shaping fate von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 1: BFFI --------------- Der Plan war simpel. Und angeblich waren simple Pläne besser. Was natürlich hieß, dass der Plan funktionieren würde. Was er sowieso würde. Weil es ihr Plan war. Zunächst galt es, das alte Spiel aus frühen Tagen zu wiederholen: Der Boden ist Sumpfwasser! Sie hatte natürlich gerüchteweise gehört, das manche meinten, der Boden sei Lava. Das war natürlich Blödsinn. Schon allein, weil es an der Oberfläche gar keine Lava gab, die gehörte nach innen, tief unter die Erde, wo sie Zwergen und Dunkelelben das Leben schwer machen konnte, so wie sich das gehörte! Nein, Sumpfwasser war darüber hinaus auch viel ekliger. Natürlich hatte sich Arien schon mal verbrannt, wer hatte das nicht irgendwann? Aber sie war auch schon mal in den Sumpf gefallen. Es hatte keine halbe Minute gedauert, da war sie wieder draußen, dank ihrem Großvater natürlich, der die halbe Minute genutzt hatte, um dem Dummkopf, der sie ins Wasser geschubst hatte, eine Lektion zu erteilen. Vermutete sie jedenfalls. Sie war immerhin damit beschäftigt gewesen, zu rudern, nach Luft zu schnappen und das aufgrund des faulen Geschmacks des Wassers sofort zu bereuen. Aber was den Sumpf wirklich widerlich machte, war nicht mal unbedingt der Geruch oder Geschmack des Wassers. Es waren die Egel. Eine halbe Minute, weniger bestimmt, und da waren drei. Die hatten sich sofort an ihr festgebissen. Sie hatte es in ihrer Hektik, aus dem Wasser zu kommen, nicht einmal bemerkt. Dabei hing eines der Dinger an ihrem Hals. An ihrem Hals! Und es war so groß wie ihre Hand, gute Götter! Ihr Großvater hatte ihr immer zu erklären versucht, das Phylia einen Plan hatte, wenn sie Dinge schuf. Pflanzen, die Tiere fraßen, beispielsweise. Einfach, damit man nicht unvorsichtig wurde, weil man aus Gewohnheit heraus davon ausging, das Pflanzen nur Licht und Wasser fraßen. Oder Tiere, die Magie beherrschten. Damit sie sich besser gegen Menschen verteidigen konnten. Und bestimmt auch gegen Zwerge und Dunkelelben. Aber Egel? Diese schwarze, glitschige Masse, zuckend und sich windend, die sie da von ihrem Hals abgezogen hatte… blutig und schleimig und… urgh. Ariens fachmännische Theorie belief sich nach wie vor darauf, das Phylia einfach einen wirklich, wirklich schlechten Tag gehabt haben musste, als sie das gebaut hatte. So wie Großvater immer irgendwas Gefährliches baute und in einem seiner Zauberschränke wegschloss, wenn er von einer Einladung des Rates zurückkam. Also ja: Der Boden war ganz sicher nicht Lava. Er war Sumpf. Und damit war diese Sache schon mal geklärt! Was natürlich nach wie vor das Problem offen ließ, wie man über den Sumpf kam. Zugegeben, sie würde nicht von Egeln angefallen werden, wenn sie den Boden betrat und sie war klug und alt genug, das zu wissen. Aber die Vorstellung half dabei, sich vor Augen zu führen, wie gefährlich es wäre. Denn die Dielen in diesem Haus waren… alt. Und offenbar hatte man ihr, ganz zufällig, das Zimmer gegeben, in denen die Dielen nicht nur am ältesten, sondern auch am lautesten waren. Carasarta hatte sich bislang ohnehin schon als schrecklich langweilig erwiesen. Aber das lag vielleicht auch daran, dass sie den ganzen Tag Großvaters Liste an Verpflichtungen hinterherjagen mussten. Er hatte immerhin versprochen, dass es viel lustigere Ecken gab und er ihr diese morgen zeigen würde. Nur war Geduld nicht unbedingt eine ihrer Stärken. Außerdem war Großvater ein viel beschäftigter Mann – er konnte ja unmöglich alle Ecken und Winkel der Stadt kennen, nicht? Coru hingegen besaß eine wirklich feine Nase und sie selbst hatte eine andere, etwas kürzer geratene Perspektive – vielleicht fanden sie ja ein paar Orte, die Spaß machten und von denen Großvater noch nichts wusste… oder andere Abenteuer. Abenteuer waren auch gut. Nach einem langen Moment der Kontempt-… Kontam-… des Nachdenkens erhob sich Arien schließlich aus ihrem Schneidersitz. Bäume mochte es in diesem Sumpf vielleicht nicht geben – aber Stümpfe! Also balancierte sie geschickt und grazil und nur gelegentlich halb aufschreiend mit den Armen rudernd über ihren Nachttisch, den Stuhl, die Kommodentür und schließlich den zweiten kleinen Nachttisch, der aus irgendeinem Grund direkt neben der Tür stand. Immerhin – sie hatte die Lampe vom Runterfallen abhalten können, die Kommode war lediglich fast umgekippt und hatte sie daher auch nur fast unter sich begraben und ihre halb erstickten Aufschreie waren sicherlich nicht laut genug gewesen, um gehört zu werden. Und Coru tippelte einfach zur Tür. Ein wenig musste sie schon lachen, als sie sich vorstellte, wie ihr treuster Freund und Begleiter den Sumpf durchquerte. Oder eher, überquerte. Coru lief auf Wasser, offensichtlich, denn sein Gewicht entlockte den verräterischen Wach-Dielen nicht einen einzigen Laut. Leise öffnete sie die Tür, gerade weit genug, dass sie durchschlüpfen konnte. Sie hatte sich gut eingeprägt, wann die Tür zu knarzen begann und der Spalt war… nicht sonderlich bequem, aber breit genug. Damit kamen sie natürlich im Flur an und das Dilemma setzte sich fort. Nein, der Boden war nicht mehr Sumpf. Jedenfalls nicht überall – und sie hatte sich gut eingeprägt, wo die Dielen Alarm schlugen und wo nicht. Direkt neben ihrem Zimmer war Illanyas Zimmer. Und so wie sie die Köchin kannte, war die noch unten und räumte auf und las Kochbücher und sortierte Gewürze und bereitete Dinge für die Mahlzeiten morgen vor. Was hieß, das ihr Zimmer leer war und der Türsturz damit eine gute Gelegenheit bot, sich vorwärts zu schleichen. Rasch schlüpfte sie hinaus in den Flur, tippelte dicht von Coru gefolgt an der Wand entlang und schlüpfte in die nächste Lücke hinein. Dabei war sie vielleicht, nur vielleicht, ein klein wenig schneller gewesen als beabsichtigt – was dazu führte, das ihr Kopf ein wenig gegen die Tür schlug. „Au…“, zischte sie leise und sah sich beinahe augenblicklich um. „Er kommt!“, warnte Coru sie. Panisch die Augen aufreißend, wirbelte sie herum und starrte ihren Mitverschwörer an. Sein Blick aber haftete an der Zimmertür. Nur… warum sollte Großvater in Illanyas Zimmer sein?! Und tatsächlich, nach einem Moment konnte sie die Dielen im Zimmer knarren hören, Schritte, die näher kamen. Panisch stolperte ihr Verstand durch verschiedene Fluchtszenarien und entschied sich für das Wagemutigste, denn ein Held musste schließlich wagemutig sein! Flucht nach vorne. Abermals dicht von Coru gefolgt, taumelte Arien den Gang hinab, achtete peinlich genau darauf, ihre Schritte mit denen ihres Großvaters in einen Takt fallen zu lassen, damit er das eventuelle Knarzen nicht vernahm und schlüpfte gerade noch rechtzeitig um die Ecke, auf die Treppe hinab in das untere Stockwerk. Sie hörte, wie die Tür aufging. Dann erst einmal Stille. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an und trotzdem hatte sie das Verlangen, schwer zu schlucken. Aber sie tat es nicht – schon aus der Angst heraus, er könne es hören, irgendwie. „Arien? Illanya?