Bonheur éphémère von Niekas ================================================================================ Kapitel 13: Ende des langen Wartens ----------------------------------- Immer, wenn seine Gedanken für einen Moment abschweiften von dem, was geschehen war, landeten sie bei einem Drama. Es war eine Aufführung, die er vor langer Zeit gesehen hatte, die Inszenierung eines Stücks des Barden. Der Schauspieler auf der Bühne, ein Bote, hatte sich in die Brust geworfen. Seine Bewegungen waren ein wenig aufgesetzt gewesen, ein wenig lächerlich. Immerhin war das Stück eine Komödie und keine Tragödie. He hath borne himself beyond the promise of his age, doing in the figure of a lamb the feats of a lion. Immer wieder hallten die Worte des Schauspielers in seinem Kopf wieder, nichts als Worte, auswendig gelernt aus einem vorgeschriebenen Skript. Doing in the figure of a lamb the feats of a lion. In der Stimme des Boten lagen Stolz und Ehrfurcht, denn es war eine gute Nachricht. Ein junger Mann war über sein Alter, über sich selbst hinausgewachsen. Es war eine gute Nachricht, und das Stück war eine Komödie. Keine Tragödie. Arthur wusste nicht, ob Alfred ihn überhaupt noch hörte. Er wusste nicht, ob sein kleiner Bruder noch da war oder ob er ihn schon verlassen hatte. Aber es spielte keine Rolle, ob Alfred noch da war. So oder so hatte er Arthur verlassen, für immer und ewig. Und dennoch konnte Arthur nicht aufhören, auf ihn einzureden. „Alfred, bitte, du bist mein Bruder... du kannst mich nicht so im Stich lassen, nicht so... du kannst mich doch nicht... nicht... ich wollte doch nie, dass es so weit kommt, ich wollte dich nie verletzen, ich wollte... wollte doch immer nur das Beste für dich, glaub mir... glaub mir doch, Alfred... glaub mir...“ Der Regen prasselte auf seinen Kopf und seine Schultern. Er war kalt, aber die Tränen auf seinem Gesicht waren warm, heiß. Sie liefen über seine Wangen und tropften von seinem Kinn nach unten. Ihm fehlte die Kraft, aufzustehen, die Kraft zu allem. Sein Gewehr lag nutzlos irgendwo neben ihm. Er konnte nichts weiter tun, als im Schlamm hocken zu bleiben und zu beten. Beten. „Was habe ich falsch gemacht, Alfred? Was habe ich falsch gemacht? Bin ich nicht immer gut zu dir gewesen? Habe ich nicht immer... immer alles getan, damit... damit du...“ Er hörte leise Schritte auf dem durchweichten Boden vor ihm. Sein Herz setzte einen Schlag aus. War Alfred zurück gekommen? Wenn ja, konnte er alles regeln, er konnte dieses dumme Missverständnis aufklären, er konnte... Hoffnungsvoll hob er den Kopf. „Angleterre“, sagte Francis mit einem Lächeln. „So sieht man sich wieder.“ Arthur rang nach Luft und tastete mit einer Hand nach seinem Gewehr, doch Francis vor ihm war ebenfalls bewaffnet. Die Spitze seines Bajonetts stieß trügerisch sanft gegen Arthurs Brust. „Lass es. Du hast keine Chance. Nicht in deinem Zustand.“ Langsam ließ Arthur den Kopf wieder sinken. „Lass mich in Frieden, Francis“, flüsterte er. „Wenn du noch einen Funken Ehre im Leib hast, geh. Du kannst mir jederzeit auf die Nerven gehen, aber nicht gerade jetzt.“ „Gerade jetzt, da dein geliebter kleiner Bruder, dein Ein und Alles dich verlassen hat? Von nun an könnte er sowohl dein Freund als auch dein Feind sein.“ „Lass mich.“ „Sein Kind der Liebe zu verlieren... das erinnert mich doch an jemanden, der das ganz ähnlich erlebt hat.