shaping fate von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 13: Das Letzte Gefecht ------------------------------ Sah man einmal davon ab, dass das Dasein als Untoter damit einherging, von König Xarak herumgeschubst, kommandiert, kontrolliert und generell im Zweifelsfall auch dominiert zu werden, dann hatte man eigentlich ein ganz brauchbares Dasein. Zugegeben, der Hass der Götter war einem sicher – doch wenn man sich ansah, was die Götter sonst taten, wozu sie fähig waren und was sie interessierte, während andere Geschehnisse sie offenkundig nicht scherten… war das dann wirklich noch der Erwähnung wert? Das Leben machte doch oft genug ohnehin den Eindruck reinen Glückspiels, weshalb also nicht ein paar Vorteile abgreifen, wenn man schon vor sich hin existierte, indem man zumindest Körperwärme und regelmäßigem Herzschlag Lebewohl sagte? Nie wieder würde man sich darum scheren müssen, ob die fauchenden, heulenden Winde eisiger Frostwüsten einen umbringen könnten. Froren einem die Glieder ab? Na ganz gewiss nicht! Und die Erkundung unterirdischer Höhlensysteme, alter, längst vergessener Tempelanlagen und vielleicht nicht völlig vergessener Ruinen wurde so viel leichter. Giftige Speere? Das Loch heilt man irgendwann, irgendwie, einfach wieder zu. Und es war nicht so, als müsse man sich des Giftes wegen überhaupt noch den Kopf zerbrechen. Seuchentragende Rattenschwärme? Nun, ihre kleinen Zähnchen konnten vielleicht lästig sein, aber man brauchte sich zumindest keine Sorgen mehr darum machen, im Verlauf der nächsten Woche elendig dahinzusiechen. Ein sattes, gestandenes Drittel des Tages verschlafen? Wohl kaum! Keine Müdigkeit mehr, damit auch keine daraus resultierende Konzentrationsunfähigkeit mehr. Kein Hunger, kein Durst, keine Magenkrämpfe nach verdorbenem Essen oder Kopfschmerzen nach zu schweren Wetterumschwüngen. So viele der alltäglichen Martyrien konnte man sich durch diesen einen, kleinen, simplen Schritt ersparen: Einfach untot werden!   Ithildalin kannte den Luxus dieser Existenzform. Er kannte ihn tatsächlich inzwischen so gut, dass er wiederum kaum noch wusste, sich kaum noch erinnerte, wie es war, unter all diesen Kleinigkeiten leiden zu müssen. Er trauerte ihnen auch keineswegs nach. Die Erinnerungen, die noch da waren, erzählten von generellem Unbehagen, das sich bis zur empfundenen Unerträglichkeit steigern konnte. Und selbst ohne diese Mahnmale in seinem Verstand gebot doch die Logik allein schon, nicht dem Schlechten nachzujagen. Doch obgleich er sich um derlei keine Gedanken machen brauchte, saß er in seinem Zimmer und sann darüber nach. Über Übelkeit und Kopfschmerzen und das, worin beides begründet lag: Nervosität. Er war immun, gewissermaßen. Er konnte nicht nervös werden. Zumindest… nicht körperlich. Keine zittrigen, verschwitzten Hände, kein Konzentrationsmangel, keine flüchtigen Blicke in alle Richtungen wie ein gehetztes Tier. Nein. Er war ruhig. Körperlich. Sein Blick glitt durch den Raum und erforschte, was er nun schon unzählige Male gesehen hatte. Statuen, Bücherregale, Bodenkacheln, Tische, Stühle, Werkbänke. Alltägliches. Sein Zimmer, so wurde ihm das Offensichtliche bewusst, war anders aufgebaut als die Restlichen in der Nadel. Statt eine Unterteilung in diverse Räume, separiert durch Wände und Mauern, hatte er einen einzelnen, dafür größeren Raum erhalten, dessen innere Aufteilung durch Bücherregale vorgenommen wurde. In all der Zeit hier hatte er nicht einmal drei Dutzend davon lesen können. Tatsächlich wusste er nicht einmal, was überhaupt alles in seinen Bücherregalen stand. Es mochte kurios anmuten, doch er, als Untoter, der vierundzwanzig Stunden am Tag zu seiner freien, unbehelligten Verfügung hatte… hatte dafür einfach nicht die Zeit gefunden. Es hatte immer irgendetwas gegeben, das ihn aufhielt oder wichtiger gewesen war. Aufträge. Arien mal wieder zusammenflicken. Rik mit Sticheleien einen Schubs in die richtige Richtung geben. Neue Feinde und fragwürdige Verbündete recherchieren. Vorbereitung, Planung, Nachbereitung. Training an vorhandenen Fähigkeiten. Planung und Ausbau neuer Kompetenzen. Das gelegentliche Herumzanken mit den Göttern um die wenigen Brotkrumen an Macht, die ihnen zugeworfen wurden. Und, nicht zu vergessen: Die Nadel war ein kurioser Ort, der dank Ariens Führungsqualitäten vollgestopft mit Absurditäten war, die ihrerseits Namen hatten, Probleme, Vorlieben… Ihre sogenannten Verbündeten fraßen schlicht Zeit. Zeit und gelegentlich Lisas Kartoffelsuppe. Er hätte keinen von ihnen hinauswerfen wollen, im Gegenteil. Wenn es nach ihm ginge, dann wäre in der Nadel noch mehr als genug Platz für weitere neue Gesichter und waffenstarrende Wegbegleiter gewesen. Stattdessen hatten sie stark angefangen, noch vor seiner Zeit rasch einen großen Kreis aufgebaut und diesen gefestigt. Bis er in den letzten Wochen nach und nach wieder Mitglieder zu verlieren begonnen hatte. Arthur hatte letztlich doch das Alter eingeholt. Der störrische alte Veteran hatte lange und tapfer an ihrer Seite gedient, aber elbische Magie hin oder her, selbst das Medaillon hatte ihm nur die Spuren des Alters ersparen, den Prozess jedoch nicht tatsächlich stoppen können. Lisa kam immer wieder zurück, aber sie war längst nicht mehr der feste Grundstein, auf dessen Anwesenheit in der Küche man sich verlassen konnte. Es gab dort draußen immer noch einen gewaltigen Wald voller magischer Kreaturen und gewöhnlicher Riesenwildschweine und Bäume, die, allesamt, ihrem Kommando unterstanden. Zu ruhigeren Zeiten hatte sie dieses ihre Heer von hier drinnen führen können, doch jetzt? Mit den Untoten auf dem Vormarsch und Gefechten überall? Sie war die meiste Zeit des Tages dort draußen, kämpfte Seite an Seite mit ihren Untergebenen. Stärkte die Moral mit ihrer Anwesenheit und kehrte abends abgekämpft und erschöpft in die Arme ihrer Liebsten zurück, und zu ihnen. Oftmals nicht länger, um selbst ihre wundervollen Gerichte zuzubereiten, sondern um stattdessen mit dankbarem Lächeln und nur leichtem Wehmut in den Augen zu kosten, wie andere ihre Rezepte imitierten. Niemals gut genug, aber immer eine freundliche Geste. Vasilla begleitete sie dabei oft genug. Sie war des Kampfes natürlich weniger fähig als ihre Partnerin. Eher eine versierte Bardin mit ein paar Talentspitzen im Herumschleichen, taugte sie mehr als Späher und Unterstützung. Aber an genug Tagen war sie ebenfalls dort draußen. Was hätte sie hier drinnen auch tun sollen? So, wie die Dinge lagen, brauchte niemand eine Bibliothekarin. Arien wusste aus den obskursten Quellen heraus ohnehin so ziemlich alles über so ziemlich alles und inzwischen fanden sie sich obendrein mühelos in der eigenen Bibliothek zurecht. Oder vielmehr: Den eigenen Bibliotheken. Jeder hatte ja dann doch irgendwie auch nochmals seine Eigene. Selbst Elesil, ihr notorischer Streichespieler und Spaßmacher, war ihnen abhandengekommen. Eine politische Heirat zwischen ihr und Maria war ein sinnvoller Schachzug gewesen, damals, als es noch darum ging, den Völkerkrieg zu beenden und den Kontinent geschlossen und vereint hinter das Banner der Nadel zu zerren. Sie hatten einander ja auch gut leiden können, waren sich in ihren Ansichten und ihrer Moral ähnlich gewesen. Doch damit ging mehr einher als einander einfach nur ‚ja‘ zu sagen. Dabei hatte ihn vor allem erstaunt, wie rasch Elesil über sich selbst hinauszuwachsen fähig war – und wie gut und geschickt sie selbst Maria auf diesen Pfad führen konnte. Natalia wiederum saß irgendwo weit entfernt in Varnasse auf ihrem Thron und regierte. Versuchte, Symmarion irgendwie zusammenzuhalten, es bevorzugt in einem Stück durch diesen tobenden Krieg hindurch zu manövrieren. Ohne das Land dabei