Bonheur éphémère von Niekas ================================================================================ Kapitel 9: We wish you a merry Christmas ---------------------------------------- „Ich will ein Pferd, Arthur!“, rief Alfred und hüpfte auf und ab. „Nun halt doch endlich still!“, fauchte Arthur wütend, griff nach seinen Schultern und drückte ihn auf einen Stuhl. „Sonst werde ich ja nie fertig!“ „Ich will ein Pferd!“, verkündete Alfred und baumelte mit den Beinen. Seine Augen glänzten vor Vorfreude. „Kriege ich eins, Arty? Dann kann ich Cowboy spielen! Ich brauche auch ein Lasso, aber einen Hut habe ich schon, und einen Stern auch! Wie ein Sheriff!“ Matthew stand im Hintergrund und drückte seinen Teddy an sich. Den Sheriffsstern, von dem Alfred so stolz redete, hatte er sich selbst aus Papier gebastelt. Er war hässlich, aber Matthew traute sich nicht, es ihm zu sagen. Er streichelte den Teddy und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Draußen schwebten weiße Flocken durch die Dunkelheit. „Na endlich“, knurrte Arthur und gab Alfred einen Klaps auf den Hinterkopf. „Und ab mit dir. Wieso wäschst du dir eigentlich nicht selbst die Ohren?“ „Alles klar, Arty! Wenn ich das nächste Mal sehe, dass meine Ohren dreckig sind, wasche ich sie!“ „Du kannst sowieso nicht in deine eigenen Ohren sehen, Dummkopf!“ „Wenn du weißt, dass ich das nicht kann, wieso sagst du dann...“ „Matthew!“, sagte Arthur laut und Matthew zuckte zusammen. Schüchtern ging er hinüber zu dem Stuhl, auf dem Alfred gesessen hatte, und setzte sich. Arthur schien wütend zu sein, und Matthew fühlte sich nie wohl, wenn er wütend war. „Wieso müssen wir uns eigentlich die Ohren waschen?“, fragte Alfred. „Ihr müsst das gar nicht, weil ich es tue“, erwiderte Arthur, griff nach einem Waschlappen und tauchte ihn in die Waschschüssel. „Aber warum müssen wir so sauber sein?“ „Weil Santa Claus darauf achtet, natürlich.“ „Hat der nichts Besseres zu tun, als in unsere Ohren zu gucken?“ „Er sieht in alle Ohren von allen Kindern auf der Welt“, erklärte Arthur und fuhr mit dem Lappen durch Matthews Gesicht. Matthew kniff Mund und Augen zu. „Er hat sonst keine Hobbys, oder?“ „Und er sieht zum Beispiel auch, dass Matthew hier viel braver still hält als du.“ „Kriegt er deswegen mehr Geschenke als ich?“, fragte Alfred besorgt. „Ja, wahrscheinlich.“ Das gab Alfred eine Weile lang zu denken, aber bald hellte sein Gesicht sich wieder auf. „Naja, egal! Helden bekommen sicher einen Bonus, und ich bin ein Held!“ Arthur verdrehte die Augen und rieb etwas kräftiger an Matthews Nacken herum, als es nötig gewesen wäre. Erschrocken drückte Matthew den Teddy an sich. „Was wünschst du dir eigentlich, Mattie?“, fragte Alfred gespannt und kam etwas näher. Unschlüssig zog Matthew die Schultern hoch. „Wie? Du wünschst dir gar nichts?“ Matthew hätte sagen können, dass er sich viele Dinge wünschte – aber das, was er sich am meisten wünschte, würde ohnehin nicht passieren. Dass er zu Francis zurück kam nämlich. Nein, daran durfte er jetzt nicht denken, sonst würde er wieder weinen müssen. Natürlich wünschte er sich noch andere Dinge (einen langen, weichen Schal, am liebsten in Rot, und ein flauschiges Kaninchen und einen großen Haufen Pfannkuchen mit Ahornsirup), aber er wusste nicht, ob Santa Claus überhaupt wusste, wo er jetzt wohnte. Wahrscheinlich würde er die Geschenke in Matthews altes Haus bringen. Dann konnte er sich die Mühe ja gleich sparen. „Matthew wird sich schon irgendetwas wünschen“, sagte Arthur und wrang den Waschlappen aus. „Und Santa Claus weiß genau, was das ist.