“ Stumm warf Arthur einen Blick nach oben. Auf Francis' Lippen lag noch immer ein Lächeln, doch es wirkte angespannt, als lächle er nur, um nicht weinen zu müssen. Seine Hände umklammerten das Gewehr so fest, dass seine Finger zitterten. Der Regen hatte nasse Spuren auf seinen Wangen hinterlassen. Sie sahen aus wie Tränen, obwohl es keine waren. „Meinst du...“, begann Arthur und verstummte dann wieder. Sein Herz begann zu rasen. Er erinnerte sich an die Nacht, in der er die uneinnehmbare Festung eingenommen hatte. An Matthew, der auf seinem Arm geweint hatte, und an Francis' Blick. Wie er ihm hinterher gesehen hatte, während Arthur mit Matthew gegangen war. Einfach gegangen. „Du...“, brachte Arthur hervor und begann zu zittern. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. „Oui, Angleterre?“, fragte Francis. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Arthur rang nach Luft. Er wusste nicht, was er glauben sollte oder glauben wollte. Alfred hatte ihn verlassen. Für immer? War es alles Francis' Schuld? Hatte er ihm Alfred weggenommen? Hatte Arthur es womöglich nicht anders verdient? „Wenn du schießen willst“, flüsterte Arthur, „tu dir keinen Zwang an.“ „Wieso sollte ich das tun?“, fragte Francis und strich sich eine durchnässte Locke aus der Stirn. „Es wäre überflüssig. Kein Schmerz ist schlimmer als der, wenn man den verloren hat, den man am meisten liebt.“ Das Bild des durchweichten Erdbodens verschwamm vor Arthurs Augen. Er bemerkte nicht mehr, wie er in den Schlamm fiel und dort liegen blieb, die Lider noch einen Spalt weit geöffnet. Er sah nichts mehr und spürte nichts mehr. Es war kein schlechter Zustand. Francis hob den Kopf, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Alarmiert fuhr er herum und umklammerte sein Gewehr. „Wer da?“, rief er durch das Prasseln des Regens. Der Reiter auf seinem Pferd antwortete nicht. Er trug einen roten Mantel und weiße Handschuhe. Die Kleider sahen aus wie die Arthurs, abgesehen von dem Hut, den der Fremde tief ins Gesicht gezogen hatte. Seine Augen lagen im Schatten. „Gehörst du zu Angleterre hier?“, fragte Francis, das Bajonett noch immer erhoben. Der Fremde schwieg kurz. Als er antwortete, war seine Stimme weich und so leise, dass sie über den Regen kaum zu hören war. „Das ist eine gute Frage, François. Wenn man bedenkt, dass du gerade ein Gewehr auf mich richtest, gehöre ich vielleicht eher zu ihm als zu dir.“ Francis zuckte zusammen und starrte den Reiter an. „Mathieu?“, brachte er hervor. Matthew antwortete nicht sofort. Er senkte den Kopf, stieg von seinem Pferd ab und klopfte ihm beruhigend auf den Hals. Danach wandte er sich um und betrachtete Arthur, der auf dem durchweichten Boden lag. „Er ist nicht tot, oder?“ „Natürlich nicht“, erwiderte Francis und schüttelte den Kopf. „Aber was spielt das denn überhaupt für eine Rolle, Mathieu? Du bist hier! Du... du hast... dich verändert.“ „Mich verändert“, erwiderte Matthew leise. „So kann man es vielleicht nennen.“ „Du bist groß geworden, Mathieu“, sagte Francis. Plötzlich lachte er laut auf, ließ das Gewehr achtlos fallen und packte Matthews Schultern. „Du bist ja ein richtiger junger Mann geworden, mon petit! Wie schnell du gewachsen bist!