auszubluten. Ohne zu viele Söhne, Väter und Brüder in Särgen heimbringen zu müssen. Ohne, dass die Moral der Nation in viele kleine Scherben zerbrach. Eine zweifellos ebenso arbeitsträchtige und undankbare Aufgabe. Eigentlich war Varnasse dank des Spiegels ebenfalls nur einen Katzensprung entfernt, doch… wann hatten sie die amtierende Königin zuletzt an ihrer Abendbrotstafel begrüßen dürfen? Und wie oft hatten sie, im Gegenzug, sie einladen wollen und standen vor verschlossener Tür, während man ihnen leise flüsternd mitteilte, dass die Königin schon wieder während der letzten Tagesbesprechungen eingeschlafen sei? Sie sah schlechter aus. Das zumindest hatten sie durch ihre ständige Abwesenheit bei den wenigen Besuchen feststellen können. Der Wunsch, Symmarion zu schützen und zu führen, gut zu führen, zehrte sie aus. Sie gab alles für diese Aufgabe – selbst sich und jedes Quäntchen ihrer Energie. Und kein noch so amüsanter und entspannender Kurzurlaub konnte diese Zustände wirklich beheben. Das Elend verlängern, ja. Ihr mehr Zeit einräumen. Kurze Atempausen verschaffen. Aber es war allen bewusst: Wenn dieser Krieg länger laufen würde, würde er alles zerstören, was von ihr noch übrig war. Glücklicherweise hatten sie dieses Problem nicht. Heute… heute war der Tag der Tage. Sein Blick schweifte abermals durch den weiten Raum. Viel abermals auf das Buch, das nun schon seit Stunden unbeachtet in seinen Händen ruhte. Er hatte es von seinem Stapel gezogen, an der mit dem Lesezeichen markierten Stelle aufgeschlagen, sich auf sein Sofa gesetzt… und dann begonnen, den Raum auszuspähen, wieder und wieder und wieder, während er seinen Gedanken nachhing. Und am Ende jeder Spährunde hatte er das Buch angestarrt, ein paar Sätze des ersten Absatzes gelesen und… eine neue Spährunde begonnen. Das Einzige, was sich verändert hatte, waren seine Gedanken. Die hatten die stumpfe Monotonie begrüßt und sich selbst freien Lauf gelassen. Und über alledem… war er nervös geworden. Sehr. Gedanken an ihre Verbündeten und Mitstreiter waren eine Sache. Es war gut. Nicht natürlich, in welche Lagen sie jeweils individuell hineingeraten waren. Aber es war gut, dass es sie gab. Dass sie kämpften, loyal, inspiriert, verbissen. Dass jeder seinen Platz hatte und wusste, was es zu tun galt. Die Nadel fühlte sich inzwischen deutlich größer an. Und leerer. Nein, was ihn nervös gemacht hatte, war der engere Kreis. Die Nadelmeister selbst. Ihre unmittelbaren Anhänge. Was heute kommen würde. Was es für sie bedeuten würde. Die schieren Dimensionen dessen, was der Tag brächte. Sie stürmten vorwärts. Alles auf eine Karte. Es würde keine Ressourcenteilung geben, nichts würde zurückgehalten werden. Sie konnten sich solch ein Vorgehen, aller Vorbereitungen zum Trotz, einfach nicht leisten. Sie hatten diese eine Chance. Genau eine. Und sie würden sie nutzen und das Beste daraus machen, so wie sie das bisher auch immer getan hatten. Jetzt, in dieser Sekunde, starben da draußen dutzende Leute. In Kämpfen und Überfällen quer über den Kontinent verteilt. In ein paar Stunden aber, da wären es Hunderte. Vielleicht sogar Tausende. Die Luft in der Nadel hatte sich spürbar verändert, aber es war nicht nur die Nadel allein – es war der ganze, verdammte Kontinent. Dick und geladen. Man konnte sie vor Anspannung beinahe schneiden. Seit Monaten hatte es sich unscheinbar aufgebaut, gesteigert. Aber jetzt war es kaum noch zu übersehen. Jeder spürte es – wirklich jeder. Das Ende nahte. Waren sie bereit? War irgendwer bereit? Und insgeheim fragte er sich, ob das wohl auch für die Gegenseite galt. Untote waren immun gegen die körperlichen Auswirkungen von Nervosität und Angst, sie gerieten nicht in tatsächliche Panik. Aber sie fürchteten das Ende ihrer Existenz, sie konnten auf Basis dieser Furcht irrational handeln und auch ihnen musste klar sein, dass es allmählich auf eine finale Konfrontation hinauslief. Hatten die Untoten Angst? Fühlten sie sich bereit? Konnten sie die Anspannung in der Luft spüren? Für Jahrhunderte hatte er nichts anderes gekannt als diese eine Daseinsform. Er erinnerte sich kaum noch daran, wie es war, lebendig zu sein. Und auch, wenn er dankbar war, von den zittrigen, schwitzigen Händen verschont zu werden, so vermisste er doch etwas, das seine Erinnerungen ihm in einem wünschenswerten Licht demonstrierten: Diesen Schub von Adrenalin vor einer großen Prüfung. Tatsächlich Teil der Spannung zu werden, sich darin einzugraben, einzufühlen – statt nur mit einem vagen Gefühl von Beunruhigung daneben zu stehen und es mit milder Neugier zu studieren. „Fein, das reicht“, seufzte er frustriert und legte das Buch bei Seite. Wie oft hatte er jetzt die immer gleichen ersten Sätze gelesen? Und er wusste immer noch nicht, was darin stand! Ithildalin beschied, dass es Zeit war. Also trat er zu seiner Werkstatt herüber. Überall Späne von Holz, benutzte Werkzeuge. Er hätte aufräumen können. Vermutlich hätte er aufräumen sollen. Aber egal, wie die nächsten vierundzwanzig Stunden auch ausgehen mochten, ob nun Rik und Arien hierher zurückkehren würden oder die Untoten: Wer immer hier herein kam… sollte wissen, sollte sehen, das hier gelebt worden war. Es war ihm wichtig, etwas zurückzulassen. Selbst wenn es nur das Chaos in seiner Werkstatt war. Vorsichtig strich er über die Viola. Er hatte die letzten Tage hier und da ein klein wenig nachgebessert. Sie war in bestem Zustand, besser denn je zuvor. Er hatte über die Wochen noch ein paar Tricks gelernt, was das Fertigen von Instrumenten anbelangte. Langsam zog er sie vom Tisch, hielt sie an seine Brust und strich über das glatte, polierte Holz, als würde er einer Liebhaberin eine Gänsehaut bescheren wollen. Sie hatte ihn durch so viele Jahre, Abenteuer und Kämpfe begleitet. Natürlich wäre sie sicherer, bliebe sie hier. Vielleicht würde er sich das sogar einreden können: Noch etwas, das er zurückließ. Damit irgendwer es später, bei ihrer Rückkehr, finden konnte. Aber sie hatte Besseres verdient. Sie hatte nach all den Strapazen und den Märschen durch die Hölle verdient, an seiner Seite zu sein. Also schnallte er das Band wieder an und brachte sie auf seinem Rücken zum Liegen. Er würde heute sehr wahrscheinlich nicht eine Note darauf spielen. Aber sie wäre da. Mit ihm. Für ihn. Ein letztes Mal strichen seine Fingerspitzen über die Oberfläche der Werkbank. Spürten der Struktur des Holzes nach. Dann wandte er sich ab, marschierte die Küche und all die Vorräte darin ignorierend zur Zimmertür. Die Hand bereits an der Klinke, stoppte er, zögerte. Und kehrte nach kurzer Bedenkzeit für ein paar wenige Handgriffe in die Küche zurück. Als er die Zimmertür hinter sich ins schloss zog, schallte das lauter als sonst. So zumindest kam es ihm vor. Es hatte diesen Klang von… Endgültigkeit. Er hielt die Tür von außen noch einen Moment fest, starrte sie an. Und irgendwo tief in seinem Hinterkopf erwog ein kleines Stimmchen, ob er der Tür vorwerfen solle, dass sie ihn im Grunde gerade rausgeschmissen hatte. Aber… das war natürlich lächerlich. Es war ja nur eine Tür. Er trat an den Teleporter heran, warf nur einen kurzen Blick auf die anderen drei Türen. Dann ging es runter ins Erdgeschoss. Natürlich war er viel zu früh dran. Stunden, vermutlich. Aber er würde sich eventuell mit dem Kartentisch die Gegend nochmal anschauen können, neuste Entwicklungen beobachten, wie sich die Kampflinie verschoben hatte – das Übliche eigentlich. Kaum aber, dass er im Erdgeschoss ankam, wurde ihm unweigerlich klar, dass es dazu nicht kommen würde. Rik hatte die Tür zum Kartenraum einen Spalt offen stehen lassen und marschierte bereits darin herum. Den Drang eines leisen Seufzens unterdrückend – es war wirklich absurd, wie man manche der simpelsten Angewohnheiten des lebendigen Daseins selbst nach Jahrhunderten nicht loswerden konnte – trat der Lich an die Tür heran und klopfte leise. „Ja?