen Fuß vor, fühlte den Schmerz als langen Stachel in ihr Fleisch stechen und folgte mit dem zweiten Fuß nach. Die Schmerzen waren unerträglich - sie würde es nicht schaffen.

Und dann fiel sie kreischend zu Boden. Hochkonzentrierter Schmerz jagte ihr durch den Verstand und löschte alle Gedanken aus. Tränen schossen ihr aus den Augenwinkeln und irgendetwas Spitzes bohrte sich in ihre Unterlippe, bis der Geschmack von Blut aufs Neue ihren Mund flutete.

Tenko sah dem Schauspiel erschrocken zu. Was auch immer da los war, klang ernst. Diesmal hatte er es übertrieben. Möglicherweise hatte er durch seinen Doppeltritt eines ihrer inneren Organe zum Platzen gebracht. Eilig sprintete er auf das Mädchen zu. Er war zwar kein Arzt, hatte in seiner Jugend jedoch von einem Chiropraktiker einige Kniffe gelernt. Er hoffte nur, dass ihm dieses rudimentäre Wissen helfen würde.

Wenn er sich das Mädchen jetzt so ansah, konnte er nicht glauben, dass er sie fast wie einen ebenbürtigen Gegner behandelt hatte. Hatte er sich so stark getäuscht, sie so falsch eingeschätzt? Alle ihre Bewegungen hatten eine versteckte Grazie besessen, die sich erst nach vielen Jahren intensiven Trainings bei dem Praktizierenden herausbildete. Feine Muskelstränge waren unterhalb ihrer Haut verlaufen, davon hatte er sich selbst überzeugen können, als er sie in der gestrigen Nacht aus ihrer nassen Kleidung schälte. Das Mädchen war völlig durchfroren gewesen, ihre Kleidung eiskalt. Alleine ihre rasche Genesung verwies auf ein konditioniertes und trainiertes Immunsystem. Kein normaler Mensch wäre bereits am nächsten Tag gesund und munter aus dem Bett gekrochen.

Plötzlich endete der Schrei einfach.

Alarmiert und zutiefst beunruhigt wollte er schon beschleunigen, als er mit einem Ruck stehen blieb. Sein Gefahrensinn schlug an. Entgeistert starrte er das Mädchen an, das wenige Schritte vor ihm auf dem Untergrund kniete. Ein kalter Schauer gesellte sich zu der üblen Vorahnung und ließ ihn unmerklich frösteln.

Der Mönch hatte vor Jahren gelernt, auf seinen Gefahrensinn zu hören. Häufig war es nur dieser latente Sinn, der ihm um ein Haar das Leben gerettet und dazu beigetragen hatte, dass er so alt werden konnte. Deswegen entfernte er sich wieder ganz langsam von ihr. Sein Gewissen, das ihn anherrschte, dass er dem Mädchen helfen müsse, unterdrückte er.

Wie ging dieser Spruch noch einmal? Eine gute Tat bleibt nie ungestraft?

Ein leichter Windzug huschte über die Wiese und blies ihr ins Gesicht. Ihre Augen waren weit geöffnet, ihre Miene erstarrt. Sie verstand nicht, was soeben passiert war.

Im einen Moment fühlte es sich so an, als würde ihr Kopf in zwei Teile gerissen, im nächsten zuckte ein Schemen durch ihr Blickfeld. Ein schwarzer Schatten, der sich im rasenden Tempo bewegte. Sie war sich sicher, dass es nur ein Irrspiel ihrer Vorstellung gewesen war. Aber was war es? Was sollte ihr dieses Bild sagen?

Sie fixierte ihren Blick wieder auf dem Mönch vor ihr. Wie es den Anschein hatte, war er vorhin näher gekommen. Jetzt allerdings bewegte er sich von ihr fort und starrte sie dabei seltsam an. War das Misstrauen in seinem Blick? Vorsicht?

Dann begann es in ihrer Hand zu kribbeln. Diesmal war der Impuls ungleich stärker als alle zuvor. Es war mehr als ein Reflex. Es war ein Befehl ihres Körpers. Ein Befehl, dem sie sich nicht widersetzen konnte, noch wollte.

Entschlossen wanderte ihre Hand zu ihrem Hinterkopf und fuhr durch ihr Haar, bis sie plötzlich hängen blieb. Sie ertastete feuchten Stoff. Ihre Finger glitten am Gewebe entlang, bis sie zu einem Knoten gelangte. Mit einer geschickten Bewegung ihres Zeigefingers löste sich der Stoffstreifen und sie führte ihn sich vor Augen. Die ganze Zeit hatte sie ihn getragen und nicht einmal gespürt. Das Kribbeln schoss ihr wie ein Stromschlag durch die Finger und ihr Blick wanderte zu Tenko, der sie abschätzend sondierte. Er versuchte anscheinend ruhig zu wirken, doch merkte sie ihm die Anspannung deutlich an. Er spürte etwas.

Nicht ohne Erstaunen begriff sie, dass sie es war, die er spüren konnte. Irgendwie erspürte er sogar das Kribbeln in ihrem Körper oder vielleicht ahnte er etwas? Als sie seinem Blick folgte, fiel ihrer auf das Stirnband in ihrer rechten Hand. Konnte es sein, dass die Vorsicht des Mönchs daher rührte? Aber warum sollte er sich vor einem Fetzen Stoff in Acht nehmen? Es war doch schließlich nicht so, als könnte sie ihm damit ernsthaften Schaden zufügen.

Ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie, als sie das Stück Stoff in ihrer Hand musterte. Kurz flackerte das undeutliche Bild nochmals grell und stechend vor ihrem inneren Auge auf und ließ sie heftig zusammenfahren - ein schwarzer Schemen.

Ungläubig besah sie sich das Stirnband. Das konnte einfach nicht wahr sein. Sie musste sich irren. Das war einfach nur absurd. Völlig unmöglich.

Das Kribbeln ließ ihre Finger zucken.

"Warum denn eigentlich nicht." Ihre Augen hefteten sich auf ihren Kontrahenten, als sie sich schmerzvoll aufrichtete. Die Muskeln stöhnten und ihr war unglaublich heiß, aber die Schmerzen waren bereits erheblich zurückgegangen - fast erträglich geworden. Jetzt konnte das Spiel beginnen.

Tenko hatte sich beständig distanziert. Irgendetwas ging da vor sich. Er war nicht dumm genug, auf das Mädchen zuzustürmen, wenn sein Gefahrensinn sich mit alarmierender Heftigkeit zu Wort meldete. Ein jüngerer Kämpfer wäre sicherlich vorgeprescht in dem festen Glauben, dass er den anderen Kämpfer rechtzeitig KO schlagen könnte. Tenko war über diese Denkart hinaus.

Gewiss konnte es verheerende Folgen haben, einen Gegner eine bestimmte Technik ausführen zu lassen. Man konnte jedoch noch weitaus verheerendere Fehler begehen. Etwa in unmittelbarer Nähe des Gegners zu sein, der besagte Technik auf einen anwendete. Aus diesem Grund wartete Tenko ab, während er zugleich eine immer größere Entfernung zwischen sich und das Mädchen brachte. Egal, als was sich diese Attacke auch herausstellen sollte, es schadete nie, genügend Platz und Zeit zum Manövrieren zu besitzen, musste man ausweichen. Und irgendwie beschlich ihn die Vorahnung, dass ein Ausweichen seine Überlebenschancen beträchtlich erhöhen würde.

Das Mädchen stand nun. Sie hatte es tatsächlich geschafft sich aufzurichten und stand erstaunlich sicher. Dafür, dass ihre Schmerzen sie eigentlich schon längst überwältigt hätten sollen, wirkte sie sogar recht vital.

Mit Verwunderung beobachtete er wie sie damit begann, ihr Stirnband in langsamen Bahnen zu drehen. Immer wieder wirbelte sie es durch die Luft, wodurch das Stirnband rapide an Geschwindigkeit gewann und unlängst zu einem schwarzen Schemen wurde. Ein leises Surren hallte zu ihm herüber. Ein Surren, das stetig lauter wurde.

Und mit einem Mal kam ihm eine morbide Erkenntnis.

"Sie will es werfen."

Das Surren erfüllte die Luft um sie herum wie das Geräusch tausender Wespen. Trotzdem war das Geräusch in keiner Weise unangenehm. Wenn überhaupt erfüllte es sie mit einer unerklärlichen Vorfreude. Trotzdem konnte auch dieser seltsame Gefühlsausbruch nichts daran ändern, dass sie sich lächerlich vorkam. Was erwartete sie? Dass das Stirnband wie ein gottverdammter Wurfstern auf den Mönch zusauste? Doch so absurd wie dieser Gedanke auch klingen mochte, ließ er sich nicht aus ihrem Bewusstsein drängen. Fast so als wollte er ihr damit sagen: Probier's doch aus.

Aus dem Augenwinkel warf sie einen Blick auf den schwarzen Schemen über ihrer Hand. Der Stoffzipfel zwischen ihrem Zeigefinger und Daumen war noch immer so weich wie er es auch zuvor gewesen war. Wahrscheinlich hätte sie diesen Angriff, wenn man ihn denn so nennen konnte, längst abgebrochen, wäre das Kribbeln nicht so außerordentlich heftig gewesen. Aber was zum Teufel erwartete sie denn? Sie war schließlich kein Ryoga Hibiki. Ein scharfer Stich in ihrer Schläfe zwang sie dazu kurz die Augen zuzukneifen. Als sie sie wieder öffnete, stand der Mönch noch immer auf neun bis zehn Metern Entfernung zu ihr.

Dann ließ sie einfach los.

Das Bandana schoss aus ihrer Hand wie ein Jagdvogel aus den Wolken. Fassungslos verfolgte sie den schwarzen Schemen, der beinahe spielerisch über die Wiese hinwegraste. Grashalme, die etwas höher als ihre Artgenossen lagen, wurden kurzerhand gekappt. Unerbittlich jagte das Bandana auf Tenko zu und ließ eine Spur aus schwankenden Gräsern zurück.

Für einen Augenblick konnte Tenko das auf ihn zurasende Stirnband nur dümmlich anstarren. Ihm waren viele verschiedene Techniken aus den unterschiedlichsten Schulen bekannt. Er hatte Meister der Martial-Arts-Teezeremonie dabei beobachtet wie sie sich mit ihren Zehen an einer Zimmerdecke festhielten und Praktizierende einer angeblich schwarzen Gattung chinesischer Magie verdammt echte Waffen aus der Luft hervorzaubern sehen.

Eine Schule, die allerdings ihre Kleidung zu Waffen umfunktionierte war ihm neu. Als er jedoch mit ansah mit welcher ungemeinen Leichtigkeit das Bandana den Rasen durchschnitt, fasste er sich wieder. Einen Fehler konnte er sich nicht erlauben. Anscheinend hatte er die Kleine doch nicht unterschätzt. Aber wer hätte auch ahnen können, dass sie Zugriff auf höhere Techniken besaß?

Der Begriff höhere Techniken fiel nur relativ selten und wurde vornehmlich von Meistern wie ihm verwandt. Er umschrieb spezielle Manöver, die entweder ungewöhnliches Geschick oder die Meisterung der körpereigenen Energie voraussetzen. Ihre Anwendung beschränkte sich weitgehend auf den Einsatz im Kampf, doch war es nicht weiter ungewöhnlich, wenn man Abwandlungen der ursprünglichen Technik im normalen Leben antraf. So soll eine Technik der geheimnisumwobenen, chinesischen Amazonen sogar Felsen gezielt explodieren lassen - ein unschätzbarer Vorteil für Bergarbeiter.

Wie es den Anschein hatte, handelte es sich bei dieser Technik allerdings um eine Kombination aus Geschicklichkeit sowie Chi-Manipulation. Ein cleveres Prinzip, durch das man verhindern konnte, dass einem der Gegner zu schnell auf die Schliche kam. So war es eine Sache, ob man seine Lebensenergie in ein lebloses Objekt leiten konnte, eine andere dieses Objekt zur Waffe umzufunktionieren.

"Cleveres Mädchen." Der Mönch gestattete sich ein anerkennendes Lächeln; seine Augen verließen den heranwirbelnden Schemen jedoch nie. Ungestüm schoss das Bandana heran, geradewegs auf ihn zu und während es näher kam, gewann es zunehmend an Höhe.

Als es nur mehr wenige Schritte entfernt war, reagierte er.

Mit einer Seitwärtsrolle entging er dem Stirnband knapp. Eine Fußlänge entfernt war es mit seinem frenetischen Surren vorbeigehuscht. Tenko erhob sich und gönnte sich ein Grinsen. Das war ja einfacher gewesen, als er gedacht hatte. Sicherlich hatte das Bandana ein wahnwitziges Tempo drauf und wäre für einen normalen Kämpfer eine echte Gefahr gewesen, aber verglichen mit den meisten höheren Techniken war diese ja geradezu harmlos. Das Surren verklang derweil langsam in der Ferne.

Grinsend näherte er sich ihr wieder. Ungläubig starrte das arme Ding ihn an. Sie hatte wahrscheinlich damit gerechnet ihn zu treffen und da hatte er ihren Traum doch wie eine Seifenblase platzen lassen. Nur noch wenige Meter trennten ihn von ihr. Er würde es jetzt rasch zu Ende bringen. Der Kampf dauerte ihm bereits viel zu lange und das Mädchen müsste ihre Lektion inzwischen gelernt haben.

Plötzlich erstarrte er und lauschte. Er musste sich verhört haben. Schließlich war das Surren längst verklungen. Aber wann hatte es sich abgeschwächt? Und hätte sich das Stirnband bis dahin nicht schon längst irgendwo hineinbohren sollen?

Das Surren kehrte zurück und sein Gefahrensinn schrie ihn an. Mit geweiteten Augen stürzte er in einem Ausfallmanöver zur Seite und spürte einen scharfen Wind unmittelbar neben ihm vorbeischneiden. Er kam hart auf seiner Schulter auf und schlitterte über die Wiese. Seine Augen verließen die Flugbahn des Stirnbands jedoch nie. Und so beobachtete er mit Entsetzen wie das Bandana in rasender Geschwindigkeit zu seiner Besitzerin zurückkehrte.

Besagte Besitzerin hatte die Flugbahn ihres Stirnbandes voller Unglauben verfolgt. Ihr Verstand hatte daran appelliert, dass das eben Geschehene völlig unmöglich war und sie halluzinierte. Ihr war die Meinung ihres Verstandes jedoch denkbar egal gewesen.

War das tatsächlich sie gewesen? Hatte sie eben wirklich aus einem Fetzen Stoff eine tödliche Waffe gemacht?

Der Gedanke, dass eine tödliche Waffe die unschöne Neigung hatte, früher oder später Menschen zu töten, kam ihr in diesem Zusammenhang jedoch noch nicht. Zu fasziniert war sie von der Möglichkeit, dass etwas Derartiges in ihrer Macht stand. Das erste Ausweichmanöver ihres Kontrahenten war ihr daher gar nicht weiter aufgefallen. Als dieser nun jedoch grinsend und gemächlich auf sie zutrat, entsann sie sich wieder, dass sie inmitten eines Kampfes war.

Sie konnte sich kaum mehr auf ihren Beinen halten, der Schmerz war zwar abgeklungen, hatte aber eine bleierne Müdigkeit in ihren Gliedern zurückgelassen. Es war fast so, als hätte ihr das Stirnband Energie abgezogen. Aber wer weiß, vielleicht hatte es das ja auch?

Nur noch wenige Meter hatten zwischen ihr und dem Mönch gelegen. Und dann kehrte das Surren ihres Bandanas zurück. Nicht weniger erstaunt als der Mönch hatte sie auf die Rückkehr ihres Eigentums reagiert. Auf die sehr rasche Rückkehr ihres Eigentums.

Im letzten Augenblick sprang Tenko vor ihr zur Seite und rutschte knapp aus der Gefahrenzone. Die Gefahrenzone, in der sie sich jetzt befand.

Kein Kribbeln zuckte durch ihre Finger. Kein Impuls oder Bild gab ihr einen Hinweis. Wie festgewurzelt stand sie da und sah das Bandana auf sich zusausen. Ein gewöhnliches Stück Stoff, das in ihren Händen zu einer gefährlichen Waffe geworden war.

In nicht einmal einer Sekunde würde es sie treffen. Das Mädchen machte sich keine Illusionen darüber, dass sie rechtzeitig ausweichen könnte. Sie war dafür zu langsam und zu stark in Mitleidenschaft gezogen. Deswegen tat sie das einzige, was ihr durch den Kopf ging.

Sie streckte ihren Arm aus und griff zu.

Aus den Augen des Mönchs avancierte das Mädchen eine weitere Stufe auf der Richterskala des Wahnsinns. Keine Zentimeter trennten sie mehr von dem wirbelnden Stofffetzen und dennoch blieb sie ruhig stehen. Er wusste nicht, was er erwartete. Was dann jedoch geschah, traf ihn unvorbereitet.

Sie fing das Bandana. Für einen Augenblick rechnete sie fest damit, dass ihre Hand in blutige Fetzen explodieren würde. Als das ausblieb, drückte sie den Stoff probeweise. Wie gewöhnlicher Stoff ließ er sich dehnen und biegen. Gewöhnlicher Stoff? Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn das gewöhnlicher Stoff war, was war dann eine Modenshow? Etwa legaler Waffenhandel?

"Unglaublich", hauchte sie und streichelte das Stirnband mit ihrem Daumen. Ein böses Lächeln beschlich ihre Lippen. Wenn das mal nicht das Blatt zu ihren Gunsten wendete.

Als sie sich umsah, schwand ihr Lächeln allerdings.

Tenko war erneut verschwunden.

Das Mädchen warf schnelle Blicke zur ihrer Linken und Rechten. Dann begann sie ihr Bandana erneut zu schwingen. Langsam bewegte sie sich vorwärts. Aufmerksam sah sie sich um und erblickte insgesamt drei Bäume. Zwei trugen noch vergleichsweise viele Blätter, wenngleich sich diese schon gelb färbten. Der dritte war der mit dem geborstenen Stamm und der fast kahlen Krone. Nein, dort war er nicht. Blieben noch zwei.

Solange er sich dort oben befand, war sie in ständiger Gefahr. Eine weitere Attacke würde sie ganz sicher ins Reich der Träume schicken. Also musste sie vermeiden, dass Tenko eine Möglichkeit für einen Luftangriff blieb.

"Ich gebe dir eine Chance. Spring jetzt runter vom Baum und ich stecke mein Stirnband weg." Sie wartete einige Augenblicke bis ihr klar wurde, dass er sich nicht melden würde. Ihr blieb also keine Wahl. Die Wut in ihr war bereits längst verloschen. Alles was sie wollte, war diesem Kampf ein Ende zu setzen. Falls möglich, ein unblutiges Ende.