“, vernahm sie leise Großvaters Stimme. Nach einem weiteren Moment des Schweigens hörte sie, wie die Tür wieder geschlossen wurde. Lenikki sei Dank! Damit war der nächste Teilabschnitt ihres gefährlichen Manövers direkt vor ihr: Die Treppe. Auf Zehenspitzen tippelte sie zum Geländer. Auf den Teil freute sie sich sogar. Auf das Geländer klettern erwies sich als unbequem und schwierig, weil es recht hoch war, doch einmal oben, folgte der lustige Teil – sie ließ sich nach ganz unten rutschen. Einmal dort angekommen, hatte sie wieder ihre Müh‘ und Not, vom Geländer runter zu kommen – aber das hatte definitiv Spaß gemacht und sie würde es definitiv wiederholen… nur sollte Großvater das vielleicht nicht unbedingt sehen oder wissen. Er war zweifellos kein so großer Freund von Geländerrutschen. Man könnte ja schließlich zur anderen Seite runterfallen und das war immerhin ein ziemlich hoher Sturz und könnte gefährlich werden… Damit war sie im Untergeschoss des Hauses angelangt und es waren nur noch wenige Meter bis zur Ausgangstür. Sie hatten es also fast geschafft, ihr Plan war fast aufgegangen… „Kekse!“ Corus Stimme in ihrem Kopf war noch immer etwas ungewohnt, er tat das noch nicht allzu lange und bisher hatten auch keine anderen Tiere versucht, mit ihr zu reden. Er konnte auch selbst nicht ganz erklären, wieso sie ihn plötzlich verstand – denn laut seiner Sicht hatte er schon immer mit ihr geredet. Das wiederum glaubte sie ihm sofort, immerhin schien er sehr wichtige Informationen über sie zu besitzen, beispielsweise, dass ein Keks-Alarm immer eine Abweichung von vorhandenen Plänen wert war! „Was für welche?“, flüsterte sie möglichst leise. „Mit flüssiger Schokolade drin.“ Insbesondere für diese Kekse! Ein Abenteurer musste wagemutig sein, nicht? Außerdem brauchten Abenteurer Wegzehrung für ihre Entdeckungen und weiten Reisen. Ein Punkt, den sie bisher gar nicht bedacht hatte. Natürlich würde sie nicht allzu lange draußen bleiben. Sie wollte schließlich weder, dass irgendwer ihr Fehlen bemerkte, noch, dass sich irgendwer Sorgen machen würde. Ein oder zwei Kekse sollten also völlig genügen. Die nächsten Schritte führten sie daher auch nicht zur Ausgangstür, sondern zum Türsturz, der in die Küche überführte. Illanya rührte in einer Schüssel herum. Der Inhalt sah nach irgendeinem hellen Teig aus, mit kleinen, rötlichen Tupfen darin. Worum es sich dabei handelte, war schnell geklärt… mehr oder weniger. Auf dem Küchenschrank standen mehrere Brettchen mit Messern und bereits geschnittenen Zutaten. Das Rot kam entweder  von den Erdbeeren, oder von den Chili-Schoten. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich nicht von beidem in Kombination, denn was immer das wäre, sie würde es sicherlich nicht probieren wollen! Ihr Blick streifte weiter, über die geschlossenen Schränke, über die offene Feuerstelle, über den Esstisch mit der Stuhlgruppe und… die zwei Tabletts, die darauf ruhten. Jedes voll beladen mit Keksen. Vermutlich für morgen, denn es ging noch so einiges an Hitze von ihnen aus. Illanya musste wieder ihre Magie gewirkt haben, wortwörtlich, damit sie die Kekse nicht schon im ganzen Haus hatte riechen können! Einfach nur gemein. Dann wiederum, wann immer sie es tatsächlich mal schaffte, es zu verbergen, waren sie auch schöne Überraschungen. Sie würde sich natürlich morgen nicht anmerken lassen, dass sie schon davon gewusst hatte. Vielleicht würde das ja diesmal klappen… doch was das vorläufige weitere Vorgehen anbelangte, konnte es keine Diskussionen geben, keine Zweifel. Sie brauchte Wegzehrung! Und nichts anderes würde taugen. Ihr erster Plan war recht schnell verworfen. Natürlich könnte sie versuchen, mit ihren großen, müden Augen Illanya darüber aufzuklären, das sie nicht schlafen könne – nur dazu müsste sie ihre Kleider wieder ausziehen, ihren Nachthemd wieder anziehen und Coru würde vermutlich nicht genug Ablenkung durch das Manöver bekommen, einfach weil sie es schon zu oft verwendet hatten… Dann wiederum, warum nicht dreist sein? Also, wagemutig natürlich? Illanya rührte in ihrer Schüssel und starrte in ihr Buch, gelegentlich setzte sie die Schüssel ab, schrieb etwas hinein, rührte weiter… sie wirkte merkwürdig fokussiert, je länger Arien zusah. Auch fiel ihr jetzt erstmals auf, dass sie unter ihrer Küchenschürze ein Kleid trug. Also, eines ihrer Hübscheren. Ihr erschloss sich nicht so recht, weshalb, aber das bot vielleicht eine gute Gelegenheit, eine möglicherweise einmalige Gelegenheit! Hastig und mit in den Ohren rauschendem Blut allen Mut zusammenkratzend, schlüpfte sie direkt hinter der Köchin ihres Großvaters in die Küche. Sie nahm sich einen der Kekse, deren Teig noch warm, aber bereits ausgehärtet. Dann noch einen. Noch einen. Noch einen. Noch einen. Gut, das sollte reichen. Sie ließ sich sogar genug Zeit, die verbliebenen Kekse auf dem Tablett so neu zu arrangieren, das es den Eindruck machen würde, das kein Einziger fehlte. Als sie wieder aus der Küche verwand, drückte sie sich zunächst einen Moment mit dem Rücken gegen die Wand. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust wie schon auf der Treppe, ihr war ein klein wenig schwindlig, weil sie nicht bemerkt hatte, wie sie den Atem anhielt, also… atmete sie erstmal einen Moment ruhig und tief und gleichmäßig durch. Mut haben war wirklich anstrengend. Nachdem ihr das Atmen wieder glückte und ihre Finger nicht mehr kribbelten, schlich sie lautlos am Kücheneingang vorbei, sich innerlich dafür scheltend, das sie bei ihrer Flucht aus der Küche eigentlich direkt die andere Seite hätte ansteuern können. Doch sie bekam abermals keine Probleme. Vielleicht wurde Illanya nachlässig? Auch die Haustür konnte sie nahezu lautlos öffnen und schließen. Und damit lag sie vor ihr. Die Stadt Carasarta. Eine neue Stadt voller Abenteuer und Möglichkeiten… hoffentlich.   Das langweilige Erwachen ließ sich eine Stunde Zeit. Vielleicht waren es auch anderthalb. Arien trottete mit einem Wanderstock bewaffnet durch die Straßen und Gassen einer Stadt, die ebenso gut hätte ausgestorben sein können. Sie hatte versucht, sich das vorzustellen – sie, die große Entdeckerin, die die Ruine einer alten elbischen Zivilisation entdeckte… aber die Ernüchterung stellte sich rasch ein, als ihr klar wurde, wie grässlich langweilig es sein musste, Ruinen zu entdecken. Niemand, mit dem man reden konnte, keine Monster, vor denen man fliehen musste, keine Schurken, die man bekämpfen konnte. Nur leere Häuser. Und diese hier waren nicht mal leer! Dann und wann waren sie beleuchtet und sie konnte Gespräche hören oder Gesänge oder das Scharren von Besteck auf Tellern. Manche hatten wirklich seltsame Essenszeiten. Dann wiederum, manche hatten wirklich seltsame Arbeitszeiten und Großvater war ja auch nicht unbedingt ein Glanzbeispiel, wenn Illanya da Recht hatte. Letztlich streifte sie mit Coru an ihrer Seite die Straßen entlang, knabberte ein wenig lustlos an den Resten ihres letzten Kekses herum und hoffte, dass das Abenteuer sie finden würde – denn allmählich war sie sich nicht mehr sicher, ob das umgekehrt überhaupt funktionierte. Zumindest nicht hier. Sie kam in die Nähe des Flusses, als Lenikki ihr wohl doch noch ein wenig Glück zuschob.   „Stehenbleiben! Verdammt nochmal, bleib stehen!