The Petboy Contract von Sky- ================================================================================ Prolog: Gefährlicher Kunde -------------------------- Es war dunkel und lediglich die Leuchtreklamen und die Straßenlaternen erhellten die Straßen von New York und es war reichlich viel los. Zumindest galt das für die New Yorker City, wo das wahre Leben stattfand. Doch dort, wo Simon Cavanaugh sich herumtrieb, hätte man sich nach Einbruch der Dunkelheit eher seltener aufgehalten. Lediglich ein paar Passanten und einige eher zwielichtige Gestalten oder Drogendealer waren hier aufzufinden und nur derjenige, der an solche Zustände gewöhnt war, störte sich nicht mehr allzu sehr daran. Die Uhr zeigte schon halb zehn, trotzdem hatte er eine Sonnenbrille auf und hätte auf die meisten entweder zwielichtig, oder wie ein Blinder gewirkt. Argwöhnische Blicke wurden ihm zugeworfen, die er aber ignorierte und sie gingen einfach weiter. Für sie war er im ersten Impuls ein Blinder und ihre Ungläubigkeit rührte hauptsächlich daher, dass er ohne Blindenhund und Blindenstock unterwegs war. Doch was keiner von ihnen ahnte war, dass der 21-jährige Simon Cavanaugh mühelos sehen konnte. Er konnte genauso gut sehen wie jeder andere Mensch, lediglich bei grellem Sonnenlicht begannen seine Augen zu schmerzen und sein Sehvermögen wurde schlechter. Es war dann jedes Mal so, als würde sich ein milchig weißer Film über seine Augen legen und seine Sicht verschwimmen lassen. Seine Augen reagierten allgemein empfindlich auf grelles Sonnenlicht, deshalb war die Sonnenbrille tagsüber ein wichtiger Schutz für ihn, zumindest wenn die Sonne sehr stark schien. Doch die Sonnenbrille hatte auch einen kosmetischen Hintergrund. Solange er sie trug, war er für die anderen ein ganz normaler Mensch wie jeder andere auch. Und das war auch gut so. Hätte er die Brille nicht getragen, wären die üblichen Reaktionen gefolgt, wie er sie nicht anders gewohnt war und darauf konnte er gut verzichten. Eine gute Alternative wären vielleicht farbige Kontaktlinsen gewesen, wenn er nicht allergisch darauf reagiert hätte. So schied diese Variante also aus und er musste sich gezwungenermaßen mit Sonnenbrillen zufriedengeben. Es war eine warme Sommernacht. Ein perfektes Wetter für einen lukrativen Job, denn bei gutem Wetter waren mehr Freier unterwegs und da ließ sich meist etwas mehr Geld verdienen. Die letzten Tage war eher Flaute gewesen, weil das Wetter nicht mitgespielt hatte und letztens zwei Jungs in der Nähe verschwunden waren und keiner sich erklären konnte, was passiert war und wohin sie verschwunden waren. Da waren viele vorsichtig geworden, vor allem weil die Polizei am Treffpunkt der Stricherjungen ermittelte und potentielle Kunden abschreckte. Als er den Parkplatz erreichte, wo der Treffpunkt war, ging er direkt zu seinem Platz hin, den er sich ausgesucht hatte und wo er nicht mit anderen zusammengeriet. Erst letzte Woche hatte es bei den anderen Jungs, die hier in dieser Gegend anschaffen gingen, einen heftigen Streit um die Plätze gegeben, denn keiner ließ sich so gerne seinen Stammplatz abjagen und das hatte nicht selten eine ziemlich üble Prügelei zur Folge. Vor allem weil die "alten Hasen", die schon länger hier waren, für gewöhnlich auch das Sagen hatten und ihren Platz auch verteidigten. Doch letzten Endes war es nur ein Platz an einem dreckigen und einsamen Parkplatz in einer nicht wirklich sicheren Gegend, in der man auch stets mit dem Schlimmsten zu rechnen hatte. Nun, Simon war zwar kein Feigling und hätte sich mit großer Sicherheit sogar auf die Schlägerei eingelassen, aber wenn er so übel zugerichtet war, hatte er weniger Interessenten und er brauchte das Geld dringend. Der Parkplatz lag deutlich abseits der Einkaufsmeilen und der Straßen, wo die Bordsteinschwalben sich tummelten. Der Grund dafür war, weil es hier nicht ganz legal zuging, vor allem weil sich die meisten Freier wegen Sex mit Minderjährigen strafbar gemacht hätten. Die Jungs vom Parkplatzstrich waren alle im Alter von 16 bis 22 Jahren, die dringend Geld brauchten und bereit waren, ihren Körper zu verkaufen. Und dazu hatten sie verschiedene Gründe. Drogenabhängigkeit, verschuldete Familie, aber die meisten waren von zuhause ausgerissen und lebten auf der Straße. Da war der Strich die einzige Möglichkeit, irgendwie an Geld zu kommen, wenn man zum Stehlen kein Talent hatte. Simon ging hier schon seit vier Jahren hin und so wie es aussah, hatte er heute Nacht Glück. Es gab diese Nacht deutlich weniger Konkurrenz. Lediglich Ryan und Benny waren da und die hatten etwas weiter weg ihre Stammplätze. Es bestand also Grund zur Hoffnung, heute Abend ein paar Kunden an Land zu holen. Vor allem würde es diesen Abend mit Sicherheit weniger Streit geben, weil irgendjemand einem anderen den Freier abgejagt hatte. Hier gab es halt keine Freundschaften, nur eiskalte Konkurrenzkämpfe und wer ein Schwächling war, der hatte das Nachsehen. Simon hatte in der letzten Zeit eher Pech mit der Kundschaft gehabt. Auch wenn er mit seinen knapp 1,70m Körpergröße und den dunkelbraunen Locken und seinem zierlichen blassen Körper noch wie ein Minderjähriger aussah, hatte er dennoch weniger Einnahmen gehabt. Das lag unter anderem daran, dass die Polizei hin und wieder her kam und das schreckte viele Freier ab. Vor allem aber hatte er auch hin und wieder Ausfälle gehabt, wenn er mal krank war oder von seinen Freiern grün und blau geschlagen wurde, sodass er sich kaum bewegen konnte. Und von dem Geld musste er auch noch seinen Lebensunterhalt finanzieren, auch wenn er ohnehin schon sehr sparsam lebte. Das Glück schien heute auf seiner Seite zu sein, denn Simon musste nicht einmal lange warten, denn kaum, dass er seinen Platz erreicht hatte, fuhr auch schon ein Wagen vor und die Scheibe wurde heruntergekurbelt. Ein untersetzter Mann von schätzungsweise 55 bis 60 Jahren, mit Halbglatze und einem Henriquartre Bart saß am Steuer und schaute heraus. Streng genommen könnte das fast schon sein Vater sein, aber Simon hatte nicht das Privileg, sich seine Kundschaft auszusuchen. Und er hatte schon deutlich schlimmere Fälle als diesen. Sein ältester Kunde war um die 60 Jahre alt gewesen und der war in der Szene bekannt, dass er ausschließlich Jungen suchte, um Spaß zu haben. Teilweise hatten einige der Jungs sogar noch ältere Kunden. „Wie alt?“ fragte der Mann und musterte Simon aufmerksam. „18 Jahre“, log Simon, denn es war nur vorteilhaft, wenn man als Stricher recht jung und zierlich aussah. Er wusste, dass er wesentlich jünger als 21 Jahre wirkte und das war auch der Grund, warum er hier auf dem Parkplatz trotz allem noch genügend Kundschaft bekam, um sich über Wasser zu halten. „Was'n mit der Brille?“ wurde er kurz und knapp gefragt. „War beim Augenarzt und ich soll das Ding tragen“, antwortete er knapp. „Und was kostet der Spaß mit dir?“ „25 Mäuse fürs Blasen und 50 für den Ritt“, erklärte Simon und fügte noch hinzu: „Die 50 Mäuse sind pro Stunde.“ Es war nicht viel Geld, aber wenn man auf einem verdreckten Parkplatz anschaffen ging, konnte man einfach nicht mehr verlangen. Dafür musste sich Simon nicht auch noch mit einem Zuhälter herumärgern, so wie die Nutten von der Rotlichtmeile. Zwar gab es einige Jungs, die für einen Zuhälter arbeiten mussten, aber er hatte sich da immer geschickt herauswinden können. Er brauchte jeden einzelnen Cent und war auch bereit dafür, die Gefahren in Kauf zu nehmen. Der Mann öffnete die Beifahrertür und Simon stieg ein. Am Anfang war es für ihn eine große Überwindung gewesen, zu solchen Kerlen ins Auto zu steigen, aber mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt und wenn er sich vor Augen hielt, wofür er das alles machte, dann fiel es ihm etwas leichter und außerdem machte er das Ganze schon seit vier Jahren. Inzwischen war dieses Geschäft eine Routine bei ihm geworden und er hatte gelernt, einfach den Kopf abzuschalten und auszublenden, was er da tat und mit wem er es tat. Solange er sein Geld bekam, war es in Ordnung. Nun gut, das eine oder andere Mal hatte er auch schlimmere Fälle gehabt. Da war er von seinen Freiern ziemlich übel zugerichtet und teilweise schlimm verprügelt und auch einmal vergewaltigt worden, aber das brachte das Risiko mit sich, auf der Straße anschaffen zu gehen und keinen Zuhälter zu haben, der einen beschützte. Vielleicht hätte er ja besseren Schutz, wenn er sich einen Zuhälter suchte, aber da er dafür auch einen Teil seines Geldes an ihn zahlen musste, kam das für ihn nicht infrage. Simon war fest entschlossen, das Geld für sich alleine zu verdienen und die Kosten für die Operation, die ihm endlich ein normales Leben ermöglichte, zu bezahlen. Als er eingestiegen war, fuhren sie los. Das Innere des Wagens roch seltsam. Es war muffig und neben dem Zigarettengestank war da noch etwas anderes, nur konnte er nicht genau definieren, was es war. Vielleicht eine tote Katze im Kofferraum? Nein, es roch nicht wirklich nach einem verwesenden Tier, trotzdem war der Geruch alles andere als angenehm und jagte Simon einen Schauer über den Rücken. Eine Stimme riet ihm, lieber das Weite zu suchen, da es ansonsten noch ziemlich gefährlich werden konnte. Doch er ignorierte diese innere Stimme, denn wenn er jedes Mal so reagierte, wenn er zu einem Kunden ins Auto stieg, dann würde er garantiert kein Geld verdienen können. „Also, was hättest du gerne?“ fragte Simon schließlich und warf einen kurzen Blick zu seinem Freier. Dieser hatte die Augen auf die Straße gerichtet und ein Grinsen zog sich über sein Gesicht, welches der 21-jährige als ein sehr perverses Grinsen bezeichnen würde. Doch es steckte auch etwas Unheilvolles darin und das gefiel Simon nicht. Aber es musste auch nichts Besonderes bedeuten, immerhin konnte das auch für eine ziemlich perverse Fantasie bei diesem Kerl stehen. Da passierte es oft, dass sie dann gleich aussahen wie kranke Psychopathen. Zumindest war Simon dieser Auffassung, denn er hatte ohnehin nicht sonderlich viel für die Menschen übrig. „Wir wär's mit einem kleinen Fick?“ fragte der Mann. „Und du nennst mich von jetzt an Papa, ja?“ Oh Gott, dachte Simon als er einwilligte. Schon wieder einer von diesen Pseudo-Pädophilen, die so einen kranken Fetisch hatten. Von denen gab es so einige in seinem Viertel, die sich die Stricherjungs ins Auto holten und sie zwangen, sie Papa oder Dad zu nennen, damit sie sich ihre Fantasien erfüllen konnten, für die jeder normale Mensch sie verurteilen würde. Auch wenn es ziemlich klischeehaft war, gab es verdammt viele von der Sorte und Simon war das inzwischen gewohnt, trotzdem widerten ihn solche Kerle einfach nur an. Doch er hatte leider nicht den Luxus, sich seine Kunden auszusuchen. Und doch machte ihm etwas Sorgen. Dieser Geruch. Dieser seltsame Geruch im Auto... Er hatte etwas an sich, das fast eine Art Klaustrophobie in ihm auslöste. Die Stimme in seinem Kopf schrie nun regelrecht, dass er schnellstens aus dem Auto steigen und das Weite suchen sollte. Seine Intuition verriet ihm, dass sein Kunde noch gewaltigen Ärger bedeutete. Denn auch wenn er diesen Geruch nicht zu hundert Prozent zuordnen konnte, erinnerte ihn dieser trotzdem stark an… Blut. Und als ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, warf er seine Pläne über Bord. Was nützte ihm denn bitte eine Augenoperation, wenn er hier gerade eventuell in Lebensgefahr schwebte? Waren denn nicht erst letztens schon zwei Jungs verschwunden und nie wieder aufgetaucht? Was wenn gerade tatsächlich Gefahr drohte und er zu einem Typ ins Auto gestiegen war, der vielleicht auf mehr als auf bloß auf eine Runde Sex aus war? Dieses Mal würde er auf seine Intuition hören und die Sache abblasen, bevor es zu spät war. „Halt an“, wies er schließlich an. „Ich steige aus.“ „Hä?