shaping fate von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 10: Inránainn --------------------- Der Raum lag im Dunkel. Nicht in völliger Finsternis, nein – aber die zwei dreigliedrigen Kerzenhalter auf dem schweren, massiven Arbeitstisch konnten trotz ihrer Bemühungen doch nur das für Kerzen so übliche, warme, flackernde Licht werfen, das längst nicht jede Ecke erreichte und mit all dem Tand, der im Zimmer verteilt war, den Statuen, den Regalen, Schränken, Stühlen, anderen Tischen… noch genug Schatten übrig ließen, um den Raum zumindest finster wirken zu lassen. Er empfand es als seiner Stimmung angemessen. Keine Regung betrog ihn, betrog den Umstand, dass er das Öffnen der Tür sehr genau vernahm. Die Stille im Raum schien das Geräusch zu verstärken, obwohl die Mechanik gut instandgehalten wurde. Zarte Schritte, leicht und bedacht. Eine Drehung. Die Tür schloss sich wieder. Er öffnete die Augen selbst dann nicht, als die Schritte direkt neben seinem großen Sessel zum Stehen kamen. Ein Blick streifte ihn und, vermutlich, kurz auch den Rest seines Arbeitszimmers. Die Unordnung auf den Werkbänken. Angefangene Projekte. Halb aufgebrauchte Rohstoffe, nicht weggeräumt. Es mochte chaotisch wirken. Und dann und wann wünschte er sich, dass es auch chaotisch wäre. Ein weiterer Ausdruck seiner dieser Tage vorherrschenden Grundstimmung. Doch tatsächlich war er zu penibel, um so etwas zuzulassen. Zu vorsichtig. Er war Crafter. Mancher mochte es Handwerker nennen, doch das legte seinem Geschmack nach eine zu deutliche Ähnlichkeit zu den Zimmermännern, Schmieden und Glasern der Menschen nahe. Er formte Metall, gewiss, auch Holz, Glas, was immer eben nötig war. Aber er formte, allem voran, arkane Energien. Er formte sie, er band sie an Materie, der er ebenfalls ein angemessenes Äußeres verschaffte. Er war kein gewöhnlicher Handwerker. Doch dieser Tage hatte der ausufernde Stolz in seiner Brust es schwer, ihm die stetigen, schweren Atemzüge zu erleichtern. „Wie geht es dir?“, durchbrach eine Stimme seine Gedanken. Eine Hand kam auf seiner Schulter zur Ruhe. Er glaubte die Wärme, die von ihr ausging, regelrecht in sich einsickern zu spüren, selbst durch den Stoff seiner Kleidung hindurch – obgleich der zugegeben ohnehin recht dünn war. Vielleicht war ihm kalt? Hatte er die Raumtemperatur außer Acht gelassen? Erstmals seit Stunden öffnete er die Augen, spähte zu ihr herauf. Hellbraune Haare, ungewöhnlich genug. Die vollen, roten Lippen fingen kurz seinen Blick ein. Tief violette Augen strahlten ihm entgegen, ein Ausdruck von Sorge und Maßregelung darin. Sie forschte, suchte… fand. Der Ausdruck in ihren Augen veränderte sich. Die Maßregelung wich, die Sorge nahm zu. Ihr Blick wurde… weicher. Und sie plante. Er glaubte regelrecht sehen zu können, wie die Gedanken einander jagten. „Du hattest wieder schlechte Träume?“, erkundigte sie sich. Natürlich gab er keine Antwort, keine in Form von Worten allemal – aber das war für sie auch gar nicht nötig. Die Vorhänge waren zugezogen, noch in der exakt gleichen Position, wie sie es vorgestern gewesen waren. Er saß hier, das Zimmer zum Arbeiten nicht ansatzweise gut genug beleuchtet, mit einer zweifelhaften Aussicht auf Werkbänke und halbfertige Projekte. Er sah die Entscheidung in ihrem Kopf fallen. Und wusste nicht, was er davon halten sollte. Sollte er ihr dankbar sein? Sollte er sie vertrösten? Abweisen? Zurückweisen? Sollte er sich darauf einlassen? Es zumindest versuchen? Ein kleiner Zauber, ihre grazilen Finger woben die Magie wortlos in eine drehende Gestik – und der Türschlüssel wandte sich im Schloss, versiegelte den Raum. Mit dem Schlüssel in dieser Position kam Magie ins Spiel. Eine kleine Blase entlang der Wände, die den Raum wirklich und wahrhaftig abschloss. Gegen Geräusche, gegen Blicke, gegen Spähen mit mächtigen Zaubern. Privatsphäre war ein Luxus – üblicherweise. In seiner Branche dagegen eine schlichte Notwendigkeit. Sabotage, Rufmord, Attentate – es gab zu viele Möglichkeiten, die sich hiermit befassten, um ein Risiko dulden zu können. Sie wusste das so gut wie er. Vorsichtig stieg sie in den Sessel. Er war groß und breit genug, dass sie ihre Beine anwinkeln konnte, die Knie gegen das dicke, weiche Polster der Rückenlehne gedrückt. Sie setzte sich auf seinen Schoß, hob mit einer weichen, zärtlichen Berührung seinen Blick. Ein verliebter Narr hätte nun vielleicht davon zu sprechen gewagt, wie er solchen Mühen, solcher Versuchung, je hätte widerstehen können sollen. Er aber, er war kein Narr – und auch nicht verliebt. Ihre Lippen berührten die Seinen, vorsichtig zunächst, prüfend auf Widerstand, auf Ablehnung, auf Zurückweisung, auf… all die Dinge, die zu demonstrieren er erwog. Doch seine Unschlüssigkeit stand ihm weit genug im Weg, sich zu nichts dergleichen durchringen zu können. Sie begann sich langsam zu bewegen, hob und senkte ihre Hüfte, reizte, provozierte. Sollte er sie abweisen? Würde er darum bitten, sie würde aufhören. Sofort. Und gehen, falls er das wünschte. Ohne es ihm übel zu nehmen. Oder sie würde bleiben und mit ihm reden. Alles, was er tun musste, war, darum zu bitten. Ganz egal, worum. Ein letztes Mal den Drang nach einem schweren Seufzen unterdrückend, ließ er sich allmählich auf ihr Treiben ein. Genoss die Wärme ihrer Haut auf seiner, den heißen Atem an seinem Hals, den Anblick ihres Körpers. Sie war ein gutes Stück jünger als er selbst. Tausend Jahre, vielleicht mehr? Aber welche Rolle spielte Alter letztlich für eine Gesellschaft Zeitloser? Sie schenkte ihm Kurzweil. Eine vorübergehende Flucht aus seiner Misere. Einen Ausweg. Eine Möglichkeit, das Grübeln vorübergehend hinter sich zu lassen. Und er, nun doch der Narr, wusste es zu schätzen, wusste es sogar zu genießen – aber nicht ohne Einschränkungen. Nicht rückhaltlos, nicht sorglos. Er stand vor der offenstehenden Tür, die sie ihm bot. Ein Schritt nur und er wäre hindurch. Raus aus dem Elend, zumindest für eine Weile. Doch er konnte nicht. Glaubte nicht zu können. Stand dort und starrte auf das, was so nah war, so wünschenswert erschien oder ihm vielleicht auch nur erscheinen sollte? Er konnte seine Sorge nicht verbannen, nicht vollständig, nicht einmal hier und jetzt, nicht einmal für wenige Augenblicke. Irgendwo dort draußen, in einer sehr großen und sehr gefährlichen Welt voller Heimtücke und falschen Lächelns, voller Klauen und Zähne, voller wirtschaftlicher Interessen und Politik, war sein kleines Mädchen. Die Sorge war gewiss nicht neu. Jahre schlug er sich damit nun schon herum. Und wäre es denn wirklich so viel anders gewesen, wäre sie hier vor Ort? Gewiss, sein Verstand versuchte ihm vorzugaukeln, dass dem so sei. Er wäre da, sie wäre da, er könnte sie beschützen. Aber könnte er das wirklich? Seine Macht war groß und für die Mehrheit gewiss beeindruckend – aber sie war auch weit davon entfernt, grenzenlos zu sein. Das gleiche galt für sein Wissen. Seinen Einfluss. Seine schlichte Fähigkeit, immer und überall zugegen zu sein. Ihm war schmerzlich bewusst, dass er loslassen musste. Sie würde natürlich immer sein kleines Mädchen sein. Aber entgegen dem… war sie eben eine erwachsene Frau. Jung vielleicht und weit weniger erfahren als er, aber das war unweigerlich stets das Schicksal aller, die nach ihren Vorfahren kamen, nicht wahr? Flackerndes Kerzenlicht fing sich in einer Schweißperle, die ihren Hals herab rann. Das gebrochene Licht rief unzählige Erinnerungen hervor. Geschichten an Betten beim Licht einer letzten Kerze, bevor ein Kuss auf die Stirn und die nochmals zurechtgezogene Bettdecke das Schicksal des jungen Verstandes für diesen Abend besiegelten. Er war Illyana dankbar für das, was sie tat. Was sie versuchte. Aber er kam nicht davon los, egal wie. Als sie ihre Kleider wieder raffte, zog sie ungefragt einen zweiten Sessel herbei. Sie war neben seiner Tochter die Einzige, die sich derartiges herausnehmen durfte. Wortlos ließ sie sich darin nieder, nahm seine Hand. Sie verlor auch weiterhin keinen Ton über irgendetwas. Sie lächelte ihm nur zu. Bis sie einschlief, einige Minuten später, erschöpft und noch immer mit einem milden Lächeln auf den vollen Lippen, von dem er hoffte, dass es das Produkt angenehmer Träume war.   „Ich mache dir Frühstück“, erklärte sie am nächsten Morgen. Oder zumindest irgendwann am nächsten Tag – die zugezogenen Vorhänge verrieten wenig darüber, wo genau die Sonne stand. Nur, das sie da war. Dennoch verzog er bei jenen Worten das Gesicht. „Keine Widerrede“, erklang es sofort, als hätte sie es gesehen. Das konnte sie natürlich nicht – sie war bereits auf dem Weg zur Tür gewesen, als sie ihre Drohung überhaupt ausgesprochen hatte. Glücklicherweise, so zeigte sich kurz darauf, blieb ihm heute erspart, sich kreativ bei der Beseitigung der Beweise betätigen zu müssen. Kaum nämlich, dass Illyana die Tür öffnete, stieß sie ein überraschtes „Huch?“ aus. Direkt vor ihr stand eine weitere Bedienstete des Hauses. „Lenya, wie lange stehst du dort schon?“, verlangte sie von der deutlich jüngeren Elbe zu wissen. Die war im ersten Moment, als sich die Tür öffnete, ebenso erschrocken zusammengefahren und druckste nun sichtlich herum. „Oh, n-nicht lange… v-vielleicht… e-eine Stunde oder so?“ Seufzend rieb sich Illyana die Schläfen. Sehen konnte er das nicht – aber das tat sie immer, wirklich immer, wenn sie auf diese Art seufzte. Dazu kam, das Lenya im Haushalt recht neu war. Irgendwie neigte die Dienerschaft zu einer ungewöhnlich hohen Fluktuation… „Nun sag schon, was gibt es so Dringendes und warum konnte es nicht noch bis später warten?“ Vielleicht war sie nur pflichtbewusst. Vielleicht hatte sie eine bequeme Ausrede gesucht, sich vor anderen Arbeiten im Haus zu drücken. Vielleicht hatte sie gehofft, etwas belauschen zu können, das einen kleinen Nebenverdienst wert gewesen wäre. Fälle hatte es, jeden davon, schon zur Genüge gegeben. „Oh, a-also der H-Herr hatte angewiesen, sofort Bescheid zu geben!“, brachte die Jüngere geradezu hastig zur Erklärung hervor. Da… begann er wiederum tatsächlich zuzuhören, statt nur Worte, Muster und Sinn in störendem Hintergrundrauschen erkennen zu müssen. Denn eigentlich gab es nur eine Sache, bei der die Dienerschaft Anweisung hatte, ihn zu jeder Tages- oder Nachtzeit so unablässig wie nur möglich damit zu belagern. „Sie… sie i-ist zurück! Ein Bote aus Carasarta gab Meldung. Sie ist bei einem der dortigen Heiler im Hafenviertel und-“ Teleportation war eigentlich ein sehr unspektakulärer Zauber. Nützlich, keine Frage. Aber nicht allzu eindrucksvoll. Es gab keinerlei Geräusch, keine Bewegung, keine eindrucksvollen Lichteffekte. Das galt natürlich nur, solange man ihn so verwendete, wie er vorgesehen war. Insbesondere, dass man sich konzentrierte, dass man die arkanen Energien sorgsam formte und wob und nicht zuletzt, dass man die nötige Menge Energie hinein packte. Wirkte man einen Teleportationszauber unkonzentriert, aber mit einem Übermaß an Energie, dann entstanden kleine oder größere arkane Druckwellen. Ein wenig, als würde man sehr viel Wasser mit einem Schlag aus einem eigentlich stillen Gewässer entfernen – es drängte herbei, um das entstandene Loch zu füllen, schlug zusammen und breitete sich dann in chaotischen Wellen wieder aus, um die Energie der Bewegung zu verteilen. In der Praxis sorgte das üblicherweise für kleine Krater, gerissene Wände, zersplitterte Fenster – oder eben heilloses Chaos in Werkstätten durch umgeworfene Tische.   In Carasarta angekommen war es ein Leichtes, das entsprechende Haus ausfindig zu machen. Was er hatte hören müssen, hatte er gehört. Und er gab sich keinerlei Mühe um seine Manieren, als er die junge Dame am Empfang stehen ließ, wo sie stand und ihre Rufe und Warnungen ignorierte. Erst weiter hinten, als ihm ein als solcher ersichtlicher Heiler entgegen trat – regelrecht in den Weg trat -, zügelte er sich ein wenig. „Meister Zauberfänger, willkommen. Ich habe nach euch schicken lassen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab.“ „Wo ist sie?“ Es war das Einzige von wirklichem Interesse. Was interessierte ihn der Name des Heilers oder welche Mühen er auf sich genommen hatte? Über Entlohnungen und dergleichen ähnliches konnte man sprechen, sobald das Wichtige geklärt war. „In einem der Behandlungsräume. Die restlichen Heiler des Hauses bemühen sich gerade, sie weit genug zu stabilisieren, dass wir sie in einen teleporationsfähigen Zustand bekommen.“ Er hörte zu. Hatte sich zumindest bemüht. Doch als von Stabilisierung die Rede war, riss sein Geduldsfaden abermals. Erst als sich der Heiler ihm regelrecht in den Weg warf, hielt er inne und ließ den Mann seine Begeisterung darüber durchaus spüren – wenngleich auch nur mit mahnendem, drohendem Blick. Der Heiler jedoch ließ das, was andere zu einem wimmernden Häufchen Elend verkommen ließ, an sich abprallen. „Ich bin mir sicher, dass ihr in dieser heiklen Situation nicht die Konzentration der Heiler gefährden und mögliche Zwischenfälle provozieren wollt, nicht wahr?“ „Wie lange?“ „Eine Stunde, vielleicht zwei.“ Er hatte so viel Zeit. Das war nicht die Frage. Die Frage war stattdessen vielmehr, ob er so viel Zeit haben – oder eher geben – wollte. Doch ein Blick in das ernste Gesicht des Mannes vor ihm verriet, dass dieser es ernst meinte. Kein Zucken, kein Zurückweichen, kein Senken des Blickes. Seufzend gab er klein bei. „Dann erzählt mir, was ihr schon wisst.“ Der Heiler nickte und bat ihn mit einer Geste, ihm in eines der Besprechungszimmer zu folgen. Der dortige Zauber zur Schallisolierung war rudimentär, deutlich schwächer. Aber würde wohl für den Augenblick genügen müssen. Denn so gerne er auch für mehr Privatsphäre und Sicherheit gesorgt hätte – im Augenblick traute er seiner Konzentrationsfähigkeit nicht ansatzweise weit genug über den Weg, um Magie zu wirken. Nicht in diesem aufgewühlten Zustand. „Sie kam vor wenigen Stunden mit einem der Schiffe an.“ „Ich will den Kapitän sprechen! Und die Mannschaft. Jeden davon.“ Der verstimmte Blick machte ihm rasch deutlich, wie unwillkommen seine Einwürfe und Unterbrechungen waren. Nicht, das er sich davon abschrecken ließ, doch sein Gegenüber machte deutlich, dass er vorläufig nicht die Gesprächsführung inne hatte und auch nicht inne haben würde. „Das Schiff hat nur kurz umgeladen und ist direkt wieder ausgelaufen. Ich könnte euch vermutlich an den Hafenmeister verweisen, der euch vielleicht den Zielhafen nennen könnte und möglicherweise könntet ihr auf Basis dieser Informationen mittels diverser Zauber den aktuellen Kurs und die aktuelle Position ermitteln, um euch dann mit einem extrem präzisen Teleport an Bord zu bringen. Ich zweifle nicht an eurer Entschlossenheit und eurem Willen, so weit zu gehen. Aber vielleicht solltet ihr mir zunächst zuhören?“ Die genannten Hürden waren beachtlich, das stimmte schon – und die aufgezählten Lösungen dafür ebenso offensichtlich, wenngleich auch schwierig umzusetzen und kostspielig. Nicht, das Letzteres ihn aufhalten würde… doch er wollte nicht einmal darüber mutmaßen, wie seine Werkstatt aktuell aussah – oder was er dem Schiff antun würde, sollte er in seinem gegenwärtigen Zustand auf Deck teleportieren. Entsprechend nickte er lediglich und bemühte sich abermals darum, zuzuhören. „Gut. Wie ich schon sagte: Sie kam vor einigen Stunden mit einem der Schiffe. Die Mannschaft besteht vollständig aus Elben unseres Landes und ist laut Aussage des Hafenmeisters halbwegs vertrauenswürdig. Zumal ich wenig Grund zur Annahme sehe, dass sie lügen sollten. Sie nahmen in Sundergrad, einem ausländischen Hafen, einen Passagier auf – eure Tochter. Sie wirkte zu diesem Zeitpunkt sehr verwirrt, hatte jedoch klar und deutlich sagen können, wer sie war, wohin sie wollte und besaß genug Geld, sich die Überfahrt leisten zu können. Entsprechend sah die Mannschaft wenig Probleme darin, sie mitzunehmen. Über die Dauer der Fahrt hinweg wurde ihre geistige Verwirrung jedoch immer offensichtlicher. Dabei waren große Teile der Mannschaft wohl überzeugt, dass sie Unglück brächte. Ich war ebenfalls sehr überrascht, solchen Aberglauben hätte ich Menschen zugetraut, aber nicht unseresgleichen. Wie dem auch sei: Laut Aussage des Kapitäns sagte sie den Bruch des Hauptmastes in schweren Windböen voraus. Ebenso, dass der frühere Kapitän ertrunken sei, nachdem er betrunken auf die Galionsfigur zu klettern versucht hatte. Laut Kapitän war dem Mast nicht anzusehen, dass er im Inneren faulte und das leidige Ende des früheren Kapitäns war auch nur ihm bekannt gewesen. Man mag davon halten, was immer man will. Sie redete viel wirr, Satzfetzen und Unverständliches. Die Mannschaft sperrte sie ein, als sie mehrere Mitglieder mit einer Gabel angriff. Einen hat sie dabei schwer verletzt. Sie schwankte die letzten Tage vor Ankunft im Hafen immer wieder zwischen emotionalen Zuständen der Trauer und des Zorns, unterschiedlich stark ausgeprägt. Wir haben sie gründlich auf die bekannten Leiden untersucht, aber alle Kenntnisse und Zauber erbrachten keinerlei verwertbare Ergebnisse. Wir wissen schlicht nicht, was ihr fehlt.