“, rief ein Verteidiger. Allein dem Ruf konnte man anhören, dass er ein wenig außer Atem war. Arien blieb sofort wie angewurzelt stehen. Der Ruf war weit weg, es ging also nicht um sie, aber sie konnte die hastigen Schritte hören, die näher kamen. Vielleicht… hätte sie sich doch kein Abenteuer wünschen sollen? Oder etwas präziser damit sein müssen…? Doch ehe sie sich entscheiden konnte, ob umkehren und schlafen gehen nicht vielleicht doch besser wäre und ob sie nicht eigentlich doch recht müde sei, kam bereits ein Junge um die Ecke geschossen. Und das fast wortwörtlich. Er war verflixt schnell! Außerdem blieb er direkt vor ihr stehen, einen ziemlich hektischen Blick an sie heftend. Er musterte sie einmal von unten nach oben und Arien verzog unweigerlich das Gesicht. Oh diesen Blick kannte sie schon, das konnte nicht gut enden. Jetzt käme der Punkt, an dem er sie damit aufzog, das sie- „Du bist wie ich?!“, japste der sichtlich außer Atem geratene Junge. Arien stockte, starrte ihn nun ihrerseits irritiert an. Das… war unerwartet. „Bin ich?“, hörte sie sich selbst fragen. Er nickte eifrig und noch ehe sie sich für Flucht oder wenigstens einen Schritt zurück entscheiden konnte, trat er näher und griff sie bei den Schultern. „Du musst mir helfen, bitte! Ich hatte einfach nur fürchterlichen Hunger und wenn die mich erwischen… ich will nicht, das sie mich erwischen!“ Nachdem ihr gesamter Verstand für einen Moment regelrecht ausgesetzt zu haben schien, sprang er nun wieder in die Schienen und holte mit einer kräftigen Überladung verlorene Wegstrecke auf. Sie bemerkte den Druck an ihrer Schulter, sah aus dem Augenwinkel heraus das Bündel, das er trug. „Ich will den Speck! Er hat Speck!“, klang es in ihrem Hinterkopf. Darin war also das Essen. Sie bemerkte auch das Muster auf dem Tuch. Eine… eine alte Tischdecke? Hatte er denn keinen magischen Beutel? Sie bemerkte auch den ziemlich üblen Zustand seiner Kleidung. Zerrissen, an manchen Stellen. Zerschnitten an anderen, wie es schien. Und generell fürchterlich verdreckt. So wie seine Haut. Und seine Haare. Und er roch. Nicht auf die gute Art, wie Kekse oder ein schöner Festtagsbraten rochen. Aber er hatte hübsche Augen. Eisblau. Und obwohl sein Lächeln im Moment ein wenig gezwungen wirkte, hektisch, verzweifelt, lag darin irgendwie Schalk, den sie so nur von Coru oder ihrem Spiegelbild kannte. Vielleicht waren sie wirklich gleich? Oder zumindest ähnlich? Aber er wurde von Verteidigern gejagt. Diese Männer erhielten in der Stadt Recht und Ordnung. Sie waren die Guten, oder nicht? Warum jagten sie den Jungen also? Etwas später als ihr lieb gewesen wäre, registrierte sie auch seine Worte. Er hatte das Essen also… gestohlen? Diebstahl war falsch. Und böse. Meistens. Gedanklich kramte sie all ihre Bücher hervor. Und hätte fluchen wollen. Aber das tat man nicht. Großvater war da sehr strikt, auch wenn er selbst es immer mal wieder tat und sehr bereute, wenn sie ihn darauf hinwies. Meist fluchte er, wenn er glaubte, sie war nicht in Hörreichweite. Aber sie hatte feine Ohren. Sie war nämlich auch elbisch! Ihre Bücher waren keine Hilfe, wirklich nicht. Es gab die netten Diebe, die dem Bösewicht seine Waffe stahlen. Oder ein Stück seiner Weltuntergangsmaschine. Oder einen Schlüssel oder Juwel. Und es gab die bösen Diebe, die… im Grunde genau das Gleiche stahlen, nur eben von den Guten, von den Helden und Abenteurern. Essen stehlen konnte nicht so schlimm sein, oder? Und er sah wirklich ziemlich dürr aus. Konnte sie nicht mit den Verteidigern reden? Dann wiederum, wann hörten die Erwachsenen schon je zu, wenn sie etwas sagte? Außer ihrem Großvater natürlich. Aber bis zu dem würden sie es nicht schaffen, egal wie erschöpft die Verteidiger schon wären. Aber waren die nicht eigentlich die Guten? Wieder suchte sie nach Antworten in ihren Büchern, kramte einen Moment in ihrem Gedächtnis und wieder waren die Werke der Literatur wenig hilfreich. Manchmal waren die Guten, vor allem die Diebe, für böse gehalten worden, obwohl sie das gar nicht waren. Und dann mussten sie vor allem und jedem fliehen, um ihre Unschuld zu beweisen. Und manchmal waren die Guten die Bösen, ohne es zu wissen, weil sie belogen worden waren. „Im Zweifelsfall“, kamen ihr Großvaters Worte in den Sinn, „Vertrau auf das hier“, meinte er und tippte gegen ihre Brust, „Ich denke, ich habe dich gut genug erzogen, dass der Kompass da drinnen taugen sollte, um dir zu sagen, was richtig und was falsch ist.“ Ihrem Großvater zunickend – der natürlich nicht hier war, weshalb die dem Jungen zunickte, der daraufhin bereits hoffnungsvoll leuchtende Augen bekam – traf sie ihre Entscheidung. Der Junge war dürr und verdreckt und hatte nur Essen gestohlen. Davon gab es genug, oder nicht? „Du stinkst!“, meinte Arien zunächst. „… w-was…?“, kam es sichtlich verwirrt von dem Jungen. „Ja. Du stinkst. So finden sie dich ständig immer wieder. Aber ich habe eine Idee! Gib Coru den Beutel!“, erklärte sie so zügig, wie sie konnte. Die Verteidiger mussten ziemlich außer Atem sein, wenn sie so lange brauchten. Aber der Junge war auch wirklich, wirklich schnell gewesen, vermutlich hatte er sie gehörig auf Trab gehalten. Ihr neuer Schützling starrte derweil unschlüssig auf den Fuchs, dann wieder zu ihr. „Nun mach schon, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit! Coru passt darauf auf und versteckt es, keine Sorge. Er ist gut in sowas, wir, uhm, wir leihen uns immer mal wieder Kekse von unserer Köchin aus.“ Noch immer deutlich unschlüssig, senkte er langsam seine Hände und gab den Beutel Coru – der ohne zu Zögern zuschnappte und damit davon jagte. Auch Arien ließ sich keine Zeit mehr. Wer konnte schon genau sagen, wie nahe die Verteidiger waren? Und sie wollte ganz sicher keinen Ärger bekommen, indem sie hier draußen gesehen und erkannt wurde…! Also packte sie den Dieb beim Handgelenk und riss ihn mit. Er war im ersten Moment ziemlich verwirrt und stolperte ihr eher hinterher, aber schon nach einem kurzen Moment holte er auf und vermutlich hätte er sie auch überholen können. Er war wirklich ziemlich schnell…! Natürlich konnte er sie nicht überholen. Er wusste ja nicht, wo es hinging. Also führte sie ihn zum Fluss. „Was machen wir hier?“, quetschte er zwischen hastigen Atemzügen hervor. „Das ist Ninafer, der Fluss läuft durch ganz Carasarta! Da können wir uns verstecken und du kannst den Gestank loswerden! So verlieren sie die Spur!“, antwortete sie ihm einen Moment langsamer werdend, ehe sie wieder Geschwindigkeit zuzulegen versuchte. „Ich weiß, was das ist und es heißt Nîn Faer!“, erwiderte der Junge haspelnd. Arien verzog ein wenig das Gesicht. Sie rettete ihm das Leben – also, das Leben vielleicht nicht, aber sie rettete ihn! – und er belehrte sie? Das gehörte sich so aber auch nicht. „Meins klingt schöner!