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Projektwoche 2006 - Labyrinth Bericht, Projekt

Autor:  halfJack
Koyaanisqatsi

Die letzte Projektwoche für unseren dreizehnten Jahrgang.
Willkommen im Labyrinth, in dem "die Welt aus den Fugen gerät". Denn genau das bedeutet Koyaanisqatsi. Nachdem die Mitglieder des Roten Fadens noch am Morgen die Lesung mit dem Thema "Zwangsjacken sollten maßgeschneidert sein" in einem dafür umfunktionierten Klassenraum abgehalten hatten, mussten wir es bis zum Mittag schaffen, in jenem Raum das Gestell für unser Labyrinth aufzubauen. Niemals hätten wir trotz Hoffnung erwartet, dass das Holzgestell dafür halten würde, aber von unserer wackeligen Gesellschaft erwartet man schließlich auch, dass sie jeden Moment zusammenbricht.
Nun, meine Damen und Herren, treten sie ein.

Wer nicht stehen bleibt, wird erschossen verachtet!
Das steht auf einem alten Schild an der Tür. Daneben, an der Wand findet sich der Hinweis:
Folge dem Roten Faden.
Du betrachtest den dicken Strickfaden, der in das Innere des Raumes führt. Vorsichtig betrittst du die Schwelle und begräbst dabei ein großes Blatt Papier unter deinen Füßen.
Zitate sind das Grab des Gedankens.
Als nächstes berühren deine Schuhe Zeitungspapier, das über den gesamten Boden ausgebreitet ist. Vor dir stehen Stühle, die mit weißen Laken bedeckt sind. Rote Pfeile zeigen nach links. Auch der Rote Faden windet sich in dieser Richtung weiter. Du gehst ihm nach und trittst ein in ein mit Laken überspanntes Gestell. Du siehst nichts mehr, nur noch die wenigen Meter um dich herum. Du befindest dich im Labyrinth von Koyaanisqatsi.
Der rote Faden endet auf den ersten Stufen einer wackeligen Leiter, die mitten im Weg steht. Daneben ein weiteres Schild:
Es liegt in der Natur des Menschen Karriere zu machen.
gez.: die Erfolgreichen

Auf dem Boden liegen abgenutzte Kuscheltiere, noch immer mit Wäscheklammern an einer Leine befestigt. In die Bäuche und Köpfe der Plüschfiguren und Puppen sind Notizzettel mit Nadeln gestochen worden. Geschändet. Kinderlachen. Blut. Erwachsen. Die Worte auf diesen Zetteln vermischen sich mit den vielen Buchstaben, welche bereits durch das Zeitungspapier auf dem Boden deine Sinne vernebeln. Zeitungen aufgeklebt auf riesigen Pappen, die sich die Wände entlangziehen. Weitere Sprüche und Zitate bedecken auf Plakaten jeden freien Platz und versperren dir auf unzähligen Schildern den Weg.
Reklame, Propaganda, der Irrsinn unserer Zeit auf wehrloses Papier gepresst.
Du gehst durch ein paar bemalte Tücher hindurch, um eine Ecke. Schließlich zweigt sich der Weg. Vor dem einen Gang hängt ein Schild herunter, auf dem steht:
Kleine Fabel.
Bitte eintreten.

