Scharfe Minze von Valenfield ================================================================================ Kapitel 1: Scharfe Minze ------------------------ Der visuelle Reiz des Zusammenspiels der Farben rot, gold und grün würde für Annina ein immer währendes Rätsel bleiben. Rot und grün konnte sie in Maßen verstehen. Es waren zwei sehr kontrastreiche Farben, die sie zusammen akzeptieren konnte und die in Kombination zweifelsohne herausstachen. Aber das reichte nicht, als dass sie nicht die Augen über den ätzend goldenen – und, bei aller Freundlichkeit, unbeschreiblich hässlichen – Engel verdreht hätte, den sie „mit Liebe“, wie die beiliegende Karte ihr in ungewohnt krakeliger Schrift übermittelte, von ihrer Mutter in den Wohnungsflur gestellt bekommen hatte. Was für eine furchtbare Dekoration. Alles an diesem bemalten Porzellangeschöpf wollte Annina schreien lassen, und zwar nicht vor Freude. Was sollte sie jetzt damit machen? Ihn ins Wohnzimmer stellen? Oh nein, ganz sicher nicht. Sie ließ den Engel stehen, wo er war, und beschloss, den Abend mit Tee anklingen zu lassen. Die letzten Arbeitstage vor Weihnachten waren immer die anstrengendsten, und obwohl sie das bereits seit Jahren nicht anders kannte, würde es sie wohl nie weniger, sondern immerzu mehr auslaugen. Ihr letzter Urlaub war ohnehin viel zu lange her, und der nächste ließ noch bis zu ihrem Geburtstag im März auf sich warten. Immerhin, so dachte sie sich, würde morgen der letzte Arbeitstag vor den Feiertagen sein. Es war das erste Weihnachten seit langer Zeit, an dem sie keinen Bereitschaftsdienst hatte. Sie hielt nicht viel davon, sich auf den Schultern eines Festes, deren Ursprung sie kaum kannte, geschweigedenn zelebrierte, auszuruhen, würde diese freien Tage aber gleichzeitig um nichts in der Welt abgeben wollen. Das Erste, was ihr in der Küche auffiel, war ein großer Beutel frischer Tee, einfallsreich verpackt, aber wenig dekorativ auf dem Tisch platziert. Sie schmunzelte, und noch mehr als sie das Etikett las. „Winterzauber Pfefferminz. Wie unglaublich plakativ.“ Ihre Mutter kannte sie eben doch gut genug, nicht einfach einen hässlichen Engel in den Flur zu stellen und es dabei zu belassen. Neben dem Beutel lag eine weitere kleine Karte. Wohl als Entschädigung über den fragwürdig beschrifteten Engel war die Handschrift dieses Mal nahezu ungewöhnlich schön. Geschwungene, ineinander verschmelzende Wörter, schöner als eine Maschine sie je zu Papier bringen könnte. Wenn's auf der Welt nur Gut's und Schlechtes gibt, dann bist du alles Gute. Das war erstaunlich tiefsinnig, ließ sie aber trotzdem nur kichern und den Teebeutel öffnen. Entgegen ihrer eigenen Erwartung empfand sie die Betitelung des Tees augenblicklich nicht mehr als unglaublich plakativ, sondern viel mehr als exzellente Beschreibung. Es war, als breite sich der liebliche Geruch augenblicklich im gesamten Raum aus. Die sanfte Minze, und doch eine leicht prickelnde Sensation für die Nase. Wie ein liebevolles Kitzeln der Geruchssinne. Für Annina gab es nichts Besseres als das. Vermutlich hätte es gereicht, sich am Weihnachtsabend im Kreise der Familie dafür zu bedanken. Es waren schließlich nur noch zwei Tage bis dahin, und auch wenn ihre Mutter öfters vorbeikam, wenn sie mal in der Nähe war und Annina arbeitete, war sie doch ein wenig verwundert über die verfrühten Geschenke, auch wenn sie in dem Sinne nur eine Kleinigkeit waren. Aber während sie so am Küchentisch saß, eine Kanne frisch gebrühten Tees gleich vor sich, und auf ihrem Handy ihre neuesten Nachrichten durchging, beschloss sie, es doch gleich zu tun. Mit Sicherheit würde ihre Mutter ganz entzückt sein, und Annina würde sich schwer beherrschen müssen, nichts Schlechtes über den Weihnachtsengel zu sagen. Es klingelte nur zwei Mal, bevor bereits abgehoben wurde. Immer wieder ein Rätsel für Annina, bedachte man, dass das Telefon ihres Elternhauses schon seit sie denken konnte im Flur gestanden hatte. „Oh, Annina, Liebes. Was verschafft mir nur diese Ehre, zwei Tage vor dem Familienessen?