“, gab sie schlagfertig zurück. Und damit er auch ja nicht auf die Idee kam, zu widersprechen oder noch mehr Belehrungen auszupacken, legte sie nochmal ein wenig an Tempo zu, holte alles heraus, was sie konnte und, ohne zu zögern, sprang ab. Sie bemerkte, wie er auf dem letzten halben Meter – als es ohnehin schon zu spät war – zu bremsen versuchte… und dann kam die Trägheit. Ihr Gewicht, verbunden mit dem Tempo, riss ihn schlicht vom Ufer fort und hinter ihr her. Sie verlor dank seiner Bremsung den Kontakt zu ihm, aber das grundsätzliche Ziel war erreicht: Beide landeten im Wasser. Der Fluss – wie immer er nun wirklich hieß – war eisig kalt und nachtschwarz. Natürlich, es war ja auch Nacht. Glücklicherweise konnte sie sich rasch genug orientieren, wo oben war und schwamm an die Oberfläche. Als sie dort ankam und nach Luft schnappte, sah sie sich leise lachend um. Sie hatten es geschafft! Sie waren der Wache entkommen! Sie hatte ihr erstes, richtiges Abenteuer bestritten und… und… … wo war er? Das Lachen versiegte schlagartig und Angst kroch ihr in die Glieder. Er hätte längst wieder auftauchen müssen! Was, wenn etwas passiert war? Was, wenn er zu sehr gebremst hatte? Was, wenn er nicht weit genug gesprungen war? Mit dem Kopf auf einen Stein aufgeschlagen war? Was, wenn er gerade den Fluss hinab trieb? Was, wenn sie ihn getötet hatte…? Ihre Gedanken überschlugen sich, Panik breitete sich aus und sie war Sekundenbruchteile davor, aus vollster Kehle um Hilfe zu schreien, als der verdammte Dummkopf doch noch auftauchte. Paddelnd und rudernd und einen gehörigen Lärm veranstaltend. „So finden sie uns natürlich doch noch!“, rügte sie ihn strengen Tones. „Ich kann nicht schwimmen, verdammt!“, keifte er nur zurück und mit einem Schlag war die Panik wieder da. Ja, das, was er da tat, das sah nicht nach Schwimmen aus. Aber wenigstens hatte er sich nicht den Kopf aufgeschlagen… Mit wenigen, kontrollierten Zügen schloss sie zu ihm auf und packte ihn. „Halt still, sonst haust du mich noch und wir haben beide ein Problem!“, wies sie ihn zurecht. Er zappelte weiter, aber wenigstens schlug er nicht mehr mit den Armen um sich. Vermutlich war das sein Versuch, beim Schwimmen zu helfen. Er trat sie mehrfach gegen die Wade, was vermutlich blaue Flecken geben würde, aber… das war besser als nichts und sie hatte nicht genug Luft übrig, um ihn nochmal zu ermahnen. Wie konnte er ausgerechnet in Carasarta leben und nicht schwimmen können? Mit letzten Kräften schaffte sie es, sich und den Dieb ans Ufer zu ziehen. Die Strömung hatte sie ein ganzes Stück flussabwärts getragen. Jetzt wäre es eine gute Weile, bis sie zurückkam. Ihr anfängliches Abenteuer war keine gerade Linie gewesen, eher diverse Kreise und gelegentliche Stopps – aber jetzt? Jetzt war es vermutlich eine Stunde geradeaus laufen… in völlig durchnässter Kleidung. Daran hatte sie nicht gedacht. Abenteurer sein war ziemlich anstrengend. Lustig, aber anstrengend. Einige Minuten saßen sie einfach nur am Ufer. Das Kiesbett war nicht unbedingt sonderlich bequem, aber keiner von ihnen hatte genug Energie, um sich großartig zu bewegen. Sie saßen einfach nur da, direkt nebeneinander, um sich vielleicht ein bisschen aufwärmen zu können, zitterten vor sich hin und atmeten. Das schien bereits anstrengend genug. Nach einigen Minuten lehnte sich der Langfinger plötzlich zu ihr rüber und drückte ihr den Mund auf die Wange. Nicht lange, nur kurz. „Hey! Was sollte das denn?“, meinte sie abrupt von ihm zurückfahrend und wischte sich über die Stelle. „Ich hab dich geküsst“, erwiderte er völlig unbeeindruckt. „Ja das weiß ich auch! Aber warum?!“ Einen Moment kräuselte sich seine Stirn, ehe er mit den Schultern zuckte. „Als Dankeschön. Für die Flucht und die Rettung. Erwachsene küssen sich auch als Dankeschön. Oder weil sie sich mögen. Nur meist eher auf den Mund oder zwischen den Beinen.“ Arien nickte – das konnte sie akzeptieren und verstehen. Auch wenn ihre in verbales ‚Danke‘ immer noch lieber gewesen wäre. Sie wollte ja- Warte, was? „Zwischen den Beinen?“, wiederholte sie irritiert und gaffte ihn regelrecht fassungslos an. Aber einmal mehr nickte er nur. „Ja. Hab ich schon einige Male  gesehen.“ „Aber… aber da kommt doch… was anderes… raus…?“, krächzte sie mühselig hervor. Sie spürte die Röte in ihren Wangen brennen und den Knoten, den Ekel und Übelkeit ihr in den Magen drehten. Mit einem Schlag sich offenkundig ebenso unwohl fühlend, nickte der Dieb nur ein drittes Mal und schwieg daraufhin ebenso. „Und… und wie war das so?“, wollte Arien nach einem langen Moment wissen. Sie überdachte ihre Frage nochmal und schob beinahe schon panisch hinterher „Der Kuss, meine ich…?“ Der Junge zuckte mit den Schultern. „Ganz okay?“ „Wie, ‚ganz okay‘?“ Das war jetzt nicht unbedingt, was sie erwartet hatte. Es war so… unhilfreich. „Naja eben ganz okay. Es war nicht toll, aber auch nicht eklig. Es… war eben ganz okay.“ „Hm.“ Wieder verharrten sie mehrere Minuten, ehe er sie in die Seite stieß und mit einem Kopfnicken andeutete, das sie sich in Bewegung setzen sollten. Arien nickte ihm zu, erhob sich ebenso und spürte erstmals, wie kalt ihr eigentlich wirklich war. Abrupt musste sie niesen, drei Mal am Stück. Seite an Seite setzten sie sich in Bewegung. Es dauerte eine kleine Weile, ehe sich Coru wieder neben ihnen einfand. Er gab dem Dieb sein Bündel zurück – minus Speck. Aber das würde der Langfinger ohnehin erst sehr viel später bemerken, dessen war sich Arien recht sicher. Und da es ja gestohlen war, war der verschwundene Speck nicht wirklich schlimm. Denn etwas Gestohlenes konnte man nicht stehlen. „Wie heißt du überhaupt?“, fragte Arien nach einer gefühlten Ewigkeit, da sie schweigsam Seite an Seite an den Häusern der Stadt vorbei trabten. „Faelon. Und du?“, gab der Dieb nach einem Moment zurück. „Arien. Arien Inránainn Zauberfänger. Aber Arien reicht. Hast du keinen Familiennamen?“ „Nicht… nicht so wirklich, nein.“ Arien stockte. Tatsächlich wäre sie um Haaresbreite stehen geblieben, um ihn ungläubig anzugaffen. Stattdessen starrte sie ihn möglichst verstohlen aus dem Augenwinkel heraus an. Sie war sich ziemlich sicher, dass er ihren Blick bemerkte. Aber er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen und das konnte sie verstehen, konnte es respektieren. Also sagte sie nichts weiter dazu. Es musste ihm unangenehm sein, oder nicht? Wie war das wohl, keine Familie zu haben? Einige weitere Minuten ihres Weges, erneut schweigend, brachte Arien damit zu, sich genau das vorzustellen. Wenn es ihren Großvater nicht gäbe und Coru nicht gäbe und Illanya nicht gäbe und auch all die anderen Bediensteten des Hauses nicht – und vielleicht sogar generell kein Haus… Das Zittern und Schütteln stammte diesmal nicht von der Kälte. „Weißt du… du könntest meinen Namen sagen…?“, bot Arien Faelon nach einer Weile an. Das wiederum schien den Dieb ins Stocken zu bringen, doch wie sie selbst zuvor fasste er sich rechtzeitig und stolperte lediglich einen Moment etwas aus dem Takt seiner Schritte. „Was meinst du?“ „Du könntest ein Zauberfänger sein. Faelon Zauberfänger“, erklärte sie weiter. Dabei mied Arien strikt, in seine Richtung zu schauen und sie war sich ziemlich sicher, dass sie spüren konnte, wie sein Blick sich in sie bohrte… „Aber das fänden deine Eltern sicher blöd. Und dann werden sie wütend und schicken die Verteidiger hinter mir her. Nein danke.