“ „Wie wäre es mit einem neuen Bär?“, fragte Alfred und stupste Matthews Teddy in den Bauch. „Der hier ist ja schon ganz schlaff.“ „Ist er das?“, fragte Arthur überrascht. „Hat er vielleicht ein Loch, Matthew?“ Erschrocken schüttelte Matthew den Kopf und drückte den Teddy fest an sich. Er spürte, wie die Kanten des Buches sich durch den Stoff drückten. „Wir können ihn nähen, wenn er kaputt ist“, erklärte Arthur beruhigend und lächelte. „Nein“, flüsterte Matthew. „Es ist schon in Ordnung.“ „Also gut.“ Arthur entschied sich offenbar dafür, ihn nicht länger zu bedrängen. Er richtete sich auf und fuhr sich durch die Haare. „Dann ist es jetzt Zeit für euch beide, ins Bett zu gehen.“ „Och, Arty!“, beschwerte sich Alfred. „Können wir nicht noch...“ „Santa Claus wird erst kommen, wenn ihr beide schlaft. Also seid brav und geht jetzt ins Bett.“ Matthew rutschte vom Stuhl, den Bär schützend an seine Brust gedrückt. Er fühlte sich müde und so sauber, dass es ungemütlich war. „Wird Santa Claus mir viele Geschenke bringen, wenn ich jetzt ins Bett gehe?“, fragte Alfred eifrig. „Jedenfalls wird er dir nichts als Kohlen bringen, wenn du jetzt nicht ins Bett gehst.“ Alfred legte den Kopf schief und überlegte kurz. „Das Risiko gehe ich nicht ein“, erklärte er dann und lief zur Tür. „Komm, Mattie! Gehen wir!“ Geschichte #11 – Weihnachten Es ist jetzt Heiligabend. Morgen ist Weihnachten. Alfred sagt, Santa Claus wird kommen und ihm Geschenke bringen. Arthur sagt, dass er nichts als Kohlen bringen wird, weil Alfred nicht brav war. Wenn das wirklich passiert, geschieht es Alfred recht. Vielleicht lache ich dann. Nein, wahrscheinlich eher nicht. Es wäre wirklich traurig, nur Kohlen zu bekommen. Ich würde weinen, wenn mir das passieren würde. Aber ich bin braver als Alfred. Ich wünsche mir nicht viel. Es hat geschneit, was ich sehr schön finde. Das hatte ich mir gewünscht, dass es schneit. Und ich wünsche mir, dass Arthur mal irgendetwas wirklich Gutes kocht. Es wäre gut, wenn es hier wenigstens Ahornsirup gäbe. Dann würde ich über alles, was ich esse, so viel Ahornsirup schütten, dass ich nichts mehr schmecke. Arthur lässt jedes Mal irgendetwas anbrennen. Na gut, nicht ganz jedes Mal. Aber so gut wie François wird er niemals kochen. François... Lieber Gott, oder Santa Claus oder wer immer hierfür zuständig ist. Ich wünsche mir, dass ich François wiedersehen darf und dass ich für immer bei ihm bleiben darf. Ich wünsche mir, dass wir beide zusammen sein dürfen, weil ich nur dann glücklich sein kann. Ich glaube, es war eine Sünde, dass ich mir Alfred tot gewünscht habe. Von mir aus soll er auch glücklich sein, und Arthur auch. Ein bisschen. Aber die Hauptsache ist, dass ich François wiedersehe. Sonst wünsche ich mir nichts, gar nichts zu Weihnachten. Nur dieses eine. Ist das zu erfüllen? Nur diesen einen Wunsch. „Mattie?“, zischte Alfred im lauten Flüsterton durch die Dunkelheit. „Schläfst du?“ Matthew hatte sein Buch schon vor einiger Zeit weggelegt und die Augen geschlossen. Er antwortete nicht auf Alfreds Frage, doch das kümmerte Alfred ohnehin nicht. „Es ist so aufregend, findest du nicht? Wenn wir morgen aufwachen, war Santa Claus da! Aber wir haben alles verschlafen und nichts mitbekommen. Was glaubst du, wieso das so ist? Vielleicht ist Santa Claus sehr schüchtern? Oder sehr bescheiden, was meinst du? Oder vielleicht ist er total hässlich und will deshalb nicht, dass ihn jemand sieht...