Sie konnte nicht leugnen, dass es ihr vorhin vielleicht noch egal gewesen wäre, ob am Schluss jemand verletzt würde, solange sie es nicht war. Schließlich hatte er sie herausgefordert und ohne Rücksicht auf Verluste angegriffen. Er hätte es verdient.

Erschreckt über diesen Gedanken schüttelte sie den Kopf. Wie konnte sie nur so denken? Kein Mensch verdiente das.

Aufmerksam spähte sie zu den beiden verbleibenden Baumkronen. Wenn sie die eine traf, ihn aber verfehlte, würde er herunterspringen und auf sie zustürmen. Traf sie ihn, konnte sie ihn wohlmöglich schwer verletzen. War er im anderen Baum, würde er sie sofort angreifen.

Sie machte sich keine Illusionen. Irgendwie besaß dieser Körper fantastische Kräfte. Kräfte, von denen sie nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Allerdings auch Kräfte, die sie nicht recht verstand und bewusst kaum kontrollieren konnte. Grundlegend war sie kaum mehr als ein Kind mit einer großkalibrigen Handfeuerwaffe. Verdammt gefährlich und zwar für sich und andere. Dazu kam, dass sie hier gegen jemanden kämpfte, dessen Fähigkeiten gleichermaßen übermenschlich waren, der diese jedoch kannte und Erfahrung im Umgang mit diesen hatte. Als wäre das nicht bereits mehr als ausreichend gewesen, um sie gehörig zu demotivieren, kam ihre schleichende Erschöpfung hinzu. Es bereitete ihr ja schon Mühe nur umher zu gehen und ihren Arm zu bewegen.

Sie war ihm unterlegen, soviel war Tatsache. Nun stellte sich jedoch das Problem ihres plötzlichen Stolzes in den Weg. Aus einem ihr unerfindlichen Grund wollte sie unter allen Umständen gewinnen. Irgendein übermäßiger Ehrgeiz war in ihr erwacht und bettelte jetzt darum, spielen gehen zu dürfen. Was nun in der Theorie beinahe lustig klang, war es in der Praxis aber nicht. Dieser Ehrgeiz hätte sie beinahe jemanden töten lassen. Zumindest hatte ihr Verstand dadurch wieder die Oberhand gewonnen.

Das zweite Problem ließ sich jedoch nicht so einfach beseitigen. Sie war sich nämlich ziemlich sicher, dass Tenko den Kampf nicht so einfach abblasen würde. Dafür wirkte er ein wenig zu eifrig bei der Sache. Ihr blieb also nur die Option entweder zu verlieren oder zu gewinnen. In Anbetracht des bisherigen Kampfesverlaufs und dessen Heftigkeit stellte sie sich jedoch die berechtigte Frage, ob eine Niederlage nicht eventuell bedenkliche, körperliche Folgen nach sich ziehen würde. Und Schmerzen hatte sie heute schon genügend einstecken müssen.

Also blieb ihr keine Wahl - sie musste gewinnen.

Kurz schätzte sie die Entfernung zur nächsten Krone ab, konzentrierte sich auf das Surren und schleuderte das Bandana fort. Als schwarzer Schemen fegte es vorwärts. Grashalme flogen wie wild durch die Luft, als es davon zischte. Kurz vor dem Baum beschrieb das Stirnband eine leichte Linksneigung, während es schnell höher stieg. Brutal schnitt es durch das Zweigwerk des Baumes. Blätter und Äste wurden mit identischer Leichtigkeit durchschnitten und geteilt. Zweige und ein Blättermeer regneten aus der Krone herab zu Boden. Das Bandana zog derweil ungehindert durch die verbleibenden Äste und schoss auf der anderen Seite durch und beschrieb eine zunehmend stärkere Linksneigung. Bald würde es wieder wie ein Bumerang zu ihr zurückkehren. Eine Sekunde verging, ohne dass sich im einen Baum oder im anderen etwas bewegte. Als auch die zweite Sekunde ungenutzt dahinstrich, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Das Surren kam wieder näher. In den nächsten beiden Sekunden würde es in Greifnähe sein. Sie machte sich bereit ihren Arm auszustrecken und wartete.

Ein heftiger Tritt in die Seite ließ sie mit einem Schmerzensschrei zur Seite taumeln. Das Bandana schnitt ziellos an ihr vorbei. Mit einem Splittern kollidierte es viele Meter hinter ihr mit dem kahlen Baum, der ohnehin schon genügend hatte einstecken müssen.

Benommen richtete sie ihren Blick in die Richtung aus der sie attackiert worden war und erblickte nichts. Dann traf sie ein Schlag in den ungeschützten Rücken. Ungeschickt versuchte sie sich im Fallen an einem Rückwärtstritt, verfehlte ihren Angreifer aber. Dafür rollte sie sich allerdings ab und sprang sofort wieder auf die Beine. Ihre Seite pochte schmerzhaft und lenkte sie ab. Unachtsamkeit konnte sie sich aber nicht leisten.

Schnell wirbelte sie einmal um ihre Achse und konnte wieder nichts entdecken.

Wo war er? Etwa wieder in den Bäumen?

Langsam trat sie zurück. Schritt für Schritt, die Bäume nicht aus den Augen lassend, wich sie zurück. Kein Rascheln, kein Knacken verriet seine Präsenz.

Sie musste ihr Bandana zurückbekommen. In ihrem jetzigen Zustand war sie ansonsten leichte Beute. Die einzigen Gründe, weshalb er sie noch nicht angegriffen hatte, waren entweder um seine Überlegenheit zu demonstrieren oder dass er fürchtete, dass sie noch so ein Ass aus dem Ärmel zaubern würde.

Und wem wollte sie überhaupt etwas vormachen? Natürlich erhoffte sie sich noch eine weitere Möglichkeit, um den Mönch auf Distanz zu halten. Und wenn dies durch eine weitere Technik geschah, dann wäre sie dieser Möglichkeit ganz sicherlich nicht abgeneigt. Sie rechnete jedoch nicht damit. Ihre einzige Chance steckte in dem Baum mehrere Meter hinter ihr. Stumm zählte sie für sich selbst abwärts.

10, 9, 8, ...

Schrittweise zog sie sich zurück.

6, 5, 4, ...

Nur noch ein wenig weiter. Vielleicht zwei Schritte noch.

Dann raschelte der linke Baum zwanzig Meter vor ihr und mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze barst Tenko aus dem Grün der Baumkrone hervor.

Sie drehte sich um und rannte los. Ihre Füße trugen sie über das rutschige Gras hinweg, ihr Haar flatterte im Wind. Und hinter sich vernahm sie blitzschnelle Schritte.

Da war es. Keine zwei Meter von ihr entfernt, hatte es sich in die Rinde des Baumes gebohrt und steckte nun dort wie ein seltsames Wurfmesser. Sie mochte sich etwas in der Distanz zum Baum verschätzt haben, aber sie würde es schaffen.

Der Schlag traf sie unvermittelt und wurde sogleich an mehren Stellen wiederholt. Die Faust traf zielsicher Schmerzzentren entlang ihrer Rückenpartie. Die Agonie wusch wie eine Welle über sie hinweg und dennoch verlangsamte sie ihre Geschwindigkeit für keinen Augenblick. Sie konnte es schaffen.

Das Bandana hatte sich in etwa zwei Meter Höhe im Holz vergraben. Um es zu erreichen, musste sie entweder wachsen, springen oder alles aus diesem Körper herauskitzeln.

Ohne ihr Tempo zu verlangsamen, preschte sie auf den Baum zu und sprang unmerklich vom Boden ab. Wuchtig knallten ihre Füße gegen die Rinde und jagten ein Zittern durch den Baum. Dann vollzog sie den ersten Schritt, gleich darauf den zweiten, dicht gefolgt vom dritten. Die enorme Einkerbung im Fleisch des Stammes rechts von ihr ignorierte sie, als sie an ihm beinahe senkrecht hochlief. Die Rinde knackte jämmerlich mit jedem Tritt, den sie ihr zufügte. Sie aber achtete nicht darauf. Für sie zählte nur eins und zwar dass jeder Schritt sie näher an ihr Stirnband und ihre einzige Siegeschance brachte. Dass sie dafür ungesunde Mengen an Ausdauer und Kraft aufwenden musste, um die Schwerkraft auszutricksen - die sie stetig nach unten zog - war ein unschöner Nebeneffekt, aber einer den sie erdulden musste.

Und dann war es plötzlich in greifbarer Nähe.

Ihr Arm streckte sich dem Bandana entgegen und fast hätte sie es mit ihren ausgestreckten Fingern berührt - bis ihr der schwarze Schatten oberhalb ihres Schattens auffiel. Ein Schatten, der beständig und viel zu schnell wuchs.

Dann prallten Tenkos Füße in ihren Rücken und die Welt verlor ihre Konturen und Farben.

Die Suche nach dem Selbst

Ihre Augen juckten hingebungsvoll, so wie es auch ihr übriger Körper nicht weniger fleißig tat. Die Augenlider waren schwer und verklebt als sie den Versuch unternahm, diese aufzuschlagen - es blieb auch weitgehend bei dem Versuch. Außer einem grellen Weiß, das ihr auch zuvor schon unangenehm aufgefallen war, wurde sie sich ansonsten nicht vielerlei mehr gewahr. Vielmehr bereute sie den kurzen Augenaufschlag unlängst, als dieses eindringliche Weiß ihr sogleich die Sicht nahm. Reflexartig kniff sie ihre geblendeten Augen wieder zusammen. Sehen konnte sie also vorerst von ihrer Options-Liste streichen. Mit knirschenden Zähnen tastete sie den Rest ihres Körpers gedanklich ab, indem sie sich intensiv auf die einzelnen Körperteile und die dorther rührenden Stiche konzentrierte. Das Ergebnis war eher unerfreulich. Sehr unerfreulich.

Jeder Muskel pochte. Als sie sich daran probierte, ihren rechten Arm zu heben, durchzuckte sie lediglich glühender Schmerz. Heiß und stechend verschlug er ihr den Atem und ließ sie aufkeuchen. Ihr Arm fiel ungebraucht zurück. Sie hatte sich eine Sehne gerissen oder ihr war ein Muskel geplatzt - eines von beidem musste es sein. Anders konnte sie sich die Qual nicht erklären, die sie durch ein einfaches Anheben ihrer Gliedmaße durchlitt.

Hinzu kam, dass ihr von irgendwoher dieses weiße Licht störend in die Augen stach. Reichlich intensives Licht, das ohne jede Mühe ihre Augenlider penetrierte und ihr daher maßlos auf die gereizten Nerven ging. Um der Lichtquelle ein Schnippchen zu schlagen, beschloss sie sich umzudrehen; und starb im nächsten Moment. Zumindest bekam sie ein recht gutes Gefühl dafür, wie es sich anfühlen musste zu sterben.

Ihre Seite, ihr Rücken, ihre Arme, alles entflammte simultan in einem Feuerwerk aus rotem, heißem Schmerz. Wie ein Heckenfeuer breitete sich die Glut durch ihren ganzen Körper aus und war so überwältigend, dass ihr der Schrei im Hals stecken blieb. Ihre überlasteten Nervenbahnen wurden mit flüssigem Eisen durchgossen. Tränen schossen ihr in die Augen und strömten an den Wangen herab. Ihre Muskulatur verkrampfte sich spastisch und sie begann zu wünschen, dass sie tatsächlich sterben würde. Diese Agonie, diese Qual war Hölle und Verdammnis zugleich.

Wäre es nicht alleine so schmerzhaft gewesen, auch nur ihre Lippen zu bewegen, sie hätte wahrscheinlich schrill gelacht. Der Grund dafür war eine erstaunlich klare, wenngleich morbide Eingebung.
 

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Mysterium
 

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Kapitel 4 – Die Suche nach dem Selbst
 

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Der Autor besitzt keine Rechte an den Charakteren und wird auch nicht für diese Tätigkeit bezahlt. Er versichert hiermit, dass er diese Geschichte lediglich zu seinem persönlichen Vergnügen und dem der Leser verfasst hat.
 

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Von dem Tag an, da sie das erste Mal als Mädchen die Augen aufgeschlagen hatte, bestand ihre Erlebniswelt zum Großteil aus Schmerzen. Ständig erduldete sie weitere blaue Flecke, Wunden und Kratzer. Fand sie ein Tor, so war es geschlossen und sie fror sich halb zu Tode. Bekam sie zu Essen, so wurde sie im nächsten Moment zu einem Duell herausgefordert. Wachte sie auf einer weichen Matratze auf, so konnte sie sich kaum rühren. Alles schien sich gegen sie verschworen zu haben. Nichts, was ihr in letzter Zeit widerfahren war, hatte positive Auswirkungen auf sie oder ihre Gesundheit gehabt. Wenn man sehr frei interpretierte, konnte man ja eigentlich auch ihren Transfer hierher mit dazurechnen! Ja, damit hatte der ganze Höllentrip eigentlich auch erst angefangen! Und nun befand sie sich unter Krämpfen im Nirgendwo und hatte keine Ahnung wie es weitergehen sollte. Sie war nun eine Fremde in einer fremden Welt.

Tränen, diesmal der Traurigkeit und nicht des körperlichen Schmerzes, schwammen über ihre entzündete Haut. Für einen Jungen weinte sie wirklich viel, stellte sie angewidert fest und schluchzte kehlig. Ihr ganzes Leben war fort. Ihre Schule, ihre wenigen Freunde, ihre Mutter. Alles war ihr genommen worden und nun war sie völlig allein. Wahrscheinlich würde sie ihre Mutter nie wieder sehen, nur weil dieser verdammte Computer, diese dämlichen Poster in ihrem Zimmer gewesen waren! Warum hatte das nicht jemand anderem widerfahren können? Warum ausgerechnet ihr und nicht ihrem Nachbarn oder dem Fantasy-Freak im Erdgeschoss? Der wäre doch sicher überglücklich darüber oder etwa nicht?

Zornig quetschte sie ihre Finger zu einer Faust und spürte Lanzen aus Schmerz unter ihrer Haut. Sie wollte zuschlagen, etwas zerstören und zerreißen. Sie wollte jemanden leiden lassen! Jemand sollte für ihr Elend bezahlen! Und doch konnte sie nicht einmal aus eigenen Kräften aufstehen.

Hilflos, kraftlos und fremd, alles das war sie.

Das hier war ebenso wenig ihre Welt wie dies ihr Körper war. In ihrer Welt war es unmöglich, dass Menschen ohne Hilfsmittel meterhoch sprangen, schnell wie Raubtiere waren und aus einem einfachen Stofffetzen eine tödliche Waffe wurde.

Sicher, zuerst hatte sie vor lauter Unglauben nur den Kopf schütteln können. Wie waren diese Geschehnisse auch logisch erklärbar? Sie waren schließlich völlig unmöglich, ja unfassbar!

Dennoch, sie hatte die Eigenheiten der hiesigen Physik, dieser Parodie der ihr geläufigen Naturgesetzte akzeptieren müssen. Immerhin geschahen diese Dinge vor ihren Augen. Sie hatte den Mönch kämpfen sehen und sogar sich selbst dabei beobachtet wie sie einen Baumstamm zertrümmerte und aus ihrem Stirnband ein messerscharfer Bumerang wurde. Sie selbst hatte die Naturgesetzte ausgetrickst, was gab es also hieran nicht zu glauben?

Zudem war jeder Augenblick, den sie zweifelte oder auch nur zögerte, wenig später schmerzhaft und dadurch äußerst einprägsam auf sie zurückgefallen. Das war ein nicht unerheblicher Grund, weswegen ihr gesunder Menschenverstand im Verlauf des Schlagabtausches mit dem alten Knacker – wie war nur noch mal sein Name? - zunehmend in den Hintergrund getreten war und ihren Instinkten Platz eingeräumt hatte. Instinkte, die zu primitiv waren, um die Falschheit und Verrücktheit der hiesigen Naturgesetzte zu erfassen. Instinkte, die sich nicht darum scherten, ob jemand einen oder fünf Meter in die Senkrechte sprang.

Je näher das Ende des Kampfes gekommen war, desto weniger hatte sie die Stimme der Vernunft wahrgenommen. Diese unsägliche Stimme, die panisch fragte: Was geschieht hier? Warum kämpfe ich? Wie ist das möglich? Diese Stimme, die ihr zuraunte, dass das alles Wahnsinn, ein Stück Stoff keine gefährliche Waffe war und man an einem Baumstamm nicht hinaufsprinten konnte – ja, tatsächlich war diese Stimme mit jedem verstrichenen Augenblick stiller und unverständlicher geworden.

Irgendwann zwischen dem ersten und letzten Schlag hatte sie es aufgegeben über die Frage zu sinnieren, ob dass alles wirklich möglich sein konnte - sie hatte einfach nur noch reagiert. Sie hatte Hiebe, die so rasch wie Peitschenhiebe kamen und nicht weniger hart waren, geblockt und schon einen Wimpernschlag später gekontert, nur um zeitgleich weitere Treffer einzustecken, die ihren früheren Körper auf der Stelle verkrüppelt hätten.

Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares gefühlt. Dieser Kampf war keine reguläre Pausenhofschlägerei gewesen, in der man sich ein blaues Auge und wenig später einen Verweis im Sekretariat holen durfte. Dieser Kampf war soviel mehr gewesen und trotz ihrer momentanen Schmerzen schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Ein müdes und erschöpftes Lächeln, sicherlich, aber dennoch ein echtes Lächeln. Jede Bewegung war wie ein Tanz gewesen, geschmeidig und hypnotisiert hatte sie dem Kribbeln nachgegeben, das ihre Aktionen lenkte. Ausweichen, rennen, atmen, dass alles war zu einem großen Ganzen verschmolzen und ihr Atem war ihr vor Erregung und Zorn über die Lippen gespült wie flüssiges Magma aus den klaffenden Ritzen an einem Vulkan.

Erst jetzt, da diese Empfindungen nur mehr eine Erinnerung waren, begriff sie, dass sie den Kampf trotz alle dieser Verletzungen, Kratzer und Blutergüsse aufrichtig genossen hatte. Auf einer animalischen, ungezähmten Ebene hatte sie die Ekstase genossen und zu der ungehörten Melodie getanzt.

Aber wie konnte sie ihre jetzigen Schmerzen mit den ungebändigten Gefühlen in Verbindung bringen, die sie während des Duells erlebt hatte? Wie konnte sie überhaupt Freude über den Schlagabtausch empfinden? Was hatte er ihr denn eingebracht, außer einem neuen Verständnis für Schmerzen?