“ fragte der Mann und wirkte ziemlich ungehalten, aber Simon interessierte das gerade nicht die Bohne. Und wenn ihm halt 50$ durch die Lappen gingen, das war immerhin besser, als noch in Lebensgefahr zu geraten. Wenigstens dieses Mal wollte er auf sein Bauchgefühl hören, insbesondere wenn der Geruch in diesem heruntergekommenen Auto so sehr an den von Blut erinnerte. Das konnte doch nichts Gutes bedeuten. „Wieso das denn jetzt?“ „Ich hab es mir anders überlegt“, erklärte er nur. „Halt da vorne an.“ Doch in dem Moment drückte auch schon der Lauf einer Pistole gegen seine Schläfe. Viel zu spät erkannte Simon, in was für einer Situation er sich befand. „Was für ein unartiger Junge du doch bist“, hörte er den Mann sagen. „Und hatte ich dir nicht gesagt, du sollst Papa zu mir sagen?“ Die nächsten Ereignisse waren nur eine verschwommene Abfolge von Ereignissen in seinem Gedächtnis. Später erinnerte sich Simon nur noch daran, wie plötzlich eine Polizeisirene ertönte und sein Freier mit einem Mal aufs Gaspedal drückte und sie durch die Straßen rasten. Dabei war er bei einer Vollbremsung nach vorne geschleudert worden und als der Sicherheitsgurt ihn zurückhielt, fiel ihm bei dem heftigen Ruck die Sonnenbrille herunter. Er keuchte, als ein heftiger Stoß gegen seine Brust ging und ihm die Luft aus den Lungen presst. Und als der Mann kurz zu ihm herüberschaute um ihn anzuschreien, da sah er, was sich zuvor hinter den dunklen Gläsern versteckt hatte. Das Gesicht des Mannes wurde blass vor Schreck, als er zwei Augen sah, die scheinbar weder Iris noch Pupillen besaßen und die an zwei leere weiße Kugeln erinnerten. Simon hatte geistesgegenwärtig diesen Schockmoment genutzt, um dem Mann die Waffe aus der Hand zu reißen und ihn zum Anhalten zu bewegen. Kaum, dass der Wagen bremste, wurden sie von bewaffneten Polizisten umzingelt. Langsam kamen sie mit erhobenen Händen heraus, während die Polizei die Pistole sicherte und den Wagen sicherstellte. Simon sah, wie der Mann festgenommen wurde und als der Kofferraum des Wagens geöffnet wurde, bestätigte sich das ungute Gefühl, das er zuvor gehabt hatte: im Kofferraum lagen zwei Leichen, die provisorisch in eine Decke eingewickelt waren. Es waren zwei Jungen im Teenageralter. Und wie Simon noch am Tatort erfuhr, war sein Freier ein gesuchter Serienmörder, der es gezielt auf Jugendliche vom Straßenstrich abgesehen hatte. Kapitel 1: Ein überraschendes Angebot ------------------------------------- Simon saß frustriert auf einer Parkbank und hielt noch immer das Schreiben in der Hand, welches er heute per Post erhalten hatte. Mal wieder war es nur eine Absage mit den altbekannten Standardfloskeln und dem üblichen Blabla, dass es nicht an seinen persönlichen Eigenschaften lag und man ihm viel Glück für die Zukunft wünschte. Was für ein fadenscheiniges Gerede und eine leere Heuchelei das doch war. Wütend zerknüllte er das Schreiben und warf es in Richtung Abfalleimer, verfehlte diesen aber, sodass die Papierkugel auf den Boden fiel, aber er machte sich nicht wirklich die Mühe, sie aufzuheben. Die Absage an sich war es aber nicht, die ihn aufregte. Nein, es war vielmehr diese geheuchelte Freundlichkeit darin und diese dreiste Lüge, dass es nicht an ihm lag. Natürlich lag es an ihm. An wem sollte es denn sonst liegen, dass er keinen vernünftigen Job bekam? Es war doch jedes Mal derselbe Grund, warum er nirgendwo eine Ausbildung oder einen Aushilfsjob machen konnte: es lag an seinen Augen. Diese verdammten Augen, die jedes Mal bei seinen Mitmenschen Angst und Ekel auslösten, weil sie so unnatürlich und abstoßend aussahen. Jeden Morgen musste er sich mit diesen Augen im Spiegel ansehen und sich damit wieder aufs Neue bewusst machen, dass er für die Welt ein kranker Freak war. Und immer wieder hatte er sich gefragt, wieso es ausgerechnet ihn hatte treffen müssen. Wieso nur hatte er mit solchen Augen geboren werden müssen, bei denen jeder normale Mensch sofort an ein Monster dachte? Seine Augen sahen aus wie zwei milchig weiße Kugeln, die scheinbar vollkommen leer waren und wie die eines Geistes oder Untoten wirkten. Dabei hatte er durchaus Iris und Pupillen. Wenn man ganz genau hinsah, dann sah man, dass seine Iris in einem sehr schwachen blassgrau waren. Man musste aber wirklich genau darauf schauen, um das zu erkennen und die meisten Menschen vermieden das für gewöhnlich. Die meisten? Nun, eigentlich waren es ja alle Menschen. Diese Augen waren für Simon ein einziger Fluch, schon seit dem Tag seiner Geburt. Seine Eltern hatten ihn einfach ausgesetzt und ihm den sicheren Tod überlassen, wäre er nicht zufällig gefunden und in ein Waisenhaus gebracht worden. Doch selbst da hatten die Kinder sich vor ihm gefürchtet und ihn gemieden oder ihn „Monsterauge“ genannt. Und keine Familie der Welt hatte ihn adoptieren wollen, weil er in ihren Augen behindert war. Und behinderte Kinder wollte keiner adoptieren. Diese waren nur Ausschussware ohne Zukunftsperspektive. Seine einzige Hoffnung auf ein normales Leben und eine Zukunft war eine Augenoperation. Wie vor ein paar Jahren festgestellt worden war, lag bei ihm anscheinend eine Art Pigmentanomalie vor und man hatte daraufhin an einer Methode geforscht, diese Anomalie zu heilen und dafür zu sorgen, dass eine natürlichere Augenfarbe entwickelt wurde. Da dies aber ein experimenteller Eingriff war, für den erst mal eine Reihe von unzähligen Tests nötig war, kostete der ganze Spaß eine halbe Millionen. Und auch die Chancen standen nicht zum Besten, dass alles glatt lief. Es stand zur Befürchtung, dass ein Eingriff seine Sehkraft dauerhaft beeinträchtigen konnte. Schlimmstenfalls würde er vollständig erblinden. Aber es war seine einzige Hoffnung auf ein normales Leben und dass er von seinen Mitmenschen akzeptiert wurde. Da er nirgendwo einen Job gefunden hatte, war er auf die Idee gekommen, anschaffen zu gehen. Es war für ihn eine gute Möglichkeit, an Geld zu kommen, damit er die Operation und die vorherigen Tests mit diesem Mittel finanzieren konnte. Ein bisschen hatte er auch schon angespart, aber es reichte bei weitem nicht. Knapp 25.000$ hatte er bereits zusammengespart. Und das war gerade mal ein Zwanzigstel der Gesamtsumme. Simon hatte schon ausgerechnet gehabt, wie lange er wohl brauchen würde, wenn er es schaffte, an 300 Tagen im Jahr 50$ zu verdienen. Das Ergebnis war niederschmetternd gewesen: knapp 31 Jahre. Aber nachdem er beinahe von einem Serienmörder umgebracht worden war, konnte er sich ein Leben auf dem Straßenstrich ohnehin nicht mehr vorstellen. Aber wie sollte er denn sonst Geld verdienen, wenn er nirgendwo einen anständigen Job bekam? Nun, er konnte vielleicht eine Karriere als Räuber machen, aber dazu brauchte er erst mal eine Waffe. Eine weitere Möglichkeit wäre, eine Niere auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, oder aber er stieg ins Drogengeschäft ein und machte als Dealer das große Geld. Problem war nur, dass er vom Dealen überhaupt keine Ahnung hatte, von Drogen selbst mal ganz zu schweigen. Was also blieb noch? Nun, er konnte vielleicht Pornos machen. Das war wesentlich sicherer als auf der Straße gleich an den nächsten Psychopathen zu geraten, der ihn umbringen wollte. Und vielleicht hatte er die Chance, dort mehr Geld zu verdienen. Ja, das wäre keine so schlechte Idee. Und wegen seiner Augen… nun, da würde sich sicher schon irgendeine Lösung finden. Und wenn man ihm halt beim Sex die Augen verband, dann war es auch okay so. Hauptsache, er kam irgendwie an Geld. Mit einem leisen Seufzer legte Simon den Kopf zurück und hatte das Gefühl, in den letzten Jahren nicht ein bisschen vorwärts gekommen zu sein. Dabei hatte er doch schon ordentlich zusammengespart und möglichst spartanisch gelebt. Er hatte sich nur das allernötigste zum Leben geholt und wohnte in einem dreckigen und verschimmelten Einzimmerapartment, damit er möglichst wenig Miete zahlen musste. Er ging schon jeden Tag hart schuften und schaffte es manchmal auch, bis zu 250$ am Tag zu machen, wenn das Geschäft gut lief. Aber trotzdem war sein Ziel in unerreichbarer Ferne. Was für Alternativen blieben ihm da sonst noch, außer seinen Körper zu verkaufen? Simon hasste das Leben auf dem Strich. Diese ganzen Perversen widerten ihn einfach an und er hatte auch schon des Öfteren Pech gehabt und war auch schon mal von seinen Freiern brutal zusammengeschlagen worden und hatte auch schon mal im Krankenhaus gelegen, nachdem ihn jemand mit einem Messer attackiert hatte. Aber so war leider das Leben auf dem Straßenstrich. Es war gefährlich und endete auch mal tödlich, weil niemand sich für das Schicksal von Prostituierten oder Stricherjungen interessierte. So hatte sich Simon sein Leben ganz sicher nicht vorgestellt. „Normalerweise hebt man den Müll auf, wenn man den Mülleimer verfehlt“, hörte er plötzlich jemanden zu ihm herüberrufen. „Ach fick dich doch“, gab Simon gereizt zurück und sah nun auf. Vor ihm stand ein groß gewachsener Mann im Anzug. Er hatte dunkles Haar und eine charismatische Ausstrahlung. Simon schätzte ihn um die 30 bis 33 Jahre und so wie der Kerl aussah, schien er vermutlich eine höhere Position auszuüben. Vielleicht ein Abteilungsleiter oder ein Anwalt. Irgendetwas in der Art, weil man schon an seiner Miene erkennen konnte, dass er sich seiner Wichtigkeit durchaus im Klaren war und das auch ausspielte. Ein Grund mehr, den Kerl zu hassen und ihn mit Missachtung zu strafen. Simon konnte solche Kerle nicht leiden, die immer auf andere herabsahen und sich für etwas Besseres hielten und das ihren Mitmenschen auch noch unter die Nase rieben. Angriffslustig funkelte er ihn an, doch durch die Sonnenbrille war das nicht erkennbar. „Lass mich einfach in Ruhe und hör auf, Stress zu machen!“ Doch der Mann ließ sich nicht beirren und kam näher. „Spricht man so mit einem potentiellen Kunden?“ Oh, dachte sich der 21-jährige und seine Laune sank noch weiter in den Keller. Der Kerl ist ein Kunde? Simon überlegte für einen Moment, ob er sein Vorhaben nicht vielleicht doch lieber erst mal verschieben sollte. So wie der Kerl gekleidet war, wirkte er nicht sonderlich wie ein gefährlicher Serienmörder. Aber eines störte ihn: woher wusste der Kerl denn bitte, dass er zum Strich gehörte? Sein Gesicht hatte Simon jedenfalls noch nie gesehen, oder zumindest konnte er sich nicht erinnern und für gewöhnlich hatte er ein sehr gutes Gedächtnis, was Gesichter betraf, auch wenn er meist die dazugehörigen Namen vergaß. Und noch eines war merkwürdig und gab ihm zu denken: er saß hier auf einer Bank nahe eines Spielplatzes, das war fernab des Straßenstrichs. Noch dazu war helllichter Tag. Für gewöhnlich wagten sich die meisten erst zum Nachmittagsbereich zum Strich. Ein Grund mehr, um misstrauisch zu werden. „Woher weißt du, dass ich zur Szene gehöre, hm? Ich habe dein Gesicht noch nie vorher gesehen und außerdem: das hier ist nicht der Treff, klar?“ „So, so… dann bist du also nicht an einem lukrativen Geschäft interessiert?“ Lukratives Geschäft? War der Kerl vielleicht von einem Studio? Nein, selbst die trugen doch keine Anzüge und dazu wirkte das Auftreten viel zu wichtig. Der Kerl war definitiv in einem ernsten Job tätig. Trotzdem blieb Simon vorsichtig. Nachdem er letztens fast getötet worden wäre, ließ er sich nicht mehr so leichtsinnig auf ein Geschäft ein. Und außerdem hatte er sowieso eine Antipathie gegen Anzugträger. „Was für ein Geschäft soll das sein?“ wollte er wissen und faltete nun die Hände, während er den Mann durch seine Sonnenbrille aufmerksam musterte. Es interessierte ihn vor allem, wer der Mann war und warum dieser von seiner Tätigkeit Bescheid wusste. Außerdem schien es so, als hätte dieser gezielt nach ihm gesucht und das machte Simon umso misstrauischer, denn bisher war er es gewohnt, gemieden zu werden. Warum also sollte jemand an ihm interessiert sein? „Wie wäre es, wenn wir die weiteren Einzelheiten in meinem Wagen besprechen?