“ Er schob eine Haarsträhne aus Matthews Stirn und hob sein Kinn an, um ihm ins Gesicht zu sehen. Matthew wich seinen Händen aus und wandte den Blick ab. „Was ist denn, Mathieu?“, fragte Francis, doch er war zu glücklich, um sich Sorgen um ihn zu machen. „Jetzt ist alles gut, nicht wahr? Schau dir Angleterre an! Wenn du jetzt mit mir kommst, wird er dich jedenfalls nicht daran hindern. Komm mit mir, Mathieu, so wie früher! Angleterre wird nichts dagegen tun... schau ihn dir doch an!“ Matthew sah an seiner Schulter vorbei auf Arthur hinunter. Langsam befreite er sich aus Francis' Griff und trat näher heran. Er betrachtete Arthurs blasses Gesicht, den Schlamm, der auf seine Wangen gespritzt war und seine Kleider durchweicht hatte, und seine geschlossenen, aber geröteten Augen. „Wieso hast du das getan?“, murmelte er und drehte sich zu Francis um. Seine Stimme begann zu zittern. „Wieso hast du ihm das angetan?“ Francis runzelte irritiert die Stirn. „Was meinst du, Mathieu?“ „Na, das!“, rief Matthew schrill und deutete auf Arthur hinter sich. „Ich habe ihm nur das zurückgezahlt, was er uns angetan hat, Mathieu. Er sollte wissen, wie es ist, den zu verlieren, den er am meisten liebt.“ Matthew starrte ihn an. „Den... den er...?“ „Ich habe Alfred dazu angestachelt, ihn zu verlassen“, sagte Francis mit einem Lächeln. „Ich habe ihn unterstützt, damit er Angleterre allein lässt. Oui, das habe ich. Aber letztendlich war ich noch immer nicht so grausam, wie er damals war, als er mir dich weggenommen hat. Ich habe Alfred nicht nachts aus seinem Bett geholt und ihn an einen völlig fremden Ort verschleppt. Ich habe nicht versucht, ihn umzuerziehen oder ihm einen anderen Namen zu geben. Ich bin noch immer um so vieles besser als er.“ Er warf einen hasserfüllten Blick auf Arthur hinunter. Matthew sah ihn an und schien nicht glauben zu können, was er hörte. „Du bist nicht besser als er“, flüsterte er. „Was hast du gesagt, Mathieu?“ „Was er getan hat, hat er getan, um an Macht zu kommen“, murmelte Matthew. „Kein sehr edler Grund, das gebe ich zu. Aber du hast dasselbe getan, nur um ihn zu verletzen. Findest du das nicht viel grausamer, François?“ Einen Moment lang sah Francis ihn verständnislos an. Vorsichtig trat er näher und legte eine Hand auf Matthews Wange. „Aber Mathieu... ich habe es doch für dich getan.“ „Für mich?“ „Ich habe es getan, um dich zu rächen“, flüsterte Francis und streichelte mit den Fingern Matthews Wange, als sei dieser wieder ein kleines Kind. „Hast du nicht unter dem gelitten, was er getan hat, Mathieu? Warst du nicht einsam? Ich wollte, dass er für das bezahlt, was er dir angetan hat. Wieso... wieso bist du plötzlich so kühl? Du solltest dich doch freuen, Mathieu! Freu dich!“ „Worüber soll ich mich freuen?“, flüsterte Matthew. „Dass Alfred Arthur verlassen hat, macht nichts ungeschehen.“ „Aber wenigstens weiß Arthur jetzt, was er dir angetan hat!“ „Nicht mir“, korrigierte Matthew ihn leise, aber entschieden. „Er weiß jetzt, was er dir angetan hat.“ Francis legte den Kopf schief. „Na, wie auch immer! Jedenfalls hat er dafür bezahlt. Komm jetzt mit mir, Mathieu. Ich werde dich mit zu mir nehmen und...“ „Das alles hier hast du nicht für mich getan“, sagte Matthew und wich einen Schritt vor ihm zurück. In seinen Augen lag etwas wie Furcht. „Du hast es nur für dich getan, François, und gegen Arthur. Du wolltest dich an ihm rächen, um deinen verletzten Stolz zu befriedigen. Du hast bei deiner Rache nicht einmal an mich gedacht. Nicht einmal. Du... du machst mir Angst, François“ „Das kannst du doch nicht glauben!