“ Sie hörte einen vorwurfsvollen Unterton – verständlich, wenn man bedachte, wie selten sie es neben der Arbeit schaffte, sich bei ihren Eltern zu melden – aber viel präsenter war dennoch die Glückseligkeit in der Stimme ihrer Mutter. „Ich konnte wohl einfach nicht warten damit. Der Name des Tees ist wider Erwarten ein absoluter Volltreffer.“ Für einen Moment herrschte Stille – ein ungewöhnlich langer Moment, wie sie merkte und daher einen Blick auf das Display warf um zu sehen, ob die Verbindung abgebrochen war. Doch dann hörte sie ihre Mutter schließlich antworten. „Liebes, ich bin mir nicht sicher, dir ganz folgen zu können.“ Verwundert runzelte Annina die Stirn. Sollte das irgendein Spaß oder Streich sein? Sie hörte keinerlei Belustigung, die Antwort klang völlig ernst, gar beinahe besorgt. Leicht verzweifelt versuchte sie, die Verwirrung aufzuklären. „Na, du weißt schon…Oh, verstehe. Der Engel sollte das eigentliche Highlight sein, aber den Tee hast du mir eben auch auf den Tisch gestellt, und der ist für mich definitiv der Sieger des Abends.“ Es entstand eine weitere, unangenehme Pause. Angst stieg in ihr auf, auch weil ihre Mutter bisher nie auch nur kleinste Anzeichen der Demenz gezeigt hatte. Wenn sie sich wirklich nicht mehr daran erinnerte, war das mehr als besorgniserregend. „Schatz, geht es dir gut? Ich habe weder einen Engel noch Tee in deine Wohnung gestellt. Hier ist alles zugeschneit, da hätte ich es kaum über die Türschwelle geschafft.“ Im Bruchteil einer Sekunde stieg unbeschreibliche Übelkeit in Annina auf. Jeder andere hätte jetzt vielleicht mögliche andere Erklärungen in Betracht gezogen. Einen Fehlkauf im vorweihnachtlichen Rausch im Zuge eines Weihnachtsmarktbesuches. Einen liebevollen Mitbewohner, der ihr eine Freude hatte machen wollen. Einen guten Freund oder Nachbarn, der den Ersatzschlüssel zur Wohnung ausnahmsweise für eine nette Überraschung benutzt hatte. Aber all diese Möglichkeiten kamen für sie nicht mal in Betracht. Annina trank nicht – hatte sie noch nie, und auch nicht vor, einfach aus dem Grunde, dass ihr bereits vom Geruch alkoholischer Getränke übel würde. Sie hatte auch keine Mitbewohner – was sie bis heute niemals bereut hatte, doch dieses eine Mal wirklich dankbar akzeptiert hätte, um diese Situation aufzuklären. Und der einzige Ersatzschlüssel neben dem, den ihre Mutter hatte, war bei ihrem Vermieter – welcher seinerseits schon seit einigen Tagen im Urlaub war. „Annina, Liebes? Bist du noch dran? Ist alles in Ordnung bei dir?“ Ihr stellte sich nicht die Frage, ob jemand in ihre Wohnung eingebrochen war. In ihrem Kopf rasten viel mehr die Gedanken, wer es gewesen war und vor allem Dingen, warum. Sie hatte keine Feinde, zumindest ihres Wissens nach nicht. Niemand, mit dem sie im Streit auseinandergegangen war, keine filmreifen Dreiecksbeziehungen, aus der sie als Siegerin hervorgegangen war. Bereits zu Schulzeiten hatte sie sich von Konflikten möglichst distanziert, wenn sie nicht gerade unvermeidbar waren. Sie räusperte sich kurz, und brachte ein gezwungenes Glucksen hervor. „Entschuldige, Mama. Ich glaube, mir ist der Weihnachtsstress ein bisschen zu Kopf gestiegen. Ich lege jetzt auf.