“ Simon zögerte, denn wieder musste er an die beiden Leichen denken, die er im Kofferraum seines letzten Kunden gesehen hatte. Diese Erfahrung genügte ihm und es wäre das Vernünftigste gewesen, wenn er diesen Kerl in die Wüste schickte, aber andererseits… was hatte er denn noch überhaupt zu verlieren? Er brauchte das Geld unbedingt und außerdem war es hell und der Typ wirkte nicht sonderlich danach, als wollte er sich seinen teuren Anzug schmutzig machen. Also willigte er ein und folgte dem Anzugträger die Straße entlang und kam zu einer schwarzen Limousine. Kurz blieb er stehen und runzelte die Stirn. Sein potentieller Kunde hatte eine Limousine? Okay, dann musste er richtig viel Kohle haben. Also war es doch das Vernünftigste auf der Welt, mal ein bisschen die Preise zu erhöhen. Wenn der Kerl an ihm interessiert war, konnte er ihm doch locker 200$ die Stunde abknöpfen, mindestens! Als sie eingestiegen waren, nahm Simon Platz und sah sich um. Es war sehr geräumig und es gab hier sogar eine Art kleine Bar. Noch nie in seinem Leben war er je in einer Limousine gewesen und er musste zugeben, dass es durchaus was hatte. „Also was für ein Geschäft soll’s denn sein?“ fragte er noch mal und er beobachtete, wie der Mann im Anzug einen Koffer hervorholte. Es war einer dieser schwarzen Koffer, die diese Anzugträger in Filmen oft bei sich trugen und wo immer eine riesige Summe Geld drin war. Zumindest kannte Simon das so aus dem Fernsehen. Doch der Koffer blieb erst mal ungeöffnet, stattdessen wies der Mann ihn an „Nimm erst mal die Sonnenbrille ab.“ „Geht nicht“, sagte Simon nur. „Ich hatte…“ „… einen medizinischen Eingriff oder einen Unfall mit der Tür. Ja ich kenne diese Standardfloskel und es interessiert mich nicht. Wenn ich mit jemandem ein Geschäft machen will, dann möchte ich ihm auch in die Augen sehen.“ Doch Simon machte immer noch keine Anstalten und riet nur „Das wäre keine sonderlich gute Idee.“ „Lass das ruhig meine Sorge sein.“ Na schön, dachte sich der 21-jährige. Du hast es ja nicht anders gewollt. Also nahm er die Sonnenbrille ab und enthüllte damit seine Augen, die bei seinen Mitmenschen oft Ekel, Angst oder Entsetzen auslösten. Doch zu seinem Erstaunen blieb sein Gegenüber sehr souverän und verzog nicht einmal die Miene. Stattdessen öffnete er lediglich den Koffer, allerdings konnte Simon nicht genau erkennen, was darin war. Als er nachschauen wollte, was es war, wurde ihm auch schon eine kleine Mappe gereicht und etwas irritiert starrte er sie an. Er verstand immer noch nicht so wirklich, was das Ganze sollte und wollte nun auch endlich klare Antworten. Bevor er aber eine Frage stellen konnte, kam der Mann im Anzug ihm zuvor. „Ich möchte dir anbieten, mein persönlicher Petboy zu werden. Soweit ich weiß, hast du ja schon eine Weile in diesem Milieu gearbeitet und besitzt in diesem Bereich schon gewisse Erfahrungen.“ „Petboy?“ fragte Simon verwirrt, der mit diesem Begriff nichts anfangen konnte. Darum erklärte sein Kunde es ihm. „Du wirst sozusagen mein „Haustier“. Als solches wirst du alles tun was ich will, mir die vollständige Kontrolle über deinen Körper überlassen und meinem Willen stets Folge leisten, ohne Widerworte. Kurzum: der Petboy ist so etwas wie der Sexsklave.“ Simon schwieg und sah den Kerl etwas ungläubig an. Und sogleich dachte er sich: Oh Gott, schon wieder einer von diesen perversen Fetischisten. Naja, Kunde war halt Kunde und wenn er auf so etwas stand, dann würde er ihm natürlich den Spaß erfüllen. Allerdings fragte er sich dann doch, was dann diese komische Mappe sollte. Als er sie öffnete, fand er eine Art Vertrag. Okay, das wurde jetzt langsam ein wenig schräg. Noch nie hatte Simon erlebt, dass einer seiner Kunden so viel Aufwand betrieb und sogar einen Vertrag anfertigte. Für gewöhnlich fuhr er mit ihnen irgendwo hin oder machte es gleich im Auto mit ihnen und nachdem sie fertig waren, ging er auch wieder. So lief es immer ab. „Wozu der Vertrag?“ wollte er deshalb wissen. „Ich will, dass alles seine Formalität hat“, erklärte sein Kunde. „Denn ich will, dass du rund um die Uhr zur Verfügung stehst. Du wirst dich an das halten, was ich dir sage und springen, wenn ich A sage. Bis jetzt verstanden? Soweit ich richtig informiert bin, verkaufst du deinen Körper doch in erster Linie nur deshalb, weil du dringend viel Geld brauchst, sehe ich das richtig?“ Simons Misstrauen wuchs nun deutlich stärker. Woher wusste der Kerl denn, dass er Geld brauchte und was wusste der sonst noch über ihn? Als er ihn das fragte, bekam er die Antwort „Ich informiere mich im Vorfeld über Menschen, mit denen ich über einen längeren Zeitraum zu tun haben werde. Und da du mein Interesse geweckt hast, will ich dir entgegenkommen. Wie viel Geld brauchst du insgesamt?“ „475.000$.“ „Runden wir auf 500.000$ auf. Das ist schon eine sehr stolze Summe. Nun, glücklicherweise bin ich im Besitz solch einer Summe, allerdings verstehst du sicherlich, dass ich nichts zu verschenken habe. Jeder Mensch muss für sein Geld arbeiten. Und deshalb biete ich dir an, dass du zu meinem persönlichen Petboy wirst und so kannst du dir dein Geld in einem wesentlich schnelleren Zeitraum verdienen, als wenn du dich auf Parkplätzen herumtreibst und deinen Körper an irgendwelche Fremden verkaufst, die sich vielleicht als gefährliche Mörder entpuppen könnten. Der Straßenstrich ist sehr gefährlich, das weißt du mit Sicherheit. Ich biete dir eine Art Festanstellung an. Ich werde gut für dich sorgen und dir eine eigene Unterkunft zur Verfügung stellen und du brauchst dich nicht mehr auf dem Straßenstrich zu verkaufen. Und rechne dir mal 50$ für acht Stunden am Tag für knapp 330 Tage im Jahr zusammen. Damit dürfest du das nötige Geld wesentlich schneller zusammenbekommen, als wenn du weiterhin auf diesem schmutzigen Parkplatz arbeitest.“ Simon, der schon immer eine gute Begabung fürs Kopfrechnen hatte, begann nun den Zeitraum zu errechnen, den er brauchen würde, bis er das Geld zusammen hatte. Dabei ergab sich pro Jahr eine Summe von 132.000$. Um auf 500.000$ zu kommen, brauchte er also 3,78 Jahre, knapp 45,5 Monate. Das war bei weitem mehr als das, was er auf der Straße verdiente. Wenn er also das nötige Geld für die Operation zusammenhatte, dann war er knapp 25 Jahre alt. Da hatte er noch Chancen, etwas aus seinem Leben zu machen. „Das wären fast vier Jahre“, murmelte er ein wenig geistesabwesend und war noch etwas benommen von der Tatsache, was sich für eine Möglichkeit für ihn bot. Er hatte wirklich die Chance, in vier Jahren endlich die Operation bezahlen zu können, die er so dringend brauchte. „Ganz genau“, bestätigte sein Gegenüber. „Du verpflichtest dich vertraglich, für die nächsten vier Jahre mein Petboy zu sein und im Gegenzug werde ich dir die Summe zahlen, die du brauchst. Natürlich sollst du damit auch dein eigenes Leben finanzieren. Immerhin wirst du auch Kleidung und dergleichen brauchen. Darum werde ich für jedes Mal, wenn wir Sex haben, einen Bonus von 100$ zahlen. Davon kannst du dir Kleidung oder Dinge kaufen, für die sich Jungs in deinem Alter so interessieren.“ Simon überflog kurz den Vertrag und stellte schnell fest, dass dieser sachlich und nüchtern gehalten war wie jeder normale Standardvertrag. Tägliche Arbeitszeiten, Regelung zur Unterkunft, Bezahlung, Verschwiegenheitspflicht… „Du kannst dir den Vertrag in aller Ruhe zuhause durchlesen. Ich erwarte spätestens morgen um 10 Uhr eine Antwort. Du kannst mich telefonisch erreichen.“ Damit wurde ihm eine Visitenkarte gereicht und auf dieser las Simon den Namen Leron Evans. Etwas skeptisch sah er die Karte und das Logo darauf an. Dann aber realisierte er, wen er da vor sich hatte. Die Evans Corporation war ein international erfolgreicher Konzern, der sich auf alternative Energien spezialisiert hatte und Solarmodule, Blockheizkraftwerke und Anlagen zur Umwandlung von Wind- und Wasserenergie entwickelte. Zusätzlich hatten sie sich auf die Entwicklung von Hybridautos und dem Bau von Motoren spezialisiert, die mit umweltfreundlichem Kraftstoff betrieben wurden. Genaueres wusste Simon nicht, aber die Evans Corporation war einer der wichtigsten Konzerne in Sachen alternative Energie und galt als milliardenschwer. Dann war das also der Inhaber? Nein… der Kerl, den Simon letztens in den Nachrichten gesehen hatte, sah deutlich älter aus. „Sind Sie…“ „Der Sohn des Inhabers Lionel Evans“, erklärte Leron kurz und knapp mit einem Nicken. Simon starrte ihn verwirrt an und konnte nicht wirklich verstehen, was denn ein Milliardär von ihm wollte. Immerhin war er selber nur ein einfacher Junge vom Straßenstrich und der Kerl konnte sich doch jede Edelnutte ins Haus holen, die er wollte. Oder zur Not auch jeden hochkarätigen Callboy. Warum also sollte ein so reicher Unternehmer an ihm interessiert sein? Das wollte ihm einfach nicht in den Kopf und deshalb fragte er auch nach, allerdings fiel die Antwort nicht sonderlich befriedigend aus: „Ich habe eben Interesse an dir und da du käuflich bist, bin ich gewillt, die Gelegenheit zu nutzen.“ Schließlich stieg Simon aus der Limousine aus und versprach, sich zu melden. Er machte sich auf den Weg zurück in seine Wohnung und er kam sich wie in einem merkwürdigen Traum vor. Aus heiterem Himmel tauchte plötzlich ein Milliardär auf und bot ihm an, sein persönlicher Petboy zu werden und im Gegenzug das Geld zu zahlen, das er für die Augenoperation brauchte. Und für einen Moment kam er sich wie in einer Mischung aus Pretty Woman und Fifty Shades of Grey vor. Das war doch verrückt. So etwas konnte es doch nicht geben. Es musste einen Grund geben, dass dieser Leron Evans ausgerechnet ihn wollte, wenn er doch jeden Callboy der Welt haben konnte. Oder ging es ihm darum, langfristig jemanden zu haben, der in sein Beuteschema passte? Immerhin hatte er ganz gezielt einen Petboy gesucht… eine Art Sexsklaven. Nun, Simon konnte sich wirklich Besseres vorstellen und er hasste es ohnehin, sich auf irgendjemanden einzulassen oder nach jemandes Pfeife zu tanzen. Aber er hatte die Chance darauf, viel Geld zu verdienen. So eine Gelegenheit bekam er wahrscheinlich nie wieder in seinem Leben und allein als er sich vor Augen hielt, dass er sogar für jedes Mal Sex noch einen zusätzlichen Bonus bekam, den er ganz allein für sich nutzen konnte, machte ihn fast schon euphorisch. Doch er bremste seine aufkommende Euphorie, denn erst einmal galt es, den Vertrag durchzulesen und genau zu prüfen, ob da nicht irgendwo ein Haken drin war. Zwar war er notgedrungen bereit, seinen Körper zu verkaufen, um sich seinen größten Traum erfüllen zu können, aber selbst bei ihm gab es Grenzen, die niemand überschreiten durfte. Das hatte er das eine oder andere Mal auch seinen Freiern sagen müssen, die teilweise wirklich abartige Vorlieben gehabt hatten. Als er seine kleine Einzimmerwohnung mit den Schimmelflecken an den Ecken betrat, legte er seine Jacke beiseite, ging zum Herd und begann sich sein Mittagessen zu machen. Es gab Ravioli aus der Konservendose. Da er an allen Ecken und Enden sparte und sich eh kaum etwas Gescheites leisten konnte, gab es, wenn überhaupt mal etwas Warmes, nur Fertiggerichte. Er kaufte immer das, was gerade am billigsten war und wenn das Geld im Monat knapp war, nahm er auch schon mal abgelaufene Lebensmittel, solange sie noch genießbar waren. Während sein Essen langsam kochte, setzte er sich auf das Sofa, denn sein winziges Wohnzimmer diente zusätzlich auch als Küche. Als er Platz genommen hatte, holte er den Vertrag hervor und las ihn sich durch. Wenn er schon für vier Jahre zum Spielzeug für irgendjemanden wurde, dann wollte er wenigstens wissen, worauf er sich einließ und nicht noch am Ende irgendwelche bösen Überraschungen erleben, nur weil er das Kleingedruckte nicht gelesen hatte. Aber wie sich herausstellte, war der Vertrag sehr verständlich