“, kam in Riks gewohnter Arbeitsroutine. „Hast du nicht schlafen können?“, erkundigte sich Ithildalin, obwohl die Antwort ja nun wirklich offensichtlich war. Rik sah zu ihm auf. Das ‚Echt jetzt?‘ auf die Stirn geschrieben. Tiefe Augenringe und der Umstand, dass seine Hände beschäftigt werden wollten, aktiv beschäftigt bleiben mussten, sagte alles weitere. Ithildalin hob die Hand, ersparte ihm die Notwendigkeit, dafür Atem zu verschwenden und trat seinerseits näher an den Tisch heran. Mit Thilias Hilfe hatte Rik einen der Tische im Raum näher an den Kartentisch herangerückt. Darauf ausgebreitet lag alles, was sie zu ihrem Zielgebiet hatten. Rik glich offenbar seit einer Weile schon sich verschiebende Frontlinien ab. „Was Neues?“, hakte Ithildalin nach. Diese Frage, so befand er, war deutlich berechtigter. Rik stutzte und hielt tatsächlich inne. Musterte ihn, als wäre er sich jetzt erst der Anwesenheit eines anderen im Raum bewusst geworden. Thilia zählte nicht wirklich – die schlief eingerollt unter dem zurechtgerückten Tisch und erweckte dabei einen unverschämt ruhigen und friedlichen Eindruck. Einen kurzen Moment nur brauchte es, damit Rik sich fing. „Die Kräfte aus Akkara werden zurückgedrängt. Aus den Höhlensystemen kommt immer mehr Nachschub. In steigender Zahl. Und das Gefahrenpotenial dessen, was dort herauskommt, steigt ebenfalls.“ „Sie machen langsam ernst“, warf Ithildalin ein. Sein Gegenüber nickte lediglich, während der Lich an die Karten herantrat und einen Blick auf die sich verschiebenden Linien warf. „Die Kräfte aus Akkara sind dem Ansturm nicht gewachsen. Werden es auf Dauer jedenfalls nicht sein. Die Unterstützung aus dem Iustus-Bund kam gerade rechtzeitig, konnte aber nicht verhindern, dass die Front im Nordwesten zusammenbrach. Hier. Eine nicht unerhebliche Zahl ist ins Hinterland durchgebrochen und hat mehrere Versorgungswege und Feldlazarette attackiert. Im Moment noch nicht weiter gefährlich, aber wenn die Front weiter zurückgedrängt wird, könnten sie Gegner im Rücken haben. Die Truppen aus Elvoran halfen dabei, den Bruch zu versiegeln, aber sie können ebenfalls nur die sich zurückziehende Front halten. Sie haben nicht die Kapazitäten, um irgendwen zu entbehren, der ins Hinterland geht und da aufräumt.“ „Die Löwen?“, warf Ithildalin ein. Unnötig, das war ihm auch klar. Rik besaß vielleicht nicht Ariens einschüchternde Intelligenz oder ihr taktisches Kalkül. Aber er war Pedant. Er recherchierte doppelt und dreifach, bis keine Lücken mehr existierten und jeder Pfad doppelt gesichert war. Es gab zweifellos keine Option, die er nicht bereits bedacht hatte. Letztlich lieferte Ithildalin ihm auch nur einen Anstoß, seine Erkenntnisse und Entdeckungen, Überlegungen und Widersprüche herunter zu rattern. Er gab ihm, gewissermaßen, eine Bühne. Damit er sich austoben und seine Nerven ein wenig entlasten konnte. Wussten die Götter, wie lange Rik schon hier stand, über Karten brütete und sich den Kopf darüber zerbrach, ob sie nicht irgendetwas tun konnten, um diese riesige Schlachtbank dort draußen weniger  grässlich zu gestalten. Ob sie nicht irgendwie eingreifen, helfen, die Truppen und ihre Verbündeten entlasten konnten. Ithildalin kannte die Antworten, ohne sich so tief eingegraben zu haben: Nein. Nein, sie konnten nichts weiter tun. Bis zu diesem Punkt hatten sie bereits alles nur Mögliche geleistet. Sie wären nicht hier, hätten sie das nicht getan. Und auch, wenn die Macht, die jeder einzelne von ihnen in seinen Adern trug, nur Wenige andere kannte, die dem ebenwürdig waren, so würden sie für die Geschehnisse der nächsten Stunden doch jeden Funken davon brauchen. Nach einer ganzen Weile dieses Schauspiels kam auch Rikhard unweigerlich zu dieser Einsicht. Alle Optionen hatte Ithildalin aufgeworfen und aus ihm herausgekitzelt, alle Widerstande waren bedacht worden, alle Gründe ihres Ruhens und Wartens aufgezählt. Das Ergebnis war ernüchternd… und unumgänglich. Nochmals deutlich erschöpfter wirkend, wischte sich Rik über das Gesicht. „Scheiße“, zischte er leise. Ithildalin nickte lediglich. „In nicht mal einer Stunde geht’s los. Nimm dir Thilia, geh hoch und leg dich eine halbe Stunde hin.“ „Ich kann nicht schlafen, nicht jetzt“, erwiderte Rik unmittelbar. „Du siehst beschissen aus“, warf Ithildalin ernst und schnörkellos zurück. Rik verzog verärgert das Gesicht, hob bereits an, Widerworte zu speien, stockte dann jedoch. Vielleicht, weil ihm der Ton erst so spät bewusst geworden war. Vielleicht, weil er sich selbst durch Ithildalin unbekannte Umstände in genau diesem Moment die Wahrheit eingestehen konnte. Was ihn letztlich umstimmte, spielte auch kaum eine Rolle. Rik nickte kapitulierend. „Bis nachher“, nuschelte er leise, während er sich herabbeugte und eine leicht murrende Thilia hochhob. Die klammerte sich prompt an ihn und schlief einfach da weiter. Er nickte dem Lich zu – der Lich nickte zurück. Rik ging. Verließ den Kartenraum, ohne seine Schreib- und Zeichengeräte wegzuräumen, ohne die Karten zusammenzufalten, ohne irgendetwas zu tun, um die Ordnung wiederherzustellen. Entweder war das ein kräftiger Ausdruck dafür, dass auch Rik die Endgültigkeit des angebrochenen Tages spürte… oder ein Beweis dafür, wie geistig angeschlagen er dank der letzten Stunden war. Der Kartentisch hatte ihnen ermöglicht, jederzeit an jedem Ort einen Blick auf die aktuellen Geschehnisse werfen zu können. Und wie das Meiste, das oberflächlich betrachtet ausschließlich gut und nützlich war, hatte es immer wieder Gelegenheiten gegeben, zu denen ihnen aufgewiesen wurde, welche Nachteile damit einher gingen. Ithildalin bemühte sich ebenfalls nicht, irgendetwas aufzuräumen. Vielleicht aus Respekt eventuellen Wünschen Riks gegenüber. Der hatte nie groß ein Geheimnis daraus gemacht, das er damit rechnete, diese Sache nicht zu überleben. Vielleicht also war diese Unordnung dem ähnlich, was er selbst mit seiner Werkstatt getan hatte. Ein letzter, trotziger Beweis: Ich war hier! Nur wenn Rik sich hier im Kartenraum die Nacht um die Ohren geschlagen hatte… wo war dann Arien wohl abgeblieben? Statt seiner eigenen Neugier bezüglich der Schlacht nachzugehen, lauschte er an der Tür zu Arthurs Zimmer. Kein Laut. Also marschierte er in die Schmiede – nichts, niemand, totenstill. Im Stall waren die Pferde. Und dem Glanz in ihrem Fell nach zu urteilen hatte Arien sich vor kurzem erst um sie gekümmert. Also rannte sie vermutlich umher und kümmerte sich um unzählige Kleinigkeiten. Alles eben, was sie beschäftigt und abgelenkt hielt. Er trat an die Eingangshalle heran und siehe da: Eine Arien. Was sich ihm dort offenbarte, war… kurios. Arien stand dort, hatte einen Brutus auf die Beine gezogen, sodass der direkt vor seinem Bett stand – seiner üblichen Wachposition. Brutus trug bereits seinen Bogen, seinen Köcher auf dem Rücken. Arien hatte sogar extra einen magischen Köcher für ihn gefertigt, für den heutigen Tag, der weit, wirklich weit mehr Pfeile fasste. Brutus würde sie brauchen, allesamt. Was Ithildalin neu war, waren die anderen sechs Köcher. Die Arien gerade mit sehr großer Sorgfalt über die Lederriemen an Brutus‘ Rüstung festmachte. „Heb bitte die Arme“, meinte sie leise. Brutus leistete Folge. Sie zog hier und surrte da. Brutus mochte ihn vielleicht nicht bemerkt haben – oder hatte sich entschieden, seine Anwesenheit zu ignorieren. Aber Arien entging nie irgendjemandes Position innerhalb der Nadel. Sie wusste unweigerlich, dass er dort stand. Schien sich im Moment jedoch nicht daran zu stören oder weiter darum zu scheren. Entsprechend