“ Sie war… verwirrt? Es klang durchaus, als hätte irgendetwas ihren Verstand zerrüttet. Oder befallen. Und insgeheim ging er bereits das gewaltige Archiv ihm bekannter Wesenheiten und Kreaturen dieser und anderer Existenzebenen durch, von denen er gehört hatte… oder mit denen er gehandelt und geredet hatte. Nicht zuletzt sahen manche dieser Geschöpfe sich offensichtlich berufen, immer wieder in seine Arbeit hineinpfuschen zu wollen und wenn sie schon einmal da waren, nun, dann redete man eben auch miteinander über so manches. Eine tatsächliche Erkrankung dagegen war schwieriger. Heluin kam ihm unweigerlich in den Sinn. „Dann werde ich sie baldestmöglich mitnehmen und fähigere Heiler einen Blick auf sie werfen lassen“, meinte er tonlos. Er zielte keineswegs darauf ab, den Mann vor sich – oder seine Kollegen – zu beleidigen. Aber es gab nun einmal schlicht erfahrenere, versiertere Heiler. Und sollte er den Stolz seines Gegenübers gekränkt haben, so ließ dieser es sich zumindest nicht anmerken. „Betrachtet euch bezüglich ihres mentalen Zustandes damit als vorgewarnt. Dann… wäre da natürlich noch die andere Sache.“ Andere Sache…? Er spürte, wie ihm das Blut gefror. Was noch? Was, bei allen verdammten Göttern, denn nur noch?! Sein Blick war bohrend, drängend, mahnend. Ehe der Heiler jedoch Antwort gab, kontrollierte er offenbar nochmals den Schildzauber, speiste ein wenig mehr Energie hinein, nur zur Sicherheit. Oder vielleicht auch, um Zeit zu schinden. „Sie ist schwanger.“ Sein Denken stoppte. Setzte schlicht aus. Der Elb ihm gegenüber ließ den Satz wirken, schien zu glauben, dass da zu viele Gedankengänge gleichzeitig um Vorherrschaft kämpfen würden, zu viele Emotionen im Widerstreit lägen, doch tatsächlich war da Stille und eine gähnende Leere. Und ein unterschwelliger, kalter Schauer, der seinen Rücken herabrann. Ihr Verstand ist zerrüttet… sie ist schwanger… „Wir haben keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung finden können“, erklärte der Elb scheinbar seine Gedanken erratend. Oder war ihm die Miene so sehr entglitten, das man ihm seine Überlegungen ansah? „Sie konnte unsere Fragen bezüglich des Zustandekommens dieser Verbindung oder betreffend des Vaters aufgrund der zuvor erwähnten Umstände nicht beantworten. Eine erste Untersuchung zeigt, dass die Zeugung schon Monate her ist. Wie viel Zeit sie auf dem Schiff unterwegs war, ist jedoch bei der Befragung untergegangen. Ich entschuldige mich aufrichtig im Namen meiner Kollegen und unseres Hauses für dieses Versäumnis. Es sind noch einige Wochen bis zur Geburt, ihr habt also genug Zeit, euch zu entscheiden.“ Diese Pause, die er setzte, war… seltsam. Entscheiden? Was gab es da zu entscheiden? Hatte seine Tochter nicht eindeutig entschieden? Irritiert blickte er auf, bemerkte da erst, überhaupt den Blick auf das Muster seiner Kleidung gesenkt zu haben. Er sagte kein Wort, hoffte nur, dass seine Miene noch immer ein offenes Buch war. Und das schien auch zu gelingen. „Sie erwartet ein Halbblut.“ Alles Leben ist heilig. Er hatte diesen Unsinn zu hören bekommen wie jeder andere Angehörige seines Volkes auch. Und er hatte ihn, zumindest die ersten paar Jahrhunderte, geglaubt – wie jeder andere auch. Aber er war ein Zauberfänger. Und er war, mitunter unglücklicherweise, nicht einfach irgendein Zauberfänger. Gewiss, er war auch nicht der Zauberfänger. Der Zauberfänger war nur sein Bruder. Was ihn in eine unschön einflussreiche Position brachte – glaubte zumindest der Großteil Elvorans. Eine Entscheidung. Es galt eine Entscheidung zu treffen. Und nach und nach wurde ihm sogar klar, was damit gemeint war. „Ich-“, setzte er gerade an, als es unvermittelt an der Tür klopfte. Natürlich – es machte Sinn, den Schall nur nach außen zu blockieren. Nichtsdestotrotz schrak er im ersten Moment tatsächlich zusammen. Was unbemerkt blieb, glücklicherweise, da es dem Heiler offenbar ähnlich erging und der sich, die Hand an der Brust, kurz darauf mit einem entschuldigenden Lächeln erhob und zur Tür trat – um ihn kurz darauf wissen zu lassen: „Es ist so weit. Meine Kollegen haben ihre Arbeit beendet und eure Tochter ist nun transportfähig. Sie sollte jedoch zügig einem anderen Heiler überantwortet werden, sie benötigt kontinuierliche Versorgung und Hilfe.“ Wie betäubt nickte er. Konnte noch immer nicht recht mit dem Gewicht dessen umgehen, was ihm so unerwartet aufgebürdet worden war. Langsam nur erhob er sich, stellte den Stuhl manierlich und sorgsam wieder an den Tisch heran und trat aus dem Besprechungszimmer. Er ließ sich den Korridor entlang in einen anderen Raum führen und sah dort, erstmals seit Jahren, seine Tochter wieder. Sie schien sich kaum verändert zu haben. Die Haare waren ein wenig länger, vielleicht. Die Kleidung entsprach nun mehr dem schnörkellosen Alltagskrempel, den Abenteurer und Vagabunden mitzuführen pflegten. Keine hübschen, verzierten und gemusterten Kleider mehr, in prächtigen Farben und aus feinsten Stoffen. Keine Stofftiere mehr, bergeweise auf ihrem Bett drapiert. Aber in seinen Gedanken war es noch immer ein Leichtes, sie in dieses Setting zu setzen. Doch der Bauch fiel auf. Sehr viel stärker als er erwartet hätte. Und der Blick. Sie sah ihn an und sah doch irgendwie durch ihn hindurch. Oder sah zumindest nicht ihn. Sah nicht ihren eigenen Vater. Es dauerte, bis er begriff, dass sie ihn schlicht nicht erkannte. Unweigerlich der nächste Schock. Er hätte nicht einmal wirklich behaupten können, davon überrascht zu werden. Man hatte ihn vorgewarnt, sorgfältig und eindringlich. Aber hier zu stehen, einen halben Raum von ihr entfernt, und nicht erkannt zu werden? Nur am Rande bekam er mit, wie der Elb seine Mitarbeiter hinausscheuchte und als einziger als stummer Zeuge im Raum verweilte. Er benötigte einiges an Mut, den er über langwierige Minuten des Zögerns, Zauderns und der geistigen Leere hinweg zusammenkratzte, ehe er sich dem Bett näherte. Vorsichtige Schritte, weiche Knie. Behutsam umfasste er ihre Hand. Diese Finger, die früher nur die Arbeit gekannt hatten, eine Violine zu spielen – jetzt waren sie etwas rauer. Nicht viel, möglicherweise – doch ihm kam es viel vor. Als würden all die Details hervorstechen, die sich gewandelt hatten. Alles, was sein kleines Mädchen noch weiter  von ihm entrückte. Alles, was ihm sein kleines Mädchen entreißen wollte. Er strich ihr über das prächtige, rotbraune Haar. Sie neigte den Kopf zur Seite. Und egal, wie sehr er sich einreden wollte, dass ihr glasiger Blick und ihr Unverständnis nur ein Ergebnis der Betäubung waren – es lag nicht der kleinste Funke Verständnis darin, kein Erkennen. Warum hatte er sich an die wirre Hoffnung geklammert, sie möge ihn als ihren Vater sehen, nur weil er ein paar Meter näher stand? „Ist es schon Zeit, schlafen zu gehen? Die Vögel werden lauter, nicht leiser.