“ Er klang… unentschlossen. Einerseits trotzig, fast schon wütend, andererseits unsicher. Sie konnte das Zittern in seiner Stimme hören. Erneut allen Mut zusammennehmend, schüttelte sie den Kopf und wagte es. Sie wagte, zu ihm zu schauen. Seinem Blick standzuhalten. „Meine Familie ist ziemlich groß. Ich lebe mit meinem Großvater und wir reisen viel und es fühlt sich ständig so an, als wäre jeder vierte, den wir treffen, ein Zauberfänger. Wir kommen auch ursprünglich gar nicht von hier, wir sind nur zu Besuch, weil Großvaters Geschäfte hier geprüft werden müssen. Das Haus, in dem wir gerade wohnen, gehört eigentlich einem… einem Großcousin oder sowas. Aber der ist auch auf Reisen, also haben wir das Haus für uns. Bei so vielen Zauberfängern fällt einer mehr gar nicht auf. Und Großvater ist wirklich nett… also… wenn man ihn erstmal kennt.“ Faelon runzelte unschlüssig die Stirn. Arien dagegen stand zwischen Hoffen und Bangen, ihr Herz hatte wieder deutlich beschleunigt. Dabei wusste sie nicht einmal genau, warum ihr das eigentlich so wichtig war. Er war ja nur ein Dieb, den sie gerettet hatte. Vielleicht lag es daran? Ihr erstes großes Abenteuer. Sie wollte, dass es reibungslos blieb, makellos, fehlerfrei. Nur… was würde es ihm effektiv bringen, sich Zauberfänger zu nennen? Es würde ihn wohl kaum an irgendwelche Handlungsweisen binden, oder? „Hey, noch da?“, drang plötzlich seine Stimme zu ihr durch. Aus ihren Gedanken gerissen, starrte sie auf die noch immer etwas dreckige Hand, die vor ihrem Gesicht wedelte, und dann zu deren Besitzer. Im Aufgebot all ihrer Eloquenz und als Demonstration ihrer guten Bildung formulierte sie ihre höfliche Frage danach, was er gesagt hatte: „Huh?“ „Wo deine Eltern sind, fragte ich“, wiederholte Faelon halb lachend. Ein Lachen, das rasch auf ein Lächeln reduziert wurde, und selbst das starb zügig. Arien wusste, wie sich ihre Mimik veränderte. Sie konnte es spüren. Was sie nicht konnte, war: Es aufhalten. Es ändern. Es überspielen. Mitlachen. Oder wenigstens, sich zu einem Lächeln zwingen. „Meiner… meiner Mutter geht es nicht so gut. Sie ist krank. Und ich… ich weiß nicht wirklich, wer mein Vater ist.“ Ihre Stimme klang halb erstickt und sie hasste es. Ihr Blick wurde von aufwallenden Tränen getrübt und sie hasste es. Erinnerungen fluteten ihren Verstand – und sie hasste sie. Ihre Mutter, die ihr Gesicht nicht erkannte. Ihre Mutter, von Unheil sprechend, schreiend, um sich schlagend. Bis man sie hatte festbinden müssen. Ihr Gesicht zu einer Fratze entstellt. Und all das überschattet von dem großen Fragezeichen, das ihres Vaters Gesicht ersetzte. Seine Herkunft. Alles an ihm. Der Stups in die Seite ließ sie zusammenzucken, davon regelrecht wegspringen. Fast wäre sie über Coru gestolpert, aber der war glücklicherweise flink genug, auszuweichen. Sie starrte, irgendwo zwischen Kummer und Zorn, zur Quelle der Berührung. Faelon bemühte sich sichtlich um ein möglichst unschuldiges Lächeln. Sie erkannte das, weil sie es selbst oft genug verwendete. „Ich hatte gefragt, was du eigentlich hier draußen machst, mitten in der Nacht. Du driftest ziemlich oft weg, was?“ Nein, das hatte er nicht gefragt. Sie hätte es bemerkt. Sie hatte vorher schon etwas verpasst, was er gesagt hatte. Und das war unhöflich. Sowas tat man nicht. Und für einen Abenteurer war mangelnde Aufmerksamkeit sogar gefährlich. Also hatte sie extra darauf geachtet, aufmerksam zu sein. Und er hatte nichts gefragt! Einen Moment erwog sie, ihm das an den Kopf zu werfen. Streit zu suchen. Ihn anzuschreien. Aber was hätte das gebracht? Sie hatte ja mit diesem ganzen Gespräch überhaupt erst angefangen. Sie hatte erwähnt, dass sie bei Großvater lebte. Natürlich kam da unweigerlich die Frage, wo ihre Eltern waren. Natürlich konnte er nicht wissen, wie… schlecht das Thema war. Also atmete sie tief durch, rang die Tränen nieder, kontrollierte ihren Atem. Es war ihr völlig egal, wie lange er dafür warten musste. wie lange sie einfach schweigend nebeneinander her liefen. Glücklicherweise schien es ihm ebenso egal zu sein – er schwieg, lief, drängelte sie nicht. Sie war ihm fast dankbar dafür. Als sie glaubte, sich gefangen zu haben, konnte sie sogar mit einem schiefen Lächeln zu ihm herüber schauen. „Ich bin Abenteurer! Und entsprechend suche ich Abenteuer. Und du bist das Abenteuer der heutigen Nacht“, erklärte sie im Brustton der Überzeugung und voller Stolz, als wäre sie beim Angeln gewesen und würde ihren gewichtigen Fang hochhalten. Vielleicht hatte Faelon das gleiche Bild vor Augen, als er zu lachen begann. Zumindest fühlte es sich an, als würde er mit ihr lachen und nicht über sie – und das, obwohl sie nicht mal lachte. Nur grinste. Wirklich breit. „Solltest du dann nicht mehr Waffen haben?“, hakte er skeptisch nach. Arien jedoch schüttelte wild entschlossen den Kopf. So funktionierten Abenteuer nicht! „Ein kluger Abenteurer weiß sich aus allen Gefahren mit Verstand rauszubringen! Ständig auf alles draufhauen ist was für Menschen und Orks und Zwerge.“ „Was ist, wenn du mal nicht mit deinen Gegnern reden kannst? Weil du ihre Sprache nicht sprichst? Oder weil sie kämpfen wollen, wie, uh, ein Ork zum Beispiel!“, erwiderte Faelon neugierig. Arien dachte gut und lange darüber nach und musste einsehen, dass er durchaus einen Punkt hatte. Es gab wirklich dumme Leute auf der Welt. Und manche waren einfach von Grund auf böse, wie Dunkelelben. Mit denen wollte man nicht reden. Und wirklich, mit denen sollte man auch gar nicht reden, die logen sowieso die ganze Zeit nur. „Dann verteidigt mich Coru!“, erklärte Arien im Brustton der Überzeugung. Faelons Blick wanderte zu dem Fuchs. „Uh… er’s… ein bisschen klein dafür, nicht?“ Ihr Blick folgte dem Seinen, musterte Coru einen Moment. Coru war clever, wirklich clever. Selbst für einen Fuchs. Und er konnte ziemlich fies zwicken. Aber ja… wirklich gefährlich waren seine Bisse nicht. „Dann… dann…“ Ehe sie sich spontan auf eine brauchbare Alternative besinnen konnte, musste sie abermals niesen. Fünf Mal sogar. Das letzte Mal tat weh und sie krümmte sich halb zusammen. Oh das würde eine gehörige Erkältung geben… hoffentlich nicht, aber… die Chancen dafür standen schlecht. Sie kam auch nicht dazu, die Diskussion mit Faelon fortzusetzen – denn sie hatte bereits die Tür erreicht und er war einige Meter hinter ihr bereits stehen geblieben. „Kommst du?“, hakte sie verwirrt nach. Das wurde nur noch schlimmer, als sie sah, wie er plötzlich herumzudrucksen begann. „Ich… ich weiß nicht, ich… sollte vielleicht zu meinem Versteck und… naja, trockene Sachen anziehen… und ich muss ja auch noch mein Essen in Sicherheit bringen… also…“ „Hast du denn überhaupt andere Sachen?“, rutschte es ihr ungläubig heraus. Das… war unhöflich gewesen. Und sein verletzter Blick genügte auch völlig, ihr zu sagen, dass sie zu weit gegangen war. „Das tut mir leid. Ich… habe nicht nachgedacht. Das passiert mir wirklich selten, versprochen! Willst du nicht mit reinkommen? Ich kann uns ein warmes Bad machen, denke ich. Das könnten wir gerade sicher gut gebrauchen. Mir tut das jedenfalls immer gut, wenn ich heim komme, und es hat kalt geregnet.