nickte Ithildalin Brutus lediglich zu – nur für den Fall der Fälle – und zog sich lautlos zurück. Ein leises „Sei bitte vorsichtig. Du kannst fliegen, also bleib auch oben. Es gibt-“ folgte ihm, bis er die Worte nicht mehr ausmachen konnte. Es war rührend, wirklich, wie sie ihn zur Vorsicht anhielt und entlockte dem Lich ein Lächeln. Wenn Arien hier unten war und Brutus auf den Kampf vorbereitete – oder vielmehr, sich selbst ablenkte, da das Konstrukt zweifellos selbst keinerlei Vorbereitung bedurfte oder für nötig erachtete -, dann musste der Rest irgendwo anders sein. Also begab er sich auf die Suche und tatsächlich – die Kaserne, die Abbas und Parcivall als Quartier diente, war verwaist, wie erwartet. Ebenso die zweite Zimmerebene. Dafür fanden sich sämtliche Leute, die noch fehlten, im Gasthaus. Und der Esstisch sah aus wie eine der Werkbänke aus Eresthenes‘ Werkstatt: Starrend vor Rüstungs- und Waffenteilen, seltsamen Apparaturen und merkwürdigem Kleinkram. Das mochte mehrheitlich darin begründet liegen, das Eresthenes Teil der Runde war. Natürlich schraubte der Gnom selbst jetzt noch, kaum eine Stunde vor Beginn ihres größten Kampfes, an irgendwelcher Technik herum. Während Mina offenbar einen Teil des Alchemielabors ausgelagert hatte und sich selbst und ihre Ausrüstung mit diversen Giften und alchemischen Rezepturen präparierte. Artemis dagegen wirkte merkwürdig still, warf immer wieder Blicke zur Tür und war damit der Einzige, der sich Ithildalins Anwesenheit überhaupt bewusst wurde. Auch hier: Beide nickten einander lediglich knapp zu. Faelon gab gerade Elesil gegenüber irgendeine Geschichte zum Besten. Dinge, die während ihrer Abwesenheit in der Nadel passiert waren. Selbst Peter saß mit am Tisch, wenn auch mit ein wenig Abstand. Und Vetus. Der Drache hatte seine kleinere Gestalt angenommen, prüfte ebenfalls seine Ausrüstung. Ihn am Essenstisch zu sehen, ohne das er den Kopf alle paar Sekunden in eine riesige Schüssel steckte… war ein denkwürdiger Moment. Ithildalin beschloss, nachdem er die Szenerie für eine Weile beobachtet und verfolgt hatte, dass er genug hatte. Genug gesehen. Er hatte getan, wofür er gekommen war. Offenbar. Irgendwie. Augenscheinlich tigerte er genauso ziellos umher und suchte nach Beschäftigung – anders konnte er sich diesen Unfug nicht erklären. Als er sich abwandte, standen dort Arien und Brutus. Natürlich erschreckte er sich nicht. Er zuckte auch nicht zusammen. Und schon gar nicht setzte er eine ertappte Miene auf. Das war schließlich Blödsinn – er war untot. Untote taten sowas nicht. „Du kannst dich uns anschließen?“, bot Arien mit einem Lächeln an. Sie wirkte angespannt, nervös… wie alle. „Danke. Aber es sind nur noch wenige Minuten“, erwiderte er. Oder vielmehr: Hörte er sich selbst sagen. Er wusste einfach selbst nicht recht, ob er aktuell Gesellschaft wollte oder nicht. Sie verstand. Und dem wortlosen Nicken nach zu urteilen, nahm sie ihm seine Entscheidung oder Nicht-Entscheidung auch nicht übel. Stattdessen zog sie Brutus, der darüber wiederum wenig begeistert wirkte, am Handgelenk mit ins Gasthaus zu den anderen. Im Kreis ihrer Liebsten fand sie vielleicht, mit etwas Glück, ein paar Augenblicke Ruhe und Frieden, ehe sie anfangen würden. Ithildalin zog sich dagegen nun in den Kartenraum zurück. Betrachtete die Darstellung Arvums und widerstand dem Drang, einen Blick darauf zu werfen. Ein paar Minuten blieben, wie er selbst gesagt hatte. Zeit, die irgendwie verbracht werden wollte. Statt jedoch irgendetwas zu tun oder noch weiter auf der Suche nach Zerstreuung herumzuirren, bemühte er sich, eine alte Qualität der Untoten auszugraben: Geduld. Er stand, erstarrte und wartete. Es funktionierte eher schlecht als recht, genügte aber allemal, ihn über eben jene wenigen Minuten hinwegzutrösten. Er kehrte in das Hier und Jetzt zurück, als die Ersten den Kartenraum betraten. Nach und nach kamen sie alle, selbst Rik und Thilia. Letztere sah deutlich wacher aus, Ersterer zumindest ein klein wenig erholter. Und wieder wurde zwischen beiden nur ein knappes Nicken ausgetauscht. Als Ganzes sammelte sich die Gruppe um den Teleportationskreis. Was folgte, war ein Moment der Wahrheit. In allen Romanen, in jeder guten Geschichte, in jedem Epos kam dieser Moment. Die Truppen waren versammelt. Der Heerführer hielt eine epische Rede. Die jeden Mann, jedes Ross, jede Kriegbestie mit Stolz erfüllte, mit Mut und mit dem Willen, für diesen Heerführer alles zu geben – selbst wenn es das eigene Leben wäre. Nur… waren das die Geschichten. Die, die von Barden wie ihm erzählt wurden. Das entsprach längst nicht immer, tatsächlich sogar in den seltensten Fällen, der Realität. Der Heerführer war eine Autoritätsperson, eine Führungsperson, sicherlich. Er hatte stark und unbeugsam und eindrucksvoll zu wirken, eine Aura von Gelassenheit auszustrahlen. Aber letztlich war auch der Heerführer einfach nur irgendeine Person, der in den Momenten direkt vor der Schlacht vermutlich genauso der Arsch auf Grundeis ging wie jedem anderen auch. Er durfte sich das lediglich nicht anmerken lassen. Zudem waren sie hier in kleinem Kreise. Unter sich, umgeben von bekannten Gesichtern und Vertrauten. Vielleicht würden die Geschichten und Lieder über sie – sollten sie gewinnen – diesen Augenblick irgendwann einmal anders darstellen. Vielleicht würde ein begnadeter Redenschreiber sich erbarmen und Arien nachträglich die Worte in den Mund legen, die sie alle mit ungebrochenem Kampfwillen und unbeugsamer Furchtlosigkeit erfüllte. Hier und jetzt dagegen, in der Realität, da wanderten die Blicke zwar zu Arien, ihrem Heerführer, doch deren Worte waren schlicht und simpel. „Es wird laut, schnell und chaotisch werden. Versucht euch nicht gegenseitig aus dem Blick zu verlieren, haltet euch den Rücken frei. Falls es eng wird, fallt ein Stück zurück – ihr kämpft nicht allein. Lasst euch bitte nicht töten und… mit etwas Glück sehen wir uns heute Abend!“ Es war eine Demut lehrende Erfahrung, irgendwie. Sie blieb pragmatisch, brachte ihr Anliegen direkt und knapp auf den Punkt. Man konnte an dem leichten Zittern in ihrer Stimme auch hören, warum. Sie traute sich selbst nicht über den Weg. Konnte nicht garantieren, nicht doch noch emotional zu werden. Die Bitte allein war da schon grenzwertig, oder? So beinahe schon flehend, wie sie vorgetragen worden war. Zudem wirkte Arien selbst jetzt, nachdem sie es so weit geschafft hatten, nicht wirklich überzeugt von ihrem Sieg oder ihrem Überleben. Sie glaubte nicht, heute Abend zum Essen heimzukehren. Oder überhaupt heimzukehren. Aber sie bemühte sich, das Bild zu vermitteln und keiner sagte etwas. Sie wussten alle zu schätzen, dass sie sich zumindest bemühte. Ihnen allen zuliebe. Als Konsens der Überlegungen in sämtlichen Köpfen ging ein einheitliches Nicken durch die Reihe ihrer Verbündeten. Waffen wurden letztmalig geladen, geprüft, Rüstungen kurz gerüttelt. Alles saß fest, war angezogen, geölt, geschärft. Und damit zum gefühlt – oder vielleicht sogar tatsächlich – hundertsten Mal geprüft. Jeder sah nochmals in die Runde. Bemüht um ein Lächeln, doch kaum einem gelang es. Sie wussten es nur zu genau: Wenn sie diesen einen Schritt nach vorne traten, dann landeten sie mitten in einer Schlacht. Und vielleicht würden sie sich nicht wiedersehen. Also prägten sie sich die Gesichter aller ein. Prägten sich diesen Moment ein. Zögerten, ihn zu brechen. Wer war der Erste? Wer wagte es? Wer setzte den Punkt in Raum und Zeit, an dem das Ende dieser Geschichte wirklich begann? Ithildalin zögerte wie alle anderen auch, doch für ihn war es auch ein Moment der Klarheit. Dieser eine, letzte Kampf. Er würde hart werden. Sehr. Der härteste Kampf, den sie in ihrer