“, schrie Francis ihn an. „Wie kannst du sagen, ich hätte nicht an dich gedacht? Ich habe immer an dich gedacht, Mathieu, immer! Du hast mir gefehlt! Ich habe... ich habe es für dich getan!“ Traurig schüttelte Matthew den Kopf. „Wenn es um mich gegangen wäre“, murmelte er und beugte sich hinunter zu Arthur, „dann hättest du mich dabei unterstützt, Arthur zu verlassen, und nicht Alfred.“ „Aber... das ist doch...“ Francis lachte verzweifelt und hob die Arme. „Mathieu, petit prince. Sei doch nicht neidisch auf Alfred, das ist er nicht wert. Wenn du doch nur bei mir hättest bleiben können, dann hättest du nicht neben ihm aufwachsen müssen...“ „Es geht nicht um Alfred“, erklärte Matthew leise. „Es ging nie um ihn, genau, wie es nie um mich ging. Es ging immer um dich und Arthur und deine Rache an ihm. Mehr war da nicht.“ Francis starrte seinen Rücken an, da Matthew sich nicht umdrehte. „Was hat er mit dir gemacht?“, flüsterte er und versuchte, den Kloß in seinem Hals herunter zu schlucken. „Was hat Angleterre mit dir gemacht?“ „Gar nichts“, antwortete Matthew leise. „Ich bin erwachsen geworden, François. Das ist alles.“ Traurig beugte er sich über Arthur und tastete an dessen Hals nach dem Puls. Er war noch da, hektisch, aber relativ gleichmäßig vorhanden. „Mathieu“, sagte Francis hinter ihm leise. „Kommst du nun mit mir oder...?“ Er wagte es nicht, das oder nicht auszusprechen. Matthew wandte sich zu ihm um. Er sah müde aus. „Als Kind habe ich so lange auf dich gewartet, François“, sagte er. „Sicher kannst du jetzt auch noch eine Weile auf mich warten.“ Mühsam griff er nach Arthurs Kragen, richtete ihn halb auf, schlang die Arme um seine Brust und zog ihn zu seinem Pferd hinüber, das stoisch dem Regen trotzte. Noch immer war Matthew nicht ganz ausgewachsen und so schmächtig, wie er als Kind schon gewesen war. Es bereitete ihm einige Mühe, Arthurs schweren Körper auf das Pferd zu hieven. Francis sah ihm reglos dabei zu und fühlte sich, als träume er. Weniger, weil die Situation ihm so unwirklich vorkam, als weil die Dinge einfach geschahen und er auf nichts einen Einfluss hatte. „Warte doch, Mathieu“, murmelte er, doch er sprach so leise, dass Matthew ihn unmöglich hören konnte. Ohne Francis anzusehen, griff er nach den Zügeln des Pferdes und führte es davon. Seine rechte Hand lag auf Arthurs Arm, damit dieser nicht herunter fiel. Er drehte sich nicht mehr um. Als Arthur erwachte, war es fast dunkel. Nur gedämpftes Licht schimmerte durch die Vorhänge vor dem Fenster. Er lag in einem Bett, das er kannte, aber es war nicht sein eigenes. Er wusste nicht, wo er war, doch er spürte, dass er hier willkommen war. Wieso sonst sollte er in einem Bett liegen? Irgendetwas störte ihn. Da war eine dunkle Erinnerung, die er in den hintersten Winkel seines Gedächtnisses verbannt hatte und die nun von dort aus versuchte, sich in sein Bewusstsein zu drängen. Er wusste, dass er Schmerzen haben müsste, doch er wusste nicht, was ihn verletzt haben sollte oder warum ihm trotz allem nichts wehtat. Es war wie in einem Traum, dachte er. Wissen, das von irgendwo her kam und einfach da war. Dinge verschoben sich in Träumen, die Welt löste sich auf, die Zeit war nicht mehr vorhanden. Das Gute an Träumen war, dass sie nicht real waren. Wie gut, dass er nur ein Traum war. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit und jemand warf einen vorsichtigen Blick ins Zimmer. Eine Stimme erklang, doch Arthur verstand nicht, was sie sagte. Jemand kam herein, trat näher an sein Bett und strich die Decke über seiner Brust ordentlich glatt. Arthur konnte sein Gesicht über sich sehen. Dieses Gesicht. „Alfred“, murmelte er und fragte sich, wieso Reue und Trauer in ihm aufstiegen, als er den Namen aussprach. Er beschloss, dass es keine Rolle spielte, schloss die Augen und seufzte leise. Er war zu Hause. „Arthur?“, fragte Matthew leise und strich über die Decke. „Bist du wach?“ Arthurs hellgrüne Augen waren einen Spalt weit geöffnet, doch Matthew konnte nicht erkennen, ob er ihn ansah oder durch ihn hindurch. Seine Lippen zuckten leicht. Vielleicht sollte es ein Lächeln sein. „Alfred“, flüsterte er, so leise, dass es kaum zu verstehen war. Danach verdrehten seine Augen sich nach oben, sodass nur noch das Weiße zu sehen war. Er holte rasselnd Luft und seine Lider fielen zu. Matthew blieb neben ihm sitzen und fragte sich, wann Arthur lernen würde, Alfred und ihn auseinander zu halten. Ab jetzt dürfte es ihm eigentlich nicht weiter schwer fallen, nachdem Alfred ihn verlassen hatte. Matthew war nicht traurig darüber, dass er weg war, oder gab zumindest sein Bestes, um Alfred bloß nicht zu vermissen. Anfangs hatte er gezweifelt, ob es eine verpasste Gelegenheit gewesen war, sich Alfred nicht anzuschließen. Freiheit und das Streben nach Glück, klang das denn so schlecht? Aber nun, da er sah, wozu Alfreds Träumereien von Freiheit geführt hatten, war er froh, nicht mit ihm gegangen zu sein. Dass Arthur verletzt worden war, machte ihn wütend. Es war eine seltsame Art von Wut. Irgendwo tief drinnen, dachte Matthew, würde er immer der kleine Junge mit dem Teddy bleiben, der so leise war, dass er übersehen wurde. Der sich nichts so sehr wünschte wie jemanden, der ihn liebte, und das so sehr, dass er sich an denjenigen hielt, den er zu Anfang hatte hassen wollen. Er sah Arthur an und versuchte, den Arthur wieder in sein Gedächtnis zu rufen, der ihn vor Jahren von Francis getrennt hatte. Gedankenverloren betrachtete er Arthurs rote Uniform, die an dem Schrank in der Ecke hing, frisch gewaschen und beinahe wieder trocken. Sein Gewehr lehnte darunter an der Wand, das Bajonett noch immer an der Spitze. Dennoch wurde der böse Arthur in seinem Kopf nicht wieder lebendig. Es gab keinen bösen Arthur mehr, dachte Matthew. Entweder das, oder er weigerte sich einfach, ihn zu sehen. Mit einem leisen Seufzen stand er auf. Er sollte Tee kochen, das wäre sicher das Beste. Passte Ahornsirup zu Tee? Francis würde es wissen. Wenn er Francis doch nur fragen könnte... aber Francis war zu lange nicht für ihn da gewesen. Er hatte viele Fragen gehabt, sein ganzes Leben hindurch, und Francis hatte keine davon beantworten können. Er war ja nie da gewesen. Genau wie der böse Arthur für immer verschwunden zu sein schien, verhielt es sich mit dem lieben Francis. Der, der seinen Teddy mit Pflastern versorgt hatte, der ihm die Ahornblätter gezeigt und ihn abends ins Bett gebracht hatte. All das war so lange her, dachte Matthew und betrachtete den Teddy, der halb vergessen