“ Auf die Antwort wartete sie nicht, auch wenn sie Proteste vernehmen konnte, während sie nach dem roten Hörer reichte. Sollte sie die Polizei anrufen? Sie hatte keinerlei Anhaltspunkte, was hier passiert sein könnte, und auch wenn eine Porzellanfigur und ein Paket Tee absolut harmlos wirkten, hieß das nicht, dass es dabei bleiben würde. Dann, wie ein Gedankenblitz, kam ihr eine Befürchtung, die sie bisher noch gar nicht in Betracht gezogen hatte – was, wenn die Person noch hier war? Eine schwer zu beschreibene Kälte schlich sich über Anninas Rücken und ließ sie zusammenzucken. Nein, das wollte sie sich gar nicht vorstellen. Überhaupt. Wenn ihr jemand auflauerte – wieso auch immer – dann wäre es doch Unsinn, hier zu bleiben, ihr aber die Möglichkeit zu geben, den Ursprung der Geschenke zu hinterfragen und aus der Wohnung zu flüchten. Vielleicht wollte die Person, dass sie aus der Wohnung flüchtete, und wartete bereits an ihrem Auto darauf, sie abfangen zu können. Gedankenverloren ging Annina zum Fenster herüber und blickte auf die Straßen hinunter. Dort stand ihr Wagen, genau dort, wo sie ihn abgestellt hatte, genau so, wie sie sich erinnerte. Niemand in der Nähe zu sehen, auch wenn sie natürlich wusste, dass das nicht viel zu bedeuten hatte. Es gab genügend Möglichkeiten, sich zu verstecken, insbesondere in der Dunkelheit. Das mulmige Gefühl wich nicht, es wurde nicht einmal schwächer. Sie musste hier raus, egal wohin. Bis zu ihren Eltern empfand sie für heute Abend als zu weit, so lange wollte sie sich gar nicht draußen aufhalten. Sie würde ihren besten Freund Leo anrufen. Er wohnte nicht weit weg und war ohnehin ein Nachtmensch, zumal sie sich seit Wochen nicht gesehen hatten und sie die plötzliche Idee vorerst damit tarnen könnte, dass sie ihn einfach nur vermisste. Ohne einen Blick zurück ging sie schnellen Schrittes durch den Flur zur Wohnungstür, um sich gleich auf den Weg zu machen. Der Schlüssel lag nicht auf dem Tisch gleich daneben, und sie ärgerte sich über ihre Angewohnheit, ihn nicht dort abzulegen, wo er eigentlich hingehörte. Ein vorsichtiger Griff in die Jackentasche – nichts. Hektisches Stöbern in ihrer Handtasche – nichts. Zweifelnde Blicke zum Engel und der Karte daneben – nichts. Es war zum Haare raufen, insbesondere weil sie für solche Spielereien gerade weder Zeit noch den Kopf hatte. Das einzig Gute war wohl, dass sie im Schmuckkästchen im Schlafzimmer ein Ersatzschlüsselbund aufbewahrte. Etwas, wofür sie meist belächelt wurde, aber was sich schon mehr als einmal ausgezahlt hatte. Jede Minute, die sie hier verbringen musste, erschien ihr beängstigender als die Letzte. Vielleicht würde sie morgen darüber lachen können. Oder zumindest in ein paar Wochen. Jetzt jedoch war sie panisch, und fühlte sich wie im Kinosaal bei einem Horrorfilm, wenn dem Zuschauer schmerzhaft lang der plötzliche Jumpscare vorenthalten wurde. Ungeduldig stieß sie die Schlafzimmertür auf und hatte, geleitet vom Flurlicht, schon die ersten Schritte ins Zimmer getätigt, als ihr die Silhouette auf dem Bett auffiel und sie hektisch zurückstolpern ließ. Am liebsten wäre sie weggelaufen, aber wohin? Schließlich hatte sie keinen Schlüssel, um aus der Wohnung zu flüchten, also reichte sie stattdessen nach dem Lichtschalter und hielt sich am Türrahmen fest. Was sie erblickte war kein gruseliger Stereotyp-Entführer, muskelbepackt und mit vernarbtem Gesicht. Da sie so darüber nachdachte, wäre das vielleicht sogar weniger angsteinflößend gewesen als das, was sich vor ihr auftat. „Hi, Schwester Virtanen.“ Dass diese junge Frau – einige Jahre jünger als sie selbst, vielleicht Anfang zwanzig – ihren Nachnamen wusste, beunruhigte Annina nicht. Er stand an der Tür, und war deswegen nicht schwer herauszufinden, wenn man es schaffte, in ihre Wohnung einzudringen. Sie Schwester zu nennen, und das mit derartiger Inbrunst, fühlte sich schon um Einiges weniger gut an. Was auch immer hier vorging, stand also in Zusammenhang mit ihrem Beruf, auch wenn das eher mehr als weniger Fragen in ihr aufkommen ließ. „Was...wer bist du? Was machst du in meiner Wohnung?!