Wütend seufzte sie auf. Sie fand einfach keine Antworten. Diese Gefühle waren einfach da gewesen und hatten sie wie eine Welle davon übermächtigt und fortgerissen. Ohne jegliche Kontrolle über ihre Handlungen hatte sie sich in dieses Gefecht hineingestürzt und als Ergebnis durfte sie sich nun für die nächsten Tage bei strenger Bettruhe auskurieren. Dennoch: dieser Moment der Euphorie, des Adrenalins war es wert gewesen. Egal wie groß ihre Furcht und ihr Entsetzen, ihre Qualen und ihr Zorn auch gewesen waren, hatte sie doch diese fieberhafte Lust vorangetrieben. Eine Lust, die sie im Angesicht des Kräftemessens fälschlicherweise als Stolz und Kampfgeist identifiziert hatte. Dabei war dieses Empfinden soviel intensiver gewesen, als dass auch nur eines der beiden Worte es annähernd hätte umschreiben können. Ja, tatsächlich war es Euphorie in ihrer reinsten Form gewesen. Es war etwas, dass sie in ihrem früheren Leben nur sehr selten gespürt hatte.

Der Faden ihrer Gedanken riss, als ihr auffiel, dass das Licht nicht mehr so widerlich stach. In einem dadurch bedingten Moment der Gedankenlosigkeit drehte sie sich sodann auch auf den Rücken und merkte unter nicht unerheblichen Schmerzen, dass sich manche Dinge nicht so schnell anpassten wie ihre Augen an das Licht. Versuchsweise öffnete sie besagte Augen und siehe da, die Welt erhielt ihre Konturen und Formen zurück. Umso verwunderter starrte sie an die Zimmerdecke. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber sofern sie sich nicht arg täuschte, kam ihr diese Zimmerdecke zu Recht bekannt vor. Unter einem bösartigen Knacken im Nacken, biss sie die Zähne zusammen und hob ihren Kopf von der Matte. Und tatsächlich fanden ihre Augen fast sofort den spartanischen Schrein wieder, der ihr auch beim ersten Aufwachen im Tempel aufgefallen war. Der einzige Unterschied lag in der weißen Kerze, die nun geruhsam im Schrein vor sich hin loderte.

Begleitet von weiteren Schmerzen drehte sie ihren Kopf zur Seite und konnte dadurch einen Blick durchs Fenster hinaus in den Garten erhaschen. Von ihrer Position am Boden erkannte sie einen kleinen Teil einer gelbgrünen Baumkrone. Ob es sich dabei allerdings um einen der zwei Bäume handelte, in denen sich Tenko versteckt hatte? Aufmerksam musterte sie den schmalen Einblick, den sie in den Garten hatte. Hatten sie da draußen gekämpft oder in einem anderen Teil des Gartens?

Sekunden vergingen und ihr Verstand antworte mit nichtssagender Stille - überließ sie ihren eigenen Vermutungen. Vermutungen, die sie trotz ihrer Hartnäckigkeit und Aufdringlichkeit dennoch nicht weiterbrachten.

Von der Krone ausgehend, bewegte sich ihr Blick hinauf zum klarblauen Himmelszelt. Hell und einladend schien die Sonne aus ihm herab und nur wenige Zirruswölkchen störten den beruhigenden Anblick mit ihren zerfaserten Körpern. Wenn man sich konzentrierte, konnte man der schleichenden Wolkenwanderung beiwohnen. Nicht, dass ihr im Augenblick etwas anderes oder aufregenderes übrig geblieben wäre. Schließlich pochte ihr Körper selbst im ruhenden Zustand an mehreren Stellen. Allem voran war es jedoch ihr Rücken, der ihr Sorgen bereitete. Die kleinste Rührung stieß Welle um Welle aus Feuer durch ihre dortige Muskulatur und lähmte sie in ihren Bewegungen auf diese Weise effektiv. Der kleinste Gedanke an eine Bewegung schnürte ja bereits ihren Magen zusammen und verursachte ihr Phantomkrämpfe. Ruhe und Erholung, das benötigte ihr Körper jetzt. Soviel stand zweifelsohne fest.

„Mein Körper?“, wiederholte sie leise, schmeckte die Formulierung auf der Zunge und runzelte die Stirn. Was war los? Seit wann referierte sie zu diesem Körper als den ihren? Wann hatte sich ihre Einstellung gegenüber dieser fremden Hülle gewandelt? War sie nicht erst vor kurzem noch ein großgewachsener, junger Mann gewesen? Ein scharfes Stechen nistete sich in ihren Schläfen ein und warnte sie vor weiteren Gedanken. Dennoch, so leicht konnte sie das Thema nicht beilegen. Wenn sie sich schon nicht mehr an ihren Namen erinnern konnte, so musste sie sich zumindest ihres Geschlechts bewusst sein. Ihres wirklichen Geschlechts.

Irritiert und mit verbissenem Gesichtsausdruck – woran Schmerz und Entnervung gleichermaßen Schuld trugen – musterte sie die schlanken Finger ihrer rechten Hand. Angestrengt und müde verkrampfte sich ihr Bizeps und Blut schoss in die Extremität, nichtsdestotrotz ließ das Neo-Mädchen ihre fahrige Hand eine Weile länger vor ihrem Augenlicht verweilen. Konnte das wirklich sie sein? Sollte diese Hand wirklich jetzt die ihre sein?

Wut flackerte in ihr auf. Dieses obgleich ungekannt intensive, dennoch so vertraute Gefühl, das ihre Gedanken und Überlegungen mit einem roten Schleier umspannte. Nein! Sie würde sich nicht verlieren. Sie mochte ihren Namen nicht mehr kennen, aber trotzdem änderte dies nichts daran wer sie war.

Dieser Körper entsprach weder ihrem reellen Geschlecht noch fühlte sie sich darin geborgen. Diese Hülle war einfach nur völlig fremd und andersartig. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie konnte sich doch nicht mit diesem Gefängnis identifizieren, es war immerhin nicht ihr Körper! Selbstgerechte Wut sprühte Funken in ihr und ließ sie eine zittrige Faust ballen. Sie hatte ihre Identität und diese würde sie auch beibehalten! Im nächsten Augenblick verließ die Anspannung ihre Hand und die Finger entkrampften sich wieder.

Aber war es denn so falsch von ihm in dieser Weise zu denken?

Die Frage kam so unerwartet wie heftig. Ob es falsch war diesen Körper als den ihren zu betrachten? Natürlich war es falsch. Sie war als Junge geborgen worden und dafür wird es ja wohl auch seine

Gründe gegeben haben! Ebenso war sie als Junge aufgewachsen, war als Junge herangewachsen und besuchte als Junge die Schule. Alles das zeichnete sie doch aus!

Aber war es wirklich so schlimm ein Mädchen zu sein und änderte das etwas an ihrer Identität?

Frustriert runzelte sie die Stirn. Zugegeben, das Geschlecht war jetzt ein anderes und die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit waren offensichtlich - aber ihre Persönlichkeit war doch dennoch dieselbe geblieben, oder? War sie denn nicht immer noch derselbe Junge, der Nächte vor seinem Computer verbracht und morgens eher häufig als selten verschlafen hatte? Der Junge, der Chips und Fast-Food geliebt und sich zunehmend in seiner Phantasie verloren hatte, nur um so der unschönen Wirklichkeit zu entgehen? Ihr Innerstes war doch immer noch sie, oder?

Kein entsprechendes Gegenargument kam ihr in den Sinn. Unsicher fühlte sie die Last der Fragen auf sich ruhen und schloss unter dem Pochen der Kopfschmerzen ihre Augen. Antworten waren es, die sie benötigte. Sie brauchte Klarheit.

„Aber woher nehmen und nicht stellen?“, entrang es sich ihr in einem Seufzen.

Trotzdem, egal ob sie nun über Antworten verfügte oder Klarheit besaß, so konnte es nicht weitergehen! Sie musste einen Entschluss fassen. In dieser fremden Welt konnte sie es sich nicht leisten, sich mit Selbstzweifeln und Identitätsängsten abzugeben. Ihre volle Aufmerksamkeit war gefordert, wenn sie weiteren Unglücken wie einem weiteren Kampf à la Tenko entgehen wollte. Vorübergehend musste sie sich mit der Situation abfinden und wenn diese Situation einen anderen Körper vorsah, gut, dann sei dem so. Ihr Leben war nie sonderlich einfach gewesen und sie war dennoch durchgekommen. Ihre Mitschüler hatten sich mit ihr geprügelt, sie war in ihrer Altersgruppe der einzige Junge, der keine Freundin hatte und ihre Mutter schob Spätschichten. Das alles qualifizierte sie für eine schwere Kindheit – und hatte sie jemals resigniert? Nein! Sie selbst und ihre Mutter waren die einzigen auf die sie vertrauen konnte. Ihre Mutter konnte ihr hier nicht helfen, also lag es an ihr. Irgendwie würde sie in ihren alten Körper und ihre alte Welt zurückkehren können. Irgendeinen Weg gab es immer. Und sie würde ihn finden!

Entschlossen blickte sie - unter Protest ihres Halses - an ihrem angehobenen Arm herab und ballte mit gefletschten Zähnen eine Faust. Ihr Blick lag auf den kontrahierten Fingern und sie beobachtete, wie sich die Röte aus der Haut stahl.

Ja, sie hatte ihren Entschluss gefasst. Solange bis sie eine Möglichkeit zur Rückkehr gefunden und ihren alten Körper zurück gewonnen hatte, würde sie diese Hand als die ihre betrachten. Ihre Augen wanderten von der Faust erneut zum Fenster und hoch zum paradiesischen Himmel.

Ja, genau so würde sie es machen. Es würde alles gut gehen und irgendwann würde sie vielleicht einmal darüber lachen oder ihren Freunden hiervon erzählen. Sicher, dann würde sie ausgelacht werden, aber sie würde einfach mitlachen. So einfach war das.

Mit jedem Wort, das ihr durch den Geist schwebte, stärkte sich das Gefühl der Sicherheit in ihrem Herzen. Kraft und Zuversicht stahlen sich zurück in ihre Gedankenwelt und entfachten das Feuer der Hoffnung aufs Neue.

Ihr war jetzt bedeutend leichter ums Herz. Das erste Mal seit langem schien sie sich von Unsicherheit und Zweifel befreit zu haben. Erst jetzt, da sie die Ketten abgeworfen hatte, spürte sie wie ungemein belastet und verängstigt sie gewesen war. Aber jetzt hatte sie ein Ziel, den Weg würde sie schon noch früh genug finden und sofern ihr auch noch vieles unklar war und nicht alle Ängste getilgt waren, so sah sie nun dennoch ein Leuchtfeuer am Horizont. Einen Sonnenaufgang, der sich magentafarben über die kräuselnden Wellen eines ruhenden Ozeans warf.

Sie konnte sich nicht des Lächelns erwehren, dass ihr über die Züge wanderte. Es war zwar nur ein passierendes Lächeln, aber es war da gewesen, denn sie zehrte von neuer Zuversicht.

Das Geräusch einer aufschwingenden Tür schreckte sie aus ihrer Gedankenwelt, weswegen sie dementsprechend heftig zusammenzuckte. Das Wimmern, das daraufhin über ihre Lippen blies, klang so gequält wie ihre Mimik verzerrt war. Das zerrende Brennen und heiße Stechen hatte sich durch ihre unwillkürliche Rührung zurückgemeldet. Mit zusammengebissenen Zähnen drehte sie ihren Kopf in Richtung Tür.

Ein junger Mönch trat in den Raum und zaghaft auf sie zu. Auf seinem Gesicht rangen Sorge und Scham miteinander. Wahrscheinlich hatte er sich noch nie zuvor in der Gegenwart eines halbnackten Mädchens befunden. Na immerhin, dann teilten sie beide zumindest eine Erfahrung. "Fühlst du dich besser?", kam seine Frage im verhaltenen Tonfall.

Zuerst fehlten ihr die Worte, doch dann brachte sie es irgendwie fertig zu lachen. Zwar hustete sie sich danach fast die Seele aus dem Leibe und glaubte ihre Lunge müsse kollabieren - schlussendlich aber beruhigte sich ihr Hustenanfall. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen der Lachsalve nachzugeben, trotzdem hatte sie einfach nicht an sich halten können. Die Lage war einfach zu absurd, als dass sie diese ernst nehmen könnte.

Da lag sie in einem andersgeschlechtlichen, wahrscheinlich grün und blau geprügelten Körper auf einem Futon inmitten des Nirgendwo und sinnierte über ihre Existenz und eventuellen Verlust ihrer Persönlichkeit - und da fragte sie ein Jugendlicher ihres Alters doch schüchtern, ob es ihr gut gehe. Klar ging es ihr gut. Besser als je zuvor.

Nur mit Mühe hielt sie die Lippen geschlossen und schluckte die bissigen Kommentare herunter. Er konnte genauso wenig für ihren Zustand und die Ungerechtigkeit dieser ganzen Situation wie sie. Sein schüchternes, hilfloses Lächeln und die Nervosität mit der er ihre Antwort erwartete, beschwichtigte sie schließlich.

Bei einem solchen Anblick konnte man ihm einfach nicht böse sein. Vermeintlich machte er sich ja nur Sorgen um sie, was – so gesehen - eigentlich ziemlich nett von ihm war. Dafür, dass er sie überhaupt nicht kannte und sie einen seiner Brüder - mehr oder weniger absichtlich - herausgefordert hatte, war er sogar recht höflich. Jener Ordensbruder hatte sie zwar daraufhin nahezu totgeschlagen, aber das war eine andere Geschichte.

Aus diesem Grund zauberte sie auch ein müdes Halblächeln auf ihre Lippen, als sie ihm endlich Antwort erstattete.

"Herrlich. Ging mir nie besser", flüsterte sie ihm zu und hoffte, dass er ihre Bemühungen um Zurückhaltung – und den nur sehr geringen Sarkasmus in ihrer Antwort - zu würdigen wusste.

Tatsächlich blühte ein Lächeln auf den zwei Strichen unterhalb seiner Nase auf und er ging – mutiger geworden – einen Schritt auf sie zu. Das hatte den Effekt, dass er unbeabsichtigt vom Schatten ins Tageslicht trat.

Augenblicklich verengten sich ihre Augen und ihr Mund wurde zu einer geraden Linie. Sie kannte ihn doch, oder? Ihre Augenbrauen zogen sich geschäftig zusammen. War er es nicht, der sie zu Tenko eskortiert hatte? Hatte der alte Mönch nicht sogar seinen Namen erwähnt? Wieder einmal befand sie sich im Sperrfeuer der Fragen und fand keine Antworten.

Derweil ließ der Mönch seine freundlichen Augen auf ihr ruhen, lächelte sie verständnisvoll an und ordnete den Grund ihrer Misere ohne weiteres zu.

"Meji. Nennen Sie mich einfach nur Meji." Er lächelte sie – wie nicht anders zu erwarten - freundlich an, während der einfallende Sonnenschein ein weißes Glänzen auf seine Glatze warf.

Sein Gewand hing in ordentlichen Falten an seiner schlanken Statur herab und ließ ihn weniger wie einen Mönch wirken, denn mehr als einen Jungen, der einen mimte.

Als sie auf sein Lächeln mit einem ihrerseits zu reagieren versuchte, scheiterte sie kläglich. Ein scharfes Kribbeln war um und auf ihren Lippen entflammt. Winzige Schnitte und gerötete Entzündungen sprossen dort und protestierten nun feurig. Allem Anschein nach war bereits das erste Lächeln ein Tick zuviel gewesen.

Irritiert leckte sie sich mit der Zungespitze über die Mundwinkel und erspürte winzige Hautfetzen und an einigen Stellen das darunter befindliche Muskelfleisch. Wahrscheinlich hätte sie trotz des Brennens weitergemacht – eine dumme Gewohnheit aus ihrer Kindheit -, wäre ihr da nicht plötzlich etwas in den Sinn gekommen. Er hatte sie gesiezt. Ein Kichern drängte sich in ihren Mund, doch sie zwang es strikt und hart nieder. Es genügte, dass sie ein Mädchen war, sie musste nicht auch noch wie eines lachen!

Dennoch blieb dieser Umstand amüsant, schließlich war Meji sicherlich mindestens so alt wie sie, wenn nicht älter. Dass er sie trotzdem so übertrieben höflich und feierlich adressierte, wirkte doch recht erheiternd auf sie.

Obwohl, vielleicht ließ sich ihr Alter ja nach der Tracht Prügel, die sie bezogen hatte, gar nicht mehr anhand ihres Aussehens bestimmen? Apropos, wie alt sah sie überhaupt aus? Wie schlimm waren eigentlich ihre Wunden?

Ein schwacher Schmerz zuckte über ihre Lippen, als sie diese erneut nervös mit ihrer Zungenspitze anzufeuchten versuchte. Unruhe machte sich in ihr breit und legte sich schwer auf ihren Magen. Wieso tat es ihr weh zu lächeln? Waren wirklich nur ihre Lippen rissig oder hatte ihr der Alte den Kiefer gebrochen? Aber sie konnte doch noch sprechen, war ihr Kiefer also in Ordnung? Brauchte man überhaupt einen Kiefer zum sprechen?

Aber, allem voran, was war jetzt mit ihrem Gesicht?

Auf eben diesem spielte sich innerhalb von Sekunden der Wandel von Sorge zu Grauen ab. Erst jetzt nämlich registrierte sie eine noch weit wichtigere Bewandtnis. Ja, wie sah sie überhaupt aus?

"Mein Gesicht", entkam es ihr in einem Wimmern. Leise und gequält zischte die Luft über ihre Lippen um die zwei Worte zu formulieren und danach zu verlöschen. Nackte Panik fraß sich wie eine Heerschar von Käfern in ihren Verstand, meißelte sich auf ihrem Gesicht ein und wehte Übelkeit durch ihren Bauch.

Meji bemerkte die Veränderung am Mädchen sofort. Er wusste nicht, was diesen spontanen Wandel ausgelöst hatte, doch kniete er sich augenblicklich neben die zitternde Gestalt. Beruhigend streichelte er ihr über die Stirn, bedacht darauf keine ihrer Wunden zu berühren und sie zu beruhigen. Dann vernahm er das erstickte Murmeln aus ihrem Mund. Aufmerksam beugte er sich über sie und lauschte, doch so sehr er sich auch bemühte, konnte er doch keinen Sinn aus dem Wortstakkato gewinnen.

"Es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung", beschwichtigte er sie, doch der Schrecken wollte nicht von ihren Zügen weichen. Ihr ganzer Körper war verspannt und sie hyperventilierte. Sie befand sich in einem Schockzustand. Aber warum? Was hatte sie derart entsetzt? Nervös fühlte er ihren Puls und spürte diesen im Takt eines Maschinengewehrs erbeben.