auf der Fensterbank saß. Mittlerweile hatte er nur noch einen winzigen Rest Wolle in seinem schlaffen Bauch und saß traurig da, den zu schweren Kopf nach vorn gesunken. Er sah aus, als habe er resigniert, dachte Matthew. Wann war es passiert, dass auch er resigniert hatte? Dass er die Idee mit dem bösen Arthur und dem lieben Francis verworfen und noch einmal bei Null angefangen hatte? Francis wusste es vielleicht nicht, aber er stand wieder bei Null. Er hatte anscheinend keine Ahnung davon, dass die Zeiten sich geändert hatten. Er würde es erfahren müssen, dachte Matthew und machte sich auf den Weg in die Küche. Er würde es sehen müssen. „Wer?“ Das war alles gewesen, was seine Majestät zu sagen gehabt hatte. Francis hatte so viel zu erzählen gehabt, so viele Enttäuschungen und Hoffnungen und Informationen, dass alles gleichzeitig und viel zu schnell aus ihm heraus geplatzt war. Als er eine kurze Atempause eingelegt hatte, um den König darüber nachdenken zu lassen, hatte dieser ihn nur leicht verwirrt angesehen. „Von wem sprichst du?“ Natürlich sprach er von Mathieu. Mathieu, der nicht mit ihm hatte kommen wollen. Mathieu, der womöglich für immer verloren war, wenn man nicht schnell etwas unternahm. Irgendetwas. Aber der König hatte sich nicht von Francis' Alarmbereitschaft anstecken lassen. „Du solltest dich erst einmal entspannen. Iss, trink, fühl dich wie zu Hause.“ Die Teller auf dem langen Tisch waren halb geleert. Das Essen darauf sah aus wie massakriert, dachte Francis. Er streckte die Hand aus, tauchte die Finger in die dicke Bratensoße und zog sie über das weiße Tischtuch. „Was machst du da?“, fragte das Mädchen träge, das neben ihm saß. „Ich denke“, erwiderte Francis ernst und zeichnete einen weiteren bräunlichen Strich auf den Stoff. Das Mädchen kicherte und angelte sich eine Handvoll Weintrauben aus einer Schale. „Möchtest du auch welche haben?“ „Nein, danke“, sagte Francis. Seine Finger waren trocken. Er tauchte sie wieder in die Soße. „Woran denkst du?“, fragte sie spielerisch. „An Mathieu.“ „Wer ist das? Und warum musst du seinetwegen das Tischtuch dreckig machen?“ Francis antwortete nicht. Sie legte einen Finger an sein Kinn, drehte sein Gesicht zu sich und schob ihm eine Traube in den Mund. Er kaute lustlos darauf herum und schluckte. Sie kicherte und schob zwei weitere hinterher. „Ich denke an Mathieu“, erklärte Francis ihr mit vollem Mund. Sie verzog die Lippen. „Wieso? Denk doch lieber an mich.“ „Sei nicht so albern. Ich weiß nicht einmal, wie du heißt. Und ich habe gesagt, ich will keine Trauben.“ Das Mädchen seufzte theatralisch und steckte sich selbst eine der Früchte in den Mund. „So eine Schande. Sie sind ausgezeichnet. Seine Majestät will nur das Beste für seine Tafel.“ „Seine Majestät“, murmelte Francis und fragte sich, wieso plötzlich diese Wut in ihm aufstieg. „Was hast du?“, fragte sie, lehnte sich zurück und ließ die letzte Traube in ihren Mund fallen. Francis' Blick hing an ihren roten Lippen, die sich um die Frucht schlossen. An dem pompösen Kleid, das über und über mit weißer und beigefarbener Spitze besetzt war. An den Flecken von Soße auf ihrem Gesicht, dem zerknitterten Tüllstoff des Kleides und einem kleinen Stück Kartoffel, das in ihrem Dekolleté hängen geblieben war. „Diese Dekadenz“, murmelte er. „Wie bitte?