“ Er verstummte eine Weile lang. „Hey, hoffentlich hat er das gerade nicht gehört. Nein, ich glaube eigentlich nicht, dass er hässlich ist. Sicher nicht. Oder was meinst du?“ „Hmm“, machte Matthew, drehte sich auf die andere Seite und vergrub das Gesicht in seinem Kissen. „Ich frage mich, ob ich wirklich ein Pferd bekomme. Ich meine, Arthur hat eins, wieso sollte ich keins haben? Ich komme sogar auf sein Pferd drauf, wenn er mich hochhebt. Und wenn ich ein Pferd habe, will ich Cowboy spielen. Du darfst mitspielen, wenn du willst. Du kannst ein Indianer sein, oder ein flüchtiger Verbrecher. Oder ein Schaf.“ Matthew zog sich die Decke über den Kopf. „Wieso wünschst du dir eigentlich nichts, Mattie? Du hast doch nur diesen uralten Teddy, der ist bestimmt schon... was, zehn Jahre alt oder so? Wieso wünschst du dir keinen neuen? Oder anständige pajamas. Wieso hast du eigentlich nur dieses alte Nachthemd? Ich meine, Arthur trägt auch Nachthemden, aber da sind wenigstens keine Rüschen dran. Und Lilien... sind das Lilien, diese Blumen? Du könntest dir wirklich etwas wünschen, Mattie. Komm, sag schon, irgendetwas muss da doch sein. Wieso sagst du es mir nicht, nur so, jetzt gleich? Was wünschst du dir?“ „Soll ich es dir sagen?“, fragte Matthew schüchtern. „Na klar! Immer raus mit der Sprache!“ „Ich wünsche mir, dass du jetzt aufhörst zu reden. Ich bin ziemlich müde.“ Ein paar Sekunden lang schwieg Alfred überrascht. „Aber wir können doch jetzt nicht schlafen!“, sagte er dann empört. „Nicht? Aber Santa Claus...“ „Er kommt nur einmal im Jahr, Mattie! Wir haben nur einmal in einem ganzen Jahr die Chance, ihn zu sehen! Das dürfen wir uns doch nicht entgehen lassen!“ „Aber wir dürfen nicht aufstehen“, murmelte Matthew und fühlte sich plötzlich sehr unwohl im Dunkeln in seinem Bett. „Wir müssen schlafen. Erst morgen früh dürfen wir...“ „Dann wird er schon weg sein, und wir haben ihn wieder nicht gesehen!“, sagte Alfred. „Nein, Mattie. Ich werde jedenfalls sehen, ob ich ihn erwische.“ Ein Rascheln wie von Bettzeug erklang. Matthew blinzelte und erkannte Alfreds Silhouette, die die Decke beiseite schob und sich aufsetzte. „Ich gehe jetzt. Arthur dürfte mittlerweile auch schlafen.“ „Aber...“, begann Matthew hilflos. „Du brauchst ja nicht mitzukommen, Mattie“, sagte Alfred und tapste zur Tür. „Ich erzähle dir dann, wie es war. Wenn du dich nicht traust...“ Matthew spürte, wie er zitterte, doch er biss entschlossen die Zähne zusammen. „I-ich traue mich“, erklärte er und schlüpfte ebenfalls aus seinem Bett. Alfreds breites Grinsen war selbst im Dunkeln zu erkennen. „Gut!“, sagte er und griff nach der Türklinke. „Aber leise. Er darf uns nicht hören.“ „Wer? Santa Claus oder Arthur?“ „Beide nicht“, antwortete Alfred und legte den Finger auf die Lippen. „Und jetzt pssst.“ Langsam öffnete er die Tür und schlich hinaus auf den Flur. „Wohin willst du denn noch so spät, wenn ich fragen darf?“, fragte Arthur und baute sich vor ihm auf dem Flur auf. Alfred zuckte zusammen und wich wieder zurück. „Himmel, Arthur! Hast du mich erschreckt!“ Arthur runzelte die Stirn. „Habe ich dir nicht gesagt, dass du schlafen sollst, Alfred?