Ihm blieb also keine Wahl. Im nächsten Augenblick verpasste er dem Mädchen eine schmetternde Ohrfeige.

Für eine Sekunde war sie vom Schmerz geblendet. Tausend Nadelstiche huschten gleichzeitig über ihre Wange und Tränen explodierten aus ihren Augenwinkeln wie Fontänen. In hilfloser Wut starrte sie den jungen Mönch über ihr an, spannte ihren Arm für einen gewaltigen Hieb - und erst dann drang seine Stimme zu ihr durch.

„Es ist alles in Ordnung mit deinem Gesicht. Beruhige dich!"

„Mein Gesicht?“, fragte sie dumpf wie als wäre ihr das Wort unbekannt.

Ihr Gesicht war in Ordnung? Ihr Gesicht war normal? Aber wie konnte es normal sein, wenn sie ein Mädchen war? Wie hatte sie so dumm sein können zu glauben, dass sie mit diesem Körper hier leben könnte? Es war ja noch nicht einmal ihre Visage!

Das Gesicht, ihr Gesicht, das fremde Gesicht. Sie musste es sehen.

„Spiegel. Ich brauche einen Spiegel." Ihr Tonfall klang gehetzt, beinahe schon hysterisch und in Verbindung mit ihren schreckweiten Augen wirkte sie erneut nahe der Panik.

Meji verstand jedoch, was er verstehen musste. In seiner Lehre war nicht umsonst besondere Sorgfalt auf Nächstenliebe, Mitleid und Kommunikation gelegt worden. Wobei man stets sorgfältig darauf geachtet hatte Meji für jeden Fehler zu verkloppen, woraufhin sich der junge Mönch einige Zeit lang selbst bemitleidete und aus der Not heraus den Versuch unternahm sich durch zu Hilfenahme von Worten aus Schlägereien mit den Älteren herauszuhalten. Ja, eine außergewöhnlich solide Lehre, die ihm einschlägige Erfahrungen vermittelte – sozusagen.

Der junge Mönch besann sich, nickte dem verstörten Mädchen zu und enthielt sich nicht einer ausdrücklichen Warnung.

"Das wird jetzt sehr wehtun." Einen Augenblick später schob er seine Arme unter ihren Rücken und hob sie behutsam an, woraufhin er sich mit ihr in seinen Armen aufrichtete.

Tatsächlich hatte Meji nicht übertrieben. Es tat wirklich sehr weh. Waren die vorherigen Schmerzen bereits schlimm gewesen, so mangelte es ihr an einer passenden Entsprechung hierfür. Sie hätte kreischen, schreien und fluchen können, doch produzierten ihre Stimmbänder nur ein phantasie- und atemloses Keuchen.

Schnell und zielsicher verließ der junge Mönch mit ihr die Kammer und eilte wie ein Windhauch durch zwei Türen. Wände huschten wie Gespenster an ihm vorbei und entgegen ihrer Befürchtungen verspürte sie nicht ein einziges Mal auch nur die kleinste Erschütterung. Wahrscheinlich hätte sie jedoch ohnehin nichts davon mitbekommen. Ihre Schmerzen durchzuckten sie dennoch wie Stromschläge, betäubten ihre Sinne und aus blinder Verzweiflung krallte sie sich in Mejis Gewand.

Nach einer zeitlosen Reise kam er schlussendlich zum Stillstand, kniete sich vorsichtig hin und ließ sie sorgsam zu Boden gleiten. Im ersten Augenblick senkte sich eine Eiseskälte in ihr Fleisch und der Atem stockte ihr, dann schwoll die Kälte ab und verwandelte sich in eine beruhigende Kühle, die ihre Muskeln durchzog und den atemberaubenden Schmerz auf ein erträgliches Maß linderte. Ihr Griff um Mejis Kleidung löste sich und sie brachte es irgendwie fertig entschuldigend zu ihm herauf zu sehen. Tränen befleckten ihre Wangen und die Haut unterhalb ihrer Augen war rosarot. Der junge Mönch aber schüttelte nur in endloser Geduld den Kopf und signalisierte ihr mit einem Zwinkern sein Wohlwollen.

"Bitte verzeihen Sie die zugefügten Unannehmlichkeiten, aber ich wage zu bezweifeln, dass Sie so lange gewartet hätten, bis ich mit einem Spiegel zugegen gewesen wäre."

Beschämt über ihre Panikwelle senkte sie den Blick. Sie musste sich wie eine Wahnsinnige angehört haben und hatte dem armen Jungen wahrscheinlich den Schrecken seines Lebens zugefügt. Besagter Junge lächelte sie allerdings nur jovial an und deutete dann mit seinem Zeigefinger auf einen Punkt hinter ihr.

"Soll ich Sie alleine lassen oder Ihnen assistieren?"

Erst jetzt wurde sie sich der Fliesen, dem Waschbecken, einem Furo und insbesondere einem großen Spiegel gewahr. Von ihrer Position am Boden ragten diese Objekte wie Wolkenkratzer in die Höhe. Vielleicht befand sie sich aber auch einfach nur im Delirium.

"Bei was möchtest du mir denn assistieren?“ Die Frage entkam ihr keck und spielerisch und im nächsten Augenblick fühlte sie ihre Wangen glühen.

Ihr einziger Trost nach diesem Fauxpas war, dass es ihrem Gegenüber auch nicht besser erging. Mejis Wangen waren nämlich nicht minder gerötet, ganz zu schweigen von seiner Glatze, die einen ebenso interessanten Rotton angenommen hatte.

„Ähm, nun…“, stammelte der Mönch etwas ziellos und blickte verlegen zur Seite.

„Schon gut, ich komm’ klar. Keine Sorge.“

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Raunen und ihr Blick von Mejis Gesicht abgewandt.

Ungläubig zog der junge Mönch eine Augenbraue hoch, erwiderte aber nichts. Mit einem leisen Knarren schloss sich die Tür zum Badezimmer hinter ihm.

Ein Schauder überlief ihren Rücken und abermals brannte besagte Muskelpartie unter einer Myriade von Wunden. Genau, sie kam klar. Ihre Gesichtszüge entspannen sich und sie sah zu der weißen Decke hinauf. Wie dämlich war sie eigentlich? Da konnte sie sich kaum rühren, geschweige denn aufstehen und da schickte sie ihre Stütze fort? Alles nur, weil sie nicht die Klappe halten und dadurch den peinlichen Moment vermeiden konnte. Was war nur über sie gekommen? Fassungslos über ihre eigene Dummheit schüttelte sie den Kopf und verspürte ein sanftes Stechen.

"Warte mal – wie das?", flüsterte sie und probierte es nochmals. Erneut schoss das sanfte Stechen durch ihren Hals. Wo war der qualvolle Schmerz, den sie noch zuvor in ihrer Kammer durchlitten hatte, als sie ihren Kopf drehte? Konnte es sein, dass er sich so rasch herabgemildert hatte?

Sie war zurückhaltend, dass Wort unmöglich in ihre Antwort einzubinden. Es war unwahrscheinlich, dass der Schmerz so rasch abgenommen hatte, aber angesichts der hiesigen Realitätsregeln beileibe nicht unmöglich. Außerdem konnte dieser Körper, soweit sie wusste und an eigener Haut erfahren hatte, gewaltige Schmerzen ertragen. Lag das daran, dass sich dessen Intensität so schnell herabmilderte? Nachdenklich verfolgte sie einen Wasserfleck an der Decke, der ihr zuvor gar nicht aufgefallen war.

Mal angenommen, dem war so. Angenommen, ihre Schmerztoleranz befähigte sie dazu die Nachwirkungen eines Treffers abzuschwächen. Könnte sie dann vielleicht wirklich aus eigenen Kräften aufzustehen?

Sie nahm einen tiefen Luftzug und spürte, wie dieser ihre Kehle füllte. Sie hatte nichts zu verlieren, ergo konnte sie nur gewinnen. Wenn sie sich doch bloß tatsächlich so sicher wäre.

"Okay, auf geht's." Um eventuellen Tränen vorzubeugen schloss sie vorsorglich die Augen, dann stand sie auf. Ihr erster Gedanke war, dass sie von vorne bis hinten mit unsichtbaren Schwertern durchbohrt wurde, während zur gleichen Zeit ihre Haut Feuer fing. Jede Hautpore schien ihren Teil zum frenetischen Brennen und Jucken beizutragen. Jede Muskelfaser überdehnte sich in ihrer Vorstellung und produzierte den zu erwartenden Schmerz, aber dennoch stand sie aufrecht. Fast blind vor Schmerz und zittrig wie ein Greis setzte sie einen Fuß vor den anderen und konnte es doch nicht glauben. Unerträglich und immens wie die Qual auch war, schaffte sie es, diese mit gewaltiger Konzentration aus ihrem Bewusstsein zu stoßen. Fast so, als würde ein brechender Damm verzweifelt gegen eine Sturmflut anhalten.

Dann brach ein Brocken aus dem Damm und sie kippte vornüber. Augenblicklich schlug sie die Augenlider auf und streckte rein instinktiv ihre Arme in der Hoffnung aus, sich irgendwo festhalten zu können. Ihre Hoffnung wurde erfüllt und ihre Finger und nachfolgenden Handteller hämmerten auf Holz. Ohne zu zögern, versuchte das Mädchen mit einem Großteil ihres Oberkörpers auf das Objekt zu fallen. Schmerzhaft schlugen ihre Brüste ebenso auf dem hölzernen Waschtisch auf wie es ihre Arme taten. Tränenfeuchte Augen und ein Wimmern in der Kehle, so krallte sie sich ungeachtet der tausend Nadeln, die vergnüglich in ihrem Fleisch bohrten, hartnäckig fest. Sie keuchte, als sie sich noch ein wenig höher hievte. Hierauf entspannte sie ihre Muskeln und hustete erst einmal hingebungsvoll. Als der Hustenanfall erstarb, begriff sie allmählich.

Sie hatte es geschafft. Sie war im Bad und mindestens auf Augenhöhe mit dem Spiegel. Das einzige, was ihre Sicht noch beeinträchtigte, waren die Tränenschleier vor ihren Augen. Unwirsch rieb sie sich diese mit dem Handgelenk fort und wäre beinahe unsanft vornüber gekippt. Ein schnelles Abstützen rettete sie im letzten Moment.

Harsch blies sie zwischen ihren Lippen hindurch und starrte in das eingelassene Waschbecken. Kein Wassertropfen hing an dem weißen Porzellan und verriet es in seiner Perfektion. Der Geruch von Seife drang ihr in die Nase und sie musste niesen. Weswegen sie mit der Stirn auch fast gegen den Wasserhahn geschlagen wäre und nur im letzten Moment den Kopf hochriss – und in den Spiegel sah.

Ein fremdes Gesicht blickte zurück. Ihr langes Haar war fort, einfach weg. Jahrelang hatte sie es wachsen lassen und gepflegt. Jeden Tag das ewige Bürsten, jeden zweiten Tag das Waschen, damit sich die Haarpacht nicht wie Filz anfühlt. Jetzt war es kurz und dick, reichte am Hinterkopf bis zum Nacken und vorne bis zur Nasenspitze. Dunkelbraunes Haar - beinahe schwarz - fiel ihr nun in dicken, verfilzten Strähnen bis weit über die Stirn und erst jetzt nahm sie die Strähnen in ihrem Sichtbereich wirklich war. Das Resultat war eine Frisur, die ihrem Erscheinungsbild einen ungezähmten, wilden und aggressiven Charakter verlieh. Es war eine Frisur, die nichts mehr mit dem Jungen zu tun hatte, der sie war. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf und ignorierte das Stechen. Wie konnte das sein? Ein anderer Körper war eine Sache, aber diese Erscheinung hatte nichts mit ihr gemein! Ein durchdringender Blick starrte sie aus dem Spiegel an. Es war ein Blick, der stechende, große Augen und das geheimnisvolle Grün, das in diesen flimmerte miteinander verband. Ein Grün, das soeben in einem Meer aus schimmernden Tränen zu ertrinken drohte - ihre Augen waren nämlich blau gewesen. Dazwischen befand sich eine rosa Nase, bescheiden zuckend und schlank wie glatt, ruhte sie an ihrem Platz oberhalb aufgesprungener Lippen. Ihre Ohren blinzelten verschüchtert hinter ihrer dichten Mähne hervor.

"Oh mein Gott..."

Das war nicht sie. Dieses Mädchen war ihr völliges Gegenteil. Da wo sie als Junge ruhig und gepflegt gewirkt hatte, war dieses Mädchen ungezähmt und wild. Während ihre blauen Augen Fröhlichkeit und Verträumtheit ausgedrückt hatten, stach dieses Grün mit unverhohlenem Instinkt und Lebhaftigkeit zu. In ihrer Gleichung hatte sie ein Element außer Acht gelassen. Es war eine Sache mit einem fremden Körper auszukommen, aber eine völlig andere dabei - durchaus wörtlich - das eigene Gesicht zu verlieren. Persönlichkeit war ja gut und schön, aber jeden Morgen eine Fremde im Spiegel zu entdecken, wo man es gewohnt war einen Jungen zu sehen, war zu viel. Was brachte ihr ihre Identität, wenn diese doch fest mit ihrem anderen, ihrem wirklichen Gesicht verwurzelt war? Was hatte sie sich überhaupt dabei gedacht, diesen Körper bedingungslos als den ihren zu akzeptieren? Das war nicht sie, dass war eine Fremde!

Gerade als sie dabei war, ihre Verzweiflung aus sich herausbrechen zu lassen, ließ sie eine ungewöhnliche Beobachtung innehalten. Es wäre ihr nicht weiter aufgefallen, hätte sie wenige zusätzliche Zentimeter vom Spiegel entfernt gestanden und hineingesehen. So jedoch lag sie geradezu auf der Ablage, unmittelbar vor dem Waschbecken wie sie realisierte und starrte ihrer Reflektion aus nur ein paar Zentimetern Entfernung in die Augen.

Es war nichts mehr als die Kontraktion einzelner Muskelstränge im Verbund unterhalb ihrer Haut und das Ergebnis eines elektrischen Impulses irgendwo in den Tiefen ihres Gehirns. Aber es genügte um ihren ausbrechenden Terror schlagartig unter Kontrolle zu bringen. Es war ihre Stirn, es war ihr Mund, es waren ihre Augen. Aber es war noch so viel mehr und zwar die Bewegung dieser. Es war ihre Mimik. Es war die Mimik des Jungen, der sie nicht mehr war. Es war sie.

Mit zitteriger Hand strich sie sich über die Wange und beobachtete, wie dieses fremde Mädchen sich gleichermaßen über die Wange strich. Ihre verbliebene Hand bebte, als das Neo-Mädchen jene der glatten Oberfläche näherte. Der Spiegel war kalt, als sie ihn mit ihren Fingerkuppen berührte und schließlich ihre Handfläche auf diesen presste. Das Mädchen im Spiegel imitierte sie. Dieses schmutzige, zerzauste Mädchen mit dem aufgeweckten Blick ahmte sie nach - denn sie war dieses Mädchen.

"Unglaublich", hauchte sie und streichelte ihre Reflektion. "Das bin tatsächlich ich." So aufgewühlt, mit- und fortgerissen war sie von dem Anblick, dass ihr völlig entging, dass sie auf beiden Beinen stand. Sie war viel zu glücklich, zu ekstatisch um dieser Gegebenheit auch nur einen Bruchteil ihrer Aufmerksamkeit zuzugestehen. Unter dieser Hülle befand sich tatsächlich sie! Diese typischen Minenspiele, dieses typische Lächeln – alles das war sie.

Das Entsetzen in ihr, die aufwallende Abscheu beim Anblick des anderen Gesichts im Spiegel war fortgeweht. Hinfort gejagt von dem Verständnis, dass das im Spiegel wirklich sie war. Ihr Zeigefinger streichelte über ihre Wange und gleiches geschah im Spiegelbild. Zwischen Faszination und Unglauben schwankend, verfolgte sie jede Aktion ihres Fingers, jedes Zucken ihres Mundes und jeden Wimpernschlag.

„Das bin ich“, hauchte sie wie als würde es einen Unterschied machen die Worte zu denken oder aber auszusprechen. Sie konnte nicht an sich halten, ein Lächeln erblühte auf ihren Lippen. Ein Lächeln, bei dem ihr zwei sehr prominente Eckzähne auffielen

Meji wartete ungeduldig vor der Tür. Anfangs hatte er noch fest damit gerechnet, dass sie ihn bereits im nächsten Augenblick herbeirufen würde. Sie musste doch einsehen, dass sie kaum stehen konnte. Nachdem sie ihr Gesicht mit einem so fanatischen Eifer betrachten wollte, hätte sie ihn eigentlich längst hereinbitten sollen, so dass er ihr aufhalf und sie stützte. Dass seine Erwartungen nicht schon längst erfüllt worden waren, beunruhigte ihn zugegebenermaßen. Es war nicht so, als wollte er sich ihr aufdrängen.

Das Flüstern ihrer Stimme erschallte im Bad - doch war es zu undeutlich, um konkrete Worte auszumachen. Und wer weiß, vielleicht war sie gerade nackt? Mejis Gesicht färbte sich scharlachrot und er wandte seinen Blick von der Tür ab, fast als erwarte er, dass diese sogleich aufschwingen würde – und ihm ein äußerst freizügiges Exemplar des anderen Geschlechts präsentieren würde. Erneut schoss ihm Blut durch die Wangen. So durfte er gar nicht erst denken! Er war ein Mönch und hatte ein Zölibat geschworen! Seine Ahnen würden sich im Grabe umdrehen.

Das Splittern von Holz riss ihn aus seinen Überlegungen. Überrascht blickte er zur Tür, doch war diese noch immer intakt. Aber woher war das Geräusch gekommen? Regungslos wartete er ab, ob sich das Geräusch wiederholte, doch es blieb still. Woher aber kam das Splittern?

„Oh – verdammt!“ Seine Augen weiteten sich in spontanem Verständnis und er unterdrückte nur mühsam weitere Flüche – schließlich gehörte sich das nicht. Schwungvoll stieß er die Tür auf und erblickte das Mädchen - sowie ihre Hände, die sich in den Waschtisch gruben.

"Was denkst du, was du da tust!" Wäre er nicht vollkommen außer sich gewesen, hätte es ihn verblüfft zu merken, dass das so schwache Mädchen tatsächlich alleine aufgestanden war. Im Moment war er aber zu wütend, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie überhaupt nicht dazu fähig sein sollte für die nächsten Tage aufrecht zu stehen.