“ Immerhin, die Entschuldigung schien zu wirken. Er bemühte sich jedenfalls wieder um sein unbesonnenes Lächeln. Dennoch stand er da noch eine ganze Weile länger, ehe er zögerlich nickte. Aber immer noch keinen Schritt näher kam. Also seufzte sie, vielleicht ein wenig theatralisch aufgespielt, kam zu ihm zurück und nahm ihn erneut beim Handgelenk. Sie schleppte ihn regelrecht zur Tür, öffnete diese leise und schloss sie hinter ihnen beiden. Inzwischen war die Küche still, dunkel. Die Kekse waren weggeräumt worden, vermutlich wieder in irgendeinen Tonkrug, der möglichst weit oben stand. Damit alle das Scheppern hören könnten. Hatte die letzten zwei Mal jedenfalls funktioniert – aber sie arbeitete bereits an einer Idee, wie man Stuhlbezüge stapeln könnte, um den Krug abzufangen oder wenigstens den Lärm zu dämpfen. „Das Bad ist oben, linke Seite, am Ende des Flurs“, flüsterte sie Faelon leise zu, „Wir müssen aber leise sein. Großvater schläft schon und Illanya sicher auch.“ „Wer?“ „Das ist unsere Köchin.“ Er nickte. Arien dagegen musterte ihn eine ganze Weile von oben bis unten, ehe sie nachschob: „Du möchtest keinem von beiden begegnen. Nicht jetzt. Nicht so.“ Er war völlig abgemagert. Vermutlich, wenn auch mit besten Absichten, würde sie ihn vollstopften, bis er nie wieder würde essen wollen. Bis der bloße Anblick von Keksen nur noch Übelkeit hervorrief. Und das war ein Verbrechen, das Arien einfach nicht zulassen konnte. Faelon nickte abermals, wenngleich deutlich verwirrter, und folgte ihr die Treppen hinauf. Sehr leise, sehr vorsichtig und ihrer Anweisung folgend genau auf die Stellen tretend, auf die sie trat. Ob Großvater schon bereute, ihr dieses Buch über Gedächtnismethodik und Hypnosetechniken geliehen zu haben? Es gelang ihnen tatsächlich, vollkommen lautlos nach oben und sogar den Flur herab ins Badezimmer zu schleichen. „Wooow…“, entfuhr es dem Langfinger unwillkürlich, bis Arien ihn zu packen bekam und die Hand auf den Mund presste. „Sssccchhht! Sonst wachen alle auf!“, raunte sie mahnend. Er nickte und sie konnte spüren, wie sein Mund sich unter ihrer Hand zu einem Grinsen verzog. Warum grinste er jetzt? Warum- „Iiihhh…!“, entfuhr es ihr nun wiederum, als er über ihre Hand leckte. Rasch zog sie sie von seinem Mund zurück und wischte sie an seinem Hemd ab, „Das ist so widerlich…!“ „Sssccchhht!“, erwiderte Faelon lediglich, „Willst du denn, das alle aufwachen?!“ „Das… aber… ich…!“ Seufzend brach sie ab und gab sich geschlagen. Zumindest vorläufig. Dafür würde sie ihn mit Wasser vollspritzen! Sie hatte vor kurzem gelernt, wie sie ihre Hände zu Krallen umformen konnte. Das tat immer noch ziemlich weh, aber damit konnte sie sehr viel besser graben und klettern. Wie schwer konnten da Schwimmhäute schon sein? Und wenn sie die erstmal hätte, könnte sie ganze Wellen in seine Richtung werfen! Die Badezimmertür sorgfältig geschlossen, begann sie sich im Raum umzusehen. Was genau Faelon so beeindruckt hatte, war ihr nicht klar und erschloss sich ihr auch nicht, aber nachdem er ihre Hand angeleckt hatte – was ihr immer noch einen Schauer über den Rücken jagte – wollte sie ihm auch nicht die Genugtuung gönnen, mit ihm zu reden. Also sammelte sie einfach ein paar der Badezusätze zusammen, die gut rochen, kippte etwas davon in den noch leeren Bodenzuber, nach freiem Ermessen – dann ein Blick zu Faelon – und doch noch ein, zwei Schwapp mehr davon… ehe sie das Wasser anstellte. Und da begann das Problem. „Zieh dich schon mal aus und… uhm… du kannst dann was von mir bekommen“, erklärte sie leise und spürte, wie ihre Wangen wieder zu glühen begannen. „Aber du bist ein Mädchen!“, erwiderte Faelon. „Hast du das auch schon bemerkt? Bist ganz klug, was?“, schoss sie zurück, sehr zufrieden mit ihrer Schlagfertigkeit. Etwas irritiert und sichtlich aus dem Takt gebracht, stockte der Junge, schüttelte dann den Kopf und zeigte auf sie, als würde das irgendetwas klarer machen. „Aber du bist ein Mädchen!“ „Ja und?“ „Ich kann doch nicht in Mädchensachen rumlaufen!“ „Läufst du lieber ohne Sachen rum? Denn die da kannst du nicht mehr tragen!“, schoss sie sofort zurück und deutete auf den kleinen Stapel dreckiger Lumpen, die er daraufhin sofort etwas dichter an sich drückte. Dabei wurde ihr jetzt erst klar, dass er wirklich nur Hemd, Hose und Schuhe gehabt hatte. Keine Socken. Keine Unterwäsche. Kein… gute Güte, ihm hatte noch viel kälter sein müssen als ihr. War es vermutlich immer noch! … und sie bekam das verdammte Wasser einfach nicht warm… warum funktionierte das nicht?! Beide erstarrten abrupt, als auf dem Gang Geräusche waren. Nicht nur das Knarren von Holzdielen und die zugehörigen Schritte, auch ein… ein Pfeifen? Arien glaubte Illanyas Stimme zu erkennen, aber ihre Köchin… pfiff eine Melodie…? Sie tat das gelegentlich, ja, schon. Aber nur, wenn sie wirklich außergewöhnlich gute Laune hatte. Und… das war selten der Fall, sehr selten. Obendrein wurde die Melodie zunehmend lauter, sie kam also direkt hierher. War sie mitten in der Nacht aufgewacht, weil sie auf die Toilette musste? Aber warum dann das Pfeifen? „Was machen wir jetzt?!“, unterbrach Faelon ihre rasenden Gedankengänge und sich überschlagenden Vermutungen. Wieder hämmerte ihr Herz unstet in ihrer Brust, flackerte ihr Blick umher. Die Schränke! Zu klein. Die Wanne? Zu offensichtlich. Das Fenster! Es gab keins. Verdammt! Genau. Hilflos zuckte sie mit den Schultern, ihren Blick starr auf die Tür heftend. Das war’s also. Das war das Ende. Als sich die Tür öffnete, trat, ganz wie erwartet, Illanya ein. Die Elbe zog gerade noch das Schulterstück ihres Kleides empor, zurück über ihre Schulter, wo es hingehörte. Überhaupt wirkte ihr Kleid ein wenig unordentlich. Überall Knickfalten und es saß nicht ganz richtig, wirkte verrutscht. Die Bedienstete des Hauses Zauberfänger blieb im Türspalt ebenso abrupt und erstarrt stehen, wie Arien und Faelon im Badezimmer. Erstere noch immer über das Wasser gebeugt, dem Rätsel der fehlenden Wärme nachjagend, Letzterer noch immer splitternackt und verdreckt im Raum stehend, seine Kleider an sich gepresst. Die Stille zog sich eine gefühlte Ewigkeit, ehe Illanya die Hände in die Hüften stemmte, ihren Blick auf Arien heftete und die linke Braue langsam ein kleines Stück hob. Das… war eindeutig genug. Es war das universelle Zeichen für „Fräulein Arien Inránainn Zauberfänger – eine Erklärung, sofort!“ Hastig rappelte sich Arien auf. „I-Ich kann das erklären… ehrlich!“ Illanyas Blick wanderte kurz zu Faelon, musterte ihn einmal gründlich, dann zur Wanne. „Schalte das Wasser aus.“ Arien tat sofort, wie ihr geheißen und trat einen Schritt bei Seite, als Illanya die Badezimmertür hinter sich schloss und zu ihr kam. Sie wirkte einen Zauber und das Wasser, das nach dem erneuten Anstellen kam, dampfte vor kochender Hitze. Natürlich. Warum hatte sie daran nicht gedacht?! Frustrierender war die Erkenntnis, dass sie diesen Zauber nicht beherrschte. Sie hätte Faelon und sich so oder so kein warmes Bad einlassen können. „Dein Name, Junge?“, hakte sie strengen Tones nach. Er duldete keinerlei Widerspruch und keine Verzögerungen. „F-Faelon, H-Herrin…“ Einen Moment schnaubend, schüttelte Illanya den Kopf. Für ihn musste es abwertend wirken, jedenfalls bemessen daran, wie er zusammenschrumpfte, die Schultern hängen ließ. Arien dagegen wusste es besser. Sie war lediglich darüber belustigt, Herrin genannt zu werden. Etwas, das üblicherweise nur Großvater tat, wenn sie ihn wieder herumkommandierte, obwohl sie doch eigentlich ihm unterstellt war. „Faelon. Und weiter?