“ „Aber ich will doch...!“, begann Alfred, doch Arthur ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Es ist jedes Jahr dasselbe mit dir. Santa Claus kommt erst, wenn du schläfst. Er wird nicht gern beobachtet, verstehst du? Also geh jetzt wieder ab ins Bett.“ Alfred verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Unterlippe vor. „Nie darf ich machen, was Spaß macht.“ „Ach, Alfred“, seufzte Arthur, strich über seinen Kopf und lächelte aufmunternd. „Schlaf jetzt. Morgen wird ein wunderbarer Tag.“ „Versprochen?“, fragte Alfred. „Versprochen.“ Arthur griff nach seiner Schulter und schob ihn sanft in Richtung des Zimmers. „Du gehst auch ins Bett, Matthew“, sagte er, als er ihn in der Tür stehen sah. Matthew zuckte zusammen, doch auch ihm lächelte Arthur zu. „Morgen früh dürft ihr mich wecken, und dann sehen wir nach, was Santa Claus euch gebracht hat. Okay?“ „Okay“, gab Alfred nach und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. Er kletterte wieder in sein Bett und Arthur deckte ihn zu. „Gute Nacht“, sagte er und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Bäh“, machte Alfred und wischte sein Gesicht sorgfältig ab. „Gute Nacht, Matthew“, sagte Arthur und drehte sich zu ihm um. Matthew hatte sich bereits fest unter seiner Decke zusammengerollt. Er wusste nicht, ob Arthur ihn sonst ebenfalls zugedeckt hätte. Vielleicht hätte er es getan, vielleicht nicht. Beide Varianten hätten ihm nicht gefallen. So war es besser. „Gute Nacht“, murmelte er in sein Kissen und hörte, wie Arthur das Zimmer verließ und leise die Tür schloss. Eine Weile lang hatte Alfred noch im Dunkeln mit ihm geredet. „So ein Mist. Jetzt warten wir, bis Arthur wirklich schläft, und dann versuchen wir es noch einmal. Okay, Mattie? Dieses Jahr muss das klappen! Ich will Santa Claus schon seit Jahren sehen, und nie funktioniert es. Aber wir beide zusammen, wir schaffen das, oder? Wir können ihn sehen! Sobald Arthur schläft, gehen wir wieder.“ Mit der Zeit war seine Stimme leiser und träger geworden, immer wieder von seinem Gähnen unterbrochen. Irgendwann hörte Matthew nur noch sein ruhiges Atmen aus dem anderen Bett. Er drückte seinen Teddy an sich, schloss die Augen und drehte sich auf die andere Seite. Endlich war es still, sodass er schlafen konnte. Es war dunkel um ihn herum. Bis auf Alfreds Atmen im anderen Bett hörte er nichts. Doch – etwas war da, fiel ihm plötzlich auf. Unten, im Erdgeschoss des Hauses, erklangen leise Geräusche. Als würde jemand sich alle Mühe machen, leise zu sein, es aber nicht ganz schaffen. Vielleicht war es Santa Claus, dachte Matthew und sein Herz schlug etwas schneller. Vielleicht war er schon da, obwohl er noch nicht schlief. Aber vielleicht, fiel ihm ein, hatte Santa Claus nur gewartet, bis Alfred schlief. Womöglich wusste er nicht, dass mittlerweile zwei Jungen in diesem Haus wohnten. Auf seiner Liste stand nur Alfred. Wenn es so war, dachte Matthew, würde er dann gar keine Geschenke bekommen? Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanken. Santa Claus wusste sicher, dass hier nicht Matthews zu Hause war. Vielleicht war er deswegen jetzt gekommen, solange Matthew noch wach war? Vielleicht hatte er dessen größten Wunsch ja doch erhört und war hier, um ihn mitzunehmen... Santa Claus musste doch wissen, wo Francis wohnte, oder? Und dorthin würde er Matthews Geschenke bringen. Denn Matthew wohnte ja eigentlich dort, egal, was Arthur tat. Vor Aufregung begann er zu zittern. Noch immer erklangen gedämpfte Geräusche von unten. So leise wie möglich schob Matthew seine Decke beiseite und stand auf, den Teddy an sich gedrückt. Seine nackten Füße froren auf dem Boden, doch er war fest entschlossen, keinen Rückzieher zu machen. So leise er konnte schlich er zur Tür und öffnete sie. Die Treppe lag im Dunkeln, doch von unten drang ein leichter Lichtschein herauf. Die Geräusche wurden lauter, als Matthew die Treppe hinunter stieg und vor der Tür zum Wohnzimmer stehen blieb. Einen Moment lang zögerte er noch. Würde er Santa Claus gleich begegnen? Wie sah er aus? Würde er ihn zu Francis mitnehmen, oder würde er womöglich zornig sein, weil Matthew nicht im Bett lag? Ach was, er würde es verstehen. Er wusste ja, was Matthew sich wünschte. Er würde es verstehen. Und außerdem, dachte Matthew und drückte die Klinke herunter, würde er jetzt Santa Claus treffen und Alfred nicht. Vorsichtig schob er die Tür auf und wagte einen Blick in den Raum. Die Wände waren mit Tannenzweigen und rot-grünen Girlanden geschmückt, auch auf dem Kaminsims lagen Zweige. Vor dem Kamin hingen zwei große Socken. Und davor kniete Arthur auf dem Boden und war gerade damit beschäftigt, etwas in einem Socken zu verstauen. Matthew blieb stehen, wo er war, und wagte es nicht, sich zu rühren. Was machte Arthur hier? Wollte er die Geschenke stehlen? Hatte er Santa Claus verscheucht? Arthur bemerkte nichts. Er klopfte seelenruhig an den Socken herum, damit sie gerade hingen, und rückte zwei längliche Pakete zurecht, die neben dem Kaminvorleger lagen. Danach nickte er, rieb sich müde die Augen und stand auf. Er gähnte, doch das Gähnen blieb ihm im Hals stecken, als er sich umdrehte und Matthew sah. Sicher würde er wütend sein, dachte Matthew und drückte sich ängstlich gegen den Türrahmen. Immerhin hatte er Arthur dabei erwischt, wie er die Geschenke stehlen wollte... oder was auch immer er getan hatte. Es hatte ausgesehen, als habe er überprüft, ob alles da war. Aber wieso glaubte er, Santa Claus auf die Finger sehen zu müssen? „Alfred?“, fragte Arthur und runzelte die Stirn. „Was...?“ „Ich bin's“, erwiderte Matthew leise. „Matthew.“ Arthur starrte ihn an und schüttelte den Kopf. „Matthew“, sagte er leise, kam auf ihn zu und versuchte, ihm den Blick in das Zimmer zu versperren. „Was machst du denn hier?“ „Ich wollte Santa Claus treffen“, flüsterte Matthew und drückte den Teddy an sich. Arthur sah ihn unsicher an und überlegte offenbar fieberhaft, was er tun sollte. „Du... du solltest jetzt wieder ins Bett gehen.“ „War er hier?“, fragte Matthew. „Hast du ihn gesehen?“ „Nein, ich habe ihn nicht gesehen“, sagte Arthur und griff nach Matthews Schultern. „Du muss jetzt wieder schlafen. Es ist noch viel zu früh, um...“ In diesem Moment hörten sie ein Poltern, gefolgt von einem lauten Aufprall. Danach war es wieder still. „What the...?“, fragte Arthur erschrocken, schob sich an Matthew vorbei und stürzte in den Flur. „Um Himmels Willen, Alfred! Was ist passiert?“ Alfred lag am Fuß der Treppe, halb auf der untersten Stufe, halb auf dem Boden. Als Arthur zu ihm lief und ihn aufrichtete, erkannte Matthew eine Schürfwunde an seinem Knie, die leicht blutete. „Ich bin irgendwie daneben getreten“, erklärte Alfred schläfrig. Seine Augen fielen fast zu, was den Sturz erklärte. „Du hast um diese Uhrzeit gar nicht auf den Beinen zu sein!