“ So kostbar es ihm erschien, ihre Stimme zu hören, so sehr schmerzte es, zu hören, was sie zu sagen hatte. „Wir gehen heim“, erklärte er ihr mit erstickter Stimme, „Nach Hause. Was hältst du davon?“ Sie lächelte. Dieses Lächeln, voller Energie, voller unschuldiger Freude. Da war sein kleines Mädchen wieder, wenn auch nur für wenige Sekunden. „Gern. Ich bin gerne daheim. Dort scheint die Sonne, wenn ich es will. Und die Wolken sind aus Watte. Man kann Elefanten darin formen.“ Ein schweres Schlucken später blickte er über seine Schulter hinweg zum Heiler, dessen unlesbare Miene ihm keinen Anhaltspunkt gab, was er hiervon wohl denken mochte. Stattdessen nickte  der Elb ihm zu und nachdem er sich einen Moment lang konzentriert hatte… verschwanden sie aus dem Zimmer.   Die nächsten fünf Tage waren eine Qual. Er hatte Besucher nie sonderlich leiden können, doch mit einem Schlag wimmelte es in seinem Haus nur so von ihnen. Keineswegs natürlich Schaulustige oder jene, die ihr Beileid bekunden wollten – die blieben hübsch vor der Tür stehen und durften sich mit einem der Bediensteten herumschlagen, wenn sie das denn unbedingt wollten. Nein, es waren die verdammten Heiler. Die besten des Landes, die er scharenweise herbeirief. Er scheute keine Kosten, sparte keine Energie – schon gar nicht die Eigene. Dutzende Male teleportierte er pro Tag quer über das Land und sammelte all jene ein, von denen er sich Hilfe erhoffte. Doch das Ergebnis dieser ach so weisen und erfahrenen Männer und Frauen blieb immer gleichermaßen enttäuschend: Ihre Unfähigkeit ließ sie keinerlei Veränderung im Geist seiner Tochter erkennen. Keine Erkrankung, keine Manipulation. Was immer es also war, war höchstwahrscheinlich neu. Subtil. Oder extrem mächtig. Vielleicht auch alles davon. Das hieß: Noch weniger Schlaf. Und angespanntere Nerven. Das hieß, dass selbst Illyana nun endlich klug genug war, einzusehen, dass es besser wäre, ihm vorläufig Abstand zu gewähren. Dummerweise konnte er nicht alles und jeden von sich weisen. Wenngleich er es sich auch nicht eingestand, sich nicht eingestehen wollte, war er sich doch schmerzlich darüber im Klaren, dass er seit ihrer Rückkehr ins eigene Heim vermied, seiner Tochter unter die Augen zu treten. Er war zu erschöpft, zu beschäftigt, zu… was immer nötig war, um diesen Raum nicht an der Seite all der Heiler betreten zu müssen, die er hierher holte. Aber einem Ratsmitglied schlug man nicht die Nase vor der Tür zu. Also fand er sich mit einer Tasse Tee, die er nicht anrühren würde, in einem kleinen Salon. Von starken Zaubern gegen übereifrige Augen und Ohren geschützt. Er nickte Malagan Klippenwind nur zu, unterließ auch diesmal sämtliche Höflichkeitsfloskeln. Er war oft genug vom Rat für irgendwelche Banalitäten vorgeladen worden um sich das schlicht herauszunehmen. Wenn sie ihn dafür einmal mehr vorladen wollen würden, sollten sie es nur ruhig versuchen. „Es ist mir immer wieder eine Freude, hier zu Gast zu sein“, begann der alte Elb ruhig, während er an seinem Tee nippte. „Verschwendet nicht meine Zeit. Kommt zum Punkt“, verlangte er. Kurz funkelte etwas Bedrohliches in den Augen des Älteren auf, doch er zügelte sich rasch, beherrschte sich – oder verbarg das Offensichtliche zumindest. „Ich wollte lediglich mein Beileid aussprechen“, hob er zunächst an. Da war mehr. Da käme unweigerlich mehr. Aber Malagan Klippenwind war ein Politiker. Er spielte, immer und überall, selbst in Gesprächen wie diesem. Was immer da noch war, würde nicht kommen, bevor er die zufällig gelassene Gesprächspause nicht nutzte, um irgendetwas darauf zu erwidern. „Die Heiler werden etwas finden. Sie werden ihr helfen“, erklärte er daher. Nicht zuversichtlich, keineswegs. Aber er versuchte, sich selbst ein Stück davon zu überzeugen. Selbst wenn zweiundzwanzig schon gescheitert waren – das hieß nicht zwangsläufig, dass Nummer dreiundzwanzig nicht erfolgreich sein würde. „Hm? Ah, du sprichst von ihrem geistigen Leiden. Hm ja, ich bin sicher, da werden sie etwas finden“, erklärte das Ratsmitglied. Er rümpfte die Nase, hätte ihn am liebsten hier und jetzt hinausgeworfen. Das war sein Haus, allem zum Trotz und Malagan hatte nichts außer schlechten Manieren gegen ihn in der Hand. Er musste sich nicht bieten lassen, dass dieses Scheusal sich herausnahm, ihm so persönlich zu begegnen. Etwas, das ihm ganz gewiss nicht zustand. Mehr noch als die verbale Persönlichkeit erzürnte ihn jedoch die Implikation. „Weshalb seid ihr hier?!“, verlangte er mit Nachdruck zu wissen. „Um dich an das zu erinnern, was du ohnehin schon weißt und was du, zweifellos, in den vergangenen Tagen bereits in Gedanken durchgegangen bist, wieder und wieder. Sie erwartet einen Mischling.“ Das Wort regelrecht ausgespuckt wie etwas Fauliges, hatte er zumindest genug Geistesgegenwart besessen, nicht auf andere Titulierungen zurückzugreifen. „Ich kenne die diesbezügliche Politik von Haus Klippenwind-“, begann er, wurde jedoch jäh unterbrochen. „Nein. Nein, das ist nicht die Politik meines Hauses. Rede dir da keinen Unsinn ein! Es ist die Politik ganz Elvorans. Und jedes anderen elbischen Volkes, wenn sie vernunftbegabte Führer besitzen. Sei kein Narr – du weißt, wie das enden würde.“ „Kommt ihr in jedes Haus, das mischblütigen Nachwuchs erwartet?“, versuchte er den Älteren zu provozieren. Was hatte er hier verloren?! Warum war er hier? Warum gerade jetzt? „Nein, wohl nicht. Die haben vernunftbegabte Personen in ihrem Umfeld – hoffentlich zumindest -, die ihnen die Notwendigkeit bestimmter Handlungsweisen und Entscheidungen aufzeigen können. Du dagegen bist bekannt als übellaunig und unvernünftig, als stur.“ „Euch vielleicht“, warf er mit einer gewissen Genugtuung ein – obwohl ihm natürlich bestens bewusst war, das Illyana, zumindest in einem vertraulichen, persönlichen Gespräch, dieser Beschreibung nicht hätte widersprechen können, ohne zu lügen. „Nun nichtsdestotrotz. Elbisches Blut währt ewiglich, aber anders als diese Pest im Osten lassen wir uns Zeit, und das in sämtlichen Belangen des Lebens. Wir sind vorsichtig und wägen ab. Deine Tochter hat sich – wie viele von uns, versteh mich nicht falsch – tapfer und mutig in die Welt hinausgewagt, um sie mit eigenen Augen zu sehen, mit eigenen Taten zu erforschen und vielleicht sogar zu formen. Aber sie ist auf etwas oder jemanden hereingefallen. Hat sich etwas antun lassen. Die Götter allein mögen wissen, was genau geschehen ist und ich bin sicher, dass bereitete dir schon genug unruhige Nächte. Doch denke an die Zukunft. Die deiner Tochter und deine Eigene. Wenn wir diese… diese Halbblüter einfach überall willkommen heißen und herumstreunen lassen würden, dann würde das elbische Blut zunehmend verwässern. Verdünnt bis zur Unkenntlichkeit, bis von unserem Volk, unserer Tradition, unserer Kultur absolut nichts mehr übrig wäre. Wir können das nicht dulden, dürfen es nicht – um unserer Selbsterhaltung willen. Und du wirst nicht in den wenigen Wochen, die dir noch für die Entscheidung bleiben, das Denken eines ganzen Volkes umwerfen. Das liegt außerhalb selbst deiner Mächte. Was also bleibt dir? Ein Halbblut lebt wie lange? Ein, vielleicht zwei Jahrhunderte, wenn es hoch kommt? Ruinieren würdest du damit jedoch weit mehr als nur diese Lebensspanne. Das Ansehen deiner Tochter hat jetzt bereits erheblich gelitten. Sie ist nicht fähig, diese Entscheidung zu treffen – was die Bürde dir zuschiebt. Wenn du dich falsch entscheidest, dann wird das Gewicht der Konsequenzen auch auf dich zurückfallen.“ „Drohst du mir gerade in meinem eigenen Haus?