verfasst und einige Dinge waren sogar in Klammern oder als Fußnoten näher erläutert worden, damit er auch wirklich alles verstand. Im Großen und Ganzen deckte sich der Inhalt des Vertrages mit dem, was dieser Leron Evans bereits angedeutet hatte. Im Vertrag stand, dass er sich für einen Zeitraum von vier Jahren verpflichtete, als persönlicher Petboy für Leron tätig zu sein. Insgesamt 30 Tage Urlaub wurden gewährt, die in vorheriger Absprache eingelöst wurden. Der Stundenlohn betrug 50$, die Arbeitszeit 8 Stunden und Simon verpflichtete sich, allen Anweisungen Folge zu leisten. Dann gab es Klauseln, die sowohl ihn als auch Leron betrafen. Seine wären, dass andere Sexpartner verboten und nur in vorheriger Absprache mit Leron gestattet seien. Außerdem habe er sich als Petboy stets unterwürfig zu verhalten und Leron als „Meister“ anzureden. Zudem waren regelmäßige medizinische Untersuchungen verpflichtend (mit Sicherheit, um die Gefahr von Geschlechtskrankheiten und AIDS auszuschließen). Des Weiteren waren die üblichen Bedingungen im Krankheitsfall dabei, dass auf Nachfrage ein ärztliches Attest vorzulegen sei und dann war noch der Punkt, dass er während der vier Jahre eine Unterkunft von Leron zugewiesen bekam. Zu guter Letzt waren ein Safeword und ein Slowword festgelegt. Da Simon nicht verstand, was es damit auf sich hatte, las er sich die entsprechende Fußnote durch: Slowword: Durch dieses vereinbarte Wort signalisiert der Bottom, dass noch alles in Ordnung ist, er sich allerdings bereits an der Grenze befindet. Safeword: Ein Signalwort, mit welchem der Bottom die Session auf der Stelle abbricht. Aha, dachte er sich. Also sind solche Wörter zu meinem Schutz da. Nun kehrte er wieder zum Text zurück und las, wie die Signalwörter lauteten. Wie sich herausstellte, gab es nicht nur Codewörter, sondern auch stumme Signale. Wahrscheinlich für den Fall, dass er nicht die Möglichkeit zum Sprechen hatte. Als Slowword war das Codewort „Slowdown“ bzw. zwei Mal Klopfen festgelegt. Für das Safeword galt „Mayday“ und drei Mal klopfen. Nun, das war eigentlich ganz gut zu merken. Und der Gedanke, dass extra für ihn so eine Sicherheit festgelegt worden war, bedeutete doch auch, dass dieser Typ in der Limousine eventuell doch nicht so ein perverser Sack war, wie er zunächst gedacht hatte. Nun ja, zwar war diese Petboy-Geschichte immer noch ziemlich merkwürdig, aber zumindest brauchte er sich keine Gedanken zu machen, dass er es mit einem kranken Psychopathen zu tun hatte wie mit dem letzten Kerl, der ihn umbringen wollte. Schließlich las sich Simon auch den Teil durch, der Leron betraf, denn es interessierte ihn wirklich, wozu dieser sich vertraglich verpflichten wollte. Und wie sich herausstellte, waren es schon einige Dinge, die Simon gar nicht erwartet hatte und die zeigten, wie ernst diesem Kerl wohl der Vertrag war. Zum Beispiel verpflichtete sich Leron, zum ersten Tag des Monats das Gehalt und pro Beischlaf einen Bonus von 100$ zu zahlen. Außerdem stand drin, dass er sich verpflichtete, die Sicherheit und das gesundheitliche Wohlbefinden seines Petboys zu gewährleisten, sich entsprechend der vereinbarten Codewörter zu verhalten, ihm eine angemessene Unterkunft zu stellen und ihm Urlaub und Erholungsphasen zu gewährleisten. Für Simon hieß das also summa summarum: er tat das, was Leron von ihm verlangte und hatte dabei im Gegenzug genug Sicherheit, um keine ernsten Folgen fürchten zu müssen. Er war in jedem Fall bestens abgesichert und das war wahrscheinlich die einzige Chance, die er hatte. Zwar bezweifelte er, dass Leron nur deshalb den ganzen Aufwand betrieb, bloß weil er Interesse an ihm hatte, aber sollte das wirklich ein Grund sein, diese einmalige Chance auszuschlagen und zum Straßenstrich zurückzukehren und schlimmstenfalls wieder an einen potentiellen Mörder zu geraten? Nein, da verzichtete er doch lieber auf eine Antwort. Für ihn stand jedenfalls fest, dass er den Vertrag unterschrieb. Was waren schon vier Jahre als Petboy eines Milliardärs, wenn er dafür endlich die Chance bekam, ein normaler Mensch wie alle anderen zu werden und nicht mehr länger wie ein Monster behandelt zu werden? Doch dabei kam ihm eine neue Frage auf, die ihn besonders verunsicherte: wieso war Leron nicht abgeschreckt oder angewidert von seinen unmenschlich und seelenlos wirkenden Augen gewesen? Jeder normale Mensch hätte mit Entsetzen reagiert, aber Leron hatte sich nicht daran gestört. Er hatte sie nicht einmal angestarrt wie irgendeine Kuriosität aus der Freakshow, sondern hatte ganz normal mit ihm gesprochen, als wäre da nichts Ungewöhnliches. Warum? Wieso hatte Leron sogar darauf bestanden, ihm direkt in die Augen zu sehen? Dieser Kerl gab ihm wirklich Rätsel auf, vor allem weil er anscheinend so viel über ihn wusste, während Simon kaum etwas über ihn wusste. Kapitel 2: Der Umzug -------------------- Noch am selben Tag hatte Simon bei Leron angerufen und ihm Bescheid gegeben, dass er den Vertrag unterschrieben habe und mit den Bedingungen einverstanden war. Er erhielt daraufhin die Anweisungen, jene Sachen einzupacken, die er in seine neue Unterkunft mitnehmen wollte. Die Auflösung des Mietvertrages und die Einlagerung seiner restlichen Möbel würde ein Sekretär übernehmen. Am nächsten Morgen um neun Uhr wurde er schließlich abgeholt. Die Limousine parkte direkt vor dem Haus und der Chauffeur wartete auf ihn. Viel hatte Simon nicht dabei. Er hatte nicht viel an Kleidung und da er in eine voll ausgestattete Unterkunft wechseln würde, war es auch unsinnig, die Möbel mitnehmen zu wollen. Lediglich ein paar wenige Dinge und auch seine heiß geliebte CD-Sammlung nahm er mit. Das Sperrigste von allen war ein spezielles Kissen für Seitenschläfer. Es mochte eine komische Eigenheit von ihm sein, aber er konnte ohne dieses Kissen einfach nicht schlafen, weil er es immer als besonders bequem empfand. Das Kissen und die CDs waren der einzige Luxus, den er sich je gegönnt hatte. Bücher besaß er nur drei und die hatte er für jeweils 50 Cent bekommen. Ein großer Leser war er eh nicht, aber er liebte die Musik. Er hörte so ziemlich alles, von Klassik bis zu Hip Hop, Techno und Rock und besaß CDs von den Scorpions, ACDC, Starset, The Birthday Massacre und vielen weiteren Bands und Sängern. Da er sich keinen Fernseher oder Computer leisten konnte, hatte er die meiste Zeit nur Musik gehört. Es war ein guter Ausgleich gewesen und half ihm, den Alltag zu vergessen. Simon nahm auch noch seine drei Sonnenbrillen mit, die für ihn die einzige Möglichkeit darstellten, sich unter Menschen zu bewegen und nicht sofort als Monster gebrandmarkt zu werden. Als es an der Tür klingelte und der Chauffeur heraufkam, um ihm beim Tragen der Koffer zu helfen, trug Simon bereits seine Sonnenbrille, da es draußen aufgrund des strahlenden Wetters und dem wolkenfreien Himmel sehr hell war und das Licht in seinen Augen schmerzte. Hätte er seine schützende Brille nicht aufgesetzt, hätte er die ganze Zeit nur verschwommene Konturen und einen weißen Nebelschleier vor Augen gehabt. Der Chauffeur grüßte ihn, nahm die zwei Koffer entgegen, während Simon seine Sporttasche trug. Eine gewisse Nervosität überkam ihn, die sich aber auch mit einer Art Aufbruchstimmung mischte. Er war neugierig auf seine Unterkunft und wäre auch mit einer einfachen Einzimmerwohnung zufrieden gewesen. Aber ein Gefühl verriet ihm, dass daraus nichts wurde und er wohl eher in Lerons Haus einquartiert werden, da ja die Rede war, dass er nur deswegen eine eigene Unterkunft bekommen würde, um rund um die Uhr verfügbar zu sein. „Mr. Evans wies mich an, Ihnen mitzuteilen, dass um 13 Uhr ein Arzttermin für Sie vereinbart wurde.“ „Für mich?“ fragte Simon verwirrt. „Wieso?“ „Dazu gab er keine näheren Auskünfte“, erklärte der Chauffeur lediglich und Simon vermutete, dass es wahrscheinlich eine Art Aufnahmeuntersuchung war. Immerhin war er seit vier Jahren auf dem Straßenstrich anschaffen gewesen, da wollte Leron irgendwelche Krankheiten ausschließen. Man hörte ja, dass einige Freier sich irgendwelche Geschlechtskrankheiten bei Prostituierten einfingen. Da war es nur verständlich, dass Leron auf Nummer sicher gehen wollte, bevor es zur Sache ging. Simon hatte nichts sonderlich dagegen, er fühlte sich paradoxerweise bei Ärzten viel wohler als bei normalen Menschen, denn diese hatten in ihrer Laufbahn schon so viele ungewöhnliche Fälle gehabt und seltsame Dinge gesehen, dass sie sich nicht an seinen hässlichen und unmenschlichen Augen störten. Nein, sie waren meist sogar fasziniert und wollten mehr darüber wissen. Simon verstand nicht, wieso die Menschen eine Abneigung gegen Arztbesuche hegten. Für ihn waren diese Leute in weißen Kitteln ein wesentlich angenehmeres Volk, weil es in ihren Augen keine Monster oder Freaks gab. Sie betrachteten Missbildungen oder Mutationen aus einem rein medizinischen Blickwinkel und gingen deshalb unvoreingenommen an solche Dinge heran. Nach einer etwas längeren Fahrt hatten sie die City verlassen und kamen in ein deutlich ruhigeres Gelände. Hier gab es eine Vielzahl von Villen mit riesiger Anlage, wo die Bonzen dieser Stadt lebten. Es war quasi das Beverly Hills von New York. Die Limousine hielt vor einem Tor mit einer Sprechanlage. Es öffnete sich elektrisch und sie fuhren den Rest des Geländes rauf, bis sie schließlich direkt vor dem Gebäude stehen blieben. Als Simon aus der Limousine stieg, staunte er nicht schlecht, als er eine riesige Villa sah. Sie besaß eine große Gartenanlage und wirkte sehr modern. Der Anstrich war in weiß gehalten und es gab große Fenster, sodass man einen hervorragenden Ausblick auf die Landschaft hatte. Die Villa hatte ein flaches und sehr breites Dach, was für die Terrasse im ersten Stockwerk höchstwahrscheinlich als eine Art Sonnenschutz diente. Es gab sogar einen Swimmingpool und einen riesigen Pavillon. Simon staunte nicht schlecht, als er diese riesige Villa erblickte und sogleich sah er sich auch in seiner Annahme bestätigt, dass er von jetzt an wohl für die nächsten vier Jahre bei Leron wohnen würde. Er folgte dem Chauffeur, der seine Koffer trug, in die Villa und kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Ölgemälde hingen an den Wänden und sehr schöne Figuren aus silbern glänzendem Stahl und dunklem Holz dienten zur Dekoration. Die Räume waren sehr groß und alles entsprach dem Bild eines stinkreichen Unternehmers. Sie gingen die Treppe hinauf und erreichten schließlich ein Zimmer, welches ein sehr ungewöhnliches Design hatte und neben Staunen auch Verwirrung bei Simon auslöste. Es hatte ein riesiges Doppelbett, einen Fernseher und sogar einen eigenen Computer, aber auch eine freistehende Badewanne. Noch nie in seinem Leben hatte er so etwas Verrücktes gesehen und so ganz verstand er den Sinn nicht. Wahrscheinlich gehörte das irgendwie zum modernen Stil dazu. Aber das Zimmer war groß und sehr schön eingerichtet. Kein Vergleich zu der versifften Bude, wo er eigentlich wohnte. Doch so ganz konnte er das nicht glauben und fragte deshalb auch sicherheitshalber nach, ob das auch wirklich sein Zimmer war. Der Chauffeur bestätigte dies und da er noch etwas Zeit bis zum Arzttermin hatte, begann Simon schon mal damit, die wichtigsten Sachen auszupacken und stellte dafür seine Sporttasche auf dem Bett ab. Doch da fiel ihm etwas ins Auge: etwas lag auf dem Kopfkissen, nämlich eine Art Lederhalsband und ein Briefumschlag. Neugierig öffnete er den Brief und las den Inhalt: „Hallo Simon, ab heute wirst du während unserer Sessions immer dieses Halsband tragen. Während meiner Abwesenheit kannst du dich mit der Villa vertraut machen und auch den Swimmingpool und die Sauna nutzen. Ich werde gegen 19:30 Uhr zurückkommen. Bis dahin kannst du die Zeit zum Auspacken nutzen und dich schon mal in der Villa umsehen. Für Fragen steht mein Butler Anthony zur Verfügung. Bereite dich darauf vor, dass heute Abend deine Arbeit beginnen wird.