“ Sie bemerkte kaum, wie sie sich am Türrahmen festkrallte. War es der plötzliche Schock, der diese Ohnmacht in ihr auslöste? Ihr war, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. „Ist nicht so wichtig. Viel interessanter ist für dich sicherlich, dass ich so frei war, die Tür abzuschließen und die Schlüssel zu nehmen. Damit hast du sicher kein Problem. Und, wie war dein Tee?“ Tee. Natürlich. Sie hatte davon getrunken, wohl mehr als genug um mögliche Zusatzstoffe in ausreichendem Maße zu sich zu nehmen. Es war schon eigenartig, wie unhinterfragt sie das Getränk aufgegossen hatte, und im Glauben, es käme von ihrer Mutter, jegliches Wissen über K.O.-Tropfen und pulverartige Alternativen gar nicht in Betracht gezogen hätte. Selbstverständlich war ihr der typisch seifige Geschmack deswegen auch nicht aufgefallen. „Warum tust du das? Ich...kenne dich überhaupt nicht.“ Zitternd sank Annina auf die Knie. Stechende Kopfschmerzen nahmen ihr jegliche Kontrolle über ihren Verstand, und machten es ihr unmöglich, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Sie hatte genügend Fälle von häuslichen Überfällen gehabt um eine grobe Statistik darüber ziehen zu können, wie ihr Abend möglicherweise enden würde. „Oh nein, mich nicht! Aber das ist okay. Dafür hast du mehr als genug Zeit mit diesem Mistkerl verbracht, um den es hier eigentlich geht. Warte, ich helfe dir auf die Sprünge: Elias Harju. Oh man, du hast ihn so vollgelabert, es war viel zu leicht, dich im sicheren Glauben zu lassen, ich sei deine Mutter!“ Ihre eigene Dummheit, ihre Naivität schmerzte, aber viel wichtiger war, um wen es hier ging. Sie erinnerte sich an den Namen, als hätte sie den jungen Mann erst gestern gesehen, dabei war es schon Monate, vielleicht Jahre her. Er war nach einem schweren Unfall ins Krankenhaus eingeliefert worden und vom Großteil der Belegschaft ziemlich schnell aufgegeben worden. Seine körperlichen Wunden waren schnell verheilt gewesen, aber offensichtlich war er schon zuvor vom Leben gezeichnet worden. Ein schwieriger Fall – und wenn Annina so zurückdachte; einer, auf den sie sehr stolz gewesen war. Sie hatte dem Jungen ins Leben zurückgeholfen, auch wenn sie keine Therapeutin war. Sie hatten so viele Stunden miteinander geredet, wann immer sie sich um ihn gekümmert hatte. Wie hatte diese Frau ihn genannt? Einen Mistkerl? „Ich...verstehe nicht. Er war verletzt...ich habe ihn gepflegt. Wo liegt hier der Zusammenhang zwischen ihm...und diesem Einbruch?“ Mit Mühen hielt sie die Augen offen, unsicher, ob sie es je wieder tun würde, falls sie einschlief. Was für ein krankes Schauspiel war das hier? Hatte diese Verrückte gehofft, dass Elias sterben würde? Und wenn ja, wieso? „Es war einfach eine dumme Idee, mit einem Psychopathen zu sympathisieren. Würde glatt sagen, dass du dir das fürs nächste Mal merken solltest, aber ich glaube, das wäre in Anbetracht deiner voraussichtlichen Zukunft unangebracht.“ Sie klang belustigt...nein; begeistert. Als hätte sie eine unglaublich große Summe Geld gewonnen, oder sei nach ewigem Bangen für ihrem Wunschstudiengang angenommen worden. Vielleicht war es so. Vielleicht war das, was sie hier gerade tat, für sie wie ein Ticket in die Freiheit. Annina wusste es nicht, und vielleicht würde sie es nie herausfinden, denn das Einzige, was ihren Verstand einnahm kurz bevor alles schwarz wurde, war der sanfte Geruch von scharfer Pfefferminze.   Das Erste, was ihre müden Ohren vernahmen, nachdem die Ohnmacht abklang, waren Worte, so sanft gesäuselt wie die eines Engels, und doch beißend kalt wie ein verschneiter Winter. „Hallo, Liebling.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)