Als sich das Mädchen zu ihm umsah, verpuffte seine Wut allerdings und wurde von einem nagenden Unwohlsein verdrängt. Sie sah ihn völlig entgeistert an und einer ihrer Eckzähne bohrte sich tief in ihre Unterlippe. Tränen standen ihr in den Augen und ließen diese wie mystische Lagunen schimmern, während ihr wildes Haar ungekämmt und verfilzt in das Gesicht hing. Auf seltsame Art und Weise berührte in der Anblick und verschlug ihm zeitgleich den Atem.

"Ich weiß wer ich bin." Fast hätte er sie überhört, so leise hatte sie die Worte gesprochen.

Prüfend nahm er sie in Augenschein. Was meinte sie damit? Sie klang ja beinahe so, als wüsste sie nicht wer sie sei. Aber das war natürlich stumpfsinnig – oder? Und dann traf den Jungen eine grauenhafte Erkenntnis. Was war, wenn dieses Mädchen de facto unter Amnesie litt?

Dann war sie überhaupt nicht gekommen, um den unnachahmlichen Kampfstil des Dojos herauszufordern, sondern hatte nur Schutz vor dem Regen gesucht und weil er und Tenko dachten, dass sie ihnen ihren Namen absichtlich nicht mitteilen wollte, hatten sie es dabei belassen und lediglich als Unhöflichkeit gewertet.

Erschrocken betrachtete er das zitternde Mädchen vor sich, welches ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Unsicherheit entgegensah. Ihre Haut war mit Kratzern und Schnitten überzogen. Blaue Flecken sprossen wie Rosen überall auf ihrer Haut - ihr Rücken jedoch glich einem Beet dieser Rosen. Hässlich und tiefblau glühte ihm die Stelle entgegen, gegen die Meister Tenko seinen letzten und zugleich stärksten Angriff angewandt hatte. Als sich das Mädchen unsicher und tollpatschig zu ihm drehte, - wobei sie sich auf der versehrten Ablage abstützte - blieb ihm das Herz stehen.

Da es ihm von höherer Stelle her untersagt war bei Kämpfen zugegen zu sein, hatte er sich im Nachhinein alles haarklein von Tenko schildern lassen. Bei dem Mönch handelte es sich um einen Mann, der ausgesprochen schwer zu beeindrucken war. Das es jemand, noch dazu ein Mädchen geschafft hatte, weckte demzufolge Mejis Interesse.

Was also war geschehen? Von dem Bericht Tenkos her hatte die zittrige Gestalt ihm gegenüber beachtliches vollbracht. Angefangen bei einer unmenschlichen Ausdauer, die sie unzählige Schläge einstecken ließ bis hin zu einem klingenähnlichen Stirnband. Wobei der alte Knacker damit sicherlich übertrieb. Es war ja nicht so, als nähme er Tenko nicht ernst – dafür hatte Meji zu viele Prügel eingesteckt, als dass er das nicht täte -, vielmehr wusste er um die weitreichende Phantasie des abgenutzten Knochens. Ob sich Tenko eigentlich bewusst war, wie er über ihn dachte? Unwahrscheinlich, ansonsten würde er sich in der Notaufnahme wieder finden.

Nichtsdestotrotz hatte das Mädchen den Respekt des Alten gewonnen, was sich als nahezu unmöglich gestaltete. Also mochte wohl das eine oder andere in heruntergespielter Form zutreffen.

Ein Ereignis jedoch hatte ihn nur ungläubig den Kopf schütteln lassen.

Insofern der greise Mönch auch gerne übertrieb, so war er dennoch ein übermächtiger Gegner. Es war nicht seine Körperkraft oder seine Schnelligkeit, die ihn auszeichneten, sondern seine Anpassungsfähigkeit. Dadurch hatte er schon weitaus stärkere, schnellere und manchmal vielleicht auch bessere Kämpfer als sich selbst auf die Bretter geschickt. Ähnlich hatte er auch bei dem Kurzhaar agiert, hatte ihre Rage ausgenutzt und als ihre Deckung offen war, vernichtend zugeschlagen. Normalerweise wäre dies das Ende der Geschichte, denn eigentlich stand keiner mehr auf, nachdem man ihn – oder in diesem Falle, sie - mit voller Kraft und unter Unterstützung der Schwerkraft zu Boden geschleudert hatte.

Als Meji daraufhin gefragt hatte, weshalb der Kampf dann solange gedauert hatte, war Tenko still geworden. Der Greis hatte einen Blick hinaus in den Garten geworfen und ein seltsamer Glanz hatte sich in seine Augen gestohlen. Fast so, als würde er den Kampf nochmals vor seinem inneren Auge Revue passieren lassen. Es waren ein paar Minuten vergangen, da hatte Meji schließlich genug und setzte zu einer weiteren Frage an. Tenko kam ihm zuvor, brachte ihn mit einer Handbewegung – auf seinen Kopf wohlgemerkt – zum Schweigen und hatte versonnen gelächelt. Dann fuhr der Alte fort und Meji hatte nur noch gelächelt. Was daran lag, dass ihm einerseits nichts Besseres einfiel und es andererseits eine denkbar dumme Idee gewesen wäre, jemanden wie Tenko daraufhin zu weisen, dass niemand nach einem solchen Treffer aufstand. Wie besagt, Mejis Feingefühl kam nicht von ungefähr, sondern war ihm durch viel Training – durchaus wörtlich – eingehämmert worden.

Doch als der junge Mönch nun wie erstarrt den Bauch des Mädchens fixierte, waren seine Zweifel wie fortgefegt. Wie war es möglich, dass er das nicht gesehen hatte? Ungläubig haftete sein Blick auf der schmächtigen Gestalt vor ihm. Ihr zerzaustes Haar, die gerötete Haut unterhalb der Augen und ein beinahe pechschwarzer Bauch. Blutergüsse waren Meji nichts unbekanntes, aber dieser Anblick verdiente eine völlig neue Bezeichnung. Immer vorausgesetzt so etwas ließ sich noch einmal bewerkstelligen, aber daran zweifelte er. Ihre Haut war schwarz. Nicht blau, grün oder gelb, sondern regelrecht schwarz wie abgestorbenes Gewebe. Wie hatte sie das nur überlebt?

Sicher, ihm waren die modernen Legenden des Kampfsportes durchaus geläufig. Das ein kompetenter Wrestler angeblich jeden Schlag einstecken, ein einfacher Boxer einen Meister des Karate niederstrecken und ein Thai-Boxer mit einem Tritt über hundert Kilometer pro Stunde erzielen konnte. Das mochten nur Legenden sein, aber was der Wahrheit entsprach war, dass Tenko mit diesem Luftangriff die Zerstörungskraft eines Presslufthammers freisetzt hatte.

Vor sich sah er jetzt das Werk dieser Technik und die einzige Person, die jemals nach diesem Angriff aufgestanden war.

Seine Gedanken stoben in die verschiedensten Richtungen, überschlugen sich und entschwanden ausnahmslos seinem Griff. Er war geschockt und das zu bestreiten, wäre Irrsinn gewesen. Wortlos starrte er das Mädchen an, das müde und geschlagen seinem Blick mit dem ihren begegnete. Und plötzlich geriet ihm ein Gedanke in die Finger, den er bei der ganzen Aufregung völlig vergessen hatte. Es war eine Frage und diese so schlicht wie die nach dem Wetter.

"Wer bist du?"

Ihre tiefgrünen Augen gewannen an Schärfe und fokussierten sich auf ihn. Sie sah ihn an und doch durch ihn hindurch zu einem Punkt, den er nur erahnen konnte. Ihr Starren schien die einzige Antwort zu sein, die das Mädchen ihm geben würde. Weswegen er schon nachfragen wollte, als sie plötzlich aus ihrer Trance brach und sich ein süffisantes Grinsen, schief und selbstironisch, auf ihren Lippen setzte. Beinahe als schmunzelte sie über einen Witz, den nur sie verstand – und dann antworte sie ihm in einem unbestimmbaren Tonfall, mit ihren grünen Augen in die seinen spähend.

"Sai, Sai Hibiki."

Neue Erfahrungen

Ihre Rückenmuskulatur hinterließ nur mehr kleine Stiche, wenn sie sich bewegte. Die meisten Kratzer und Schnitte, die noch gestern ihren Körper geziert hatten, waren längst verblasst. Ihr Bauch pochte zwar noch dumpf, bereitete ihr ansonsten allerdings keine Probleme. Selbst die Schwellung und unschöne Farbe war kaum mehr sichtbar. Eigentlich wäre ihr diese Regenerationsrate fast unheimlich gewesen, wenn sie nicht so ungemein gelegen käme. Wer konnte schon behaupten, dass er nach einem solchen Massaker wenige Tage später kerngesund durch die Gegend stolperte?

Sie konnte einfach nicht anders. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen verließ sie ihre Kammer. Luftig und weich fegte ihr das Haar um Stirn und Wangen, ihre Haut schimmerte mit einem schwach-bräunlichen Taint. Sie trug ein schwarzes T-Shirt, dass sie gestern im Vorraum des Badezimmers gefunden hatte. Daneben hatte eine säuberlich zusammengelegte Stoffhose gelegen, deren Farbton allerdings an ein tiefes Dunkelgrün grenzte.
 

...
 

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Mysterium
 

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Kapitel 5 - Neue Erfahrungen
 

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Die Charaktere gehören mir nicht, sie gehören Rumiko Takahashi. Da ich weder weiblich noch kleinwüchsig bin, schließe ich, dass sie mir auch nie gehören werden.
 

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...
 

Ihr war das recht egal gewesen. In ihrer Situation konnte man nicht wählerisch sein und so hätte sie jede denkbare Farbe getragen. Nun gut, vielleicht nicht rosa oder pink. Ein Mann hatte schließlich aus seine Prinzipien. Mit dieser Phrase im Kopf trat sie hinaus auf den Korridor und wurde außerdem daran erinnert, dass besagte Phrase nicht mehr länger auf sie zutraf.

"Sai! Wie schön dich zu sehen. Bist du auf dem Weg zu meinem Meister?"

Erstaunt blinzelte das Mädchen den jungen Mönch an.

"Sprichst du von Tenko?" Das konnte doch nicht wahr sein? Tenko war der Meister dieses Tempels?

Meji nickte ihr bestätigend zu und bedeutete ihr mit einer Geste zu folgen - und so folgte sie ihm. Der kleine Rundgang verlief ohne das ein einziges Wort zwischen ihnen fiel. Tatsächlich wusste Sai nicht einmal, weshalb sie mit dem Typen sprechen sollte, der ihr den ganzen Ärger eingebrockt hatte. Aber Meji zu Liebe hatte sie eingewilligt.

Als sie so hinter dem jungen Mönch einherging, achtete sie das erste Mal bewusst auf seine Erscheinung und konnte sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht ganz verkneifen. Wie sein Meister trug auch er eine Glatze und das weiße Gewand über einer einfachen Stoffhose. Was sein Outfit von dem seines Meisters unterschied, waren die abgeschnittenen weiten Ärmel. Statt seine Arme zu verhüllen, ließ er sie frei und präsentierte dadurch unabsichtlich gut durchtrainierte Oberarmmuskeln. Des Weiteren war er größer als sein Meister.

Während Tenko kaum größer als sie war, überragte Meji sie um fast eineinhalb Köpfe. Sie war sich zwar darüber im Klaren, dass dieser Körper kleiner als ihr alter war. Trotzdem verspürte sie ein Stechen der Eifersucht in sich. Als Junge war sie es nämlich gewöhnt gewesen um ein kleines Stückchen über den anderen Jungs herauszuragen. Es war zwar nicht so gewesen, als wäre dieser Höhenunterschied besonders auffällig. Aber es hatte ihr genügt zu wissen, dass sie größer war - ein unverkennbares Beispiel des seltsamen Stolzes des männlichen Geschlechts. Nun um so vieles kleiner als jemand zu sein, machte sie irgendwie ärgerlich. Aber sie musste es wohl oder übel einsehen - sie war jetzt kleiner, weil sie nun ein Mädchen war. Ein Umstand, der ihr im Verlauf des gestrigen Abends äußerst intensiv bewusst geworden war. Nach einem längeren Erholungsschlaf auf ihrem Futon war sie in den Abendstunden erwacht. Als sie ein unangenehmer Geruch begrüßte, hatte sie angeekelt die Nase verzogen und sich nach der Quelle des Übels umgesehen. Zumindest hatte ihr Hals kaum mehr geschmerzt und ihr dieses Vorhaben soweit enorm erleichtert. Als sie jedoch nichts fand, dämmerte ihr, dass besagte Geruchsquelle wohl näher lag, als sie vermutet hatte.

So hatte sie sich unter leichtem Stöhnen und Fluchen aufgerichtet und in einer Mischung aus Stolpern und Schlurfen ihre Kammer verlassen. Dann war sie einfach drauf los gegangen. Irgendwie würde sie das Badezimmer schon finden. Das hatte sie sich dreimal eingeredet und es danach sogar geglaubt - und damit eine nagende Befürchtung in den Wind geschlagen. Als die Wände sich zunehmend ähnlicher sahen und ihre Schritte in den Korridoren verklangen, nistete sich auch wieder die Befürchtung in ihrem Hinterkopf ein. Sie war wie ein penetrantes Pochen, das ihr mit einem Hinweisschild - Orientierungsloser Trottel - immerzu auf den Kopf schlug. Sie würde das Bad schon finden. Es konnte ja schließlich nicht so schwer sein, einen verdammten Raum ausfindig zu machen.

Ihre Selbstsicherheit war mit jedem weiteren Schritt von ihr abgefallen und hatte Platz für Zweifel gemacht. War sie nicht bereits durch diese Tür gegangen? Obwohl diese Tür auch verdammt bekannt aussah. Wie groß war dieser Tempel eigentlich?

Und schließlich musste sie sich ihre Befürchtung eingestehen. Eine Befürchtung, die fast zwanghaft mit ihrem neuen Namen verknüpft zu sein schien. Zuerst hatte sie es noch für einen lustigen Zufall gehalten. Eine Überschneidung von Buchstaben, die rein zufällig denselben Namen ergeben hatte - also kein Grund zur Beunruhigung. Seltsamerweise hatte sie dieser durchweg vernünftige Gedanke sogar ein wenig betrübt. Schließlich hätte es doch auch durchaus was für sich gehabt, mit einem Mal einen derart interessanten Verwandten zu haben. Aber das war natürlich nur alles Quatsch gewesen. Dies mochte vielleicht eine andere Welt sein und es galten etwas andere Spielregeln der Physik, aber das machte fiktive Figuren noch lange nicht real. Sicherlich war es auffällig, dass auch sie ein Stirnband getragen und es zu nutzen gewusst hatte. Einmal ganz abgesehen von ihrer enormen Schmerzkontrolle und Körperkraft. Trotzdem konnten dies alles dennoch nur Zufälle sein.

Als sie dann allerdings unsicher und gänzlich verloren in einem Gang gestanden hatte, war ihr durchaus mulmig geworden. Und egal, wohin sie sich auch wandte, sah alles gleich aus. Sie wusste, dass das unmöglich war. Im einen Korridor saßen die Fenster schließlich woanders, waren die Türen an anderen Stellen platziert oder waren die Wege kürzer. Sie durfte sich nur nicht nervös machen. Mit diesem Entschluss war sie dann durch die nächstbeste Tür getreten und im Garten gelandet. Ungläubig hatte sie zurückgesehen - das konnte doch nicht wahr sein. Also war sie erneut durch die Tür getreten und hatte eine andere geöffnet. Als sie abermals in das Grün des Gartens starrte, kam ihre Entschlossenheit ins Wanken. Trotzdem gab es noch eine Chance, schließlich war da noch die dritte Tür. Somit hatte sie sich umgedreht und war vorgetreten, nur um auf einmal zu verharren. Warte mal, hatte sie diese Tür nicht schon geöffnet? Mit einem Klicken war die Klinke nach unten geschwungen und hatte tatsächlich den Blick auf das frische Grün von Wildblumen und Gras freigegeben. Dann war sie herumgeschwungen und auf die andere Tür zugesprintet. Mit einem Triumphschrei - der ihr unter anderen Umständen peinlich gewesen wäre - hatte sie die Tür aufgerissen und war geradewegs in den Garten gestolpert. Grün und spottend hatte er sie mit Vogelzwitschern und Teichplätschern in Empfang genommen.

Meji fand sie zwei Stunden später, nur eine Tür entfernt vom Bad und in allzu weibliche Tränen aufgelöst. Ungläubig hatte er ihr hinterhergstarrt, als sie aufgebracht die Badezimmertür hinter sich zuschlug, dass diese nur so in ihren Scharnieren erzittert war.

Mit dieser kleinen Eskapade hatte sich für sie in gewisser Weise ein Wunsch erfüllt, wenngleich sie das zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt als Segen betrachten konnte. Dieses Ereignis war ein Zufall zuviel gewesen und hatte schließlich selbst ihren gesunden Menschenverstand überfordert. Dieser Orientierungssinn war so surreal wie einzigartig. Sicher hätte sich jeder in einem fremden Haus verlaufen können - allerdings nicht länger als eine halbe Stunde. Vielleicht war sie ja doch mit einem gewissen Herrn verwandt?

Damit hatte sie zufrieden - sie konnte selbst nicht recht bestimmen, wieso genau - den Vorraum zum Bad betrachtet. Und dann war es sehr merkwürdig geworden. Immer vorausgesetzt, man wendete das Wort merkwürdig nur sehr strikt und in äußerst kuriosen Situation an. Eine solche war ihr nämlich in Form der Körperhygiene begegnet. Und so kam es, dass sie ihren Körper aus großen Augen musterte und sich dabei wie ein Voyeur fühlte. Um es knapp zu halten, war sie sehr erleichtert gewesen, als sie nach einem äußerst kurzweiligen Bad wieder in ihre Unterwäsche schlüpfen konnte. Im Nachhinein war das auch ein durchaus plausibler Grund dafür, weshalb sie sich mit einem beinahe fanatischem Eifer ihre neuen Klamotten übergestriffen hatte.

Nun folgte sie also Meji zu dessen Meister. Hoffentlich würde Tenko seine Begrüßungszeremonie nicht erneut wiederholen - einmal reichte ihr völlig.

Immerhin hatte sich ihre Stimmung erheblich gebessert. Der Schlaf hatte sie erholt und von den größten körperlichen Übeln befreit. Jetzt fühlte sie sich frisch und hatte Hunger und zwar was für einen. Meji hatte ihr zwar am gestrigen Abend eine große Keramikschale voll Reiskörnern und mehrere Schälchen mit diversen Beigaben serviert - das Sättigungsgefühl reichte jedoch dem Anschein nach nicht länger als bis zum nächsten Morgen. Deswegen eilte sie nun hinter ihm her, beständig darauf bedacht jedwedes Magenknurren im Keim zu ersticken.