“, unterbrach er Malagan abermals. Der verzog seinerseits nun sichtlich das Gesicht über die persönliche Anrede, ging jedoch zumindest darauf nicht ein, als er den Kopf schüttelte. „Nein, keineswegs. Dir zu drohen ist nicht nötig. Du weißt all das schon. Ich rufe es dir lediglich in Erinnerung. Ob du es glauben magst oder nicht: Ich bin hier, um dir zu helfen. Elvoran braucht eine starke Führung. In diesen Zeiten mehr denn je. Und dazu gehört ein starkes Haus Zauberfänger, so ungern ich das zugeben mag. Wenn dein Ansehen durch diese… diese flatterhafte Fehlentscheidung deiner Tochter zerstört würde, was glaubst du, was dann geschehen wird? Was glaubst du, wie sich das auf die Laune und Konzentrationsfähigkeit deines Bruders auswirkt? Er sucht dann und wann Rat und Beistand bei dir, oder nicht? Glaubst du, die Öffentlichkeit ist blind genug, das nicht zu bemerken? Und was mit deinem eigenen Leben? Stammt die Mehrheit deiner Einnahmen nicht aus Aufträgen des Rates von Carasamban? Willst du mir wirklich erzählen, dass du nicht sehen kannst, nicht erkennen kannst, wie die Geburt dieses Fehlers nicht nur dein Leben und das deiner Tochter ruinieren wird, sondern auch unser ganzes Land destabilisieren könnte?“ Die Fäuste geballt, hatte er sich bemüht, an sich zu halten. Er hatte sich wirklich bemüht, so sehr… aber das war einfach zu viel. Zu viel auf einmal. Zu viele Tiefschläge. „Raus!“, zürnte er aufbrausend. Als schwach schimmernde Aura legten sich pure arkane Energien um seinen Körper, nur mühselig zurückgehalten, in variable Formen unzähliger bekannter Zauber schlüpfend auf alles und jeden loszugehen, der sich in der Nähe befand. „Ich sehe, du weißt das Nötige und brauchst deine Zeit, um dich zur einzig vernünftigen Entscheidung durchzuringen“, erklärte Malagan trotz allem völlig ruhig. Er setzte die Untertasse ab, leerte seinen Tee und erhob sich. Er nahm sich sogar die Zeit, seine Robe glatt zu streichen, ehe er sich höflich und förmlich vom Hausherrn verabschiedete und von einem Bediensteten zur Tür hinauseskortiert wurde.   Kraftlos ließ er sich in den Sessel fallen. Er hasste ihn. Er hasste ihn für die Begriffe, die er verwendet hatte. Für die Grausamkeiten, die er impliziert hatte. Für die Richtung, in die er ihn zu treiben versucht hatte. … für die Wahrheiten, die er ihm ungebeten vor Augen gezerrt hatte. Sicherlich – vieles davon mochte dramatisiert sein. Oder zumindest klingen. Aber er wusste um die vehemente Ablehnung halbelbischen Blutes im Land. Er wusste um all die Vorurteile. Er wusste, welche Schwierigkeiten es geben würde. Selbst wenn seine Tochter sich erholen, ihr Verstand wieder in seinen gesunden Zustand zurückkehren würde. Selbst dann, so hatte Malagan völlig richtig gesagt, hatte ihr Ruf Schaden genommen. Erheblichen, falls man den Implikationen des Ratsmitgliedes trauen konnte. Sie, die sich hatte verführen lassen. Oder sie, die sich hatte überraschen lassen. Es gab so viel… grausamen, ungerechten Unsinn, der existierte – in den Köpfen der Leute allem voran. Sie würde abgelehnt werden. Vielleicht nicht direkt angefeindet, aber man würde sie spüren lassen, dass sie hier in Elvoran nicht länger willkommen war. Man würde versuchen, sie fortzutreiben. Wieder hinaus in die Weite der Welt. Und damit unweigerlich fort von ihm – denn er war Crafter, allem zum Trotz, und dies seine Heimat. Und seine eigenen Abenteuerjahre lagen lange, lange zurück und seine Abenteuerlust war schon damals nicht allzu groß gewesen. Die Mehrheit seiner Aufträge kam tatsächlich vom Rat Carasambans. Und Heluin und er berieten sich tatsächlich häufig, obwohl die Angelegenheiten des Ältestenrates eigentlich streng vertraulich waren. Alles nur eines Kindes wegen. War es das wert? Alles Leben ist heilig. Es galt die Entscheidung zügig zu fällen. Nur noch einige Tage, bis die Heiler nichts mehr würden tun können, außer die Geburt zu begleiten, zu verfolgen und… und dann? Vielleicht würde er das Kind weggeben können. Aber brächte er das übers Herz? Für immer zu wissen, das irgendwo dort draußen ein Mitglied seiner Familie war, sein Enkel. Unwissend über seinen Zustand. Seine Abenteuer. Die Gefahren, Sorgen und Nöte seines Lebens. War es da nicht gnädiger, die Geburt des Kindes gänzlich zu verhindern? Es gar nicht erst das Licht der Welt erblicken zu lassen? Gnädiger für Tochter und Großvater gleichermaßen, zumindest? Gnädiger für das Kind selbst gewiss auch, oder nicht? Wie lebte ein Halbblut in Elvoran? Die unbequeme Antwort, die Erste zumindest, die ihm in den Sinn kam: Gar nicht. Ein Halbblut lebte hier nicht… mit viel Glück überlebte es vielleicht. Aber war das wirklich, was er seinem Enkel antun wollte? Ein Leben in Zurückweisung? In Ablehnung und offener Anfeindung? Aller Überfluss konnte Neugier nicht ewig zurückhalten. Und was würde mit einem so jungen Geist geschehen, wenn er in diese Wand aus Dornen lief? Sich an Worten und Blicken verletzte, noch lange bevor möglicherweise weit mehr als nur dergleichen käme?   Weitere Tage verstrichen. Vierundvierzig Heiler, kein Erfolg. Sehr zu seiner Verwunderung hatte sogar Malagan seine persönliche Heilerin vorbei geschickt, damit sie sich den Zustand seiner Tochter einmal genauer besah… Er hatte sie noch immer nicht wiedergesehen. Hatte noch immer nicht gewagt, ihr Zimmer wieder zu betreten. Aber er hatte eine Entscheidung getroffen. Das Hadern hatte ein Ende… hoffte er. Und es wäre zum Besten für alle Beteiligten, nicht wahr? Jeder kam damit besser weg. Wirklich und ausnahmslos jeder. Ein Gewinn für alle. Es… es sollte sich also eigentlich sehr viel besser anfühlen, als es das tat. Das Treffen mit der kleinen Gruppe von Heilern war gründlich von ihm organisiert worden. Der Eingriff würde nicht lange dauern und weder Mutter noch Kind irgendeinen Schaden zufügen. Die Behandlung war schmerzfrei. Das Kind würde nicht das Geringste spüren. Bewusstsein war ja ohnehin noch nicht da. Alles Leben ist heilig. Es war kein Mord. Da schlug ein Herz, aber in diesem Kopf war kein Verstand. Die Grenze war schwammig, aber… es ging. Es würde noch gehen. Die Heiler hatten sich bereit erklärt, es noch zu tun – also war es noch in Ordnung. Immerhin, ihre diesbezüglichen Richtlinien sollten härter und strenger sein als die von irgendwem sonst, nicht wahr? Vier Männer halfen ihm. Handlanger der Heiler, Assistenz, Zuarbeiter. In diesem Fall brachten sie die Trage, verlagerten Ahillea darauf, schnallten sie umgehend wieder fest und brachten sie hinter ihm her in Richtung Ausgang des Hauses. Dort wartete ein Teleportationszirkel auf sie. Bevor sie jedoch wirklich nach draußen kamen, stellte sich ihm Illyana in den Weg. Zunächst wortlos, starrte sie ihn an. Er wusste genau, was sie wollte. Was sie verlangte, ohne es auszusprechen. Das war nicht nötig, um es zu begreifen. Doch als er nicht reagierte, tat sie es dennoch, mit Nachdruck. „Erklär‘ mir das, sofort!“ Wie sollte er? „Es ist besser so. Besser für uns alle.“ Ihr Blick veränderte sich. Wurde weiter. Entsetzt, regelrecht. „Was ist ‚besser für uns alle‘?“, verlangte sie zu wissen. Nein – nicht zu wissen. Sie wusste es nur zu gut. Sie verlangte es zu hören. Sie verlangte, dass er es aussprach. „Dass sie… dass das Kind… es darf nicht…“ Er stockte, brach ab. Er wusste noch immer nicht, wie er das aussprechen sollte. Nur der Gedanke daran, es auszusprechen, verknotete ihm den Magen. Mit seinem eigenen Unbehagen ringend, sah er sie nicht kommen. Jene Hand. Lediglich, nachdem ein hörbares Klatschen den Korridor herabgeschallt war, nachdem der Schmerz seinen Verstand erreicht, kurzzeitig zu fluten versucht und sich ein Brennen hinterlassend wieder zurückgezogen hatte, wagte er zu ihr zu sehen. Trotz legte sich in seinen Blick. Er hatte entschieden! Er hatte zum Wohle aller entschieden! Seiner Tochter! Des Kindes! Sein eigenes Wohl! Das seines Bruders, ja sogar ganz Elvorans! Warum sah sie das nicht!? „Vergiss nicht deinen Platz, Magd!