Du trittst ein und bleibst vor einer Sackgasse stehen, in der sich nur ein Kinderstuhl befindet. Als du dich umwendest, um zu gehen, fällt dir die Rückseite des Schilds über dem Eingang auf.
Du musst nur die Richtung ändern.
Darunter befindet sich ein großer Katzenkopf mit weit aufgerissenem Maul und spitzen Zähnen. Du kannst froh sein, dass deine eigene Endstation noch nicht an diesem Punkt ist. Aber vielleicht erinnerst du dich in genau diesem Moment daran, dass die letzte Ausfahrt auch an dir vorbeigehen wird.
Du gehst weiter und begegnest verschiedenen Gegenständen, zur grotesken Darstellung ihrer Selbst auf kleinen Podien aufgebaut. In einer weiteren Sackgasse befindet sich ein Holzkopf mit ausgebreiteten Armen, Reklame auf der Brust klebend. Eine Pistole liegt direkt daneben, aus deren Mündung sich eine Zeitung rollt. Bild dir deine Meinung - Wozu solltest du auch eigenständig denken, wenn andere das genauso gut für dich übernehmen können?
Unter deinen Füßen knirscht es, während du dich von herabhängenden Spinnweben befreist. Unzählige feste Glaskristalle sind über den Boden verteilt, als hätte jemand den Rahmen eines Bildes fallen lassen. Endlich kommst du aus der Dunkelheit in den hinteren Teil des unkenntlichen Klassenzimmers, der von einem zur Decke gerichteten Scheinwerfer erhellt wird. Wieder Schilder.
Straße des Erfolgs
Lebensweg
Vor dir wurden auf dem Boden Wackelbretter in einer Reihe aufgestellt, verstärkt durch hohe Sprungfedern. Auf dem ersten Brett direkt vor deinen Füßen steht in Leuchtbuchstaben Konjunktur, auf dem nächsten DDR. Das Holz ist schon ein wenig staubig von den Schuhen vieler Leute.
An einer Holzlatte hängt ein großes Plakat.
Erleben Sie das Gefühl sozialer Sicherheit.
Darunter ein kleinerer Hinweis, der mit einem Pfeil auf den schmalen Weg neben den Wackelbrettern zeigt.
Für die Ängstlichen:
Weg des geringsten Widerstands

Nach kurzem Zögern entscheidest du dich für den schweren Weg und stellst deinen Fuß auf das erste Brett. Du versuchst mit den Armen deinen Körper auszubalancieren. Beim zweiten Schritt verlierst du fast das Gleichgewicht, allerdings fängst du dich und meisterst das Hindernis. Auf der anderen Seite erwarten dich seltsame Gerätschaften, mit Bildern beklebte Pappscheiben, an denen du drehen kannst. Das Rad eines Fahrrads wurde auf einer Stange befestigt, daneben ein weiteres Schild.
Einmal am Rad drehen - 50 Cent
Du hörst seltsame Geräusche, die wie Musik aus einem alten Radio klingen, dann wieder wie priesterlicher Gesang und schließlich wie das Klopfen in einem Bergwerk. Die Musik berieselte dich schon die ganze Zeit, während du durch das Labyrinth gingst. Nun betrachtest du die alten Schränke und herunter gelassenen Rollläden, an denen weitere Werbezeitschriften befestigt wurden. Ihre bunte Farbe wirkt in dem schummrigen Licht irgendwie verwandelt und grotesk. Du liest ein Wort.
Konsumgesellschaft
Ein rohes Stück Fleisch neben einer Einbauküche und der dazu passenden Stehlampe im Wohnzimmer. Unterwäsche mit Spitze über dem SyncMaster 171N und einem neuen Roman von Rosamunde Pilcher. Weitere Plakate schleudern dir ihre Weisheiten, Phrasen und Sprichwörter ins Gesicht, sodass du kaum mehr aufnehmen kannst, was du liest.
Die Musik hämmert in deinem Kopf und du gehst weiter.
Eine seltsame steinerne Fratze blickt dich von der Tiefe eines Stuhles aus an. Vor dir ist ein Altar aufgebaut, beleuchtet durch eine Schwarzlichtlampe. Auf dem großen Triptychon darüber ist die Gestalt eines in rote Farbe getränkten Menschen abgebildet, der wie an ein Kreuz genagelt erscheint.
Du lässt den letzten Durchgang des Labyrinths hinter dir, an dem Tücher mit den Symbolen des Kommunismus herunterhängen und mit bunten Motiven bemalte Kinderdecken.
Nun ist der Boden von weißen Laken bedeckt. Unregelmäßig ist alles, auch die Tische und Stühle mit weißen Laken bedeckt, ein Mülleimer steht einsam darin.
In der Ecke steht ein Fernseher und zeigt Bilder von unserer Gesellschaft. Menschen gehen durch die Straßen, arbeiten, stehen in Untergrundbahnen und sitzen in Autos. Die Bilder verschnellern sich, Tag wechselt zur Nacht, Nacht zum Tag. Arbeitsabläufe kehren immer und immer wieder. Menschen strömen aus ihren Häusern, weichen einander aus, stoßen zusammen. Rolltreppen funktionieren verlassen, auch ohne dass sie betreten werden, dann füllen sie sich und tragen die Last der großen Anonymität. Immer schneller zieht das Leben vorbei. Dennoch verändert sich nichts.
Du wendest den Blick vom Fernsehbildschirm ab und schaust zur Tür.
Nur einen kurzen Moment hältst du inne, dann trittst du heraus aus dem Labyrinth Koyaanisqatsi.
Und nichts hat sich geändert.