“, hakte sie nach. Arien erwog bereits, ihm beistehend einzuspringen, doch als Illanya auch nur hörte, wie sie Luft holte, bekam Arien einen Seitenblick, der ihr regelrecht die Kehle zuschnürte. Faelon hingegen, mit zunehmender Panik deutlich ins Gesicht geschrieben, blickte sich um. Seine Suche führte ihn immer wieder zur Badezimmertür zurück, doch er entschied offenbar, es nochmals mit Antworten zu versuchen, ehe er die Flucht ergriff. „Faelon Zauberfänger…?“, brachte er vorsichtig heraus. Das… schien sie zu überraschen. Ihr Blick wanderte augenblicklich zurück zu Arien. Die befand das Fliesenmuster des Bodens für äußerst interessant, spürte jedoch, wie die Glut in ihren Wangen und Ohren sie verriet. Tief seufzend richtete sich Illanya wieder auf. „Nun gut. Faelon, sei so gut und leg die Wäsche dort auf die Bank. Und dann ab ins Wasser, du kannst es gebrauchen.“ Die Härte und Strenge war mit einem Schlag aus ihrer Stimme gewichen und der warme, mütterliche Ton kehrte zurück. Es schien den Jungen völlig aus dem Takt zu bringen. Arien hingegen kannte auch das bereits. Als Illanya sich ihr zuwandte, schluckte sie schwer. Dann, sehr zu ihrer Überraschung, hockte sich die Köchin hin und flüsterte ihr leise zu. „Ich denke, das behalten wir erst einmal für uns, hm? Ich überlege mir etwas, was ich deinem Großvater erzählen kann, beim Frühstück. Er ist dein Gast, schätze ich?“ Unendlich erleichtert atmete Arien tief auf und nickte etwas enthusiastischer, als sie gewollt hatte. Ihr Kopf fühlte sich nur so leicht an… „Dann kümmerst du dich auch darum, wo er schläft. Und ich plane ihn zum Frühstück ein – wenn er weg ist, bevor es Frühstück gibt, dann werdet ihr seine Portion hübsch mit essen, haben wir uns verstanden?“ Da… fühlte sie sich dann doch etwas unwohler. Allein der Gedanke daran, aufessen zu müssen, mit noch mehr auf dem Teller… sie meinte es ja gut und sie kochte wirklich exzellent, aber die Portionsgrößen waren so schon gewaltige Berge. Nach einem Moment begriff Arien jedoch, dass das lediglich ihre clevere Idee war, dafür zu sorgen, das Arien ihrerseits wiederum dafür sorgte, das Faelon nicht einfach ausriss und wieder verschwand. Vermutlich gab es da noch Fragen. Jede. Menge. Fragen. Nicht dass sie sich darauf freute, aber glücklicherweise war das, so redete sie sich zu diesem Moment erfolgreich ein, mehr sein Problem als ihres. Wenigstens für heute hatte sie ihn oft genug gerettet. Illanya gab ihr daraufhin einen kleinen Schubs in Richtung des großen Bottichs. Anfangs tat die Hitze des Wassers fast schon weh – fast. Glücklicherweise, als Verwandlerin, wusste sie schon das eine oder andere darüber, wie man mit Schmerzen am besten umging. Sie hielt eine Weile still, bis es besser wurde, sank dann etwas tiefer ein. Wartete, bis es besser wurde. Das setzte sie fort, bis sie gänzlich im Wasser verschwunden war und tauchte nach einem Moment wieder auf. Illanya dagegen verschwand kurz aus dem Raum, um – wie sie erklärte – ein paar Vorbereitungen zu treffen. „Die Köchin?“, erkundigte sich Faelon unsicher. Arien nickte. „Warum genau meintest du vorhin, ich wolle ihr nicht begegnen…?“ „Nun, sie… du bist… das… erfährst du morgen früh. Beim Frühstück.“ Es wäre einfacher, es ihm zu zeigen, als ihm davon zu erzählen, entschied sie. Er nickte einen Moment, ehe er realisierte, was ihre Worte implizierten. Sie kam ihm jedoch zuvor. „Du schläfst heute hier. Es ist immerhin schon sehr spät und so wie ich Illanya kenne, wird sie sowieso deine Sachen waschen und flicken wollen, also müssen sie bis morgen früh eh trocknen.“ Nun war es an Faelon, zu nicken – wenngleich unschlüssig, wie ihr schien, ob er nicht doch noch die Flucht ergreifen wollte. Glücklicherweise kehrte Illanya zurück, ehe er eine Entscheidung treffen konnte und begann damit, sie beide abzuschrubben. Dabei erkundigte sie sich darüber, wie sie überhaupt aneinander geraten waren und Arien erzählte ihr stolz von ihrem ersten großen Abenteuer. Davon, wie sie sich verwegen an allen Gefahren des Hauses vorbeigeschlichen hatte – nicht davon, wie sie Kekse ausgeliehen hatte und auch ganz sicher nicht von den Magenschmerzen, die sie kurz darauf des warmen Teiges wegen gehabt hatte. Stattdessen erzählte sie von der Stadt bei Nacht, von Faelon, in den sie hineingerannt war, oder vielmehr er in sie – und sicherlich nicht von den Wachen, die ihm auf den Fersen waren. Nein, stattdessen war er einfach nur gerannt, in sie, am Ufer, und sie waren beide durch seinen Schwung aus Versehen im Fluss gelandet. Dummerweise konnte er aber nicht schwimmen, also hatte sie ihm heldenhaft das Leben gerettet. Obwohl er nicht aufhören wollte, herumzuzappeln und sie ständig gegen die Wade trat. Ein Moment in der Geschichte, in dem auch von Faelons Seite eine leise genuschelte Entschuldigung kam, nachdem er die ganze Zeit über bemerkenswert still geblieben war. Nachdem beide halbwegs den Ansprüchen und Standards der Köchin entsprachen – zumindest, was den Grad an Sauberkeit anbelagte -, wurden sie vom Schrubben und Waschen, Einseifen und Ausspülen entlassen und durften sich in angewärmte Nachtgewänder begeben, nachdem sie sich ordentlich abgetrocknet hatten. Das Wasser in der Wanne lief ab, die Dampfwolken entkamen in den Flur, Kälte kroch ins Badezimmer hinein und beide waren noch damit befasst, sich die Beine und Füße abzutrocknen. Illanya war ihrerseits wieder in ihr Zimmer verschwunden, um zu Schlafen und wenigstens noch etwas von der Nacht zu haben. Ihre Anweisungen waren immerhin deutlich genug gewesen. „Wie alt bist du überhaupt?“, hakte Faelon nach einer gefühlten kleinen Ewigkeit nach. Arien antwortete ohne zu zögern und sichtlich stolz, immerhin war sie für eine Abenteurerin ihres Kalibers ziemlich jung. Und hatte schon Leben gerettet! Faelon hingegen grinste zufrieden und allmählich begann sie diesem Grinsen zu misstrauen. Jedes Mal, wenn dieses Grinsen auftauchte, führte er irgendwas im Schilde. „Ich bin ein Jahr älter als du!“, erklärte er triumphierend. Natürlich wollte sie sofort dagegen halten. Immerhin war er das nicht. Konnte er nicht sein. Oder… konnte er zumindest nicht wissen, nicht mit Sicherheit! Er hatte keine Eltern, also woher wollte er überhaupt wissen, wie alt er war! Der Gedanke sickerte eine Sekunde ein, dann zwei, drei. Und ihre Überlegungen kamen zu einem abrupten Stopp. Nicht nur würde sie in einer potenziell schmerzhaften Wunde herumbohren, wenn sie ihm ausgerechnet das sagen würde. Sie wusste auch nicht, was mit seinen Eltern war. Gab es sie und sie wollten ihn nur nicht? Waren sie fort? Wie lange schon? Er war sehr dünn, ja, aber Illanya meinte stets, das man schnell dünn wurde, wenn man nicht ordentlich aß. Und sie selbst hatte ein paar Ausflüge schon beendet und sich im Spiegel betrachtet und nicht sehr viel besser ausgesehen als Faelon früher in der Nacht, weil sie durch Unterholz und Matsch gekrochen war. Vielleicht war er erst seit ein paar Tagen auf der Straße? Sie wusste es einfach nicht. Sie würde fragen, beschloss Arien. Sie würde ihn fragen und sie würden darüber reden und vielleicht würden sie Geschichten austauschen. Aber nicht heute. Nach all der Aufregung und dem ungeplanten Bad und der Rückreise bei Nachtkälte war sie