“ Die Worte waren heraus, ehe er überhaupt realisiert hatte, was sein Verstand da gerade zusammenpuzzelte. Er glaubte ihren Schrecken im Angesicht dessen gut nachvollziehen zu können. Nie. Nie in all den Jahren hatte er sie jemals so… herabgewürdigt. So… reduziert. Aber warum sah sie nicht, dass es keinen anderen Weg gab? Mehr flüchtend als alles andere, schob er sich an Illyana vorbei. Die vier Assistenten der Heiler folgten noch immer mit der Trage. Keiner kommentierte das Geschehen in irgendeiner Weise. Sie taten gut daran. Eine Teleportation später befanden sie sich im Haus der Heiler. Alles war vorbereitet. Ahillea bekam eine Dosis des Betäubungsmittels verabreicht. Sie sah sich um, redete wieder wirr. Keiner hörte wirklich zu. Es… tat weh, sich das eingestehen zu müssen. Aber es war so schrecklich leicht geworden, auszublenden, was sie von sich gab. Weil es einfach keinen Sinn ergab. Selbst die wenigen Fetzen, die irgendwann kamen und Sinn zu haben schienen waren noch immer zu kryptisch, um damit irgendetwas anzufangen. Und alle Heiler hatten daran versagt. Nicht, das er schnell damit war, die Hoffnung aufzugeben. Ihm gingen nur allmählich die landeseigenen Heiler aus. Er würde in Akkara zu suchen beginnen, sobald das hier vorbei war. Und dann, dann vielleicht in Ordewey. Falls nötig, auch den gesamten verdammten Rest der Welt. „Nein!“, kreischte Ahillea plötzlich. Man hatte sie gerade die letzten Meter bringen wollen, den Korridor herab und durch die Tür ins Behandlungszimmer. Er würde hier warten, hier im Flur, jenseits der Tür. Bis man ihn rief und ihm sagte, das alles geschafft war. Dies waren die letzten Meter. Er hatte sie betrachtet. Sich ihr Gesicht einzuprägen versucht. Diesen Moment einzuprägen und sich irgendwie gutzureden versucht. Er hatte sich ausgemalt, wie er ihr irgendwann erklären musste, was geschehen war. Abzuschätzen versucht, wie sie wohl reagieren würde. Es war, von den Schritten abgesehen, still gewesen. Doch keine vier Meter von den Türen entfernt, bäumte sie sich mit einem Ruck mit beeindruckender Kraft gegen die Fesseln auf. „Nein!“, schrie sie immer wieder panisch, mit hysterisch schriller Stimme, „Lass das nicht zu!“, verlangte sie. Immer wieder und wieder. Die Assistenten waren zunächst gewichen, nur zur Sicherheit – und holten bereits einen der Heiler, damit sie eine weitere Dosis des Betäubungsmittels bekam. Ahillea jedoch wandte sich in ihren Ketten, riss daran, schleuderte sich wie wild herum, als hätte die Tollwut sie gepackt und schrie, schrie so laut sie nur konnte. Und plötzlich, mit einem Ruck, sackte sie auf die Trage zurück. Tränen rannen zahl- und haltlos über ihre Wangen, als sie ihn ansah. Mit einem Blick, der durch Fleisch hindurchdringend tiefer ging, als er in Worte fassen konnte. „Lass das nicht zu… bitte, sie dürfen sie mir nicht wegnehmen… Sie ist meine Arien… lass nicht zu, das sie mir Arien wegnehmen…!“ Seine Kehle schnürte sich zu. Und doch blieben seine Lippen versiegelt. Seine Hände taub. Seine Beine still. Ein Arzt kam, verabreichte ihre eine weitere Dosis. Sie wurde leiser, sank zurück. Auf das Nicken des Heilers hin traten die vier Männer wieder heran, nahmen die Trage und bewegten sie weiter. Und jeder Schritt, den sie taten. Jeder Schritt, der mehr Distanz zwischen Ahillea und ihn brachte – zwischen seine Tochter und ihn. Jeder dieser Schritte schmerzte mehr als der vorherige. Noch immer starrte sie ihn an. Sah ihn. Erkannte ihn. „Bitte, Papa…“ Die Türen schlossen sich. Metall klickte. Er glaubte völlig die Kontrolle über sich und seinen Körper verloren zu haben. Alles fühlte sich fremd an. Einen Arm zu heben war nahezu unmöglich. Er spürte nur das Zittern in seinen Händen und Knien. Spürte nur die Hitze der Tränen auf seinen Wangen. Sah, wie verschwommen die Welt war. Wie speiübel ihm war. Wie flau sich sein Schädel anfühlte. Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung, brach durch die Tür hindurch, als wäre jede Sekunde wichtig. Und waren sie das nicht auch? Alles Leben ist heilig. Jede Sekunde war wichtig. Selbst wenn es nur ein oder zwei Jahrhunderte wären – so waren das zahllose Sekunden und jede davon kostbar, oder nicht? „Halt!“, gebot er in den Raum platzend, in dem er nichts verloren hatte. Die Heiler blickten verwirrt auf…   „Ich erwarte demnächst eine Enkelin. Ihr Name wird Arien sein.“ Zwei Sätze. Nur zwei Sätze. Aber sie wogen schwer. Lagen in der Luft, als hätte jemand – ohne es zu wissen – Staatsgeheimnisse brühwarm ausgeplaudert. Vor ihm stand die versammelte Dienerschaft des Hauses, jeder Einzelne von ihnen. Und eine, deren Blick er bestmöglich auswich. Hier und jetzt wurde ihm erstmals seit langer Zeit wieder gewahr, wie viele eigentlich für ihn arbeiteten. Für die Instandhaltung des Hauses, hauptsächlich, aber auch für sein Wohl in der einen oder anderen Form. „Ich verspreche jedem von euch, dass es keinerlei böses Blut zwischen uns geben wird – nicht von meiner Seite aus. Wer sich entscheidet, aufgrund meiner getroffenen Wahl zu gehen, der kann von mir ein Empfehlungsschreiben erhalten. Überlegt es euch. Wer gehen will… der möge jetzt bitte gehen.“ Er hatte gehofft. Darauf, sich geirrt zu haben. Er hatte sich einmal geirrt – warum nicht zweimal? Das war offensichtlich eine Zeit für Irrtümer. Zum Besten aller. Es klang wie ein schlechter Scherz. Der grausamste Scherz aller Zeiten. Doch natürlich hatte er sich nicht geirrt, was sein Gespür für die Herzen und Vernunft der Leute anbelangte. Die ersten, die gingen, waren die Selbstbewussteren. Sie brachen das Eis, gewissermaßen. Andere schlichen ihnen hinterher. Manche würdigten ihn keines Blickes mehr. Manche funkelten ihn zornig an. Ein paar wenige lächelten. Bedankten sich sogar für das angebotene Schreiben oder die Gelegenheit, hier gearbeitet zu haben. Wichtig war letztlich nur, dass sie gingen. Alle. Nun ja – fast alle. Alle bis auf eine, genau genommen. Und die, so vermutete er, auch nur aufgrund des Umstandes, dass sie noch eine sehr persönliche Angelegenheit mit ihm zu klären hätte, bevor sie ihre Kündigung einreichen würde. Als sich die Tür hinter dem Letzten schloss, herrschte mehrere Momente lang angespannte Stille, ehe sie sich zuerst überwandte. „Schön zu sehen, dass du zur Vernunft gekommen bist.“ Sie trat einen Schritt vor. „Bereit?“ Er seufzte tief. „Bereit.“ Die Ohrfeige schallte durch die Eingangshalle, die Gänge herab, sogar in der Küche – durch die geschlossene Tür hindurch – schien noch ein kleines Echo geworfen zu werden. Er hatte in seinem Leben manchen Kampf bestritten, manche Wunde verschmerzt. Er war Crafter – mitunter flogen einem die Reagenzien auch schlicht um die Ohren und Verbrennungen oder kleinere Schnittwunden waren an der Tagesordnung. Aber diese Ohrfeige würde er nicht mehr vergessen. Und das nicht nur, weil darin so viel Wucht und Kraft und Energie lag, so viel offensichtliche Wut. „Tu das nie wieder, hörst du mich? Wenn du eine Magd willst, geh da raus und stell eine ein!“ Er wagte nicht, sich die Wange zu reiben – obwohl der Impuls da, der Drang groß war. Stattdessen wich er ihrem Blick aus und erntete sofort ein „Sieh mich verdammt nochmal an!“ Er hob den Kopf, ihre Blicke trafen sich. Sie war wütend. So unglaublich wütend. Wie schon seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr. Und er hatte das verschuldet. Dennoch erschien es ihm beinahe… banal. Banal im Angesicht dessen, was er heute um Haaresbreite noch verschuldet hätte. Und das erste Mal seit Tagen, Wochen inzwischen, überkam ihn ein Gefühl, so stark und klar umrissen: Tiefgreifender Kummer. Er hatte seine Tochter verloren. Irgendwie, irgendwo. Er wusste nicht einmal, an wen oder warum. Aber er hatte seine Tochter verloren. Dann und wann mochte sie auftauchen, zwischen wahnsinnigem Geschrei, während sie biss und kratzte und um sich spuckte. Oder in den Phasen, in denen sie ihre Umgebung nicht mehr erkannte. Dann und wann war sie wieder da. Und es schmerzte so unendlich mehr, zu wissen, dass er sie binnen Tagen oder Minuten, vielleicht sogar nur Sekunden, wieder verlieren würde. Also brach er ein. In der Eingangshalle, alle Schutzzauber vergessen. Und Illyana war da. Sie war immer da gewesen, so schien ihm. Sie hielt ihn. Sie wartete. Und als er sich beruhigt hatte, verlangte sie von ihm, was er von Anfang an hätte tun sollen: Dass er ihr alles erzählte, was er wusste. Alles, was geschehen war. Jede Entscheidung erklärte, jeden Gedanken darlegte. Natürlich war auch dieses Gespräch alles andere als angenehm. Aber heilsam auf eine Weise, die er nicht erwartet hatte.   