Performance - Literaturcafé Bericht, Projekt

Autor:  halfJack
Zu der schulischen Projektwoche, die gänzlich von den Schülern geleitet wurde, war ich 2003 in einer Gruppe von vier Personen. Eigentlich eindeutig zu wenig Leute, aber in unserem selbsternannten Literaturcafé war diese Anzahl perfekt, wobei der ‚krönende Abschluss’ aus einer inszenierten Performance bestand.
Stellt euch also vor, ihr betretet das Klassenzimmer zu einer von zwei Vorstellungen, da ihr durch das Schild an der Tür neugierig geworden seid: Eintritt erst ab 16. Nur ein Tisch steht in dem Raum, die Mitte ist mit Decken ausgelegt und ihr werdet gebeten eure Schuhe auszuziehen, bevor ihr euch auf den Decken niederlasst.
Noch herrscht reges Geschwätz unter den Anwesenden. Manche schauen sich zögernd um und betrachten die vielen weißen Laken, die über Tisch und Stühle gelegt sind. Ein Fernseher steht in der einen Ecke, ein Projektor in der anderen, auf der gegenüberliegenden Seite sind zwei riesige weiße Plakate an Kartenständern aufgehängt, die die dahinter stehenden Schränke vollständig verdecken. Wo es nicht weiß ist, hängen unfertige Bilder, manche gezeichnet, einige primitiv gemalt, skizzenhaft, wie von Kinderhand.
Die Tür wird geschlossen. Ihr seht zu der Schülerin, welche ihr bis jetzt als einzige erkennen konntet, die etwas mit diesem Projekt zu tun hat. Sie ist völlig weiß geschminkt, geht an euch vorbei und stellt sich hinter den Fernseher auf einen Stuhl. Ihr seht sie an, doch sie beachtet euch nicht, sondern starrt nur weiter geradeaus.
Dann löscht sich das Licht. Einige neben euch erschrecken, ihr könnt sie nicht sehen und nehmt sie nur mit euren verschwommenen, sich langsam schärfenden Sinnen wahr. Man hört Kichern, leises Flüstern, das immer weiter verstummt, erstickt. Nach einer Minute herrscht Stille. Nichts passiert.
In der linken oberen Ecke erscheint plötzlich Licht. Eine Taschenlampe. Ein weißes Gesicht erscheint losgelöst über einem der Plakate in der linken, oberen Ecke, sieht auf euch hinab und sagt:
„Katzensex.“
Aus der rechten oberen Ecke miaut es, krächzend, verzerrt, kurz darauf faucht es hinter dem Fernseher, dann kreischt eine Katze in eurer Mitte. Die Laute klingen aus, das Gesicht in der linken Ecke redet weiter, erzählt euch, wie eine Katze vergewaltigt wird, wie deren Schreie durch den Nachmittag hallen, wie die Krallen des Katers sich in ihre Hüfte bohren, wie er tiefer in sie eindringt, je lauter sie schreit und wie er sie letztendlich liegen lässt. Das Licht der Taschenlampe erlischt.
Sogleich entzündet es sich hinter dem Fernseher. Ein Mädchen erzählt euch, wie sie unbeholfen mit ihrem Freund schlief, in einem heruntergefallenen Haus. Er grabschte hilflos an ihren Brüsten herum, verteilte seinen Speichel auf ihrem Hals und in ihrer Ohrmuschel, rieb sich an ihrem Körper, fummelte, sodass es ihr wehtat, schob seine Zunge in ihre Mundhöhle, saugte unbeholfen an ihren Lippen. Sie dachte daran, dass er stank und widerlich war. Er dachte vermutlich, dass er nicht wusste, was zu tun sei. Es war peinlich und sie hörten auf. Das Licht erlischt.