“, fragte sie träge und zupfte an ihren aufgetürmten Locken. Francis sah an sich herunter. Die goldenen Stickereien an seinen Ärmelumschlägen, das weiße Spitzentuch um seinen Hals, die teuren Stiefel. Langsam schob er sich die Finger in den Mund und schmeckte die Bratensoße daran. Brauchte er das alles?, fragte er sich. Machte es ihn glücklich? Nichts machte ihn glücklich, wenn Mathieu nicht da war. Zuvor hatte er die etwas bedenkliche Staatsführung seines Königs hingenommen, aber seine Gleichgültigkeit in Bezug auf Mathieu drohte, das Fass zum überlaufen zu bringen. Wieso also sollte er weiter in diesem Luxus leben und sich mit Köstlichkeiten vollstopfen, um nur nicht daran zu denken, dass auf dem Land seine Kinder verhungerten? „Es ist nicht richtig“, sagte er leise. „Was?“, fragte das Mädchen überrascht. „Es ist nicht richtig“, wiederholte Francis und spürte erneut diese Wut in sich aufsteigen. Diesmal war sie noch stärker als beim ersten Mal. „Das alles hier! Es... es ist...“ Er konnte es nicht in Worte fassen, aber tun konnte er etwas. Er trat an den großen Tisch und zog mit einem Ruck die besudelte Tischdecke herunter. Silbernes und gläsernes Geschirr, Becher und Teller stürzten zu Boden und zersprangen klirrend auf den Steinen. Porzellanscherben vermischten sich mit Gemüse und ein Karpfen schlängelte sich aus seiner silbernen Terrine, um mit weit geöffnetem Mund und stierenden Augen auf dem steinernen Boden liegen zu bleiben. Die Gräten standen aus seinem schon halb verzehrten Rücken. Francis hatte bemerkt, dass das Mädchen sich erschreckt hatte, dass es spitz aufgeschrien hatte, aber es war ihm egal. Er beugte sich hinunter, strich mit den Fingern durch eine Lache von Soße und betrachtete sie gedankenverloren. „Das muss ein Ende haben“, sagte er leise, an niemand anderen als an sich selbst gerichtet. „Etwas muss sich verändern. Vielleicht ist es an der Zeit für eine... eine Revolution.“ Hinter ihm rappelte das Mädchen sich von seinem Stuhl auf, raffte seinen ausladenden Rock hoch und floh aus dem Speisesaal. Francis achtete nicht darauf. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und blieb dort. Es war das erste ehrliche Lächeln seit langer Zeit. (Nein, ich habe über den Krieg an sich (1775 - 1781) nichts geschrieben. Lest dazu Hetalia, okay? Im Oktober 1781 belagern Franzosen und Amerikaner gemeinsam die Briten in Yorktown, Virginia. Mit der Kapitulation der Briten ist praktisch der letzte Widerstand gegen die Amerikanische Unabhängigkeit aufgegeben. Seht ihr, Francis war durchaus vor Ort. Und 1789 findet drüben in Europa der Sturm auf die Bastille statt, der die Französische Revolution einleitet. Narks, die Geschichte werde ich hier nicht erklären, das würde zu weit gehen. Jedenfalls liegen dazwischen nur acht Jahre, ein Wimpernschlag für eine Nation. Vielleicht kein direkter Kausalzusammenhang, aber ein sehr schöner zeitlicher, wie ich finde. Das Zitat zu Beginn kommt aus einem Stück von Shakespeare, the Bard: Much Ado About Nothing, Act 1, Scene 1. Es ist eine Komödie, keine Tragödie. Falls jemand nichts für altmodisches Englisch übrig hat, ich würde das Zitat frei übersetzen mit „Er ist über sein Alter hinausgewachsen und hat in der Gestalt eines Lamms die Taten eines Löwen vollbracht“. Ach, Alfred, der Löwe im Schafspelz...) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)