aller Leben je ausgefochten hätten. Vielleicht auch der Härteste, den sie je ausfechten würden. Ein Kampf. Und danach war Schluss. Die Aufgabe wäre erledigt. Die Ziele erreicht. Sein Ziel erreicht. Denn nicht zuletzt war er es gewesen, der diesen ganzen Irrsinn eingefädelt hatte. Angeleitet hatte. Diese ganze Kiste war sein Werk. „Reißen wir ihnen den Arsch auf“, seufzte der Lich und setzte den einen, entscheidenden Schritt nach vorne. Die Flammen des Teleporters schossen herauf, versperrten seine Sicht, umschlossen ihn. Und noch bevor die Landschaft sich veränderte, die unsichtbar jenseits davon lag, traten Rik, Thilia und Arien hinein. Für diesen Sekundenbruchteil, bevor es wirklich losging, sah er ihr dankbares Lächeln und Riks tief eingegrabene Entschlossenheit. Dann sank der Flammenschleier und es wurde rasch deutlich, dass Arien nicht übertrieben hatte. Laut, schnell und chaotisch. Der Lärm war letztlich für keinen von ihnen etwas Neues. Das Gekreische von unzähligen Bestien, die Kampfrufe der Männer und Frauen, die sich ihnen entgegen warfen, die Befehle von Offizieren unterschiedlicher Heertruppen, die Schreie der Verwundeten und Sterbenden und, selbstverständlich, das bis in die Knochen dringende Jaulen und Kreischen der Geister, die sich ins Tageslicht wagen konnten. Die immense Geräuschkulisse machte auch einen Teil des Chaos aus, aber längst nicht alles. Der Rest begründete sich zu einem Gutteil im Gewirr aus Farben und Formen. Untote Geschöpfe mit sechs Beinen. Untote mit vier Beinen, vier Armen und Flügeln. Untote Tausendfüßler. Untote Menschen, Elben, Oreads. Zwischendrin immer wieder noch lebendige Menschen. Menschen mit den verschiedenen Farben und Wappen Akkaras, Symmarions, der vielen Länder des Iustus-Bundes. Elben des Bundes und Elvorans. Zwerge. Orks. Drow. Farben, Wappen, das Blitzen von Rüstungen, Waffen, beschlagenen Schilden. Schlachtfelder waren generell schon unübersichtlich, aber ein Schlachtfeld, das sich Meilen und Meilen und Meilen zog? Das war schierer Wahnsinn. Der letzte Aspekt, der ins allgemeine Chaos hineinspielte, war die Geschwindigkeit der Kämpfe selbst. Viele der untoten Kreaturen waren mächtig genug, einen gestandenen Mann in der Mitte durchzureißen, wenn er nicht gerade schwere Rüstung trug. Das erklärte auch das schmatzende Geräusch ihrer Schuhe bei jedem Schritt und den generellen Rotstich des Bodens. Gerade Elben kämpften leicht gerüstet – was oftmals nicht genug Schutz gegen die Zähne und Klauen ihrer Gegner bot. Die schwer gerüsteten Krieger wiederum waren langsamer, träge – leichte Ziele für die feindlichen Wiedergänger, Lich oder Geister. Sie traten in diesen Kampf ein… und in Sekundenschnelle waren sie Teil des Chaos und wurden verschluckt. Ihre eigenen, internen Absprachen waren simpel gewesen: Sie mussten es schnellstmöglich durch die Meilen dieses Schlachtfeldes schaffen, um zum Grabmal Kazsin Lichtbringers zu kommen. Dort saß König Xarak fest, dort hatten die Götter ihre Falle zuschnappen lassen, dorthin hatte Ithildalin seinen König gelotst. Dort würde es heute enden. Rik eröffnete mit Blitzen und teleportierte ein gutes Stück voraus. Es gab keine Möglichkeit, den Weg zu ebnen, eine Freifläche zu schaffen, Sicherheit zu erlangen – sie mussten so schnell wie möglich mit so wenig Ressourcenaufwand wie möglich so weit vor wie möglich. Arien versuchte, sich in die Luft zu erheben, doch zahllose untote Kreaturen bemühten sich sehr erfolgreich, ihre Versuche zu sabotieren, überhaupt abzuheben. Sie bedrängten sie, wortwörtlich, dass ihre Flügel gar nicht genug Spannweite entwickeln konnten. Das hätte gefährlich sein können – bis der Rest ihrer Verbündeten aus der Nadel eintraf. Vetus, insbesondere. Binnen eines Herzschlages gab der seine Maskerade auf, wuchs auf die sechzehnfache Größe an und nahm seine wahre Gestalt als eindrucksvoller, gigantischer Drache wieder ein. Sein tiefes, kehliges Aufschreien war über große Teile des Feldes über all das Gekreisch hinweg zu hören. Es gebot Ehrfurcht. Es gebot Vorsicht. Und es lenkte die Untoten lange und gut genug ab, dass Arien mit einem beherzten Schwung in die Luft kam. Natürlich war sie von dort aus noch lange nicht aus allen Schwierigkeiten heraus – als hätte sie den Luftraum ganz für sich allein gehabt! Aber sie war schnell und versiert in diversen Flugmanövern, nicht zuletzt dank der ständigen Ausflüge mit Vetus, der ihr alle möglichen Tricks und Rollen beigebracht hatte. Den Großteil ihrer Gegner konnte sie damit schlicht umfliegen. Das Vetus sich so früh schon zu erkennen gab, war nicht unbedingt eingeplant gewesen. Und wie erwartet, erfolgte die Reaktion unmittelbar – sämtliche Zauberwirker bombardierten ihn regelrecht mit ihrer Magie, während die gefährlichsten der feindlichen Bestien sich auf den Weg zu ihm machten, sich durch Freunde und Feinde gleichermaßen rücksichtslos hindurchwälzten. Selbst die gigantisch aufragenden Kolosse aus Fleisch und Knochen begannen sich in seine Richtung zu bewegen, statt weiter Verstärkung für die untoten Legionen fabrizieren zu wollen. Alles schien plötzlich auf den Drachen fokussiert, der aus genau diesem Grund eine simple Taktik an die Hand gegeben bekommen hatte. Der zweite Tisch stand noch immer im Kartenraum. Groß genug, das man sechs Leute bequem daran hätte setzen können. Und gegenwärtig war auf der Fläche nicht ein Zentimeter frei, um etwas darauf abzulegen. Stattdessen standen dort Heiltränke. Dutzende. Die stärkste Sorte, die Rik, Artemis und Mina hatten herstellen können. Und wenn es für den Drachen wirklich eng wurde – dann setzte er einen Schritt zurück, durch den Teleporter in die Nadel, wo er sich hochheilen konnte, ehe er wieder auftauchen würde. Für den Rest ihrer Verbündeten machte diese Taktik wenig Sinn – zu viel Feuer könnte und würde sich dann auf diese eine Position konzentrieren. Aber Vetus durfte nach wie vor nicht umkommen. Das war der beste Garant dafür – verbunden mit der Anweisung, in der Nadel zu bleiben, sollten die Tränke sich erschöpft haben oder er zu schnell zu viel Widerstand bekommen. Hoffentlich war er vernünftig genug, diesen Anweisungen auch Folge zu leisten… Ithildalin selbst hatte den Luxus, in Ruhe einen Zauber auf sich wirken zu können, damit er schneller zu laufen fähig war und von da an einfach durch die Gegner hindurch zu tänzeln – auf der schnellsten und kürzesten Route, selbstverständlich. Denn seine Natur als Untoter bedingte, dass viele ihn aus Verwirrung heraus gar nicht erst angriffen oder ihm keinerlei nennenswerten Schaden zuzufügen fähig waren. All die Attacken, die ihn schwächen würden, die seine Lebenskraft abzogen, die ihn verängstigen und kopflos panisch davonrennen lassen sollten, scherten ihn nicht im Geringsten. Das bedeutete natürlich auch unweigerlich, dass er seine Maske als lebendiger Elb fallen lassen musste und damit auch, das früher oder später bekannt werden würde, wer sich da gerade auf direktem Weg schnurgerade durch die Armee Richtung Mausoleum bewegte. Ithildalin, der Verräter. Wie schnell würde das wohl von gewöhnlichem Kadaver zum kommandierenden Wiedergänger wandern? Von dort zum Lich? Von dort zu, vielleicht, sogar bereits König Xarak selbst? Wie schnell, bis die Befehlskette umgekehrt wurde und man Weisung gab, ihn aufzuhalten? Wieviel würde man wohl einsetzen, um ihn aufzuhalten? Die nächsten zwei Stunden kämpften sie sich bemüht, aber langsam, immer weiter durch das feindliche Heer hindurch. Dadurch wurde ihnen auch unweigerlich bewusst, was für unglaublich gewaltige Heerscharen es waren, die König Xarak in aller Eile hierher verlagert und direkt unter ihrer aller Nase und Füßen aufgestaut hatte. „Hältst du noch durch?