“ Cool, dachte sich Simon als er sich den kurzen Brief durchlas. Ich darf echt den Pool benutzen. Auch wenn er ab heute ein Petboy sein würde und sich damit für die nächsten vier Jahre an einen Kerl verkaufen würde, der gut und gerne zehn Jahre älter war, hatte dieses Leben etwas. Immerhin würde er in einer Villa wohnen, hatte sein eigenes Zimmer und seine ganz eigene Badewanne. Und er durfte auch den Pool und die Sauna nutzen. Fragte sich nur, wo denn die Sauna war. Nun, das konnte er ja noch später herausfinden. Zuallererst sollte er aber seine Sachen auspacken und dann den Arztbesuch hinter sich bringen. Nachdem er seine CD-Sammlung in einem der Regale untergebracht hatte, wollte er seine Klamotten in den Schrank einräumen, da klopfte es an der Tür und zuerst dachte Simon, es sei der Chauffeur, doch als die Tür geöffnet wurde, stand dort jemand anderes. Es war ein Mann um die 55 bis 60 Jahre, mit akkurat zurückgekämmtem dunkelblondem Haar und der gelassenen Ausstrahlung eines buddhistischen Mönches. Der Kleidung nach zu urteilen musste das der Butler Anthony sein. „Einen schönen guten Tag, Mr. Cavanaugh. Ich bin Anthony, der Butler der Familie Evans“, grüßte der Butler und lächelte freundlich. Er wirkte so, als würde nicht einmal eine Naturkatastrophe sein gelassenes Gemüt sonderlich aus der Ruhe bringen. „Äh… Hi“, murmelte Simon etwas zögerlich und begrüßte ihn mit einem Händedruck. „Sie können mich auch Simon nennen. Also… Sie sind der Butler der Familie Evans? Hat Leron noch andere Verwandte?“ „Er hat zwei ältere Brüder“, antwortete der Butler. „Michael und Jordan und dann wäre sein Vater Lionel.“ „Und die Mutter?“ „Mrs. Evans starb bereits vor vielen Jahren. Ich stehe der Familie seit 30 Jahren als Butler zur Seite. Mr. Evans wies mich an, Ihnen während Ihres Aufenthaltes helfend zur Seite zu stehen und mich in seiner Abwesenheit um Ihr Wohlbefinden zu kümmern. Wenn Sie von Ihrem Arztbesuch zurückkehren, werde ich das Mittagessen vorbereiten. Gibt es irgendwelche Unverträglichkeiten, Allergien oder Sonstiges, von dem ich wissen sollte?“ Simon dachte kurz nach und meinte nur, dass er lediglich keine Gerichte mit viel Sahne oder Fett vertrug, da er dann hin und wieder mal unter Übelkeit und Magenkrämpfen litt. Ansonsten war er recht anspruchslos, immerhin hatte er sich seit dem Auszug aus dem Waisenhaus ohnehin nie frisch oder wirklich gesund ernährt. Der Butler ließ ihn schließlich wieder alleine und während Simon weiter seine Sachen auspackte, fragte er sich, wie viel der Butler wohl wusste. Nun, vielleicht war es auch besser, gar nicht darüber nachzudenken. Viel eher erstaunte es ihn, dass Leron den Butler beauftragt hatte, sich um ihn zu kümmern. Objektiv gesehen war es eigentlich zu viel des Guten, denn er selber war ja streng genommen auch nur ein „Angestellter“, nur mit dem Unterschied, dass er seinen Körper an Leron verkaufte. Aber schon seit er diesen Vertrag unterzeichnet hatte, kam es ihm mehr so vor, als wäre er hier ein Gast. Ob dieser Leron wohl zu allen Menschen so umsichtig war? Danach hatte er gestern gar nicht gewirkt. Viel eher hatte er den Eindruck gemacht, als interessiere er sich nur für das Geschäft und nichts mehr. Dieser Kerl gab ihm wirklich Rätsel auf. Naja, er konnte sich auch später darüber Gedanken machen. Erst einmal packte er seine Sachen aus und danach gönnte er sich ein schönes Bad. Er war in seinem ganzen Leben noch nie in den Genuss einer Badewanne gekommen und wollte das natürlich auch ausnutzen. Also ging er zu der Badewanne hin und begann den Wasserhahn aufzudrehen. Und dabei sah er auch sofort, dass die Badewanne eine Whirlpoolfunktion hatte. Okay, dachte er sich. Das ist sicherlich typisch Bonzenvolk. Neben der Badewanne stand ein kleiner Tisch mit ein paar Flaschen drauf. Seife, Schaumbad… Immer mehr kam sich Simon vor wie in einer sehr eigenwilligen Version von Pretty Woman und als er seinen Lieblingsgeruch wiedererkannte, fragte er sich, ob das bloß ein Zufall, oder auch nur ein Ergebnis von Lerons Recherchen war. Das Ganze stank doch deutlich danach, dass der Kerl so einiges an Geheimnissen hatte. Aber vielleicht würde er sie schon irgendwann erfahren. Als er seine wenigen Habseligkeiten verstaut hatte, zog er die Vorhänge ein wenig zu, um das grelle Licht zu dämpfen und seine Sonnenbrille abnehmen zu können. Nachdem die Badewanne voll war, zog er sich aus und stieg hinein. Es war ein herrliches Gefühl und auch wenn es ihm immer noch ziemlich bescheuert vorkam, eine Badewanne ins Schlafzimmer zu verlegen, hatte es doch etwas und er erkannte so langsam den Vorteil: wenn man abends ein Bad nahm, musste man nicht zwischen den Räumen hin und her wechseln, sondern konnte direkt danach ins Bett. Doch dann schweiften seine Gedanken wieder zurück zu seiner Vergangenheit. Sein Leben war bis jetzt nicht wirklich das gewesen, was man irgendjemandem wünschen würde. In der Schule war er als Monster gebrandmarkt sogar schon mal des Öfteren verprügelt worden. Der schlimmste Vorfall, der sich je ereignet hatte, war vor knapp drei Jahren gewesen, als er abends auf dem Strich gearbeitet hatte. Sein Freier war ein ziemlich wohlhabender Kerl gewesen und hatte ihn in einen Loft gebracht. Für Simon war es ein ganz normaler Job gewesen, doch dann hatte sein Freier ihn überwältigt, ihm die Augen verbunden, ihn dann ans Bett gefesselt und geknebelt. Stundenlang hatte dieser ihn gequält und ihn geschlagen. Er hatte ihn sogar beim Sex so heftig gewürgt, dass Simon das Bewusstsein verloren hatte. Als er dann wieder aufgewacht war, hatte er bereits im Krankenhaus gelegen und er hatte keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, seinem Freier zu entkommen und sich bis zur Klinik zu schleppen. Wahrscheinlich fehlten ihm schlichtweg die Erinnerungen durch den Schock. Die meisten seiner Freier waren miese Arschlöcher und kranke Perverse gewesen. Und einige waren auch gewalttätig gewesen. Aber das brachte es leider mit sich, auf dem Straßenstrich anschaffen zu gehen. Das lockte ebben allerhand Gesindel an. Aber Leron gab ihm Rätsel auf. In der Limousine hatte er wie ein typischer Geschäftsmann gewirkt, doch seitdem der Vertrag unterschrieben war, schien er ein sehr umsichtiger Mensch zu sein, eigentlich ein absoluter Widerspruch. Irgendein Gefühl verriet ihm, dass Leron ein komplizierter Charakter war, der wahrscheinlich so einige Widersprüche verkörperte. Nun, schlimmer als diese Horrorstunden in diesem Loft und die dabei erfolgte Vergewaltigung konnte es eigentlich nicht werden. Und auch wenn er Leron nicht kannte, so bezweifelte er, dass dieser wirklich brutal werden würde. Das Schlimmste, was wohl eintreten würde, wären wahrscheinlich irgendwelche perversen Spielchen, aber selbst da hatte er die Sicherheit, auf die Codewörter zurückzugreifen, wenn es zu heftig werden sollte. Vorausgesetzt natürlich, dass Leron sie auch beherzigen würde, denn eine hundertprozentige Sicherheitsgarantie waren sie ja immer noch nicht. Schließlich, nachdem sich Simon ein ausgiebiges Bad gegönnt hatte, merkte er, dass es langsam spät wurde und so zog er sich an und ging nach unten, wo ihm auch schon der Chauffeur entgegenkam, der ihn zu dem Arzttermin fahren sollte. Wie sich herausstellen sollte, war der Arzt ein gewisser Dr. Morris und ein älterer Mann mit Glatze und einem Gesicht, welches Simon ein klein wenig an Bruce Willis erinnerte. Allein schon die Praxis und die Behandlungszimmer waren sehr hochwertig ausgestattet, was bei dem 21-jährigen den Verdacht aufkommen ließ, dass dieser Dr. Morris so etwas wie ein Arzt für die Reichen und Stars war, andererseits wäre die gesamte Raumausstattung etwas schlichter gehalten. Vermutlich behandelte er auch Leron. Der glatzköpfige Mediziner erwies sich als umsichtig und höflich, er ließ sich nicht von Simons Augen beirren und erklärte ihm, welche Untersuchungen er durchführen müsse. Zuvor ließ er aber eine Einverständniserklärung unterschreiben, dass Leron über das Ergebnis der Untersuchung informiert werden würde. Immerhin war er an die Schweigepflicht gebunden und musste die Formalitäten einhalten. Da Simon sowieso ein ungewöhnlich gutes Verhältnis zu Ärzten hatte, ließ er alle Untersuchungen bereitwillig über sich ergehen und unterhielt sich dabei sogar ein wenig mit dem Mediziner Er störte sich weder sonderlich daran, als ihm Blut abgenommen wurde, oder er eine Urinprobe abgeben musste, auch dass selbst seine Körperöffnungen untersucht wurden, machte ihm nicht allzu viel aus. Es mochte auch teilweise an seinem Job liegen, dass sein Schamgefühl nicht mehr sonderlich stark ausgeprägt war als im Vergleich zu anderen in seiner Altersklasse. Aber die Tatsache, dass der Arzt ihn wie ein ganz normaler Mensch behandelte und sich nicht mal an seinen unheimlichen Augen störte, förderte auch das Vertrauen. Und außerdem hielt er sich vor Augen, dass Mediziner im Allgemeinen schon so viel in ihrer Laufbahn gesehen hatten, dass es für sie auch nichts Besonderes war, einen nackten 21-jährigen vor sich zu haben, den es zu untersuchen galt. Insgesamt wurde Simon so gründlich wie noch nie in seinem Leben untersucht. EKG- und Pulsmessung, Prüfen der Nerven und Abtasten auf irgendwelche Fehlbildungen oder Verspannungen, Messen der Körpertemperatur und noch vieles mehr. Und während sich Simon mit Dr. Morris unterhielt, wurde er tatsächlich in seiner Vermutung bestätigt, dass der Endfünfziger auch Leron als Patient betreute und dass schon sein Vater für das gesundheitliche Wohlergehen der Familie Evans gesorgt hatte. „Und, Doc?“ fragte Simon ein wenig scherzhaft, nachdem die Untersuchungen allesamt abgeschlossen waren. „Wie schlimm sieht’s aus? Bescheiden oder hoffnungslos?“ „Nun, ich kann Ihnen gute Nachrichten mitteilen“, verkündete der Arzt mit einem zufriedenen Lächeln. „Bis jetzt konnten keine Anzeichen auf Krankheiten festgestellt werden. Natürlich müssen wir noch die Bluttestergebnisse abwarten, da wir die Proben im Labor näher untersuchen müssen. Aber da ich keinerlei bedenkliche Symptome oder Anzeichen feststellen konnte, sollten die Ergebnisse negativ ausfallen. Ich werde Ihnen dann die Laborergebnisse per Post zuschicken, sobald das Labor fertig ist.“ „Danke, Doc. Und Sie werden Mr. Evans benachrichtigen?