Umso erfreuter und zugleich verstimmter, realisierte sie sodann, dass sie wieder im Esszimmer war. Derselbe Raum, in dem das ganze Debakel begonnen hatte.

Tenko saß bereits am Tisch, wenn sie sich nicht stark irrte, sogar an der gleichen Stelle wie gestern. Misstrauisch näherte sie sich ihm, während hinter ihr die Tür zufiel.

Der Mönch sah ohne den Anflug von Überraschung auf und nickte ihr wortlos zu. Dann wandte er sich wieder seinem Reis zu.

Na, immerhin wollte er sie nicht gleich attackieren. Das war doch schon eine deutliche Verbesserung gegenüber gestern. Nichtsdestotrotz achtete sie aufmerksam auf jede seiner Bewegungen. Jedes Fingerzucken wurde mit einem Zucken ihres Körpers quittiert, jedes Zögern beim Essen mit einem Anspannen ihres Körpers, jede Pause im Schlucken mit einem Erstarren ihres Körpers. Schließlich hatte sie genug.

"Okay, was wollen Sie? Machen Sie's kurz!" Ihr Temperament brannte mit ihr durch.

Erstaunt bedachte sie Tenko mit einem unschuldigen Blick.

"Was tue ich denn?"

"Denken Sie ja nicht, dass Sie mich täuschen könnten. Was wollen Sie?"

Mit einem Seufzen platzierte der Tempelmeister seine Stäbchen auf der Keramikschale. Kleine Dampfwölkchen zogen weiß aus der Schale und in die Luft darüber. Derweil strich sich Tenko sein Gewand glatt und warf ihr einen neutralen Blick zu.

"Mich entschuldigen."

Für einen Moment glaubte sie sich verhört zu haben. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Hatte er gerade wirklich gesagt, was sie glaubte aus seinem Mund gehört zu haben?

"Wiederholen Sie das."

"Ich entschuldige mich."

Für einen Augenblick herrschte selige Ruhe. Ein Vogel zwitscherte draußen, ein Zirruswölkchen schlich über den blauen Himmel und ein Blatt viel ungehört und ungesehen zu Boden. Dann erschallte ein Brüllen und um die Ruhe war es augenblicklich geschehen.

"Sie haben mich beinahe umgebracht!" Eine Stirnader pulsierte lebhaft mit jedem Herzschlag, knapp oberhalb ihrer Augenbraue - und hätte sie einen Speigel gesehen, hätte sie deswegen wahrscheinlich einen Herzinfarkt erlitten und an geplatzte Arterien gedacht.

"Nun übertreib mal nicht Kleines", winkte Tenko großväterlich ab und entging nur knapp einem linken Hacken, der ihm vermeintlich den Kiefer hätte brechen können. Auch dem anschließenden Hieb wich er behände aus und schlug über ihren Seitwärtstritt einen kleinen Salto. Erstaunlicherweise schaffte er es dennoch entspannt zu wirken. Das unschuldige, kleine Lächeln verließ nie seine Lippen.

"Abreagiert?", beinahe spitzbübisch zwinkerte er ihr zu. Und wich mit einer Rückwärtsbewegung seines Kopfes der nachfolgenden Faust aus. Scheinbar spielerisch neigte er daraufhin seinen Körper zur Seite, ergriff ihren ausgesteckten Arm und schmetterte sie mit einem Judowurf unsanft zu Boden.

Der kurze, scharfe Schmerz erfüllte seinen ihm zugedachten Zweck - er verschlug ihr die Sprache - und eröffnete Tenko so eine Möglichkeit zu Wort zu kommen.

"Fein. Jetzt, da wir reden können, setz' dich doch bitte zu mir. Das Essen wird ansonsten noch kalt", und damit ließ er sich unbekümmert an seinem Platz am Tisch nieder.

Fluchend setzte sich Sai auf - nicht ohne Tenko einen giftigen Blick zuzugedenken - und neben ihn. Leise vor sich hin murmelnd, bediente auch sie sich reichlich an den Beilagen und begann zu essen.

Im Nachhinein betrachtet, konnte das kurze Kräftemessen dann immerhin zwei Vorteile für sich beansprucht. Ihre Wut hatte sich sich aufgrund der hervorragenden Ventilwirkung des alten Mönchs zu einem Flämmchen herabgesenkt und zugleich war ihre Nervosität verpufft. Wenn er sie hätte angreifen wollen, dann läge sie nämlich bereits längst kampf- und bewegungsunfähig zu seinen Füßen.

Da dem nicht so war, begann sie sich zu entspannen.

"Und?" Überrascht drehte das Mädchen Tenko ihr Gesicht zu und hob fragend eine Augenbraue.

"Und?", echote sie, unsicher, was er von ihr erwartete.

"Nimmst du meine Entschuldigung an?" Mit einem aufmunternden Lächeln blinzelte er sie von der Seite an.

Für einen Moment rang sie mit sich. Dieser Mann hatte sie schließlich ohne Provokation ungespitzt in den Boden gerammt und ihre Entschuldigungsversuche ignoriert. Wer war sie, dass sie ein solches Benehmen tolerierte?

Offensichtlich eine reichlich dumme Kuh - sie kapitulierte.

"Was soll's? Okay, ich vergebe Ihnen hiermit, dass mich ohne ausreichende Rechtfertigung krankenhausreif geschlagen und misshandelt haben."

Die kleine verbale Revanche traf allerdings wieder Erwarten ins Leere und berührte den Tempelmeister nicht im mindesten.

"Sehr gut", daraus bestand seine ganze Antwort. Dann widmete er sich auch schon wieder hingebungsvoll seiner Keramikschale. Irgendwie beschlich sie die Vermutung, dass sich der Greis über sie lustig machte. Ein letztes Mal noch bedachte sie ihn mit einem zweifelnden Blick, beließ es dann aber bei einem kaum merklichen Kopfschütteln.

Welchen Sinn hätte es auch gehabt, sich weiter aufzuregen? Geschehen war geschehen. Außerdem befürchtete sie, dass sie ihre Nerven noch brauchen würde.

So aßen beide in einträchtiger Stille. Lange wurde kein Wort ausgetauscht und so strichen die Minuten fast geräuschlos vorbei - lediglich verinezltes Klappern durchbrauch die Stille.

Nahezu zeitgleich beendeten sie ihre Mahlzeit und platzierten ihre Essstäbchen sorgfältig auf ihren geleerten Schalen. Mit Verwunderung stellte das Mädchen fest, dass sie diesmal die ganze Schale restlos geleert hatte. Wahrscheinlich hatte ihr Körper verbrauchte Energien wieder herzustellen. Eigentlich nicht wirklich überraschend, sah man auf den gestrigen Tag und seine Anforderungen an diesen Körper zurück.

Wesentlich weiter gelangte sie mit ihren Überlegungen nicht, als Tenko sie mit einem verhaltenen Räuspern auf sich aufmerksam machte.

"Haben Sie sich nicht bereits bei mir entschuldigt? Oder kommt jetzt die offizielle Variante mit Urkunde und Schmerzensgeld?", neckte Sai den Mönch, konnte ein Lächeln allerdings nicht völlig von ihren Lippen verbannen. Tenko erwiderte ihr Lächeln freundlich und setzte zu sprechen an.

"Sagt dir deine neue Garderobe zu?"

Mit einem Blick an sich herab, wo sie ihre Antwort ab und kam zu einem überraschenden Ergebnis. Ihr gefiel die Kleidung tatsächlich. Sie war bequem, ließ ihr genügend Bewegungsspielraum und mit der Farbgebung konnte sie sich durchaus arrangieren.

Mit einem kurzen Nicken bestätigte sie ihm ihre Zustimmung - bis ihre alte Kleidung getrocknet war, würde diese hier perfekt sein.

Doch dann fiel sie durch seine nächste Bemerkung aus allen Wolken.

"Gut, dann soll sie dir gehören."

Erstaunt ließ sie ihre Auge nochmals über das T-Shirt und die Hose gleiten.

"Aber das kann ich doch nicht einfach so annehmen." Es war ihr unangenehm Dinge von Fremden anzunehmen, selbst wenn sie sich diese nur ausleihte. Jedoch von jemandem, den sie kaum kannte, etwas geschenkt zu bekommen, war ungleich schlimmer.

"Ach was! Außerdem, wenn du nicht halbnackt durch unseren Tempel stolpern willst, solltest du mit diesen Kleidungsstücken vorlieb nehmen."

Da hatte er ein durchaus trifftiges Argument. Trotzdem war ihr unwohl bei dem Gedanken daran Tenkos Gutmütigkeit so schamlos auszunutzen.

Aber vielleicht war ihre alte Kleidung ja bereits getrocknet? Soweit sie sich erinnerte, war diese klatschnass gewesen und hatte unangenehm auf ihre Haut gezwickt. Dennoch, soviele Stunden mussten doch ausgereicht haben.

"Wo sind eigentlich meine anderen Kleidungsstücke? Sie wissen schon, die, in denen sie mich gefunden haben."

Kurz flackerte Unverständnis über die Züge ihres Gesprächpartners - wurden jedoch unlängst von Begreifen vertrieben.

"Die haben wir in den Müll befördert", verkünderte Tenko stolz und sah sie dabei an wie ein Hund, der ein hübsches Kunststück aufgeführt und nun so etwas wie Anerkennung erwartete.

Ihre Augenbraue begann heftig zu zucken - irgendwie zwang sie sich tortzdem zu einem schmalen Lächeln.

"Lassen Sie mich das nur kurz klarstellen. Sie haben meine Kleider in die Tonne getreten?"

Tenko besaß die maßloses Unverfrorenheit sie jovial anzulächeln, als er zur Antwort ansetzte.

"Nun ja, ich hätte es wahrscheinlich etwas anders formuliert, aber ich denke, dass es so in etwa den Sachverhalt treffen dürfte."

Okay, sie musste sich jetzt zusammenreißen. Sie durfte nicht der Wut nachgeben. Sie würde sich damit abfinden, dass dieser impertinente Greif - ohne sie überhaupt gefragt zu haben - ihr Eigentum wie Müll entsorgt hatte.

"Du hingst doch nicht etwa an den Sachen gehangen, oder?" Der alte Mönch war ein bild reinster Unschuld - sie glaubte dieser Illusion nicht für die Dauer einer Sekunde.

"Weißt du, deine Klamotten waren ohnehin schon über alle Maßen abgetragen und dreckverkrustet, sie wären dir doch recht bald vom Leib gefallen.", rechtfertigte er sich.

Das klang soweit sogar logisch, aber sie würde dennoch weiterhin auf der Hut bleiben. Sie kannte Tenko zu wenig, als dass sie ihm trauen konnte. Dieser Greis war zu konfus für sein eigenes Wohl. Da attackierte er sie noch am Vortag und saß jetzt freudig plaudernd neben ihr.

Doch egal wie freundlich er sie auch anlächelte, konnte sie seinen geradezu irren Eifer nicht vergessen, mit dem er sie angegriffen hatte. Nicht nur hatten seine Bewegungen auch schon vorher - graziell und tödlich - die von Tieren nachgeahmt. Der Mönch schien tatsächlich selbst zu allen diesen Tier zu werden, die er imitierte.

Tenko las eine unausgesprochene Frage in ihrem Blick und entschloss sich darauf zu reagieren.

"Du willst etwas über den Kampfstil erfahren, den wir hier praktizieren, oder?"

Jetzt, da sie es sich recht bedachte, hatte sich ihre Neugierde tatsächlich zunehmend darum gedreht. Deswegen entschied sie sich auch zu einem stummen Nicken, dass ihm bedeutete fortzufahren.

"Wie du vielleicht schon erkannt hast, spiegeln meine Angriffe Tierattacken wieder. Die pfeilschnellen Bewegungen und Stöße entsprechen einer Schlange beim Angriff, die wuchtigen Hiebe gleichen den Prankenschlägen und Bissen einer Raubkatze und das Verstecken in den Bäumen, sowie der Angriff von oben herab, ist den Affen entliehen.

Befinden sich Affen nämlich in einer Auseinandersetzung mit einem Feind, so suchen sie zunächst Schutz - häufig in einem Baum. Bleibt der Feind jedoch hartnäckig, so bewerfen sie ihn mit Ästen oder springen ihn aus dem Dickicht der Blätter in den Rücken."

"Manch einer würde das auch feiges Verstecken oder Hinterhältigkeiet nennen", merkte das Mädchen missmutig an. Die Spuren ihres Kampfes hatten nämlich nach Erwähnung dieses vernichtenden Angriffes erneut zu pochen begonnen.

Tenko schien jedoch keine Notiz von dem leicht erhitzten Unterton ihrer Bemerkung genommen zu haben. Stattdessen antwortete er ihr ungerührt.

"Es gibt einen massiven Unterschied zwischen Hinterhältigkeit und Listigkeit. Hinterhältig ist es den Gegner dadurch in die eigene Reichtweite zu locken, in dem man vorgibt besiegt oder ohnmächtig zu sein.

Listig ist es das Terrain für sich zu nutzten und von jedem sich bietenden Vorteil Gebrauch zu machen

So wie die meisten Tierstile stammt auch der meine von dem klassischen, chinesischen Kung-Fu ab. Aus diesem Grund orientieren sich meine Attacken und Strategien auch an dem natürlichen Verhalten der Tier, die ich nachahme."

Ihr dämmerte die Erkenntnis.

"Also haben sie die Bäume wie ein Affe für sich genutzt, um so die Gefahr zu mindern, von meinem Bandana getroffen zu werden?"

Tenko grinste sie beinahe fröhlich an. Er schien seinen Spaß zu haben.

"Allmählichbeginnst du zu verstehen. Das ist gut, sogar sehr gut. Denn nur Veständnis erlaubt Verbesserung. Merke dir das."

Wie zur Bekräftigung seiner Worte nickte er nochmals und fuhr sodann fort.

"Und noch aus einem weiteren Grund habe ich den Schutz der Bäume und die Höhe für mich genutzt. Weißt du aus welchem?"

Erwartungsvoll blickte er Sai an. Das Mädchen währenddessen steckte in einer gedanklichen Sackgasse fest. Der erste Grund war nur zu offensichtlich gewesen, der zweite verwehrte sich ihr jedoch gänzlich. Hilflos zuckte sie mit den Schultern und schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. Und mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch, registrierte sie den kurzen Ausdruck von Enttäuschung auf Meister Tenkos Gesicht ehe besagter Ausdruck auch schon wieder verschwand.

"Mädchen, warum denkst du eigentlich, nahm ich an, dass du mich herausfordern wolltest?"

"Keine Ahnung?", ihr Lächeln wurde unsicher.

"Und wieso vermutest du, nahm ich dich überhaupt ernst genug, um deine Herausforderung anzunehmen?"

"Ich habe sie aber nie herausgefordert", brauste Sai auf, nur um sogleich zu schweigen, als der Meister sie ungeduldig anfunkelte.

"Das ist vollkommen unwichtig - lenk' nicht ab und konzentriere dich auf meine Frage."

Das Gefühl der Unsicherheit wuchs beständig in ihrem Magen heran. Und zeitgleich schrumpfte das Misstrauen gegenüber Tenko. Es schwächte sich rasant ab, während eine zweite Empfindung an Bedeutung gewann. Eine Empfindung, die sie überhaupt gar nicht ihm gegenüber verspüren sollte.

Es war Scham. Eine Scham darüber, Tenko eventuell zu enttäuschen. Vielleicht war es die Art und Weise, in der er sie vorhin gelobt hatte oder aber sein fast lehrerhaftes Auftreten nun, welches sie seine Enttäuschung und sein Bemühen um sie nur umso stärker fühlen ließ? Aber eigentlich war es auch egal. Was zählte war nur, dass dieser Mann aus ihr unerfindlichen Gründen, sehr viel von ihr hielt.

Und dergleichen war ihr in ihrem bisherigen Leben nur sehr spärlich widerfahren. Umso größer war auch ihrerseits das Bemühen gewesen, diese Person nicht zu enttäuschen - und nun erschien es ihr so, als könnte in diesem Falle gar nicht anders als versagen.

Mit einem Seufzen gab sie ihm zu verstehen, dass sie auch diesmal seine Frage nicht würde beantworten können und ihre Scham wuchs nochmals.

Und dann tat Tenko etwas, dass so fürsorglich und auf ungewohnte Weise zärtlich war, dass es ihr den Atem stockte.

Er legte ihr die Hand auf die Schulter - eine typisch-großväterliche Geste. Eine Geste, die niemand bisher bei ihr gezeigt hatte. Ihre Großeltern hatte sie nämlich nie gekannt.

Die Eltern ihrer Mutter waren früh verstorben und zwar beide an Krebs. Deswegen suchte ihre Mutter auch mit geradezu pedantischer Akribie jeden Vorsorgetermin beim Arzt auf - beinahe wie ein Hypochonder.

Ihre Großeltern väterlicherseits waren ihr vollauf unbekannt. Ebenso ihr Vater, von dem sie lediglich wusste, dass er regelmäßig und sorgfältig jeden Monat Alimente an ihr Mutter überwies. Ihre Mutter hatte sie nämlich alleine großgezogen - dadurch war sie tagsüber im Kindergarten gewesen, während ihre Mutter in einer Gaststätte arbeitete. Aufgrund der unregelmäßigen Arbeitszeiten ihrer Mutter, war sie gezwungenermaßen zunehmend vor Computer und Fernseher herangewachsen.

ihre Erinnerng zerstob, als sich sein altes Gesicht ihrem näherte und stahlblaue Augen sie aufmerksam anstarrten.

"Mädchen, warum denkst du bin ich deinen Fäusten ausgewichen? Weshalb machte ichmir die Mühe meinen alten Körper zu verbiegen und einen Hexenschuss zu riskieren?" Verschwörerisch blinzelte er ihr zu.

Obwohl ihr die Bezeichnung Mädchen so gar nicht munderte, entlockte er Sai dennoch ein kleines Lächeln. Denn wenn jemand einen Hexenschuss bekam, dann wohl noch eher sie als er.

Das teilte sie ihm so dann auch mit und brachte ihn damit ihrerseits zum Lachen. Und dann fiel ihr nach kurzem Nachdenken eine Antwort ein. Zugegeben, eine sehr schlichte Antwort, aber sie zögerte nicht sie vorzutragen.

"Weil's ansonsten wehtäte?" Zaghaft und in bester Schulmädchenmanier - hätte sie sich selbst im Spiegel erblickt, wäre sie vom Schock ohnmächtig geworden - unterstrich sie ihre Antwort mit einem schwachen Lächeln.

Tenko jedoch nickte heftig und stieß ihr den Zeigefinger fast in die Brust. Erschrocken war sie zurückgezuckt, doch der alte Mönch hatte davon gar nichts mitbekommen.