“, sagte Arthur streng, aber erleichtert. „Ihr geht jetzt beide wieder ins Bett, aber sofort!“ „Aber ich bin aufgewacht und Matthew war schon weg! Ich lasse doch nicht zu, dass er ganz allein Geschenke kriegt.“ „Es ist noch nicht Morgen“, stellte Arthur klar. „Es ist mitten in der Nacht.“ „Also war Santa Claus noch nicht da?“ „Doch“, sagte Matthew. „Und ich habe ihn wieder nicht gesehen!“, sagte Alfred enttäuscht. „Wieso hast du mich nicht geweckt, Mattie? Hast du ihn wenigstens gesehen?“ „Ich weiß nicht“, erwiderte Matthew leise. „Ich glaube nicht.“ „Naja, wie auch immer!“, sagte Alfred und sein Gesicht hellte sich auf. „Hat er Geschenke gebracht?“ „Alfred...“, begann Arthur warnend, doch Alfred hatte seine Müdigkeit erstaunlich schnell abgeschüttelt. Er wand sich aus Arthurs Griff und rannte ins Wohnzimmer, wo er staunend stehen blieb und die Socken über dem Kamin betrachtete. „Wow... schau mal, Mattie! Die sind für uns!“ Ohne noch auf Arthurs Proteste zu achten, stellte er sich auf Zehenspitzen und nahm die beiden Socken ab. „Für dich, Mattie!“, sagte er und drückte Matthew eine davon in die Hand. „Es steht zwar nicht dein Name drauf, aber auf der hier steht meiner, also muss das meine sein und die andere deine... das ist doch logisch, oder, Arty?“ Unsicher sah Matthew von seinem Geschenk zu Arthur. Dieser seufzte tief, kam ebenfalls ins Zimmer und ließ sich schwerfällig auf dem Sofa nieder. „Also gut“, sagte er und schlug die Beine übereinander. „Dann bescheren wir eben schon jetzt. Was kann es schaden?“ „Juhuu!“, rief Alfred. „Merry Christmas!“ Bevor Arthur oder Matthew dasselbe sagen konnten, hatte er seinen Socken umgedreht und geschüttelt. Heraus fiel ein zusammengefaltetes Stoffbündel. Alfred stupste es einige Male mit dem Fuß an. „Na so was, schon wieder pajamas!“ „Sei doch etwas vorsichtiger!“, sagte Arthur. „Was, wenn es etwas Zerbrechliches gewesen wäre? Und außerdem heißt es pyjamas.“ „Ach was“, winkte Alfred ab. „Santa Claus schenkt mir jedes Jahr pajamas“, erklärte er Matthew beiläufig. „Oder Pullover oder Unterwäsche. In den Socken sind nie so gute Sachen. Die richtig guten liegen daneben.“ Unsicher betrachtete Matthew seinen eigenen Socken. Er fühlte sich weich an, nicht besonders schwer, aber auch nicht leicht. „Willst du nicht nachsehen, was es ist?“, fragte Arthur lächelnd und beugte sich ein wenig vor. Matthew senkte den Kopf. Er wusste nicht, ob er überhaupt ein Geschenk bekommen wollte. Nicht, wenn Santa Claus der Auffassung war, dass sein zu Hause jetzt bei Arthur war. Und nach dem, was er zuvor im Wohnzimmer gesehen hatte, wusste er ohnehin nicht mehr, was er glauben sollte. Vielleicht hatte Arthur sich um seine Geschenke gekümmert, um dann zu behaupten, Santa Claus habe sie gebracht? Trotz seiner Zweifel siegte seine Neugier, nachdem er eine Weile lang an dem Socken herum gedrückt hatte. Er schob die Hand hinein und zog vorsichtig ein Stoffbündel heraus, genau so eines wie das, das Alfred bekommen hatte. Pajamas, wie Alfred prophezeit hatte. Hose und Hemd waren rot, mit einem eingestickten Eisbär auf der Brust. „Na?“, fragte Arthur und lächelte. Er wirkte aufgeregt, fast nervös. „Gefällt er dir?“ Bevor Matthew antworten konnte, wurde er von einem lauten Jubelschrei unterbrochen. „Arty! Schau mal, schau doch! Ich habe ein Pferd bekommen!