schlicht erschöpft. Zu müde, um sich noch klare, strukturierte Gedankengänge zuzutrauen. Und auch, wenn sie ihn noch nicht so lange kannte, glaubte sie ihm die gleiche Erschöpfung ansehen zu können. Allein das warme Nachthemd anzuziehen wirkte wie ein Schlag in die Magengrube für ihr Bewusstsein. Einlullend. Als könnte sie sich direkt hier, auf den Fliesen, zusammenrollen und den tiefsten und entspanntesten Schlaf seit Wochen haben. Das war natürlich nicht wahr – morgen früh würde ihr alles wehtun. Aber im Augenblick wirkte es so. Und das allein war Zeichen genug, das sie ins Bett gehörten. Alle beide. Entsprechend schlichen sie den Flur herab zu ihrer Zimmertür. Der Boden war immer noch Sumpf, stellenweise, und es gelang ihnen, an Großvaters Zimmertür und Illanyas Zimmertür vorbei zu schleichen, ohne Lärm zu machen. Leise schloss sie die Tür hinter sich, leise, aber nicht lautlos. Und während Coru sich ohne zu Zögern auf das Bett kletternd eines der drei großen Kissen aussuchte und darauf einrollte, standen Faelon und Arien zögernd vor dem einen Bett, das es gab. Das hatte sie also damit gemeint, dass sie sich kümmern müsse… „Du, Arien… sag mal… hast du Freunde?“ Die Frage kam unerwartet, entsprechend benötigte sie etwas Zeit, um zu antworten. „Ich habe Coru. Und Großvater. Und Illanya.“ Sie starrte nach wie vor das Bett an, auch als er schwieg, lange schwieg, und auch dann, als seine Antwort kam. „Ich auch nicht.“ Sie nickte lediglich, unsicher, ob er es überhaupt sah. Schließlich packte sie all ihren Mut. Ein letztes Mal, für diesen Abend, so nahm sie sich vor. „Du kannst die linke Seite haben.“ „Was? Nein!“, brachte er abrupt hervor, „Ich teile doch nicht das Bett mit dir!“ Verwirrt über seine Empörung wandte sie sich ihm nun doch noch zu. „Warum nicht?“ „Du bist ein Mädchen!“ Regelrecht gröhnend war sie einen Moment geneigt, sich die Hand vor die Stirn zu schlagen. Das konnte nicht sein Ernst sein, oder? Schon wieder? „Na und?!“, fuhr sie ihn aufbrausend an. „Mädchen schnarchen!“, warf er zurück. Sie stockt abrupt. Taten sie? Tat sie das? „Und treten im Schlaf!“ Also sie war sich ziemlich sicher, dass sie nicht um sich trat…! Sie boxte ihn kurzerhand einfach gegen die Schulter. „Stell dich nicht an wie ein-… stell dich nicht so an! Linke Seite oder Boden!“, erklärte sie eisern ihr Ultimatum und kletterte ins Bett unter eine der zwei Decken. Faelon stand noch einen Moment unschlüssig neben dem Bett, rieb sich die Schulter, ehe er das große Möbelstück umrundete und auf ihrer Lieblingsseite hinein kletterte. „Du bist doof.“ „Selber.“ Einen Moment hielten sie eisern ihre ernsten, anklagenden Blicke aufrecht, ehe sie zeitgleich grinsen mussten. „Das hat Spaß gemacht. Alles, heute, meine ich“, gab Arien schließlich zu. „Wie lange seid ihr noch hier?“, erkundigte sich Faelon. Und obgleich er lächelte, glaubte sie zu spüren, das darin… Sorge lag? „Zwei Tage. Vielleicht drei. Wenn du willst, kannst du hier bleiben. Großvater stört es bestimmt nicht und Illanya freut sich immer, wenn sie noch jemanden vollstopfen kann. Und wir könnten ausziehen und zusammen Abenteuer erleben. Du kennst bestimmt ein paar lustige Orte in der Stadt, nicht?“ Er nickte eifrig, schien gedanklich bereits Carasarta abzulaufen, während er nebenher herzhaft gähnte. Davon angesteckt, tat Arien es ihm gleich. Sie zog das Kissen etwas näher an sich, auf dem Coru sich zur Ruhe begeben hatte und der Fuchs kroch mit wenig Mühe halb unter die Decke, ließ jedoch die Schnauze weiterhin auf seinem beanspruchten Kissen liegend draußen. Sie freute sich auf die kommenden Tage. Es klang… aufregend. „Du, Arien…?“, hob Faelon nach einer kleinen Ewigkeit das Wort. „Mhm…?“, gab sie bereits im Halbschlaf von sich und wunderte sich insgeheim, wie er immer noch so wach sein konnte. „Wir sind… wir sind Freunde, oder?“ „Mhm…“ „Und wir bleiben Freunde?“ Natürlich hätte sie die gleiche Klangfolge einfach noch ein drittes Mal von sich geben können, wieder mit anderer Betonung. Das wäre als Antwort völlig ausreichend gewesen. Aber das hier… das war wichtig. Also zwang sie sich wieder zurück, raus aus dem Halbschlaf, öffnete die Augen und sah ihm entgegen. Er war näher gerutscht. Komplett in seine Decke gewickelt wie in einen Kokon, nur das Gesicht lugte hervor und das Sternenlicht fing sich in seinen eisblauen Augen. „Beste Freunde“, meinte sie leise, „Beste Freunde, für immer.“ Selbst ihr war klar, das sich ‚für immer‘ vielleicht ein wenig überdramatisiert anhörte. Sie waren Halbblüter, alle beide. Es würde kein ‚für immer‘ geben. Aber es fühlte sich richtig an. Das Gewicht der Worte wirkte passend dazu, wie ernst es ihr damit war. Ihr erster richtiger Freund. Und er war wie sie! Natürlich würde sie den nicht wieder loslassen! Er lächelte. Und es war anders als sonst. Erst jetzt bemerkte sie den Unterschied, weil sie erst jetzt diese Art von Lächeln von ihm kennenlernte. Es wirkte… offen. Verletzlich. Der Schalk und Aberwitz, die Frechheit, nichts davon fand sich in seinem Blick. „Danke“, nuschelte er leise und zog sich noch ein wenig stärker in seinen Deckenkokon zurück. Gerne hätte sie ihm diesen Dank erwidert, aber… es fühlte sich falsch an, jetzt noch etwas zu sagen. Also schloss sie die Augen wieder, drückte Coru ein wenig und entließ den Jubelschrei als langes, lautloses Seufzen. Beste Freunde für immer…   Als der nächste Morgen kam, streckte sich Arien, gähnte herzhaft und lächelte selig vor sich hin. Sie hatte so einen wunderschönen Traum gehabt. Ihr erster Freund, ihr erstes Abenteuer und Kekse mit flüssiger Schokoladenfüllung. Zugegeben, dass ihr Traum ihr zu suggerieren versuchte, dass das mit Bauchschmerzen einhergehen würde, war weniger schön gewesen. Aber was wussten Träume schon! Vielleicht würde sie es heute ja durchziehen. Vielleicht würde sie heute Nacht losziehen und Abenteuer suchen. Sie hatte sich alle Dielen eingeprägt, die knarzten, wenn man auf sie trat. Was, gerade in ihrem Zimmer und auf der Treppe, dummerweise schlichtweg alle waren. Im Flur aber waren es nur ein paar bestimmte Stellen, die man umgehen musste. Sie war bestmöglich vorbereitet! … Kekse. Vielleicht sollte sie sich eine kleine Tasche für Proviant mitnehmen. Ihr Traum hatte ihr ziemlich deutlich gemacht, dass sie durchaus eine Weile unterwegs sein könnte. Und man musste auf Abenteuern schließlich bei Kräften bleiben, das war wichtig! Weiter über ihre Vorhaben sinnierend, rollte sich Arien auf die Seite… und starrte in jemandes Gesicht. Da lag ein Junge in ihrem Bett. Auf ihrer Lieblingsseite. Sehr nah. „Ah!“, rief sie eher überrascht als alles andere aus. Sie versuchte aus Reflex heraus, ihn wegzustoßen, aber ihre Arme waren noch zu sehr in ihrem Deckenknäuel gefangen, also winkelte sie ein Bein an und trat kräftig zu, ohne zu beachten, dass er im Grunde direkt an der Bettkante lag. Er schrak auf, riss die Augen auf. Sie erkannte dieses Eisblau sofort. Der Junge aus ihrem Traum…? Und Sekunden später verschwand ein sich windendes Deckenbündel samt Inhalt neben dem Bett – mit dumpfem Aufschlag Sekundenbruchteile später. „Ich sag’s ja…“, grönte eine Stimme von unten, „Mädchen treten…!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)