Es war später Abend und beide saßen bei nicht mehr als ein paar belegten Broten in der Küche beisammen, seit einigen Minuten schon schweigend. Aber es war keine drückende, keine unangenehme Stille. Einvernehmlich vielmehr. Ließ Ruhe. Raum für Gedanken. Doch das Klingeln unterbrach eben diese. „Ich mache Tee“, seufzte Illyana. Er nickte und begab sich selbst zur Tür. Einmal aufgezogen, hätte er sie sofort wieder zuschlagen wollen. „Der Tag war sehr lang und… ereignisreich. Ich habe keine Manieren, keine Höflichkeit, keine Freundlichkeit und keine Geduld übrig. Für euresgleichen ohnehin nicht mehr.“ Die weißhaarige Elbe vor ihm nickte amüsiert lächelnd. „Mir wäre neu, das meinesgleichen euch je etwas getan hätte.“ „Ratsmitglieder“, präzisierte er verstimmt. „Ah, ich verstehe. Nun, nichtsdestotrotz – ich bezweifle, dass meine Angelegenheit allzu viel Aufschub duldet. Eure Haushälterin macht bereits Tee, wie ich vermute und es wäre eine Schande, den zu verschwenden.“ „Sie ist nicht meine Haushälterin, sie ist…“ „Ja?“ Er wollte ihr am liebsten dieses geduldige Lächeln aus dem Gesicht wischen, überlegte es sich jedoch anders. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine weitere Vorladung vom Rat wegen irgendeiner Lappalie. „Kommt rein“, wies er sie unbegeistert an und trat aus dem Weg. Einmal mehr in – seiner Meinung nach – viel zu wenig Tagen saß ein Mitglied des Ältestenrates von Elvoran in seinem Salon. Er hasste es. „Also was wollt ihr?“, verlangte er zu erfahren, nachdem Illyana den Tee gebracht hatte. „Euch helfen natürlich“, erklärte sie noch immer lächelnd. Und reizte ihn damit noch weiter. „Das klingt merkwürdig vertraut. Das letzte Ratsmitglied, das mir helfen wollte, hat mich für seine Zwecke einzuspannen versucht.“ Denn nach allem, was er durchgemacht hatte? Nach allem, was Malagan ihm gesagt hatte? Nach all den Vermutungen, die Illyana eingeworfen hatte? Ja, natürlich. Wie hatte er es nicht sehen können? Vielleicht lag es am Schock, am emotionalen Durcheinander. Das spielte letztlich keine Rolle. Er, der Heluin nicht mehr beriet, um dessen Ansehen in der Öffentlichkeit nicht zu gefährden. Denn er hatte eine von der Gesellschaft nicht anerkannte Enkelin. Oder aber er, der an seiner eigenen Schuld erstickte… weil er eben keine Enkelin hatte – und seiner Tochter deren erstes Kind genommen hatte. Egal, wie er sich entschied… Malagan würde gewinnen, auf die eine oder andere Weise. Nimalja hingegen lächelte weiterhin dieses amüsierte Lächeln. „Natürlich hat er das und ich mache auch keinen Hehl draus, dass meine Hilfe nicht kostenlos kommt.“ „Natürlich nicht“, seufzte er. Aber immerhin – sie war, zumindest bis zu diesem Punkt, tatsächlich erfrischend direkt. „Dann vielleicht erst einmal so herum: Wozu überhaupt helfen?“ Das brachte sie tatsächlich zum Lachen. Es klang hell, war kurz und wirkte… erstaunlich aufrichtig. „Stellt euch nicht so an, ihr wisst die Antwort darauf genau. Diese Situation hat mit Haus Steinrinde nicht das Geringste zu tun. Noch nicht. Aber wir haben ein Händchen dafür, neutrale Situationen, nicht-profitable Situationen, in für uns profitable Situationen umzuwandeln. Nichts anderes mache ich hier. Natürlich könnte ich mich raushalten und diese wundervolle Gelegenheit winkend an mir vorbeiziehen lassen – aber dann hätte ich auch keinerlei Gewinn. Und das ist letztlich, worauf wir aus sind.“ Er nickte ernsten Blickes. „Fein. Dann: Was wollt ihr?“ „Nein“, erwiderte sie rasch und schüttelte wieder lächelnd den Kopf, „Schlechte Verhandlungstaktik. Man merkt euren Mangel an Erfahrung diesbezüglich. Ich werde euch erst ein wenig den Mund wässrig machen mit all dem, was ich euch anbiete. Und dann kommt, was es kostet.“ „Ist es nicht unsinnig, die Taktik zu erklären?“, erwiderte er gereizt. Er wollte sie loswerden. Er wollte sie einfach nur noch aus seinem Haus haben. Nicht, weil sie in der gleichen Kategorie von unangenehm spielte, wie Malagan es tat – sondern einfach nur, weil es ein inzwischen sehr langer, ereignisreicher, aufreibender Tag gewesen war. Völlig seelenruhig dagegen zuckte sie mit den Schultern. „Und wenn schon – die Taktik zu erklären macht sie nicht weniger effektiv.“ „Dann erzählt endlich“, maulte er und setzte sich unwillig in den Sessel ihr gegenüber. „Ihr habt euch in eine prekäre Lage gebracht, steht gewissermaßen mit dem Rücken zur Wand. Eure gesamte Belegschaft hat gekündigt – mit einer rühmlichen Ausnahme. Der Ruf eurer Tochter ist zu einem Häufchen Asche reduziert. Und an eurem Ruf wird auch schon fleißig genagt. Bevor der nächste Morgen graut, werden sich die ersten Leute das Maul zerreißen. Eure Arbeit hängt von Aufträgen ab, die ihr vom Stadtrat bekommt. Euch bleibt nicht viel Zeit zum Handeln, bevor andere es tun werden. Ihr habt ausgeschlagen, was Malagan für euch für das Beste hielt – die tieferen Motive dessen seien erstmal dahingestellt. Ihr könnt davon ausgehen, das ihr dieses Anwesen hier nicht werdet halten können… und selbst sollte euch irgendwie gelingen, es zu halten, dann wird man es euch schlicht unter Vorwand wegnehmen. Was ich vorschlage, ist simpel: Akzeptiert. Akzeptiert, dass man euch besiegt hat. Es spielt keine Rolle, ob dem tatsächlich so ist. Akzeptiert, was damit einhergeht, ein Halbblut in der Familie zu dulden. Sie werden euch ins Exil treiben wollen – also geht ins Exil, bevor irgendwer irgendwas sagen oder machen kann. Nicht ins Ausland, wie man sich wünschen würde, nein. Ich hätte da zufällig ein hübsches kleines Anwesen am Stadtrand. Ein kleines Stück außerhalb, aber nicht zu weit weg. Interesse? Und dann wären da noch eure Aufträge. Natürlich wird man offene Aufträge abbrechen. Ihr werdet keine Münze mehr sehen für all die angefangenen Projekte. Selbst für die nicht, die fertig sind und von denen ihr nur noch die Bezahlung erwartet. Bürokratische Mühlen, ganz tragisch – ihr werdet also rasch in Geldprobleme kommen. Allerdings kenne ich da ein paar Herren und Damen, die ihre Privatsphäre sehr schätzen. Sie sind sehr wohlhabend, allesamt, ebenso sehr exzentrisch. Habt ihr schon mal einen Stier in Lebensgröße aus massivem Gold gefertigt und ihm Augen aus Diamant eingesetzt, der dann irgendwo in einer Eingangshalle als edler Staubfänger herumsteht und bei unbefugtem Betreten Flammenstöße aus seinem Maul speit? Nein? Nun – dann wäre das bestimmt eine amüsante Herausforderung. Von den Unsummen, die dafür verlangt werden können, ganz zu schweigen. Ich könnte euch in Kontakt mit einigen dieser Herren und Damen bringen. Die Wünsche sind… gewiss ausgefallener als das, was ihr bisher gemacht habt und zweifellos werdet ihr sehr viel öfter bedroht, ermahnt, verwarnt und zur Verschwiegenheit aufgefordert oder verpflichtet, aber… dafür könntet ihr möglicherweise im Nachhinein sogar mehr Geld haben als vorher. Und was den Rest anbelangt, nun ja. Hohe Fluktuationen im Personal hattet ihr ohnehin schon und auch, wenn ihr im Exil seid, wird eure Münze noch gut genug sein, das man sich Gemüse, die Dienste eines Heilers und andere Annehmlichkeiten eines normalen Lebens leisten kann. Versteht ihr? Es geht um den Schein.“ „Ich verstehe nur zu gut“, erwiderte er abrupt und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. Was sie in Aussicht stellte, war durchaus wahrscheinlich. Und ausnahmsweise musste er sich dabei nicht, wie zuvor unter Schock stehend und mit Malagan redend, ausschließlich auf sein eigenes Urteil verlassen – Illyana hatte bereits ganz ähnliche Bedenken aufgebracht. Natürlich käme sie selbst mit sehr viel weniger Geld aus. Und auch er könnte einen Großteil des Luxus jederzeit streichen. Aber ein Kind kostete Geld, viel Geld. Die permanente Versorgung seiner Tochter ebenso. Ganz zu schweigen von den Schilden, die er um seine Werkstatt aufrechterhalten musste, damit auch weiterhin Saboteure, Spione und Attentäter draußen blieben. „Wofür?