“ Alfred hatte eines der länglichen Pakete geöffnet, die neben dem Kamin lagen, und sein Geschenk zum Vorschein gebracht. Es war ein langer Holzstab mit einem Pferdekopf aus Stoff am oberen Ende. Ein Steckenpferd. „Ich habe ein Pferd!“, rief Alfred und hielt es über seinen Kopf. „Arty, guck doch!“ „Ich habe es gesehen“, sagte Arthur müde, aber glücklich. „Wow! Mattie, hast du es auch gesehen? Guck mal, Mattie! Ich habe ein Pferd! Ein echtes Pferd!“ Matthew hätte ihm sagen können, dass man ein Steckenpferd nicht als echtes Pferd bezeichnen konnte, doch er schwieg und versuchte, zu lächeln. Alfred strahlte, während er sein Geschenk in Augenschein nahm. Das Pferd hatte einen braunen Kopf und eine schwarze Mähne, die beinahe echt aussah. „Jetzt kann ich ein echter Cowboy sein, Arthur! Ein ganz echter!“ „Wie schön“, sagte Arthur und gähnte. „Mattie! Mach du doch auch dein Geschenk auf, komm! Ich will wissen, was drin ist!“ „Ich habe es doch aufgemacht“, erwiderte Matthew schüchtern und hielt ihm den Schlafanzug hin. „Es waren pajamas drin.“ „Es heißt pyjamas“, korrigierte Arthur geduldig. „Doch nicht das!“, sagte Alfred und winkte ab. „Das andere, Mattie! Das hier drüben!“ Er griff nach Matthews Ärmel und zog ihn quer durch das Zimmer, wobei er sein Steckenpferd unter den Arm geklemmt hatte. Beinahe stach er Matthew mit dem Stab ein Auge aus, doch dieser bemerkte es kaum. Neben dem Kamin lag ein weiteres, längliches Paket, das in ein Tuch gewickelt war. „Mach es auf!“, sagte Alfred und hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere. „Komm schon, Mattie, es steht dein Name dran! Willst du nicht wissen, was es ist?“ Langsam ging Matthew in die Knie und betastete das Paket. Er ahnte schon, was darin war, aber dennoch spürte er, wie Vorfreude in ihm aufstieg. Es war schwierig, ungerührt zu bleiben, während Alfred neben ihm auf und ab hüpfte und über beide Ohren grinste. „Du hast auch eins gekriegt!“, schrie Alfred triumphierend, sobald das Paket geöffnet war. „Schau mal, Arthur, schau! Matthew hat auch ein Steckenpferd bekommen!“ „Wie schön“, murmelte Arthur und gähnte. Andächtig strich Matthew seinem Pferd über den Kopf. Es war heller als das von Alfred und hatte eine hellbraune Mähne, die leicht gelockt war. Ein kleines bisschen wie seine eigenen Haare, bevor Arthur sie abgeschnitten hatte. Oder wie die von Francis. „Jetzt können wir zusammen Cowboys sein!“, rief Alfred und schlug ihm auf die Schulter. „Wir können entflohene Verbrecher fangen und so! Du darfst der Verbrecher sein, Arty!“ „Vielen Dank“, sagte Arthur und rieb sich die Augen. „So... wollt ihr jetzt nicht langsam ins Bett gehen? Es ist so spät... eigentlich ist es eher früh...“ „Ich bin noch gar nicht müde!“, verkündete Alfred mit leuchtenden Augen. „Hey, Mattie! Wie nennst du dein Pferd?“ Verwirrt sah Matthew ihn an. „Na ja... wie nennst du deins?“ „Ich nenne meins Blackie! Das ist ein guter Name für ein Pferd, oder?“ „Es ist doch gar nicht schwarz.“ „Nein“, gab Alfred zu und runzelte die Stirn. „Na, dann weiß ich es auch nicht.“ „Meins heißt Maple“, sagte Matthew und lächelte schüchtern. „Maple?“, wiederholte Alfred und lachte. „Wie lustig! Hey, hast du das gehört, Arty? Matties Pferd heißt Maple! Vielleicht nenne ich meins...“ Er brach ab und betrachtete das Sofa. Überrascht von seinem Schweigen sah Matthew ebenfalls auf. Arthur hatte die Augen geschlossen und war auf dem Sofa zusammen gesunken. Sein Mund stand einen Spalt weit offen. „Na so etwas!