"Das ist es kleine. Weil es wehtäte. Und ahnst du auch nur im Geringsten wie weh deine Schläge tatsächlich getan hätten, hätten sie getroffen?"

Nun war sie ehrlich gestanden überfragt. Wie weh konnten ihre Schläge schon tun? Sicherlich, wenn sie de facto mit Ryoga Hibiki verwandt sein sollte, so war ihre Körperkraft gewiss nicht unerheblich. Aber sie blieb schließlich dennoch ein Mädchen, Hibiki oder nicht.

Tenko studierte die Regungen in ihrer Mimik eingehend. Das Mädchen war so einfach zu lesen wie ein Buch. Sie war erstaunlich leicht zu durchschauen und besaß augenscheinlich nur eine sehr geringe Kontrolle über ihre Emotionen. Jede Unsicherheit zeichnete sich nämlich auf ihrem Gesicht ab. Welcher Charakterattribut aber am heftigsten hervorstach, war ihre geradezu unschuldige Unkenntnis über ihr tatsächliches Leistungsvermögen. Eine normale Person hätte das Mädchen vielleicht als naiv abgestempelt und die Sache damit auf sich bewenden lassen. Das Problem war nur, dass das Mädchen alles andere als naiv und es somit nicht mit dieser Antwort getan war. Sie würde zwar nie zur Atomphysikerin werden, doch besaß sie nichtsdestotrotz einen wachen Verstand. Worin ihr eigentliches Problem lag, wurde erst offensichtlich, wenn man sich ihr eingehender widmete, ihr zuhörte und die richtigen Fragen stellte.

Das Problem war ihr Selbstbild. Wer auch immer sie erzogen hatte, hatte mieserable Arbeit geleistet. Diese Jugendliche hatte nicht den Hauch einer Ahnung davon, wozu sie ohne jede Anstrengung fähig wäre. Und das bereitete ihm Sorgen.

Eine solche Macht in den Händen eines Unerfahrenen war schon verheerend, kam Gott sei dank aber nur selten vor. Eine Praktizierende der Kunst, die diese Macht jedoch gezielt einsetzen konnte, - ohne sich dabei allerdings dem Ausmaß ihrer tatsächlichen Kräfte bewusst zu sein - erschien ihm nicht nur als ein Ding der Unmöglichkeit, sondern stellte auch eine immense Gefahr dar. Eine Gefahr für ihr Umfeld und aber auch sich selbst.

Diese hitzköpfige, unsichere Mädchen vor ihm war eine tickende Zeitbombe. Es war absehbar, dass sie bald aufgrund ihrer einzigartigen Situation in großen Ärger hineinstolpern würde. Ärger, der vielleicht nicht mit einem entschuldigenden Lächeln beizulegen war.

Und er war wohlmöglich der erste und eventuell auch einzige, der diese Gefahr je bemerken würde, ehe es zu spät war. Deswegen verstärkte er nun seinen Griff um ihre Schulter und betete, dass sich die Kleine seiner Worte annehmen würde. Das sie verstand, was er ihr jetzt gleich mitteilen würde.

Mit einen tiefen Schnauben holte er Luft und begann zu reden.

Mädchen, hör' mir jetzt gut zu." Tenkos Blick wurde zunehmend eindringlicher und schien bis in ihr Innerstes vorzudringen. Selbst, wenn sie sich seinen Worten hätte verschließen wollen, so hätte sie gar nicht anders gekonnt, als ihnen dennoch zu lauschen.

Der sonore Klang seiner Stimme fing ihre Aufmerksamkeit wie eine Fliege in einem Netz.

"Entsinnst du dich meiner letzten Frage?"

Angestrengt runzelte Sai die Stirn - besagte letzte Frage kam ihr aber nicht mehr in den Sinn. Tenko nahm ihr das auferlegte Kreuz im nächsten Augenblick auch schon von den Schultern.

"Macht nichts. ich wiederhole sie nochmal für dich. Also, wie hart vermutest du, kannst du zuschlagen?"

"Nun ja, ein wenig Kraft dürfte schon in meinen Schlägen stecken." Bereits aus Reflex setzte sie zu einem Lächeln an, das dann aber schlagartig erstarrte und verschwand.

Tenko wirkte nämlich alles andere als zufrieden mit ihrer Antwort.

"Erinnerst du dich an den Baum? Den, den du statt mir getroffen hast?"

Sai ließ den Kampf nochmal Revue passieren. Und dann erinnerte sie sich an den Baum. Alles war wie in einem roten Nebel verschwommen, der ihr einzig und alleine eine klare Sicht auf ihr Ziel ließ. Im sicheren Glauben ihren Gegner auf die Matte zu schicken, hatte sie ihre ganze Energie in einen rechten Haken konzentriet - und dann den Stamm erwischt.

Dieses Ereignis hatte sie rasch wieder vergessen gehabt, zu fantastisch und aufregend war der Rest des Kampfes verlaufen. Außerdem überschattete der anschließende Treffer und die damit verknüpften Schmerzen den knappen Moment ekstatischer Rage zuvor.

Doch dann begriff sie, worauf Tenko hinaus wollte. Vor ihrem innerne Auge sah sie nochmals den Stamm explodieren. Ein hartes, gutes Holz, dass wie Pappe nachgab.

Was geschah aber, wenn sie aus Versehen jemandem zu fest die Hand schüttelte oder freudig und überschwänglich in die Arme schloss?

Das Bild eines Zeichentrick-Ryogas, der mit einem verträumten Gesichtsausdruck hinter Akane herjagte, kam ihr in den Sinn. Als sie die Folge im Fernsehen sah, hatte sie sich köstlich an Ryogas Freude über das Date mit Akane amüsiert. Als besonders lustig war ihr aber Ryogas Amoklauf gegen Ende hin erschienen. Wie ein Wahnsinniger hatte dieser männerdicke Holzpfeiler zerstört - in der Absicht, die Liebe seines Lebens zu umarmen.

Nun allerdings verging ihr das Lachen und ihre Wangen verloren an Farbe, ihre Unterlippe begann zu beben. Eine plötzliche Übelkeit explodierte geradewegs in ihrem Bauch und schwemmte ein saures Aroma über ihre Zunge.

"Ich könnte jemanden töten." Ihre Stimme war kaum mehrals ein fassungsloses Flüstern. Es war eine Möglichkeit, die sie gar nicht bedacht hatte.Dieser Körper verfügte zwar über unglaubliche Kräfte, aber sie war gar nicht erst auf die Idee gekommen, diese Tatsache auch unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten.

Was geschah, wenn sie auch nur für einen Wimpernschalg die Kontrolle verlor?

"Oh mein Gott. Ich bin ein - Monster." Ihre Augen flossen mit Tränen über und ein Schluchzen schüttelte ihren Körper.

Und dann zog Tenko sie völlig unerwartet in seine Arme.

"Pscht! Sag' so was nicht. Du bist kein Monster."

"Ich könnte Sie töten. Ein Zittern, ein Drücken und ich könnte ihre Knochen brechen!" Sais Stimme überschlug sich in einem Anflug von Panik und Hysterie - sie war völlig aufgelöst.

"Du überschätzt deine Kräfte etwas, glaube ich", raunte er ihr gutmütig zu.

"Aber wenn du so gefährlich bist, warum brichst du mir dann nicht die Knochen?"

Sais Augen wurden weit vor Schreck.

"Nein, oh mein Gott, nein - niemals!", stotterte sie krampfhaft hervor.

"Da siehst du. Und deswegen bist du auch kein Monster. Ein Monster hätte mir nämlich die Knochen gebrochen."

Sie wusste, dass er sie nur beruhigen wollte. Was Tenko answandte, war schlichte Kinderpsychologie. Man stellte eine These auf, der das Kind sodann heftig widersprach und untermauerte damit die eigene Aussage - zumindest in den Augen des Kindes. Nichts anderes hatte Tenko getan.

Und allem Anschein nach funktionierte dasselbe Prinzip auch zur Beruhigung aufgelöster Teenager.

"Na, bist du noch immer ein Monster?", fragte sie Tenko in einem sanften Tonfall und lächelte sie dabei offenherzig an.

Ein wenig peinlich berührt über ihren eigenen Panikanfall, rieb sie sich betreten die Nase und spähte nach unten, ehe sie ihm antwortete.

"Nein. Nein, ich denke nicht, wenn ich auch im Moment wie eines aussehen muss", mit einem schwachen Grinsen hob sie ihren Blick wieder etwas. Meister Tenko reagierte allerdings augenblicklich, schob sie etwas von sich weg und beäugte sie spielerisch.

"Ein so schönes Gesicht und du ziehst so gemein darüber her. Aber wir müssen tatsächlich eine winzige Kleinigkeit verändern."

Was meinte er? Neugierig verfolgte sie wie eine seiner Hände in einer gut verborgenen Hosentasche verschwand - nur um sodann ihr Stirnband hervorzuzaubern. Fast entschuldigend sah er sie an, als er die nächsten Worte an sie richtete.

"Ich habe mir gedacht, dass du es sicher gerne wieder haben würdest."

Sie konnte es nicht glauben. Tenko wusste, welche verheerenden Schäden sie mit diesem schmalen Stück Stoff anzurichten vermochte. Trotzdem hielt er es ihr freundlich unter die Nase. Er hatte tatsächlich keinerlei Angst vor ihr - er vertraute ihr soweit, als dass er ihr bedingungslos eine tödliche Waffe in die Hand drückte.

"Beug' dich vor, dann lege ich es dir an."

Mit einem gerührten Lächeln und einem leisen Schniefen führte sie die Bitte aus. Der weiche Stoff legte sich vertraut um ihre Stirn und nahm die vielen Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. Den Knoten band er so geschickt, dass sie diesen gar nicht spürte.

"Fertig."

Langsam hob sie wieder den Kopf und befühlte den Stoff. Er war weich und geschmeidig. Tenko musste das Stirnband gewaschen und getrocknet haben. Statt es wegzuschmeisen, hatte er ihr ihre größte Waffe gebügelt und gereinigt zurückgegeben.

"So. Nachdem das geklärt wäre, würdest du mir da eventuell enthüllen, wohin du zu gehen beabsichtigst?"

Die Frage traf sie unerwartet und wie eine Faust in den Bauch. Soweit hatte sie noch überhaupt nicht gedacht. Sie hatte sich eigentlich noch gar keine großen Gedanken über ihr jetztiges Leben gemacht.

"Hängt davon ab, wo ich bin", entgegnete sie ihm denkbar nichtssagend.

In bester Denkerpose reib sich Tenko das Kinn und sah durch ein Fenster hinaus in den Garten. Seltsam, das Fenster war ihr überhaupt nicht aufgefallen? War sie so mit sich selbst beschäftigt gewesen?

"Meji hat mir bereits von deinem kleinen Problem erzählt", skandierte er im Plauderton und warf ihr ein amüsiertes Lächeln zu.

"Ach - hat er?" Der junge Mönch konnte sich auf etwas gefasst machen. Sicher hatte er es nur gut gemeint - ihre Wut war aber dennoch kurz und lodernd in die Höhe geschossen.

Bei diesem Problem handelte es sich um ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite war es eine regelrechte Behinderung, auf der anderen Seite ein Schlüssel zur Phantasie. Einer Phantasie, die an diesem Ort wohlmöglich Realität sein konnte. Nicht, dass sie sich viel Hoffnungen machte tatsächlich diesen Figuren ihrer späten Kindheit in Fleisch und Blut zu begegnen. Aber die Möglichkeit alleine ließ ihren Bauch aufgeregt kribbeln.

"Ist dein Zustand denn tatsächlich so prekär?", Tenko sah sie forschend an und wartete auf ihre Antwort.

Prekär? Ja doch, das Wort umschreib ihr Problem sogar sehr treffend.

"Wenn sie eine dreieinhalbstündige Badezimmersuche auf knapp zweihundert Quadratmetern Fläche so bezeichnen möchten, ist mir das Wort durchaus recht."

"Hast du denn irgendwo Verwandte oder Freunde? Irgendjemand bei dem wohnst oder dich länger aufhältst?"

Mit fassungslosem Erstaunen begriff sie, dass sich Tenko Sorgen um sie machte. Er wollte sie wohl behütet wissen - auf gewisser Weise wie ein Vater bei seiner Tochter oder seinem Sohn.

"Danke."

"Wofür?" Er wirkte überrascht.

Sai ging nicht weiter auf seine Frage ein, sondern beantwortete lieber die zuvorgestellte. Sie war sich zwar noch immer sehr unsicher, - und wäre sie das nicht gewissen, dann doch sicherlich wahnsinnig - aber musste sie ihm irgendwie die Sorge abnehmen. Doch vorher musste auch er ihr etwas abnehmen. Und zwar die letzten Zweifel bezüglich ihres Standpunktes.

"Das klingt jetzt wahrscheinlich verrückt und ich kann verstehen, wenn sie denken, dass ich mir einen Spaß erlaube, aber könnten sie mir wohl sagen, wo genau ich mich befinde?"

Tenko runzelte die Stirn, dann antwortete er ihr etwas zweifelnd.

"In meinem Tempel?"

"Nein, genauer. Wo genau?"

"Als ich das letzte Mal auf die Karte gesehen habe, befanden wir uns noch in Shinjuku."

Ihre Vermutung verhärtete sich.

"Sie meinen Tokyo?"

Sie musste ganz sicher gehen und auch wenn sie dabei Gefahr lief, von Tenko für bescheuert gehalten zu werden.

"Ja, Shinjuku ist ein Distrikt Tokyos", versicherte er ihr und sie merkte ihm seinen Unglauben und die damit verknüpfte unausgesprochene Frage an. Ob ein Mensch denn tatsächlich so verloren sein konnte? Sie wusste die Antwort darauf selbst nicht und hatte auch kein Bedürfnis dieser Frage nachzugehen. Es genügte sich an einige von Ryogas Eskapaden zu erinneren, um ihren Magen bereits in einen festen Klumpen kontrahierten Gewebes zu verwandeln. Sicherlich konnte es schön sein Paris oder den Vereinigten Staaten von Amerika einen Besuch abzustatten - nicht jedoch, ohne sich dessen auch bewusst zu sein.

Aber immerhin hatte sich soeben ein Problem fast wie von selbst gelöst. Fast so, als sollte sie so schnell wie möglich zu ihrem Ziel gelangen - beinahe so als hätte das Schicksal genau das im Sinn für sie gehabt. Sie schnaubte kurz durch und begegnete Tenkos Blick ruhig - immerhin war jetzt alles geklärt.

"Ja, ich glaube, ich kenne da jemanden."

"Und wo wohnt dieser jemand?", forschte Tenko nach und erntete ein leises Glucksen, das sich wie ein unterdrücktes Gelächter anhörte.

"Bitte verzeihen Sie - es lag nur an ihrer Formulierung."

Verwirrt betrachtete sich der Meister das Mädchen vor sich. Was hatte denn nicht mit seiner Formulierung gestimmt? Er legte sehr viel wert auf einen gepflegten Umgangston und auch auf die Einhaltung des Kodex. Die Kampfkunst mochte zwar eine verhältnismäßig primitive Lebensaufgabe sein, deswegen musste man jedoch noch lange kein ehrloser Idiot sein. Abermals kam ihm das Bild des korpulenten Mannes mit seinem Sohn in den Kopf - das etwa war ein Idiot gewesen.

"Nun, man könnte sagen, dass dieser jemand schon recht häufig in dieser Gegend gesichtet worden ist." Sai gab ihr Bestes überzeugend und selbstsicher zu wirken - zur Antwort hob Tenko die linke Augenbraue und schwieg einen Moment lang. Fast so als wog er ab, ob er ihr Glauben schenken sollte oder nicht.

Schließlich seufzte er, kratzte sich über die Glatze und ließ seinen ganzen Zweifel in seiner Stimme mitklingen.

"Aha und welche Gegend wäre das?"

"Nerima", antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

Nerima lag ein gutes Stückchen entfernt. Mindestens mehrere Stunden mit dem Zug.

"Du bist dir im Klaren darüber, dass Nerima nicht gerade winzig ist und in deiner Kondition - er war nicht dumm genug, ihr Richtungsproblem direkt zu erwähnen - könntest du Schwierigkeiten bekommen.

Das Mädchen reagierte nicht. Sie starrte ihn nur durchdringend an und ihre grünen Augen bohrten sich in seine blauen. Schließlich gab er auf.

"Und wie heißt die besagte Person?" Irgendwie kam er sich allmählich wie ihr Vater vor. Nun, zumindest erinnerte ihn diese Diskussion daran, weshalb er sich nie auf Kinder eingelassen hatte. Und wie es schien, war er mit dieser Entscheidung auf einer guten Schiene gefahren. Nicht, dass ihm das augenblicklich etwas brachte.

"Ryoga. Ryoga Hibiki."

Hibiki? Warte mal, war das nicht auch ihr Nachname? Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er schenkte ihr ein joviales Lächeln.

"Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Hochzeit. Ach ja, junge Liebe."

Sai schlug die Augen vor Entsetzen auf. Wie kam Tenko jetzt darauf? Hatte er einen über den Durst getrunken?

"Wie meinen Sie das? Ich bin doch noch viel zu jung!" warf sie ihm mit Feuereifer entgegen. Sie war doch kaum älter als siebzehn! Und noch dazu ein Verlobter? Sie und ein Junge? Ein kalter Schauer lief an ihrer Wirbelsäule wie Eiswasser herab.

Der Tempelmeister bedachte sie mit einem erstaunten Blick. Seiner Meinung nach war sie im besten Alter zu heiraten. Aber die Jugend von heute war ja immer so verdammt unsicher und ließ sich Zeit mit ihren Entscheidungen. Wie sollten sie denn je Fehler begehen, um aus diesen zu lernen, wenn sie alles so genau durchdachten?

"In welcher Beziehung stehst du dann zu ihm?"

Überrascht stellte sie fest, dass sich darüber gar keine Gedanken gemacht hatte. Ihr hatte die Erkenntnis schon vollauf genügt mit einer fiktiven Mangafigur verwandt zu sein. In welchem Verwandtheitsgrad sie allerdings zu ihm stand, war ihr denkbar unklar. Deswegen sprach sie einfach das erstbeste aus, was ihr in den Sinn kam.

"Ein entfernter Verwandter. Er ist ein entfernter Verwandter." Wie zur Aiffirmation nickte sie mehrmals und sah Tenko strahlend an - im Inneren jedoch schämte sie sich. Sie hatte ihn belogen. Sie hatte nämlich keine Ahnung, ob sie überhaupt mit Ryoga verwandt war oder ob es ihn überhaupt gab. Vielleicht fehlten die ihr ans Herz gewachsenen Charaktere völlig und sie befand sich nur rein zufällig in einer ähnlichen Welt?