“ Mit einem Nicken bestätigte der glatzköpfige Mediziner ihm dies und als Simon sich erhob, um das Zimmer zu verlassen, erhob sich auch Dr. Morris, um ihn zur Tür zu bringen. Im Großen und Ganzen war dieser Arztbesuch ganz nett gewesen und Simon ging mit einem guten Gefühl nach draußen. Der Chauffeur kam ihn abholen und so ging es wieder zur Villa zurück. Simons Laune war deutlich besser als in den letzten Tagen und ein Stück weit verdrängte er auch, warum er hier war. Er sah erst mal nur die wunderbare Chance, die nächsten vier Jahre in einem riesigen Haus mit Swimmingpool zu leben und ein ebenso riesiges Zimmer mit allem möglichen Komfort zu haben. Er hatte wirklich den Jackpot erwischt und er war wirklich froh, dass er in diesen Vertrag eingewilligt hatte. Das würde definitiv ein echt guter Job werden. Okay, er musste mit Leron schlafen, das ließ sich nicht vermeiden. Aber wenn man das ausklammerte, wohnte er luxuriöser als die anderen, die er im Waisenhaus gekannt hatte. Nun gut, er hatte auch gar keinen Kontakt mehr zu ihnen und wusste nicht, was aus den anderen geworden war, die nicht adoptiert worden waren. Aber als er so durch das weitläufige Haus ging und sich ein wenig umsah, da wünschte er sich sogar, er würde sie alle wiedersehen, die ihn herumgeschubst, verprügelt und ihn „Monsterauge“ genannt hatten. Dann konnte er ihnen schön unter die Nase reiben, dass er jetzt in einer schicken Villa wohnte. Die würden grün werden vor Neid und für ihn wäre es eine herrliche Genugtuung, nachdem sie ihm seine Kindheit schon schwer genug gemacht hatten. Im Wohnzimmer entdeckte er bei seinem Erkundungsgang mehrere Fotos, die allesamt eingerahmt waren. Sein erster Gedanke war, dass es vielleicht Familienfotos sein konnten und da war seine Neugier natürlich geweckt. Doch wie sich herausstellte, waren die meisten Familienfotos unvollständig und eher einseitig. Er sah eine sehr hübsche Frau mit langem lockigen Haar und sehr dunklen Augen. Sie war entweder allein auf den Fotos zu sehen oder mit einem kleinen Jungen, der nicht älter als fünf oder sechs Jahre alt sein konnte. Er wirkte sehr aufgeweckt und fröhlich, allerdings sah man deutlich, dass er sich sehr an der Frau, die mit Sicherheit seine Mutter war, klammerte. Er wirkte sehr glücklich und hatte ein unbeschwertes Lächeln, das Simon bei sich selber nie wirklich sehen konnte. Aber er hatte ja auch nie eine unbeschwerte Kindheit gehabt. Doch dann fand er ein anderes Foto. Es zeigte dieses Mal drei Jungen, die knapp 17 oder 18 Jahre alt waren, der kleine Junge von den anderen Fotos, einen ernst drein blickenden Mann mit der Miene eines kühlen Geschäftsmannes und wieder die Frau von den anderen Fotos. Simon, der schon immer eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe und ein besonderes Gespür für die kleinen Details besessen hatte, fiel sofort auf, dass eine sehr merkwürdige Atmosphäre auf diesem Foto herrschte. Der kleine Junge auf dem Foto lächelte zwar in die Kamera, aber er wirkte nicht so glücklich wie auf den anderen Fotos. Nein, er wirkte nervös oder ängstlich. Und Simon fiel auch auf, dass er einen Abstand zu den beiden Jungs hielt, die vermutlich seine älteren Brüder waren. Das war wohl ein Familienfoto der Familie Evans. Und so wie alle auf den Fotos wirkten, schien da wohl einiges im Argen zu liegen. Ob der kleine Junge auf den Fotos Angst vor seinen älteren Brüdern hatte? Nun, Simon kannte es aus dem Waisenhaus, dass die älteren Kinder oft die jüngeren schikanierten. Wahrscheinlich war es in der Familie Evans nicht anders gewesen. Auch wenn die Familie auf dem Foto lächelte, sah er, dass es kein echtes Lächeln war. Simon ging schließlich in die Küche, wo der Butler Anthony gerade das Essen zubereitete. Es gab Steak mit grünem Spargel und Kartoffeln und so langsam merkte der 21-jährige, dass er wirklich Hunger hatte. Er setzte sich an den Tisch und goss sich ein Glas Wasser ein. „Ich würde gerne etwas wissen“, sagte er schließlich und trank einen Schluck. „Wie ist Lerons Mutter eigentlich gestorben?“ „Mrs. Evans erkrankte an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Dieser befand sich bereits im Endstadium, als er diagnostiziert wurde. Sie starb, als Mr. Leron Evans sechs Jahre alt war.“ „Er muss sie sehr geliebt haben. Im Wohnzimmer sind viele Fotos von ihr. Vom Rest seiner Familie existiert offenbar nur dieses eine Foto.“ Schließlich stellte der Butler ihm den gefüllten Teller hin und Simon, der schon langsam Magenschmerzen verspürte vor Hunger, nahm sich gleich einen großen Bissen und musste feststellen, dass Anthony ein echt guter Koch war. Es konnte aber sicherlich auch daran liegen, weil er sich seit Jahren nur von Fertiggerichten und Sandwiches ernährt hatte. „Mr. Evans hatte es tatsächlich nicht leicht mit seinen älteren Brüdern. Es gab oft Streit zwischen ihnen.“ „Und der Vater war sicherlich einer von der Sorte Mensch, die sich eher für das Geschäft und weniger für die Familie interessieren.“ Anthony lächelte, sagte aber nichts dazu, denn obwohl er mit großer Wahrscheinlichkeit vieles über die Familiengeschichte der Evans wusste, würde er Stillschweigen bewahren. Die Ehre und das Wohl der Familie standen für ihn an höchster Stelle und als Butler würde er auch nicht aus dem Nähkästchen plaudern. Er schien ein sehr loyaler und gewissenhafter Butler mit einer fast unmenschlichen Gelassenheit zu sein, als könnte ihn rein gar nichts erschüttern. Darum fragte Simon auch direkt „Sind Sie Engländer?“ „Ja, ich bin in Brighton aufgewachsen“, bestätigte Anthony etwas überrascht und wollte wissen „Haben Sie etwa meinen englischen Akzent bemerkt?“ „Nö, hab nichts dergleichen gehört“, antwortete Simon und nahm noch einen Bissen von seinem Steak. „Ich hab halt eine ziemlich gute Beobachtungsgabe.“ Der Butler lachte herzlich und es wirkte für den 21-jährigen nicht danach, als würde Anthony über ihn lachen. Es war kein böse gemeintes Lachen. „Man merkt es Ihnen an, Mr. Cavanaugh. Sie haben sehr gute Augen.“ „Hab ich nicht“, murmelte Simon und seine Stimmung wurde augenblicklich getrübt. „Meine Augen sind das Letzte und ich bin froh, wenn ich sie endlich los bin. Sobald ich das Geld zusammen habe, werde ich die Operation zahlen und endlich normale Augen wie jeder andere Mensch auf der Welt haben. Für die anderen war ich immer nur ein Monster und mehr nicht. Glauben Sie mir ruhig: ich wäre lieber blind, als weiterhin diese Augen zu haben. Denn ein Blinder ist für die Menschen normal.“ „Sie haben es sicherlich nicht leicht gehabt“, stellte der Butler fest, in dessen Stimme leichte Besorgnis und auch ein wenig Mitgefühl zu hören war. Simon nickte und starrte auf sein Essen. Wie oft hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich einfach die Augen auszustechen und nicht mehr länger das Monsterauge von New York zu sein. Doch selbst das hätte ihm nicht geholfen, eine Familie zu finden, die ihn lieben konnte. Er war halt Ausschussware, die keiner haben wollte. Das hatte er schon früh erkennen und akzeptieren müssen. Keiner wollte sich mit einem Kind herumplagen, das so hässliche Augen hatte, die bei so vielen Menschen Angst und Ekel auslösten. „Was ist eigentlich mit Ihnen?“ fragte Simon. „Seien Sie ehrlich: finden Sie meine Augen nicht auch abstoßend?“ Anthony überdachte kurz seine Worte, um eine geeignete Antwort zu finden, bevor er schließlich sagte „Nun, sie sind sehr ungewöhnlich, aber ich muss gestehen, dass ich solch ähnliche Augen schon mal gesehen habe. Mein Vater war nämlich Arzt und hatte auch blinde Patienten behandelt. Und einige von ihnen hatten auch Augen, die manche vielleicht als unnatürlich empfinden würden. Aber ich an Ihrer Stelle würde nicht so leichtfertig sagen, dass Sie lieber blind wären. Blind zu sein ist nicht umsonst eine der größten Ängste der Menschen. Denn kein Sinnesorgan ist für uns so wichtig wie unsere Augen. Und nicht mehr sehen zu können, kann entsetzlich schlimm sein. Aber wissen Sie, es gibt da einen besonderen Spruch: die Augen sind die Spiegel unserer Seele. Das bedeutet, dass sie all das ungefiltert wiedergeben, was wir empfinden. Angst, Freude, Wut… die Augen können nicht lügen. Vielleicht fürchten die Menschen nicht Ihre Augen selbst, sondern die Tatsache, dass sie Sie nicht durchschauen können. Es liegt in der Natur der Menschen, ihr Umfeld zu erfassen und alles verstehen zu wollen. Sie wollen alles wissen, alles durchschauen und alles kontrollieren. Das Neue und Unbekannte macht ihnen Angst, weil sie es nicht beherrschen können. Meiner Meinung nach sind es nicht Sie oder Ihre Augen, die den Menschen Angst einflößt. Es ist die Tatsache, weil sie nicht in der Lage sind, Ihre Seele und Ihr Innerstes zu sehen und zu durchschauen.“ Simon schwieg und im ersten Moment war er versucht, den Kopf darüber zu schütteln, was Anthony gesagt hatte. Es klang für ihn zuerst völlig unsinnig, dass die Menschen ihn nicht seiner Augen wegen mieden, sondern weil sie ihn nicht durchschauen konnten. Aber je mehr er darüber nachdachte, desto mehr musste er zugeben, dass vielleicht etwas dran sein könnte. Bedeutete es vielleicht, dass er deswegen so eine starke Beobachtungsgabe besaß? Weil andere ihn wiederum nicht so leicht anhand seiner Augen durchschauen konnten? Wurde er deswegen als so unmenschlich empfunden? Ach, es änderte sowieso nichts daran, dass er immer noch für alle ein unheimlicher Freak war. Und dieser Job war die einzige Chance, aus seiner Rolle als Monster zu entkommen. Dafür hatte er sich als Petboy verkaufen müssen. Kapitel 3: Der erste Abend -------------------------- Simon verbrachte den Rest des Nachmittags damit, sich weiter in der Villa umzusehen und danach ein wenig in seinem Bett zu liegen und Musik zu hören. Er hatte die letzte Nacht ohnehin nicht gut geschlafen, da die Nachbarn so entsetzlich laut gewesen waren. Sie hatten sich nämlich auf Russisch dermaßen laut angebrüllt, dass der 21-jährige nur noch darauf gewartet hatte, dass gleich geschossen wurde. Er hatte auch schon kurz davor gestanden, ohne Sonnenbrille rüberzugehen und diesen Schreihälsen die Meinung zu geigen und ihnen mit seinen Augen einen gehörigen Schrecken einzujagen, den sie so schnell nicht wieder vergessen würden. Aber jetzt war es ja anders. Hier gab es weit und breit keine störenden Nachbarn, die sich stritten, als würden sie gleich mit Kettensägen aufeinander losgehen. Bis zum Abend hatte Simon ein wenig geschlafen und wurde erst durch den Butler Anthony geweckt, der ihn zum Abendessen rief. Da er zwischendurch in einen ziemlich tiefen Schlaf gefallen war, fühlte er sich dementsprechend noch etwas müde und brauchte eine Weile, um wieder wach zu werden. Immerhin war heute auch sein erster Arbeitstag bei Leron und da musste er fit sein. Vor allem da er ja noch nicht wusste, was dieser so für Vorlieben hatte und wie anstrengend der ganze Spaß werden würde. Und mitten beim Sex einzuschlafen, war sicherlich auch nicht förderlich für seinen Job, den er unter keinen Umständen verlieren wollte. Also entschied er sich, Kaffee zu trinken, auch wenn er das Zeug überhaupt nicht mochte. Aber jetzt brauchte er dringend etwas, um wach zu werden. Nachdem er genug Koffein intus hatte, stärkte er sich ausgiebig und ging dann in sein Zimmer, um das Halsband zu holen, welches zuvor bei seiner Ankunft auf einem der Kopfkissen gelegen hatte. Dabei überlegte er, was er sonst noch anziehen sollte. Vielleicht etwas Passenderes als dieses alte T-Shirt und die kurze Jeans, die auch schon längst ihre besten Tage hinter sich hatte. Kurzerhand entschied er sich für ein schwarzes Top und eine Hose, die auch wesentlich besser aussah. Trotzdem würde er sich bald neue Kleidung kaufen müssen. Da hatte er schon mal eine gute Verwendung für den Bonus, den er bekommen würde. Aber fürs Erste würde er sich wohl damit begnügen müssen. Auch seine Haare, die schon immer diesen unbestimmten Ton zwischen Schwarz und Braun gehabt hatten, frisierte er sich noch mal ein wenig und verbrachte die restliche Zeit mit Musik hören. Zudem hatte er noch etwas, das er vergessen hatte, auszupacken. Aus seiner Sporttasche holte er einen Stoffbeutel hervor, in welchem sich seine Murmelsammlung befand. Selbst nach Jahren, nachdem er mit dem Murmelspiel aufgehört hatte, besaß er sie noch und auch wenn sie rein materiell keinerlei Wert besaßen, waren sie für ihn sein größter Schatz. Er liebte einfach den Anblick dieser schönen bunten Glaskugeln, die unterschiedliche Größen und Farben hatten und die für ihn wie schillernde Schätze waren. Als kleines Kind hatte er ab und zu mal mit Kindern in der Schule auf dem Pausenhof gespielt und dabei eine beträchtliche Menge gewonnen. Zumindest solange sie noch nicht von seinen „Monsteraugen“ erfahren oder sie selber gesehen hatten. Danach hatte niemand mehr mit ihm spielen wollen. Und während die anderen mit ihren Freunden zum Spielen rausgegangen waren, hatte er seine Murmeln gehabt. Sie waren sozusagen seine einzigen Freunde gewesen und mit ihnen verband er viele Erinnerungen. Woher seine Faszination für Glasmurmeln kam, konnte er nicht sagen. Aber wenn er sie so betrachtete und ihre bunten Farben bewunderte, fühlte er sich immer ein wenig besser. Nein, das war noch untertrieben. Er verspürte ein sonderbares Glücksgefühl dabei. Schließlich, als die Uhr 19:30 Uhr anzeigte, hörte er, wie die Eingangstür aufgeschlossen wurde und kurz darauf wieder zufiel. Wahrscheinlich war das Leron. Für einen Moment überlegte Simon, ob er schon hinuntergehen oder doch lieber erst mal warten sollte. Nun, es konnte ja nicht schaden, immerhin begann ja jetzt seine Arbeit als Petboy und auch wenn er nicht genau wusste, wie sich ein Petboy verhielt und was er alles tun musste, dachte er sich, dass es dazugehörte, seinen „Meister“ zu begrüßen. Und wenn er heute halt ein paar Fehler machte, er hatte so etwas ja noch nie gemacht und würde eine gewisse Zeit brauchen, um sich an diese Situation gewöhnen und zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Als er also sein Zimmer verließ und die Treppen zum Erdgeschoss hinunterging, sah er auch schon wie Anthony, der inzwischen seine Butleruniform abgelegt hatte und schlichte und einfache Kleidung trug, in Richtung Haustür ging. „Haben Sie jetzt Feierabend?