“, erkundigte sich Ithildalin, als er einmal mehr zu Rik aufschloss. „Meine Lungen brennen“, gab der ächzend zurück und streckte mit dem Rächer einen weiteren Untoten nieder, der in Riks persönlichen Perimeter einzudringen versucht hatte. Irgendwo einen Meter hinter ihnen stürzte sich Thilia dem nächsten Kadaver ins Gesicht, weiterhin bei jeder neuen Attacke begleitet von ihrem Schlachtruf, der inzwischen zum Motto der gesamten Nadel geworden war. Rücken an Rücken konnten sie sich der Angriffe einen Moment gut genug erwehren, damit Rikhard durchatmen konnte. „Wie sieht’s am Himmel aus?“, schrie Ithildalin aus vollster Kehle hinauf. Irgendwo dort oben jagte Arien vorbei, von einer Schar Kreaturen verfolgt. „Voller als mir lieb ist“, rief sie im Sturzflug vorbeisausend zur Antwort. „Dann komm doch einfach runter! Ist gemütlich hier. Jede Menge nette Leute, die einen sehr genau kennenlernen wollen!“, brüllte der Lich zurück. Und sehr zu seiner Verwunderung landete Arien tatsächlich einen Augenblick später direkt in ihrer Mitte. „Da hinten ist Schluss, da kommt ein toter Gürtel. Das sollte ich bei guten Manövern in zehn Minuten packen. Falls nicht, habe ich die Flasche noch drin!“, spie sie regelrecht daher und beteiligte sich nicht nur ebenso daran, den Perimeter aufrecht zu erhalten, sondern ließ mit den wenigen, hastigen Worten auch deutlich werden, das selbst ihr allmählich die Puste ausging. Sie brauchte einen Moment zum Verschnaufen. Dringend. Während Ithildalin bezüglich des angedeuteten Planes keinerlei Bedenken hatte, verzog Rik erwartungsgemäß begeistert das Gesicht. Aber es war inzwischen selbst Arien unweigerlich deutlich genug geworden. Diese zehn Minuten, die sie brauchte, um sie fliegend dorthin zu bringen, waren am Boden nochmal eine halbe bis dreiviertel Stunde. So lange würde Rikhard nicht mehr durchhalten. Das war Arien klar. Das war Ithildalin klar. Das war auch Rik klar. Sie alle hatten geschworen, bis an ihre Grenzen zu gehen – und darüber hinaus. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er sich blindlings auf Arien verlassen musste. Letztlich kam es also nicht überraschend, das Rik nach kurzer Bedenkzeit einwilligte. Oder vielmehr: Nachdem er Zeit hatte, sich geistig darauf vorzubereiten. Er rief die nach wie vor wie ein Berserker wütende Thilia heran, kletterte in den von Arien aufgehaltenen Beutel, während Ithildalin eher schlecht als recht allein die Verteidigung aufrecht zu erhalten versuchte. Als es soweit war, sprang er mehr in den Beutel als alles andere, damit Arien schnellstmöglich ihn greifen und wieder abheben konnte. Ließe sie sich jetzt überwältigen, wäre alles vorbei – niemand war hier, um ihr beim Start zu helfen…   „Falls sie getötet wird – du hast dank der Flasche Luft ohne Ende. Und Essen auch – ich regeneriere. Wasser könnte kritisch werden, also wirst du vermutlich verdursten“, begann Ithildalin amüsiert, während Rik an der Flasche hing, als würde sie ihn jetzt bereits als Einziges am Leben halten. „Witzig. Wirklich“, schoss Rik zurück. Thilia wollte bereits ansetzen, ihn zu rügen, als eines der –vermutlich – zahllosen Bücher in Ariens Beutel an ihr vorbei trieb. Zufällig in Richtung des riesigen Berges Diamantstaub. Und spätestens da war sowieso keinerlei Widerwort oder Verteidigung mehr zu erwarten gewesen. „Ich versuche dich gerade abzulenken, falls das nicht aufgefallen sein sollte. Du könntest ruhig etwas kooperativer sein, also wirklich!“, rügte der Lich grinsend, „Ich habe da draußen übrigens ein paar meiner eigenen Entwürfe rumlaufen, -krabbeln, -graben und –fliegen sehen. Macht mich fast ein wenig stolz. Fast. Denn entweder waren sie es wert, in die regulären Truppen aufgenommen zu werden, oder man war verzweifelt genug, selbst die experimentellen Waffen ranzuziehen, die nun in einer organisierten Armee eigentlich wirklich nichts verloren haben.“ Rik bemühte sich die Minuten darauf zunächst tatsächlich, einem Gesprächsversuch zu widerstehen. Ob nun absichtlich oder nicht. Doch nachdem ohnehin nur noch etwas weniger als die Hälfte der Zeit verblieb, drang Ithildalin doch noch zu ihm durch und Rikhard ließ sich darauf ein, über die gesichteten Kreaturen zu spekulieren. Das lenkte ihn zumindest ein klein wenig davon ab, hier drinnen möglicherweise zugrunde zu gehen. Und tatsächlich wurden sie ja auch wieder aus dem Beutel herausgelassen. Mit etwas Verspätung, wie Ithildalin auffiel – und Arien sah wirklich grässlich aus -, aber sie kamen wieder heraus. „Lustigen Flug gehabt?“, erkundigte sich der Lich, während Rik mit völliger Selbstverständlichkeit daran ging, Ariens Wunden heilen zu wollen. Sie hielt ihn jedoch ab, als er die erste Zauberformel zu sprechen ansetzte. „Nein. Das heilt auch so, heb es für später auf.“ Abermals sehr unzufrieden und sichtlich unwillens fügte sich Rik. Welche Wahl hatte er auch? Er konnte ihr Heilmagie schlecht aufzwingen, so funktionierte sie nicht. „Wenn ich das richtig sehe, haben wir hier eine ziemlich große tote Zone, oder?“, erkundigte sich Ithildalin derweil und blickte in eben jene Richtung, aus der sie seiner Vermutung nach gekommen sein mussten. Tatsächlich waren die Untoten in einer gehörigen Distanz. „Ja. Vielleicht hat er dann doch nicht so viele Truppen, wie wir dachten oder sieht keine Notwendigkeit, hier unmittelbar auch abzuschirmen“, erklärte Arien und richtete sich langsam wieder auf. Es war stets faszinierend, zuzuschauen, wie ihre Wunden sich einfach ganz von allein wieder zusammenfügten. „Nun, da drinnen werden wir definitiv noch mehr als genug Widerstand erleben. Er lässt weder den Eingang noch das Grabmal unverteidigt, das kann ich euch garantieren“, warnte er vor. Nur, damit es keine Missverständnisse gab. „Wir haben es so weit geschafft… wir beißen uns jetzt auch durch den Rest durch“, erwiderte Arien zwar sichtlich erschöpft, aber nach wie vor von spürbarer Entschlossenheit gestärkt. „Gut. Wortwörtlich, notfalls.“   Ihre Vermutungen sollten sich übler bewahrheiten, als ihnen lieb war. Nicht nur, dass die Truppen König Xaraks nach wie vor den Zugang zum Grabmal bewachten, sie hatten ihn obendrein zusätzlich mit magischem Schnickschnack und Fallen abgesichert. Es war zwar ein weiteres, gehöriges Stück Arbeit, sich durch die Wächter und Patrouillen durchzukämpfen, doch war dieses Stück allem zum Trotz ein Spaziergang verglichen mit dem, was bereits hinter ihnen lag. In der Höhle konnten sie taktisch vorgehen. Hatten Zeit, Spähgänge zu machen. Sich eine Strategie zurechtzulegen. Konnten feindliche Gruppen aufteilen und schwächen. Hatten Zeit, sich auf das Entschärfen einer Falle vorzubereiten. Natürlich tickte bei ihnen allen im Hinterkopf zu jeder Sekunde die Zahl mit: Einhundert Tote, zweihundert Tote, dreihundert Tote… Aber letztlich hätten sie diesen Leuten, die dort draußen kämpften und starben, einen größeren Bärendienst angetan, würden sie hier schlampen und möglicherweise ihre Chancen auf den Sieg riskieren, als sich die Zeit zu nehmen und mehr Blutvergießen zu riskieren. Die Ankunft im Grabmal selbst war begleitet von Ächzen, Keuchen und Schnaufen. Zumindest Ithildalin hatte damit gerechnet, dass sie am Ende der Treppenstufen vor allem eines vorfinden würden: Direkt die nächste Gruppe an Wiedergängern. Doch stattdessen stolperten sie in eine Halle und… hatten einen Moment Zeit, sich zu sammeln. „Ich werde so unendlich froh sein, wenn ich mich mit sowas nicht mehr herumschlagen muss!