“ Einen Moment schien sie verwirrt, dann wieder erheitert. „Einen Gefallen von Athavar Zauberfänger.“ Er spürte selbst nur zu gut, wie ihm die Gesichtszüge entglitten. Dazu hätte es ihr vergnügtes Glucksen nicht gebraucht. Er hasste es, hasste es, irgendwem irgendwas zu schulden. Von so ominösen Dingen wie einem Gefallen ganz zu schweigen. „Nein.“ „Ah, ah, ah! Nicht so vorschnell. Überlegt euch das gut. Dieses Angebot verfällt, sobald ich zur Tür hinaus bin. Meinetwegen holt eure nicht-Haushälterin dazu und lasst euch beraten, wenn ihr sicher sein wollt, dass ihr nicht wieder aus falschen Gründen und Überlegungen heraus urteilt. Lasst mich euch überdies versichern, dass ich keineswegs verlange, dass ihr etwas tun werdet, das gegen die Grundprinzipien eures moralischen Kodex verstößt. Ich will nicht, das ihr euer Land verratet oder für mich Attentäter spielt und so lustig der Gedanke auch erscheint, ich habe auch kein Interesse an eurem Erst-… nun, in dem Fall wohl Zweitgeborenen. Ein Gefallen, ja – aber in einem vernünftigen Rahmen. Ich bin schließlich nicht größenwahnsinnig.“ „Und da seid ihr sicher?“ „Die meiste Zeit, ja“, erwiderte sie unverhohlen amüsiert. Seufzend tat er schließlich nach einem Augenblick genau das, was sie ihm mit eigenen Worten erlaubt hatte – und holte Illyana dazu. Mit ihr zusammen besprachen sie, nochmals, sämtliche Details ihres Vorschlages. Den Verkauf dieses Hauses und Ankauf des anderen, seine berufliche Perspektive – die Notwendigkeit, weiterhin eine gewisse, beachtliche Menge an Umsatz zu machen. Es war nichts, das er gern zugab, doch Nimalja hatte einen… einzigartigen Standpunkt, diesbezüglich. Elbische Tradition und Konvention gingen ihr offenkundig an Orten vorbei, die man besser nicht genau in Worte fasste – doch sie besaß einen rasiermesserscharfen Verstand, der auf ökonomische Mechanismen trainiert war. Sie sah Profite, sie sah Risiken, sie sah Verluste und mögliche Gewinne. Sie betrachtete die Entwicklungen aus einer Warte heraus, die… überaus unelbisch war. Und vielleicht war genau das, was sie im Moment benötigten.   Als der nächste Morgen graute, waren diverse Verträge und Erklärungen, Zusätze und Nachsätze aufgetaucht, unterschrieben, kopiert und ausgehändigt worden, waren wieder verschwunden und von anderen Dokumenten, Karten und Schlüsseln ersetzt worden. Eine überaus geschäftige Nacht, die die Konzentration aller stark belastete. „Ein Gefallen“, erklärte er mit einem ernsten Nicken während des Handschlags, der alles besiegelte, „Und lasst mich das ja nicht bereuen – nur eine gut gemeinte Warnung.“ „Oh bitte. Immer noch so misstrauisch? Fein, ich mache den Handel noch ein bisschen süßer – auch wenn ich das zu diesem Zeitpunkt wohl wirklich nicht mehr müsste. Einfach nur um zu zeigen, was für eine gute, aufrechte Elbe ich doch bin! Ihr benötigt einen Heiler. Einen gut ausgebildeten Heiler, nicht wahr? Der sich kontinuierlich des Zustandes eurer Tochter annimmt, sie stabilisiert, sie versorgt, pflegt, das volle Programm. Jemand, der eigentlich im Haus wohnen müsste.“ „Darum kümmere ich mich allein“, erwiderte er so harten Tones, wie er konnte. Das Thema war noch immer weit davon entfernt, irgendetwas anderes als eine frische Wunde zu sein – und sie legte wissentlich und lächelnd den Finger hinein. „Könntet ihr, keine Frage. Aber wozu? Ich könnte meinen Heiler vorbeischicken. Ah, hört erst zu! Er soll sich nicht bei euch einnisten und euch ausspionieren. Wäre natürlich profitabel, aber eins nach dem anderen. Nein, er soll ihr beibringen, was sie zu tun und zu lassen hat.“ Nimaljas Deut ging in Illyanas Richtung – die etwas verdutzt innehielt. „Was? Ich?“ „Genau“, erwiderte die Ratsherrin, „Ihr habt eine Veranlagung für Heilkunst, nicht wahr?“ Niemand hinterfragte, woher das Wissen kam. Wozu auch. Stattdessen nickte Illyana schlicht. „Ausgezeichnet. Dann kümmert ihr euch um seine Tochter, sobald euer, nennen wir es mal Training, abgeschlossen ist. Bis dahin sollten die Ersparnisse reichen, um sie von anderen Heilern versorgen zu lassen, nicht? Und nur, um zu gewährleisten, dass es keine Engpässe gibt – ich hätte auch bereits den ersten Arbeitsauftrag, falls gewünscht?“ Das ging schnell. Zu schnell. Aber in den letzten Tagen ging schlicht und ergreifend einfach alles zu schnell. Unter einem Seufzen nickte er. Er konnte sich zumindest anhören, was verlangt wurde, nicht wahr? Ablehnen ließ sich das dann ja immer noch. „Ein junger Herr, wirklich auf schlimmste vorstellbare Weise bis über beide Ohren verliebt. Er ist mit seiner Herzdame noch nicht lange zusammen, aber er reist viel, geschäftlich. Er wünscht eine perfekte Replik seines Penis, mit der Verzauberung, das Reize eins zu eins von der Replik auf das Original übertragen werden – und natürlich auch umgekehrt. Zudem, falls möglich, auch ein kleines Teleportfeld an der Spitze. Ich denke, ihr könnt euch gut vorstellen, wofür.“ Das, was da in Scherben am Boden lag, war eine der guten Tassen gewesen. Schade um die gute Tasse. Und den Tee.   Lautes Schreien hallte durch den Raum, die angrenzenden Korridore, drang stellenweise durch Fenster aus dem Haus heraus. Das Anwesen lag am Stadtrand, ein Stück außerhalb – drum gab es kaum jemanden, den es geschert hätte. Heiler eilten herbei, Illyana unter ihnen. Und wenige Stunden später begann das Wunder, das aus einem Leben zwei machte. Ahillea machte es ihren Helfern nicht einfach. Sie riss an ihren Fesseln, schnappte nach einem, der zu nahe kam. Doch Schmerz und Erschöpfung zügelten sie nach und nach und am Ende erklang ein weiterer Schrei, die Stimme sehr viel leiser, weit weniger kräftig und dennoch so voller Energie und Lebensdurst. Der Anblick des kleinen, blutigen Bündels irritierte zunächst die Geburtshelfer. Doch was zunächst wie bläuliche Schuppen wirkte, ließ sich völlig problemlos von normaler, weicher Haus abwischen. In einem ihrer seltenen Momente der Klarheit begann die völlig entkräftete Mutter zu lachen. Leise nur, schwach – aber gut vernehmbar. Alle waren angespannt, alarmiert, wachsam, als man ihre Ketten löste und Ahillea ihr Erstgeborenes in den Arm reichte. „Hallo du…“, säuselte sie leise, „Schön, dich endlich zu sehen… ich freue mich schon so sehr darauf, dich kennenzulernen, Arien! Meine kleine Fee… es liegen so viele schöne Tage vor uns… du wirst schon sehen… du wirst der Welt ein Licht sein, sie in der Dunkelheit führen…“ Vorsichtig beute sie sich noch ein Stück vor, dem Säugling entgegen, und flüsterte ihr verschwörerisch zu. „Lass dir niemals etwas anderes einreden: Du bist zu Großem bestimmt… und wir lieben dich! Wir alle! Der alte Mann, der große Schwere, der kleine mit dem falschen Gesicht, die-… d-die… die… A-Arien… es tut mir so l-leid…“ „Los“, presste er durch seine zugeschnürte Kehle hervor. Illyana nahm Ahillea wie angewiesen das Kind wieder weg, während ihr Verstand wieder in jener Wolke versank, die sie die meiste Zeit über gefangen hielt. „Also… Arien Zauberfänger?“, erkundigte sich Illyana vorsichtig mit Blick zu Ariens Mutter, die mit tränenüberströmten Wangen wieder an den Ketten zu reißen begann, in die man sie gerade erst zurückgeführt hatte. „Nicht ganz. Arien Inránainn Zauberfänger“, erwiderte er mit einem bittersüßen Lächeln auf den kleinen Fratz, der ihm aus großen Augen neugierig entgegen sah. „Inránainn? Ich glaube, das ist mir nicht bekannt…?“ „Es ist ein sehr altes Wort. Es hat… keine wirklich gute Übersetzung in der neuen Sprache.“ Vorsichtig nahm er Arien entgegen, wog das Kind einen Moment und musste auflachen, als sie ungeschickt seine Hand zu greifen versuchte. „Was bedeutet es?“ Einen Moment ließ er Illyanas Frage im Raum stehen, spielte er weiter mit seiner Enkelin… seiner Enkelin, die er um Haaresbreite nicht gehabt hätte… ehe er sich überhaupt erinnerte, dass es noch andere Personen im Raum gab außer Arien und ihm. „Es beschreibt eine Sidhe der Seelie, eine lichte Fee, die Hoffnung bringt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)