“ fragte Simon als er ihn sah. „Ja, meine Arbeit für heute ist zu Ende“, antwortete Anthony und nickte ihm zum Abschied zu. „Ich bin morgen ab zehn Uhr statt um acht Uhr da. Mr. Evans ist gerade ins Wohnzimmer gegangen, wenn Sie ihn suchen sollten. Einen schönen Abend noch, Mr. Cavanaugh.“ „Ihnen auch, Anthony.“ Damit hatte sich der Butler nun verabschiedet und verschwand nach draußen, wo die Landschaft bereits in eine malerische Abendröte getaucht war. Als Simon ins Wohnzimmer ging, sah er tatsächlich Leron, der sich auf dem Sofa hingesetzt hatte und gerade mit seinem Handy beschäftigt war. Er sah sehr beschäftigt aus und einen Augenblick lang überlegte Simon, ob er ihn jetzt wirklich stören sollte. Aber dann dachte er sich, dass zumindest eine Begrüßung angebracht wäre. „Guten Abend“, sagte er zögerlich, woraufhin Leron von seinem Handy aufsah und ihn mit seinen haselnussbraunen Augen ansah. Sein Ausdruck hatte zuerst etwas Kühles und Distanziertes, nahm aber ein wenig an Härte ab, als er ihn sah. „Hallo Simon“, grüßte er zurück, woraufhin aber sogleich die Anmerkung erfolgte „In Zukunft denkst du aber daran, mich „Meister“ zu nennen, wenn du mich grüßt, ja?“ „Entschuldigt, Meister“, korrigierte sich Simon sogleich. „Ich bin noch sehr unerfahren als Petboy.“ „Dann wollen wir das mal ändern. Da heute dein allererster Tag ist, werde ich noch nachsichtig mit dir sein. In Zukunft zieht das aber entsprechende Konsequenzen mit sich, hast du verstanden?“ Simon nickte und sah, wie Leron nun das Handy beiseitelegte, seine Krawatte ablegte und zwei Knöpfe seines Hemdes öffnete. Er winkte Simon näher zu sich heran und musterte ihn genau, sodass sich der 21-jährige für einen Augenblick so vorkam, als wäre er ein Stück Vieh auf dem Markt, das zum Verkauf angeboten wurde. „Dann erzähl mal, in welchen Bereichen du schon Erfahrungen hast.“ Etwas unschlüssig zuckte Simon mit den Achseln, denn so ganz wusste er nicht, was für eine Antwort Leron von ihm erwartete. „Naja Anal- und Oralsex eben halt.“ „Gruppensex?“ „Nein, bin ich nicht so dafür.“ „Fisting?“ „Schon ein paar Male gemacht.“ „Bondage?“ „Ein Mal... allerdings eher ungewollt.“ „Rollenspiel?“ „Eher oberflächlich.“ „Sextoys?“ „Noch nie aber ich kenne ein paar.“ „SM?“ „Nicht direkt.“ „Dirty Talk?“ „Keine Ahnung, hab davon noch nie gehört.“ „Doppelte Penetration?“ „Geht so was überhaupt bei Analsex??“ „Also ist das ein Nein. Schon mal vor jemandem masturbiert?“ „Äh was?“ Simon ärgerte es selbst, dass er fast alle Fragen verneinen musste und er fragte sich, ob das etwas Negatives für Leron war oder ihn veranlassen konnte, aufgrund dieser mangelnden Erfahrung den Vertrag wieder aufzulösen. Das durfte unter keinen Umständen passieren. Also warf er noch hastig hinterher „Aber ich kann mich damit vertraut machen und das alles nachholen.“ Ein leises Seufzen war von Lerons Seite zu vernehmen und zunächst sah es fast danach aus, als sei der 31-jährige genervt, aber er schien stattdessen eher nachzudenken und meinte schließlich „Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich wollte lediglich wissen, wo du noch Training brauchst.“ „Ach so“, murmelte Simon. „Werden all diese Dinge etwa Teil des Trainings sein, Meister?“ „Nicht alle, nur ein paar davon. Und heute fangen wir mit dem ersten Teil des Trainings an.“ Damit erhob sich Leron und holte etwas hervor, das wie eine Leine aussah. Diese befestigte er an Simons Halsband und zog daran, wobei er ihn anwies „Komm mit.“ Mit einem „Ja, Meister“, folgte Simon Leron und fragte sich, was wohl gleich auf ihn zukam. Mit Sicherheit irgendetwas von den Dingen, die Leron gefragt hatte. Na hoffentlich kam es nie zu so etwas wie Gruppensex oder doppelte Penetration. Ersteres war für ihn sowieso ausgeschlossen und das zweite konnte er sich auch unmöglich vorstellen, vor allem weil er sich fragte, ob das überhaupt möglich war, ohne sich dabei gleich schlimme Verletzungen zuzuziehen. Hatte er sich vielleicht in seiner Einschätzung geirrt was Leron betraf? Nein, er durfte sich jetzt nicht verrückt machen. Er hatte schon so einigen kranken Scheiß auf dem Straßenstrich erlebt, da sollte ihn doch eigentlich nichts so schnell erschüttern. Und er hatte für den absoluten Notfall immer noch das Slowword und das Safeword. Sie betraten ein Zimmer, welches ähnlich wie Simons Zimmer eingerichtet war. Nur waren die Möbel aus dunklem Holz und der Boden war in der gleichen Farbe gehalten. Es gab eine Art Trennwand zwischen dem Schlafbereich und der riesigen Badewanne, in der gut zwei Leute Platz hatten. Die Wanne war in einer Art großen Holzverkleidung eingelassen und auf dem Rand waren dekorative Kerzen hingestellt worden und im Boden gab es LED-Lampen. Das Licht in diesem Raum war dezent gehalten und es gab hier ein paar kunstvolle Holzfiguren. Etwas weiter rechts führte eine Schiebetür in ein eigenes Badezimmer. Zwar konnte Simon nicht alles sehen, aber es gab dort Waschbecken, Spiegel und vermutlich auch WC und Dusche. Das Ganze wirkte fast schon wie eine Art Fünfsterne-Hotelzimmer. Leron setzte sich aufs Bett und wies Simon an, sich auszuziehen. Dazu nahm er ihm die Leine wieder ab. Gehorsam folgte Simon der Anweisung und legte seine Kleidung ab, bis er nackt vor Leron stand. Wieder musterten ihn die haselnussbraunen Augen des Geschäftsmannes mit einem regen Interesse und den Blick auf seinem nackten Körper zu spüren, erfüllte Simon mit einem merkwürdigen Gefühl. War er etwa… aufgeregt? Das war doch verrückt. Er hatte es schon so oft mit Fremden getan, da sollte so etwas doch inzwischen Routine sein. Und trotzdem begann sein Herz wie verrückt zu schlagen. Schließlich wurde er aufs Bett befördert und Leron beugte sich über ihn. Er spürte, wie eine Hand über seine nackte Brust streichelte und dann beugte sich Leron zu ihm herunter und küsste ihn. Das kam für Simon etwas überraschend, denn auch wenn er schon mit vielen Männern verkehrt hatte, war dies das erste Mal, dass jemand ihn küsste. Doch die überraschte Starre hielt nicht lange an und er erwiderte den Kuss. Er spürte, wie eine warme, feuchte Zunge die seine umspielte und ihn herausforderte, noch weiter zu gehen und es nicht bei einem einfachen Kuss zu lassen. Simon ließ sich leicht aus der Reserve locken und ließ sich auf dieses Spiel ein. Auch wenn er nicht viel Erfahrung in Zungenküssen hatte, konnte er dennoch sofort sagen, dass Leron verdammt gut küssen konnte. Er war forsch, dominant und unnachgiebig. Und doch steckte da eine unbeschreibliche Leidenschaft dahinter. Simon war so von diesem wilden und gierigen Kuss vereinnahmt, dass er erst wenig später bemerkte, dass seine Handgelenke aufs Bett gedrückt wurden und als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten, holte Leron aus einer Schublade der Kommode neben seinem Bett Lederhandschellen hervor und fixierte damit Simons Handgelenke vor dem Körper, statt auf dem Rücken. „Ich denke, für den Anfang ist das ein guter Einstieg. Man soll das Beste ja nicht gleich vorwegnehmen. Dreh dich auf den Bauch, zieh die Beine an und streck deinen Hintern hoch.“ Simon gehorchte und ahnte, was jetzt folgen würde. Und auch wenn das wirklich nichts Neues für ihn war, mit einem anderen Mann zu schlafen, war ihm dennoch so, als wäre irgendetwas anders. Auch wenn er nur ein bezahlter Petboy war, aber diese Atmosphäre hier hatte nichts von diesen schmuddeligen Hinterhöfen und Absteigen, wo er seine Kunden jedes Mal befriedigt hatte. Doch ob es nur daran lag, war schwer zu sagen. Sogleich spürte er, wie eine Hand nun damit begann, seinen Po zu kneten, woraufhin er dann auch schon einen Finger spürte, der sich vorsichtig durch seinen Schließmuskel drückte und sich seinen Weg tiefer in sein Innerstes suchte. Diese Art der Berührung war nichts Ungewohntes für Simon und er blieb ruhig, selbst als ein zweiter Finger hinzukam und Leron nun damit begann, seinen Schließmuskel zu dehnen und seine Finger in Simons After zu bewegen. „Dafür, dass du schon viel Erfahrung mit Analsex hast, bist du ganz schön eng.“ Simon sagte nichts und presste die Lippen zusammen. Als er aber spürte, wie ein ganz empfindlicher Nerv getroffen wurde, der einen leichten Schauer der Lust über seinen Rücken jagte und ihn leise aufkeuchen ließ, erahnte er bereits Lerons Lächeln und er konnte es deutlich heraushören, als dieser bemerkte „Na da habe ich ihn ja schnell gefunden.“ Bevor er etwas sagen konnte, spürte er, wie Leron wieder diese ganz besondere Stelle berührte. Der 21-jährige krallte seine gefesselten Hände in den Kissenbezug, während seine Erregung immer stärker wurde. Es fühlte sich so gut an, wenn Leron das tat und das hatte er nur sehr selten gehabt, dass ihm allein schon bei so einer Berührung eine solche Lust bereitet wurde. Aber es mochte auch daran liegen, weil es bei seinem Job nie dazu gekommen war, dass jemand sich sonderlich darum geschert hatte, dass auch er seinen Spaß dabei hatte. Ohne es zu wollen, streckte er sich Leron weiter entgegen, damit dessen Finger noch viel tiefer in ihn eindringen konnten. Simon bemerkte, dass sein Herz schneller zu schlagen begann. Immer und immer wieder wurde sein Körper von einer erneuten Welle der Erregung erfasst, während Leron seine Prostata streifte und ihm diese starken Lustschauer bescherte. Doch es war nicht genug, das wusste er. gleich Um wirklich zum Höhepunkt zu kommen, brauchte es schon etwas anderes als nur zwei Finger. „Meister...“ sprach er und wandte sich zu Leron um, doch dieser drückte seinen Kopf aufs Kissen und nahm ihm somit die Möglichkeit, ihn anzusehen. „Na, wie hast du es denn gerne?“ fragte dieser herausfordernd. „Etwa von hinten oder doch lieber von vorne? Willst du, dass ich es dir hart besorge?“ Simon ahnte, dass Leron von ihm eine Antwort erwartete und auch das war er eher nicht gewohnt, dass er selber gefragt wurde, wie er es am liebsten hatte. Es bereitete ihm ein merkwürdiges Gefühl und er verstand nicht wieso. Die ganze Art und Weise, wie Leron mit ihm umging, war ihm zwar vertraut, doch sie unterschied sich dennoch von seinen anderen Freiern, die er in der Vergangenheit hatte. Er war zwar sehr dominant und ließ ihn auch spüren, dass er ihm allein schon körperlich überlegen war, aber etwas in Simons Hinterkopf verriet ihm, dass Leron mehr tat, als nur Dominanz auszuüben. Es schien auch eine gewisse Zärtlichkeit darin zu stecken. Als wollte er darauf abzielen, dass auch sein Petboy Vergnügen bei diesem Spiel hatte. Und das war es, was ihm so merkwürdig erschien. „Ich... ich hab es lieber von hinten“, gestand er, allerdings wurde er von einem lustvollen Aufschrei unterbrochen, als ein besonders heftiger Lustschauer durch seinen Körper jagte und es ihn unmöglich machte, sich zurückzuhalten. „Dann bettle darum“, forderte Leron sogleich. „Ein guter Petboy bittet seinen Meister um Befriedigung, nicht umgekehrt. Er überlässt ihm die volle Kontrolle über seinen Körper und es ist ihm nicht gestattet, ohne dessen Erlaubnis zum Höhepunkt zu kommen. Merke dir also gut, dass du nichts ohne meine ausdrückliche Erlaubnis tun darfst. Ansonsten werde ich dich strenger erziehen müssen. Hast du verstanden?