“, fluchte der Lich und deutete zur Treppe. Rik und Arien, beide die Hände auf die Oberschenkel stemmend und um Atem ringend, stimmten mit einem schwachen Nicken zu. Ariens Wunden schlossen sich langsam wieder – zum wievielten Mal an diesem Tag inzwischen? Während Rik dagegen ein paar weitere Schriftrollen hervorzog und die leeren Lederbände nach Verbrauch einfach fallen ließ. Falls sie dazu kämen, dann könnte er sie auf dem Rückweg einsammeln. Falls ihm der Sinn danach stand. Hier und jetzt war er einfach nur dankbar, dass mit jeder Zauberanwendung die Schmerzen etwas nachließen. „Gut, dann… wir sind in der Höhle des Löwen – müssen wir nur noch den verdammten Löwen finden, was? Ich hatte ein Begrüßungskomitee erwartet. Aber ganz ehrlich, im Moment wäre ich auch mit einer simplen Ausschilderung „bitte hier entlang“ sehr zufrieden, wirklich… irgendwas eben“, fluchte Ithildalin leise. Sie folgten dem Pfad, der sich so verdächtig offensichtlich vor ihnen abzeichnete – bis zur Gabelung. „Prächtig, und nun? Links oder rechts?“ Sie entschieden sich, zunächst links nachzuschauen und da sie inzwischen Thilia an die Verteidiger ‚verloren‘ hatten und Rik seine Ressourcen schonen sollte, übernahm der Lich höchstselbst die Aufgabe, den Kopf reinzustecken und eventuelle Fallen auszulösen. Natürlich unternahm er vorher alle nötigen Schritte, sicherzustellen, dass er Fallen gefunden und von Rik hatte entschärfen lassen, bevor es dazu kam – aber im Zweifelsfall war es schlicht besser, wenn’s den Lich erwischte, als den Rest. Als er jedoch bemüht leise und vorsichtig die Tür aufzog und ins Innere spähte… da wurde dann doch selbst Ithildalin anders. „Das kann nicht wahr sein…“, flüsterte er leise, ungläubig, zu sich selbst. Jedwede Vorsicht fahren lassend, trat er die Tür aufschiebend ein. Und ein gutes Stück entfernt, an die Mauer gelehnt am Boden sitzend, blickte der Geist Sierras auf. Sie erhob sich langsam, trat ihnen entgegen und bemühte sich sogar um ein freundliches Lächeln. „Hey.“ „Hey Hörnchen“, gab Ithildalin noch immer entrückt wieder. Plötzlich, mit einem Schlag, war da so vieles, dass er wissen und fragen wollte. Aber sein Verstand hielt sich selbst gut genug zusammen, dem Chaos zumindest Prioritäten aufzuzwingen. „Du wirkst nicht sonderlich überrascht, uns zu sehen“, stellte er daher fest, „Greifst du uns gleich an?“ „Nein. Nein, bin ich nicht und nein, werde ich nicht.“ Damit zunächst zufriedengestellt, nickte der Lich und… starrte. Was sollte er als nächstes sagen? Was fragen? Es gab so vieles, so endlos Vieles, das unausgesprochen zwischen ihnen stand. Schon zwischen ihnen gestanden hatte, als sie noch am Leben war. Vor so verflucht vielen Jahren. „Hier hast du dich also verkrochen, hm?“, erkundigte er sich und obgleich es in seinem Kopf als schnippische, stichelnde Bemerkung ausgesprochen worden war, klang das, was letztlich seine Lippen verließ, doch harscher und vorwurfsvoller. „Könntet… ihr uns vielleicht einen Moment geben?“, erkundigte sich Sierra bei Arien und Rik. „Wir… ja. Ja, natürlich“, antwortete Arien und zog Rikhard – der sehr viel unwilliger aussah – mit nach draußen. „Sie brauchten jemanden, der den Iustus-Bund führt“, erwiderte Sierra, kaum dass die Tür sich geschlossen hatte. Sie wandte ihm den Rücken zu, kehrte zu jenem Stück Wand zurück und ließ sich abermals daran herab. Entweder war sie teilweise materiell oder… hatte wirklich viel Zeit gehabt, als Geist zu üben. „Jemanden, der verlässlich und vernünftig wäre. Und Gehör finden würde. Es… gab wirklich nicht viel Auswahl.“ Natürlich lag Ithildalin zunächst ein trotziges ‚Sie?‘ auf der Zunge – doch wozu Fragen stellen, die rhetorischer Natur waren. Dies war das Grabmal Kazsin Lichtbringers. Nicht einfach nur irgendeines dahergelaufenen Heiligen. Ithildalin trat näher und besah sich die Sarkophage, die in tiefen Alkoven an den Seiten des Raums aufgebahrt waren. Einer davon trug das in Stein gehauene Ebenbild Sierras – und ihren Namen. Seine Gedanken begannen zu rasen. Sierra, die in die Kreuzwegfeste stolperte und mit ein paar Verbündeten seine Pläne durchkreuzte, ihn sogar gefangen nahm. Sierra, die sich mit einem Lich verbündete. Sierra, die die Revolution in Lumiél unterstützte, dabei half, sie zum Sieg zu führen. Sierra, die den Vielvölkerbund begründete. Sierra, die von Lumiél aus half, den Iustus-Bund aufzubauen. Die ihn führte und geordnet auf dem rechten Pfad hielt. Bis ihre Lebenskraft verronnen war, jedes letzte Fünkchen. Sierra auf ihrem Sterbebett. Was hatte der Iustus-Bund für die Welt bedeutet? Er kramte tief in seinen Erinnerungen. In all den Legenden, die er immer wieder aufgeschnappt hatte. In den Büchern, die er gelesen hatte. Aber am deutlichsten doch war es vor allem in einem Umstand: In den Toten dort draußen auf dem Feld. Symmarion war kein reiches Land, war es nie gewesen. Akkara schwamm zwar in Reichtum, hatte aber eine grausig schlechte interne Politik, wenn es zum Aufstellen tatsächlicher Armeen kam. Und Elvoran konnte unmöglich das militärische Gewicht dreier Nationen tragen. Wie viele der Männer und Frauen, die dort draußen in Stücke gerissen wurden, wortwörtlich, deren Seelen aus ihren Leibern gezerrt und gefressen wurden, die von sich stumpf über das Feld walzenden Fleischmassen erst erstickt und dann absorbiert wurden, trugen die Farben und Wappen des Bundes? Wie schnell hätten die Untoten Arvum überrannt ohne den Bund? Wie viele Städte hätten sie evakuieren, sich wie schnell wie weit zu den Küsten zurückziehen müssen – ohne den Bund? Und wenn das Handeln des Bundes sich nach wie vor zu großen Teilen auf Sierras Leitung und Führung stützte… dann hatten sie all die Jahre einen Verbündeten gehabt, ohne es zu wissen. Angeleitet vom Willen der Götter. Gezwungen durch die Götter. „Ich werde all das hier beenden. Xarak wird heute fallen. Und dann bist du frei, Frieden zu finden. Wie es dir vor so vielen Jahren schon zugestanden hätte.“ Es war kein Trotz… oder vielmehr: Nicht nur Trotz. Er fühlte sich, einmal mehr, von den Göttern betrogen. Um das Schicksal einer guten Freundin. Sie hätte nicht hier festgekettet werden dürfen. Nicht für seinen irrwitzigen Plan. „Ich weiß“, erwiderte sie sanft, „Und du wirst zurückkehren und eine zweite Chance bekommen. Gräme dich nicht. Die Dinge sind, wie sie sind.“ Sie berührte seinen Unterarm – und da war eine Berührung. In welchen Zustand die Götter sie auch immer versetzt hatten. Sie war keine Untote, die Xaraks Willem unterlag und sie war kein Geist im klassischen Sinne. Sie war etwas, das sie nicht hätte sein sollen. Langsam erhob sich Ithildalin wieder. Sie folgte. „Es gibt keine zweite Chance.“ „Was meinst du?“ Wieder ein Seufzen. Witzig, wie manche Angewohnheiten selbst den Tod überdauerten. „Diesen Handel, den ich einging… der war nicht für mein Leben. Hörnchen, ich bin nicht dumm. Ich habe zu viele Jahre in dieser Form zugebracht. Was denkst du, wie es mir ergehen würde, wenn ich jetzt wieder lebendig werde? Und um ehrlich zu sein… das habe ich auch nicht verdient. Nicht nach allem, was ich tat, um untot zu werden. Um Xaraks Gunst zu erringen. Um Ereshkigals Aufmerksamkeit zu gewinnen. Um bis zu diesem Tag und an diesen Ort zu gelangen. Wenn das hier endet… dann endet es. Auch für mich.“ „Wissen sie das?“, erkundigte sich Sierra. Ob sie besorgt war, ob sie verwirrt war – in diesem Moment ließen sich ihre Regungen so bemerkenswert schlecht lesen. Vielleicht mauerte sie sogar absichtlich. „Nein.“ Lange hielten sie dem Blick des jeweils anderen stand, bis der Tiefling schließlich nickte. Nicht zustimmte, aber zumindest akzeptierte. „Dort draußen gibt es eine Welt voller Gefahren und Wunder und für sie… wird es nur ein Wimpernschlag gewesen sein. Sie werden Zeit brauchen, sich zu akklimatisieren. Sich in dieses neue Zeitalter einzufinden. Aber sie wissen zumindest schon mal, wie man lebt. Und… sie würde nicht… ich könnte unmöglich zu ihr zurückkehren. Nicht nach allem, was ich tat. Ich kenne sie noch immer gut genug, das zu wissen. Es spielt keine Rolle, ob ich das für sie tat oder nicht. Ich bin aus freien Stücken zu einem Monster geworden. Das könnte sie mir niemals vergeben. Nein, ich denke, dass ich das ihretwegen tat würde es für sie sogar schlimmer machen. Und nach all den Jahren? Was sie sie schon noch als ein Schatten aus Erinnerungen. Der Grund, warum ich das hier tue, sicherlich. Aber handle ich aus Liebe, oder weil es ein Unrecht ist, das ich korrigiert sehen will? Ich bin mir nicht mehr sicher. Und es spielt – jetzt – auch keinerlei Rolle mehr.