Das Klacken von Schuhen ist zu hören, als jemand, um die im Kreis sitzenden Leute geht, im Kreis, immer und immer wieder. Eine Taschenlampe geht an, man sieht die Person weiterlaufen. Sie redet mit fast besessener Stimme, belehrend, wie eine Mutter zu ihrem Kind, Geschichten von kullernden Augen, kullernd und kullernd. Von einer Massenseele in uns allen. Ihr schaut euch nicht um, als die Stimme direkt hinter euch ist, noch einmal, eindringlich, aufdringlich. Das Licht erlischt.
Ein Flüstern setzt ein.
„Das Monster“
Es flüstert von allen Seiten. Eine Stimme redet laut aus der rechten oberen Ecke, von dem Monster, in und um uns. Das Flüstern schwillt jedes Mal an, wenn die Stimme vor Angst von dem Monster schreit.
„Das Monster. Das Monster.“
Alles verstummt.
„Sich selbst.“
Der Projektor wird eingeschaltet und wirft sein Licht an die weiße Leinwand, verschwommen erscheint ein Bild, unscharf, ihr könnt es nicht erkennen.
„Bild eins.“
Eine präzise Erklärung folgt, man behandelt euch wie einen Studenten in einer Vorlesung. Nichts von dem Gesagten könnt ihr auf dem Bild sehen. Ihr könnt es euch nicht einmal bildlich vorstellen, was gesagt wird.
„Bild zwei.“
Die Prozedur wird fortgesetzt. Ein paar Farben, zusammengeklatscht, ohne etwas ausmachen zu können, vermischt auf einer weißen Leinwand.
„Bild drei.“
Die übergenaue Aussprache beginnt euch zu nerven, ein Sinn scheint nicht zu existieren.
„Bild vier.“
Ein neues Dia, vielleicht ein Mensch, vielleicht ein Berg, ein bisschen Sisyphos, ein wenig Meer. Doch endlich beendet der Lehrer den Unterricht. Projektor aus.
Der Fernseher wird eingeschaltet. Nur Schnee ist zu sehen. Eine beschuldigend lang gezogene Stimme mahnt euch. Auf einmal seid ihr ein kleines Mädchen, dass seine Puppe aus dem offenen Fenster eines Wagens geworfen hat, sodass sie nun auf dem weißen Mittelstreifen der Fahrbahn liegt, ihren nackten Hintern unter dem dreckigen Kleid in die Höhe gestreckt, hilflos, bald im Graben, bald vergessen. Von euch losgelassen, aus dem fahrenden Auto, ob beabsichtigt oder nicht.
„Wieso? Wieso hast du sie fallen lassen?“
Das Spiel geht weiter. Licht an, Licht aus. Kälte, Hass, Verzweiflung, Angst, Resignation. Alles in Form von sprachlichen Mitteln.
Die Deckenbeleuchtung geht an. Ihr reibt eure Augen. Um euch stehen die Leute auf, die mit euch dabei waren und dennoch alles ganz anders wahrnahmen als ihr selbst. Sehen diese Personen jetzt anders aus? Wahrscheinlich nicht, aber vielleicht...
Vielleicht wärt ihr gern dabei gewesen. Möglicherweise als Zuschauer oder als Schauspieler, als Opfer oder als Täter, auf den Decken, hinter dem Fernseher, auf dem Schrank, mitten unter uns allen.
Das seid ihr. Tagtäglich.