Vermutungen würden sie jedoch nicht weiterbringen. Deshalb musste sie Nägel mit Köpfen machen. Sie musste nach Nerima.

"Soso, ein entfernter Verwandter." Kurz funkelte er sie nichtssagend an, als er aber scheinbar nicht fand, wonach er Ausschau gehalten hatte, resignierte er mit einem tiefen Seufzen.

"Morgen."

"Wie?", überrascht zog sie ihre Stirn kraus.

"Du fährst morgen - Meji wird bis morgen ein Eisenbahnticket nach Nerima für dich haben."

Erstaunen zeichente sich auf ihren Zügen ab. Hatte sie ihn richtig verstanden? Hatte er ihr eben eine kostenlose Reisemöglichkeit angeboten?

"Unmöglich. Das kann ich nicht annehmen", stellte sie entschieden fest. Während ihr schlechtes Gewissen befriedigt war, raufte sich ihr gesunder Menschenverstand die Haare über soviel Dummheit.

Ihrem Verstand kam allerdings der glückliche Umstand entgegen, dass Tenko unerbittlich war. Er war der Typ Mensch, der seine Schulden bezahlte, alten Frauen über die Straße half und das als selbstverständlich betrachtete. Auch, wenn er seinem Gläubiger das Geld in den Hals stopfte und die alte Dame trotz ihrer Einwände hinter sich über den Zebrastreifen zog. Er half und war in seiner Hilfe unerbittlich.

So hatte er Sai nach fünf Minuten so weit, dass sie ohne den Anflug eines schlechten Gewissens auch die Eigentumsrechte am Tempel entgegengenommen hätte.

Danach hatten sie noch ein wenig über belangloses Zeug geredet und als sich Meji zu ihnen gesellt hatte, war die Unterhaltung zunehmend lebendiger geworden. Lebendig im Sinne von mehrfachen Schmerzensschreien, die immer dann fällig wurden, wenn Tenko das Gefühl bekam, dass das Mädchen oder sein Schüler mangelnden Respekt gezeigt hatten. Was an diesem Abend sehr häufig vorkam.

So war es nicht weiter verwunderlich, dass Sai sich erschöpft und mit mehreren schmerzenden Stellen auf ihrem Futon niederließ. Meji war so nett gewesen und hatte sie bis zur ihrer Kammer eskortiert, wobei er auffällig gestrauelt war. Wenn sie ihm ihre Hilfe anot, lehnte er jedoch edelmütig ab, nur um mit zusammmengebissenen Zähnen weiter zu schlurfen.

Wenn er auf Schmerzen stand, dann wollte sie ihm diese Freude nicht nehmen. Immerhin ließ sich auf diese Weise zufriedenstellend erklären, warum er freiwillig unter diesem Meister trainierte. Mit einem schmerzverzerrten Lächeln hatte er sich dann von ihr verabschiedet und war stolpernd in der Dunkelheit verschwunden. Wenig später hatte sie gedämpft einen - erstaunlich rüden - Fluch vernommen und war nicht umhin gekommen zu grinsen. Was für ein furchtloser Held.

Der Schlaf war rasch gekommen und hatte sie fast augenblicklich in einen beinahe ohnmachtsähnlichen Zustand versetzt. Dumpfe Dunkelheit hatte ihre Sinne geflutet und nicht ein Traum war aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins hervorgekrochen.

So war sie auch recht überrascht gewesen, als sie jemand wachgerüttelt hatte.

Es war Meji gewesen. Mit einem Lächeln hatte er sie begrüßt und ihr einen guten Morgen gewünscht. Und tatsächlich hatte die Sonne bereits ihr Haupt über die Dächersilhouetten gehoben.

Sie hatte ausgiebig gefrühstückt, vorsichtshalber noch eine zweite Schale Reis zu sich genommen und dann verkündet, dass sie bereit wäre. Bedächtig nickend hatte sich Tenko erhoben und war mit ihr und Meji ins Foyer getreten. Vorausgesetzt man konnte die kleine Eingangshalle mit einem so prächtigen Wort betiteln. Denn eigentlich schien nur durch ein Dachfenster etwas Licht von oben herab - nicht gerade allzu aufsehenerregend. Das Mobiliar hatte aus einem kleinen Schrank mit mehreren Schubläden bestanden und das war es auch bereits gewesen. Die einzigen verbliebenen Objekte waren drei Paar Schuhe. Zumindest zwei Paar waren Schuhe, das letzte jedoch glich vielmehr eng geschnürrten Sandalen, die einen Teil der Ferse und die Zehen frei ließen. Wie sich herausstellen sollte, handelte es sich dabei um dasselbe Schuhwerk, das man zusammen mit ihr vor der Tempelpfote vorgefunden hatte - kein Wunder, das ihr die Füße damals beinahe abgefroren wären.

Dann hatten sie gemeinsam den Tempel verlassen, waren die Treppenstufen hinuntergestiegen und in ein bereits wartendes Taxi eingestiegen. Der Fahrer war ein mittelalter Mann mit vielen Lachfältchen gewesen, der Meister Tenko beim Namen nannte und die ganze Fahrt über mit diesem plauderte. Derweil hatte sich Sai interessiert die vorbeihuschenden Umgrenzungsmauern, mehrere japanische Autos - darunter einen rosafarbenen Toyota Corola - und einen kleinen Stadtpark betrachtet. Letzterer hatte nur noch aus gelbbraunen Blätterbergen bestanden und soweit sie es hatte erkennen können, hatte er völlig verwaist und unbesucht dagelegen. Irgendwie hatte sie sein Anblick melancholisch gestimmt.

Schließlich hatten sie vor dem Bahnhofsgebäude in einer gelben Schlagen gehalten. Vor und hinter ihnen hatten sich Taxis geschäftig aneinander gedrängt und rege Betriebssamkeit ausgestrahlt. Eine erstaunliche Flut an Menschen hatte das Gebäude verlassen und war durch eine ebenbürtige Masse, die entgegenströmte, kompensiert worden. Unmerklich waren die Gebäude stetig in die Höhe gewachsen, zurück hatten sie die niedrigen Flachbauten und Mauern aus der Umgebung des Tempels gelassen.

Verloren und etwas verängstigt hatte sie mit Meji und Tenko zu ihren Seiten das imposante Steingebäude durch Türen aus Glas betreten.

Das Geschrei von Kindern und das Geräusch dahineilender Sohlen hatte sie sofort verschluckt. Ströme von Köpfen hatten sich an ihr vorbeigedrängt. Büroarbeiter in schwarzen Anzügen, in schreiende Farben gekleidete Jugendliche und Schüler in ihren respektiven Uniformen.

Noch nie hatte sie soviele Menschen gesehen. Da sie mit ihrer Mutter in einer Kleinstadt aufgewachsen war, war der dortige Bahnhof verglichen hiermit ein Winzling gewesen und wenn vier Leute zugleich mit einem den Zug betraten, war einem schon beinahe klaustrophobisch geworden.

Dies hier nahm gänzlich andere Ausmaße an. Alles war riesig, glitzerte und funkelte. Fernseher präsentierten die Nachrichten und Durchsagen pfiffen durch Lautsprecher, die an der Decke montiert waren. Eine überwältigende Fülle an Informationen war auf sie eingedrungen und hatte eine sanfte Benommenheit zurückgelassen. Hätten die beiden Mönche sie nicht zu beiden Seiten abgesichert, - um sie vor einem unbeabsichtigten Abwandern zu bewahren - hätte sie sich augenblicklich verlaufen.

Was jedoch nicht an ihrer beeinträchtigten Orientierung lag, sondern an der schieren Überwältigung durch Myriaden von Blitzen, Lichtern und Stimmen.

Und dann stand sie mit einem Mal auf dem Bahnsteig 4. Meji stand betreten neben ihr, während Tenko dem Zeiger der großen Uhr folgte, die zwei Meter oberhalb des Bodens tickte. Die Uhr war an der Überdachung festgeschweißt worden und war von einem grellen Weiß, das allerdings bereits am Ablättern war.

Mit einem schrillen Pfeifen war der Zug näher gekommen. Wie eine gigantischer Wurm aus Metall hatte er sich über die Schienen gewälzt und war schließlich neben ihr mit quietschenden Bremsen stehen geblieben. Er war stahlgrau und nur die Transparenz der Fenster nahm einen die Illusion, dass es sich doch nicht um ein Tier handelte.

Sofort waren andere Reisende durch die sich öffnenden Türen ins Innere des Wagons vor ihr geströmt. Insgesamt zog die Zugmaschine vier Wagons hinter sich her. Sie stand nun vor dem dritten und spürte ein seltsames Gefühl der Erwartung in ihr. Wenn sie jetzt eintrat, könnte das ihr Leben verändern. Nein, eigentlich war ihr Leben bereits längst verändert, aber was passieren konnte, war, dass sich alles in ein Bild fügte. Ein Bild, in dem sie ihren Platz würde finden können. Aber was, wenn sie das erwartete Bild nicht vorfinden würde, dafür jedoch ein anderes, dass sie ausschloss? Was, wenn sie die Bedeutung dieser hervorstechenden Merkmale an ihr überwertet hatte? Was, wenn die spitzen Eckzähne, ihre Körperkraft, ihr Zorn und ihr verwirrter Orientierungssinn nichts als Zufall waren?

Immerhin würde sie sich dann dennoch mit der Situation arrangieren können, denn diese Figuren, diese Personen würden ihr dennoch bekannt sein. Und so würde sie auf absurde Art und Weise ihrem damaligen Leben wieder näher sein.

Was jedoch, wenn dieses Bild gar nicht existierte? Was, wenn sie in Nerima ankam und die Menschen sie merkwürdig mustern würden, wenn sie sie nach Kämpfen befragte? Was, wenn sie ihr antworteten, dass sie nicht wüssten, wovon sie da redete?

Konnte sie diesen Versuch wirklich wagen?

Und dann schob sie ein Klaps auf den Rücken in den Wagon hinein. Beinahe wäre sie gestürzt, konnte sich jedoch noch im letzten Moment an einem Griff festhalten.

Wütend fuhr sie herum und wollte sogleich loskeifen. Doch dann zerfiel dieses Vorhaben zu feinem Staub und wurde davon geweht.

Tenko blickte sie nun beinahe väterlich an und hatte den Nerv ihr zuzuwinkern. Meji starrte nur peinlich berührt über die Merkwürdigkeit seines Meister zu Boden.

Sai musste lächeln und entblößte ihre Eckzähne dabei. Sie würde diese beiden seltsamen Typen vermissen. Sehr sogar, denn sie hatten ihr - so unglaublich es auch klang - über die erste Zeit in dieser fremden Welt hinweg geholfen. Und dafür war sie ihnen dankbar, wenn sie es auch nicht so recht zeigen konnte.

Als sie die Hand zum Abschied hob, wurde sie von einem schweren Objekt zu Boden gerissen. für einen Augenblick wurde sämtliche Luft aus ihrer Lunge gepresst. Dann sah sie sich den Gegenstand näher und erblickte wettergegerbtes Leder, helle aufgewetzte Stellen und zwei Tragriemen. Es handelte sich um den Rucksack, den sie an diesem seltsamen verregneten Nachmittag neben sich gefunden hatte, als sie aufgewacht war. Sie hatte überhaupt nicht mehr an ihn gedacht.

Als die Türen im Begriff waren sich zu schließen, sah sie auf und in das schelmisch grinsende Gesicht von Meister Tenko.

"Ich dachte, du könntest ihn noch gebrauchen", dann zwinkerte er ihr nochmals zu und trat einen Schritt zurück.

Der Zug fuhr mit einem Ruck an und ein ebensolcher Ruck ging durch ihr Herz. Beinahe wie im Traum beobachtete sie wie sich der Zug in Gang setzte und langsam fortbewegte. Der Rucksack saß noch immer in ihrem Schoß, als sie Meji und Tenko ein allerletztes Mal sah. Dann verschwanden sie aus ihrer Sicht und zugleich aus ihrem Leben.
 

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Sooooo – diese Kapitel verfasste ich vor circa einem Jahr, glaube ich immerhin.^^°

Ich probierte hier und da eine grobe Schnitzer im Design auszubessern, kann aber nicht recht erahnen, ob mir das gelungen ist.

Nun ja, auf jeden Fall denke ich, dass die Fans dieser Geschichte lang genug auf eine Fortsetzung gewartet haben.

Hmmmm, welche Fans eigentlich?^^°
 

Ich wünsche viel Spaß und gute Unterhaltung,
 

euer Deepdream. ;-)



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Kommentare zu dieser Fanfic (7)

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Von:  Ghost6
2008-11-20T18:51:16+00:00 20.11.2008 19:51
ich
*meld*
bin ein fan
es freut mich das es weiter geht.
es war nicht ganz so interessant iwe das letze aber wahrschienlich nötig um die geschichte voran zu treiben.

irgendwie stimmt es mich traurig das sie die beiden mönche ihr nicht mehr begegnen würden. *schließt das aus deinem letzen satz*
ich fand die beiden sympatisch.
Von:  Daifudo
2008-03-10T19:16:24+00:00 10.03.2008 20:16
Ich bin kein Freund der großen Worte aber sowas hab ich noch nie gelesen ich glaube noch genauer kan man einen Kampf nicht beschreiben bin schon gespant wie es weitergeht.
Von:  Mark_Soul
2008-02-29T21:49:22+00:00 29.02.2008 22:49
Eine der unglaublichsten Kampfszenen, die ich je das Vergnügen hatte zu lesen *applaus*

Deine Choreografie ist bewundernswert. Du packst genug Deteilreichtum hinein, daß man den Kampf einschließlich seiner Umgebung problemlos als Film nachspielen könnte. Die einzelnen Techniken, Stellungen, Angriffe sind so präzise beschrieben - mir fehlen einfach die Worte.
Der Ablauf des Kampfes selbst ist ebenfalls prima. Das Tenko erst mit Sai "spielt", das Mädchen dann allerdings ihn mit ihren Fähigkeiten überrumpelt, so daß der Mönch ernst machen muß. Dann der Einsatz der "Steel Cloth" Technik, der Bumerang-Effekt und letztendlich Tenkos finales Auftrumpfen. Abwechslungsreich und überraschend.

Deine supergenaue Beschreibung hat allerdings auch einen Nachteil: Die eigentliche Dynamik des Kampfes geht so ziemlich komplett verloren. Die vielen Wörter ziehen die Sache zwangsläufig in die Länge, so daß es sich anfühlt wie eine Prügelszene in Zeitlupe. Das ist zwar schade, aber nicht zu vermeiden, da sich Details und Tempo nunmal gegenseitig ausschließen.

Der Rest der bisherigen 4 Kapitel sind gewohnt gute Kost, gemischt mit ungewohnten (aber genauso guten) Inhalt. Der Beginn erinnert mich stark an ältere Horror/Mystery Filme, mit den leicht undurchschaubaren Vorkommnissen am Computer und den beiden Postern. Auch die irgenwie unrationell wirkende Panik des bis dato noch männlichen Protagonisten ähnelt solchen Filmen.
Wobei mir einfällt, daß du die Lebenseinstellung des Jungen recht gut umrissen hast (seine Einstellung zur Schule, das Spielen am PC, die spätnächlich aufgewärmten Hamburger usw). Es ist nett ein wenig vom Haptcharakter zu kennen, *bevor* sein Leben auf den Kopf gestellt wird. Selbst wenn die Info im nachhinein unwichtig wird, da ein Großteil seines Gedächnisses und scheinbar auch seiner Persönlichkeit ausgelöscht wird.
Ja, Persönlichkeit. Denn abgesehen von den offensichtliche Kampfkünsten scheint er - ab jetzt eine sie - auch einige emotionale Besonderheiten übernommen zu haben, die ich ihrem Alter Ego so nicht zutrauen würde: Die plötzlichen und heftigen Wutschübe und den eisernen Willen zum Sieg. Beides Attribute übrigens, die man auch einem anderen Hibiki zuschreiben kann *g*
(Andererseits werden Gefühle wie Zorn von Botenstoffen im Blut verursacht, sind also auch irgendwie dem Körper zuzuschreiben, es wäre also möglich das unsere Heldin noch ihre alte Persönlichkeit hat, aber Sai Hibikis Drüsen - äh, ja, das wird mir jetzt zu medizinisch...)

Was ich abschließend noch loswerden möchte ist ein Lob auf das Gespräch zuwischen Sai und Tenko, daß den Kampf überhaupt erst verursacht hat. Sais Antworten waren aus ihrer Sicht völlig klar und verständlich, konnten aber trotzdem wie eine Beleidigung/Herausforderung verstanden werden, wenn man aus einem anderen Hintergrund daraufschaut. Geschickt inszeniert.
Von:  Ghost6
2008-01-14T00:29:58+00:00 14.01.2008 01:29
Hi^^
ersteinmal frohes neues auch wenn es ein wenig spät kommt.

Wieder ein interessantes Kapitel.
Ich dachte schon ehrlich gesagt das du sie abgebrochen hättest so lange wie es gedauert hat...
ich bin froh das es nicht so ist.

Sai Hibiki... Cooler Name. Ich hatte schon ein verdacht das sie was Mit Ryoga zu tun hatte. Das erste wo die überlegung kam war mit dem Stoff fetzen den sie Schleuderte.

zu dein Schreibstil hab ich noch nicht gesagt... du hast einen außergewöhnlichen Schreibstiel den man hier nirgens findet...
auch ist mir aufgefallen das du sehr deteilreich schreibst... manchmal zu deteilreich das es fast unatürlich in die Länge zieht.

Ich hoffe du schreibst weiter auch wenn ich der einziger Leser zu sein scheine

Mfg
Ghost6


Von:  Ghost6
2007-10-21T01:09:36+00:00 21.10.2007 03:09
Hi

Guter Kampf.
Ich konnte mir richtig vorstellen wie er abläuft.

Ich freu mich aufs nächste Kapitel.

Von:  Ghost6
2007-09-27T22:14:38+00:00 28.09.2007 00:14
hmm...
noch immer weiß ich nicht so recht was ich davon halten soll...
aber es gefällt mir so langsam.
Sie kann einen schon fast leid tun...
interessant ist auch das du noch nicht geklärt hast ob sie sich zurück verwandeln kann wie die anderen oder in den Körper der ganzen Geschichte bleiben muss...
obwohl das zweite für mich interessanter scheint wäre

auch frage ich mich ob du die Ranma Charaktere einbauen wirst oder nicht...
bin gespannt wie es weiter geht...
Von:  Ghost6
2007-08-30T21:10:01+00:00 30.08.2007 23:10
klingt interessant....
und mich würde interessieren wie es weiter geht...


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