“, flüsterte Alfred und lachte leise. „Da sagt er uns, wir sollen ins Bett gehen, und am Ende schläft er selbst ein! So etwas.“ „Vielleicht sollten wir auch schlafen gehen?“ „Ach was! Ich bin noch überhaupt nicht müde. Du etwa?“ Matthew schüttelte den Kopf und betrachtete Arthur. Er sah sehr ruhig und friedlich aus, wie er da lag. Als könne er kein Wässerchen trüben, wie Francis es vielleicht ausgedrückt hätte. Als er Arthur zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er eine Uniform getragen und ein Gewehr auf Francis und ihn gerichtet. Aber jetzt, als er da lag, in seinem Schlafanzug und barfuß, ließ sich dieses Bild nicht mit dem ersten in Matthews Kopf vereinen. Als wäre das hier ein anderer Arthur als der, der ihn von Francis getrennt hatte. Ein besserer Arthur. Er wandte sich wieder seinem Steckenpferd zu. Der Kopf aus Stoff lag in seinem Schoß. Vielleicht hatte Santa Claus es gebracht, dachte er. Oder Arthur hatte es hingelegt, als er ihn im Wohnzimmer erwischt hatte. Vielleicht war das hier ein Geschenk von Arthur. Und wenn es so war? Hatte Arthur auch gleich an Matthews Haare denken müssen, als er die Mähne gesehen hatte? Nachdenklich drehte Matthew sich um und stutzte. Alfred hatte sich neben Arthur auf dem Sofa zusammengerollt und den Kopf an seine Schulter gelehnt. Noch hatte er beide Arme fest um sein Pferd geschlungen, doch seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht entspannt. Und da behauptete er, er wäre nicht müde, dachte Matthew. Leise stand er auf und überlegte, was er tun sollte. Wieder in sein Bett zu gehen und dort ganz allein zu liegen, schien ihm nicht das Richtige zu sein. Aber sich dazu legen? Wieso sollte er das tun? Sein Teddy saß neben seinen neuen pajamas auf dem Boden. Matthew ging hinüber und streichelte dem alten Stofftier über den Kopf. Wenn Francis doch hier wäre, dachte er. Dann könnte der ihm sagen, was er zu tun hatte. Was würde Francis tun? Plötzlich fröstelte er in seinem Nachthemd. Es war ein seltsames Gefühl, in einem Raum zu stehen, in dem alle anderen Anwesenden schon schliefen. Unsicher hob er seinen Teddy auf, als sein Blick auf eine zusammengefaltete Wolldecke fiel, die in einer hinteren Ecke auf einem kleinen Schrank lag. Matthew zögerte nur noch kurz, bevor er hinüber ging, um sie zu holen. Behutsam breitete er sie über Alfred und Arthur aus, die nicht aufwachten. Nur Alfred schüttelte leicht den Kopf und murmelte etwas, bevor er weiter schlief. Matthew zog die Decke über die beiden, so weit es ging, und trat dann stumm zurück. Er hatte getan, was er konnte, dachte er. Leise schlich er zu den Kerzen, die auf dem Tisch standen, und blies sie aus. Es wurde so dunkel, dass er den Weg zum Sofa kaum wieder fand. Als er sich an der Kante das Knie stieß, war er erleichtert. Den Teddy sicher unter den Arm geklemmt kletterte er auf das Sofa und rollte sich in einer Ecke zusammen, direkt neben der Armlehne. Er zog einen Zipfel der Decke über sich und drückte den Bär an sich. „Gute Nacht“, flüsterte er in die Stille. „Und fröhliche Weihnachten.“ Er bekam keine Antwort außer den ruhigen Atemzügen von Arthur und Alfred neben ihm. Er wusste nicht, ob es ihm gefiel, ihnen zuzuhören. Ohne, dass er es bemerkte, fielen seine Augen zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)