“ Ihre Hand an seiner Wange war spürbar. War kühl. Nicht kalt, aber kühl. Er legte seine Hand über die Ihre und es gab Widerstand. Ithildalin gab auf, darüber zu rätseln, was Sierra wohl geworden sein mochte. Wie so viele Details spielte es hier und jetzt einfach keine Rolle mehr. „Bringt es zu Ende. Und falls… mein Dienst hier dann wirklich enden sollte, falls ich dann gehen darf…“ „… wir sehen uns auf der anderen Seite“, beendete Ithildalin mit einem Lächeln. „Ich bin die mit dem netten Hintern“, setzte Sierra nun selbst lächelnd fort. „Ich bin der mit der großen Klappe“, erwiderte er. Einen Moment lang harrten sie aus, blickten einander entgegen. Sie setzten sich fast zeitgleich in Bewegung. Langsam. Die Augen schließend. Ithildalin wusste nicht, was ihm dieser Kuss bedeutet hätte, doch er wusste in diesem Moment, dass er ihn wollte. So dringend brauchte. Und bevor ihre Lippen sich trafen, klopfte es an der gottverdammten Tür. Beide stockten. Der Drang schwand, der Zauber gebrochen, der Moment verflog. Die Augen langsam wieder geöffnet, standen sie noch immer in der großen Halle dicht beisammen. „Du wirst gebraucht“, flüsterte Hörnchen leise. „Ja“, erwiderte der Lich krächzend, „Nie kann man die Rasselbande allein lassen…“ „Beende es“, verlangte sie ohne wirklichen Nachdruck von ihm, lächelnd, ehe sie einen Schritt zurücktrat. „Ich werde dich finden“, versprach er, „Egal wie. Irgendwie.“ Sie nickte und schweren Herzens ließ er ihre Hand los – das Einzige, was sie noch beisammen hielt. Ithildalin trat zur Tür und zog sie auf. Der Anblick davor war wenig überraschend. Rik wirkte gehetzt, abgekämpft, erschöpft. Arien blutete aus unzähligen Löchern und Schnitten. Die Teile von Wiedergänger-Rüstungen lagen im Raum davor verstreut. „Tze, nie kann man euch mit den anderen Kindern spielen lassen, immer müsst ihr zicken und zanken!“, quasselte er bester Laune daher und bereitete ein paar Zauber vor. Rik befreite er zumindest vorübergehend von seiner Erschöpfung und Arien schob er trotz ihrer schwachen, halbherzigen Proteste ein paar kleine Heilzauber in den sprichwörtlichen Rachen. „Als gebeten wurde, das ihr uns einen Moment geben sollt, da war das eigentlich ein: Bitte geht vor die Tür und informiert uns, sollte etwas Gefährliches auftauchen. Kein: Bitte geht schon mal allein weiter und lasst euch filetieren. Kinder, wir brauchen ein Wörterbuch…“ „Weshalb hast du eigentlich plötzlich so gute Laune, hm?“, ächzte Rikhard widerwillig. Und Ithildalin stutzte. Denn es stimmte, was er sagte. Er hatte gute Laune. Ein Großteil der Anspannung war wie verflogen. Die Ernsthaftigkeit der Situation verschwunden. Die Brisanz, die Notgedrungenheit… wen scherte das alles schon, ehrlich? Er würde diese Sache zum Abschluss bringen. Er würde den Schwur einlösen, den er sich selbst gegeben hatte und dieses Unrecht begradigen. Aber erstmals seit Jahrhunderten… gab es einen Plan für ein ‚Danach‘. Natürlich hatte er so wenig Schimmer, wie ‚danach‘ aussah wie sonst irgendwer. Aber es gab zumindest eine Absicht. Einen Plan. Eine Aussicht auf etwas. Und wirklich, wenn es die Aussicht auf Sierras Hintern war, dann hätte sie um Welten schlechter ausfallen können! Gut gelaunt klopfte Ithildalin Rik auf die Schulter. „Ich habe eindeutig zu viel Zeit in eurer griesgrämigen Gegenwart verbracht und brauchte ein paar Minuten, um zu meinem sonnigen Selbst zurückzufinden. Und jetzt… würde ich sagen, schauen wir mal, was da hinten so los ist, hm?“ „Da kommen wir her. Wiedergänger, falls du’s noch nicht gesehen hast. Und Gräber. Ansonsten eine Sackgasse“, informierte Rik wenig angetan von der plötzlichen Glückseligkeit seines Kameraden. „Fein, dann suchen wir eben Schalter, Druckplatten, Geheimtüren, Fallen, Teleportationskreise, ihr wisst schon – das übliche Programm. Kommt schon, kommt schon, Abenteuer! Außerdem haben wir zu tun.“ Seine Motivationsversuche stießen auf verhaltene Gegenliebe. „War er schon immer so unerträglich?“, erkundigte sich Rik mit einem Seitenblick. Arien nickte. Sie nickte zwar, aber sie lächelte dabei auch. Also konnte ja nun wirklich nicht alles so mies sein. Und tatsächlich fanden sie den weiteren Weg nach einem bisschen gründlichem Umschauen. Natürlich standen ihnen weitere Gegner im Weg. Natürlich kamen da noch mehr Fallen, noch mehr kuriose Absurditäten, die König Xarak vorbereitet hatte, um sie aufzuhalten oder zur Abkehr zu zwingen. Aber sie hatten sich über Wochen und Monate auf diesen Tag vorbereitet. Sie hatten sich durch Heerscharen gekämpft, waren zu wahren Meistern der Nadel geworden, zu studierten Gelehrten, zu aufgepumpten Kampfmaschinen, zu erfahrenen Weisen, zu was auch immer die Aufgabe von ihnen verlangt hatte. An diesem heutigen Tag allein hatten sie sich durch eine schier unüberwindlich gewaltige Armee gekämpft, hatten Verbündeten und Feinden, Fallen und Magie getrotzt und sich bis in die tiefsten Eingeweide eines der heiligsten Orte des Kontinents vorgegraben. Als würden sie sich jetzt noch von ein bisschen mehr des Üblichen aufhalten lassen!   Die Tür öffnete sich. Der Raum dahinter war dunkel. Nur schwach leuchteten die Runen am Boden, die einen quadratischen Bereich um den Schreibtisch zogen. Dahinter erhob sich die durchaus imposante Gestalt König Xaraks. Ein Hüne, gekleidet in eine schwarze Rüstung, die jeden Teil seines Körpers panzerte. Der gewaltige Zweihänder wurde von ihm mit scheinbarer Mühelosigkeit gehoben. Finster und drohend streifte sein Blick den Eingang. Eben jenen Eingang, in dem sich – nachdem Rik endlich mal mit seiner verdammten Beschwörung fertig war – vier Gestalten aufbauten. Arien packte ihr Schwert fester, als die Gestalt den Schreibtisch mit einer Hand packte und gegen die Wand schleuderte, als sei er aus Papier gefertigt. Rik, starrend vor Gewehren, formte den Rächer in eine größere Armbrust um. Thilia sträubte ihr Fell und… knurrte? Das war es. Das war der Moment der Wahrheit. Der Kampf. Der eine Kampf, der alles entscheiden würde. Er trat einen Schritt vor. Seinem König und Feind entgegen. Und wandte ihm den Rücken zu, um ein vielleicht letztes Mal seine drei Mitstreiter anzublicken. „Fast geschafft“, flüsterte er leise. Sein Blick fixierte sich einen Moment länger auf Thilia, ehe er weiter streifend meinte: „Ihr wisst, was das heißt, oder? Was das ein letztes Mal heißt?“ Rik verzog leicht das Gesicht. Natürlich tat er das. Und Thilia vibrierte vor Anspannung und Zustimmung. Arien… sie bemühte sich, zu lächeln. Nickte ihm zu. Dann erst zog er sein Rapier. Es würde ihm in diesem Kampf nicht viel bringen, aber es war einfach… eindrucksvoller. Hinter sich hörte er bereits die schweren, dumpfen Aufschläge der Schritte des nahenden Königs. „Drei… zwei… eins…“ Mit einer fließenden Bewegung wirbelte Ithildalin herum. Und ein breites, beinahe hämisches Lächeln lag auf seinen Lippen ob des Gedankens: Was Hörnchen wohl hierzu gesagt oder sich bei diesem Anblick gedacht hätte? Das Rapier fest umschlossen, sprang er flinken Fußes seinem Feind entgegen, von seinen Kameraden dicht gefolgt, ihren Schlachtruf aus vollster Kehle brüllend auf den Lippen. „Tod den Untoten!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)