“ „Ja, Meister“, keuchte Simon und spürte, wie stark seine Erregung inzwischen war. Sein Glied war inzwischen steif und das Blut begann kräftig zu pulsieren. Sein Körper verlangte nach mehr und er wusste, dass er dem nicht lange mehr standhalten konnte, wenn Leron so weitermachte. Doch der schien es offenbar darauf anzulegen, ihn so weit zu treiben, dass er in so eine Lage geriet, in der er nichts sehnlicher wollte, als die befreiende Erlösung. Für einen Moment war er sogar fast in Versuchung geraten, selbst Hand anzulegen, doch Leron ließ das gar nicht erst zu und hielt seine gefesselten Handgelenke fest. „Was sollte das gerade werden?“ fragte er streng. „Habe ich dir nicht gesagt, dass du ohne meine Erlaubnis nichts tun darfst? Ich werde dir das noch mal ganz ausdrücklich sagen: als mein Petboy wirst du dir nicht einmal einen runterholen, wenn ich es dir nicht sage. Dein Körper gehört mir und der Einzige, der dich vor Lust stöhnen oder schreien lässt, bin allein ich. Genauso wie ich auch der Einzige bin, der dich zum Orgasmus bringt.“ Damit entfernten sich Lerons Finger aus Simons After und kurz darauf ertönte ein klatschendes Geräusch, dem ein leicht brennender Schmerz folgte, als Leron ihm zur Strafe auf dessen Gesäß schlug. Simon ließ einen halb erschrockenen halb schmerzerfüllten Laut vernehmen, während Leron ihn weiter auf diese Weise für seinen Fehltritt züchtigte. Es tat zwar weh und Simon spürte, wie die Stellen, wo Leron ihn geschlagen hatte, glühten, aber es tat nicht unangenehm weh. Dem Schmerz und der Demütigung mischte sich auch Lust hinzu und für einen Moment erwischte er sich bei dem leisen und flüchtigen Gedanken, dass es ihm sogar gefiel und es ihn erregte. Doch diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Er wurde doch nicht geil davon, dass man ihn demütigte und ihm den Hintern versohlte. Und da diese Schläge nicht aufhörten und sein Hintern sich nach einer Weile auch ziemlich wund anfühlte, erkannte er wohl, dass es erst aufhören würde, wenn er sich entschuldigte. Also rief er unter den klatschenden Geräuschen der Schläge „Verzeiht mir, Meister. Ich werde es nie wieder tun.“ Und damit endete diese Bestrafung. „Du willst es dir also unbedingt selbst besorgen, wie?“ fragte Leron, der offenbar immer noch ein wenig eingeschnappt war, dass Simon sich in einem unbedachten Moment selbst befriedigen wollte. „Wenn du es unbedingt so haben willst, dann bekommst du es auch. Als Strafe dafür werde ich es nicht bei einem sanften Einstieg lassen. Ein so unerfahrener Petboy gehört von Anfang an richtig erzogen und bei dir wird wohl einiges an Erziehung nötig sein. Bleib wo du bist!“ Während Simon weiter auf dem Bett kauerte, ging Leron zu einer Kommode etwas weiter weg hin und öffnete eine der Schubladen. Er kam mit etwas zurück, das der angehende Petboy als einen Dildo identifizierte. Insgeheim schluckte er, denn er hatte noch nie mit Sexspielzeug zu tun gehabt und hatte nun auch keine Ahnung, was Leron jetzt mit ihm vorhatte. „Wenn du es dir unbedingt selbst machen willst, dann bekommst du auch die Gelegenheit dazu“, erklärte der Unternehmer und Simon beschlich eine gewisse Vorahnung, was gleich folgen würde. Mit einer gewissen Nervosität beobachtete er, wie Leron näher kam und eine kleine Tube Gleitgel herauszuholen. Dann begann er die Oberfläche des Dildos damit zu bestreichen, bevor er auch Simons Anus damit bestrich. Der Brünette atmete tief durch und entspannte seinen Körper. Kurz darauf spürte er auch schon, wie ein deutlich stärkerer Druck auf seinen Schließmuskel ausgeübt wurde und dieser nun deutlich stärker gedehnt wurde als zuvor. Dieses Gefühl, etwas Kaltes und Lebloses in sich zu haben, war erst unangenehm und es fühlte sich seltsam an. Es war kein Vergleich zu einem richtigen Penis. Doch es fühlte sich erstaunlicherweise nicht so künstlich an, wie er immer gedacht hatte und die Kälte schien auch erst mal nur vom Gleitgel herzukommen. Nachdem er sich an dieses anfängliche Gefühl einigermaßen gewöhnt hatte, spürte er, wie der Dildo noch tiefer eindrang und dann durchfuhr plötzlich eine starke Vibration sein Innerstes, gefolgt von einem monotonen Summen. Simon stöhnte laut auf und verkrallte seine Hände in das Kissen und sah für einen kurzen Moment kleine Sterne vor seinen Augen explodieren. „Da deine Hände gefesselt sind, kannst du ihn nicht wieder herausnehmen“, erklärte Leron ihm mit ruhiger, aber dennoch dominanter Stimme. „Also bleibt dir nur eines, was du tun kannst.“ Simon presste die Lippen zusammen und haderte noch ein wenig mit sich. Er realisierte, dass er nicht drum rum kam, Leron um Erlaubnis zu bitten, sich selbst Erleichterung zu verschaffen. Doch sein Stolz hinderte ihn auch ein Stück weit daran. Um Sex zu betteln, das war eine Sache, das verlangten seine Kunden eben halt von ihm. Aber darum zu betteln, sich einen runterholen zu dürfen? Das hatte noch keiner von ihm erwartet. Doch nun war er kein einfacher kleiner Stricher mehr, sondern ein Petboy. Und da gehörte so etwas eben dazu. Dieser Job war seine einzige Chance, also musste er sein Bestes geben, um Leron zufriedenzustellen. „Bitte, Meister“, begann er deshalb. „Erlaubt mir bitte, dass ich mir einen runterholen darf.“ „Schon besser“, meinte der Unternehmer und entfernte sich vom Bett. Er ging zu seinem Schreibtisch und holte einen Stuhl herbei und nahm Platz. „Nun gut, da du so brav gefragt hast, gebe ich dir meine Erlaubnis. Allerdings nur unter der Prämisse, dass ich auch alles sehen kann.“ „Ja, Meister.“ Um dem Wunsch seines Meisters nachzukommen, nahm Simon eine etwas andere Position ein. Er kniete sich auf dem Bett direkt gegenüber Leron hin und legte seine Hände um seinen Penis, der inzwischen hart wie ein Stein war und leicht zuckte. Dieses monotone Surren vom Vibrator wirkte schon fast hypnotisch und das Denken fiel Simon schwer. Diese starken Vibrationen machten es ihm fast unmöglich, seine Gedanken zu sortieren und er hatte das Gefühl, als würde er die Kontrolle über sich selbst verlieren. Doch selbst als er damit begann, sich selbst zu befriedigen, bemerkte er, dass es immer noch nicht ganz zu reichen schien. Der Vibrator alleine würde nicht helfen. Simon sah auf und wieder waren da diese Augen, die auf ihn ruhten. Diese haselnussbraunen Augen, die so eine Tiefe hatten und trotzdem so unergründlich schienen. Zu wissen, dass Leron sah, was er tat und dass sein Blick allein auf ihn gerichtet war, steigerte sich seine Erregung noch weiter und er konnte förmlich spüren, wie dieser Blick auf seinen nackten Körper haftete, auf seinen intimsten Bereich und die Scham, die ihn dabei überkam, während er sich vor seinen Augen selbst berührte und unter lustvollem Keuchen sein Glied massierte und der vibrierende Dildo ihn noch zusätzlich stimulierte. Und als er die Augen schloss und alles um sich herum ausblendete, da war ihm so, als würde Leron sich wieder über ihn beugen, ihn küssen und dann seinen Oberkörper liebkosen. Es waren nicht mehr seine Hände, die da seinen Penis streichelten und seine Hoden massierten, sondern es waren Lerons Hände. Seine Fantasie ging noch weiter, als er sich vorstellte, wie dieser ihn aufs Bett niederdrückte und in ihn eindrang, ihn unerbittlich auf dem Bett festnagelte und ihn vor Lust und süßer Qual laut stöhnen ließ, während er tief und hart zustieß. „Ah… ich…“, keuchte Simon, der nun dabei war, sich völlig in diesen Fantasiebildern zu verlieren und dabei das hier und jetzt zu vergessen drohte. Etwas in ihm wusste, dass er sich zusammenreißen musste. Leron hatte ihm eingeschärft, nicht ohne seine ausdrückliche Erlaubnis zum Höhepunkt zu kommen. Doch sein Körper wollte nicht hören. Er war dem befreienden Orgasmus schon so nah, warum also sollte er sich von so etwas denn aufhalten lassen? Aber letztendlich schaffte es sein Kopf, sich gegen sein körperliches Verlangen durchzusetzen. „Meister“, keuchte er und sah Leron beinahe schon flehend an. „Bitte… lasst mich kommen.“ Lerons Augen hatten sich nicht eine Sekunde von Simon gelöst und ein zufriedenes Lächeln spielte sich auf seine Lippen. Er sah zufrieden aus. „Du darfst“, sagte er nur und kaum dass diese Worte ausgesprochen waren, bewegten sich Simons Hände fester und schneller und dann schließlich, mit einem allerletzten Aufbäumen, wurde die Welt für ihn für einen kurzen Augenblick in ein tiefes Schwarz getaucht, wo grelle Sterne explodierten, als er endlich zu seinem Orgasmus kam. Kapitel 4: die zweite Runde --------------------------- Keuchend lag Simon zusammengekauert auf dem Bett, während sein Herz immer noch wie verrückt in seiner Brust hämmerte. Ihm war schwindelig und er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Immer noch sah Leron ihn an und schien sein Vergnügen daraus zu ziehen, was sich ihm bot. Ihn zufrieden zu sehen, sorgte für eine gewisse Erleichterung bei Simon, denn das war doch ein gutes Zeichen, dass er seine Sache als Petboy bis jetzt gut gemacht hatte. „Das war ja eine sehr hübsche Show, die du geboten hast“, lobte Leron ihn. „Aber dein Training ist noch nicht vorbei, Simon. Es hat gerade erst angefangen.“ Damit erhob sich der 31-jährige und zog nun den Dildo aus Simons After, nachdem er ihn ausgeschaltet hatte. Das Spielzeug legte er erst mal beiseite. „Ein Petboy ist wie das persönliche Haustier seines Meisters. Und als solche müssen sie gut erzogen sein, ansonsten tanzen sie ihrem Meister nur auf der Nase herum. Und da du auf vielen Gebieten recht unerfahren bist, werde ich die nächsten Tage nutzen, um dich richtig zu erziehen. Wir gehen das alles Schritt für Schritt an.“ „Und was genau wird davon alles Teil des Trainings sein?“ fragte Simon etwas vorsichtig und immer noch etwas schwer atmend. „Fast alle Punkte, die ich vorhin abgefragt habe“, erklärte der Unternehmer und trat nun näher an Simon heran. „Lediglich Gruppensex und doppelte Penetration würde ich ausschließen. Ich teile mein Eigentum nicht gerne mit anderen und was das zweite betrifft: wenn man keine Übung darin hat, führt das nur zu Verletzungen und verletzt nützt mir ein Petboy nichts. Du darfst dich also auf ein sehr abwechslungsreiches Training einstellen.“ Simon nickte, aber ihn beschäftigte etwas ganz anderes. Etwas, das ihm nicht ganz klar war. „Was genau ist denn eigentlich der Unterschied zwischen einem Sexsklaven und einem Petboy?“ „Im Grunde eigentlich keiner“, gab Leron zu. „Ein Petboy ist eine Art spezielle Kategorie der Sexsklaven. Es geht in erster Linie um den Fetisch, ein menschliches Haustier zu haben.“ Aha, dachte sich Simon. Der gibt also selber zu, dass er einen echt üblen Fetisch hat. Aber dennoch wollte er es genauer wissen, auch wenn seine Frage etwas direkt sein würde. „Und wolltet Ihr mich deswegen als Petboy, Meister?“ Nun streckte Leron eine Hand aus, legte sie auf Simons Wange, die immer noch von Hitze gerötet war und hob sein Kinn ein wenig an, um ihm direkt in die Augen sehen zu können. Etwas sehr zärtliches steckte in dieser einfachen Geste. „Ich hatte schon als Kind eine große Schwäche für Tiere“, erklärte er. „Und ich hatte mir als Kind immer ein Haustier gewünscht. Für mich gibt es Unterschiede zwischen „Petboy“ und „Sexsklave“. Ein Petboy ist, wie ich schon gesagt habe, wie ein menschliches Haustier. Man muss ihn erziehen, für ihn sorgen und sich gut um ihn kümmern. Ein Sklave hat in allererster Linie nur für das Wohl seines Meisters zu sorgen und zieht seine Befriedigung allein daraus, seinem Meister dienen zu dürfen. So jemanden brauche ich nicht. Ich habe genug solcher Leute in meinem Umfeld.“ Zwar sprach Leron nicht weiter, aber Simon verstand trotzdem, worauf der Unternehmer hinauswollte: er brauchte niemanden, der ihn umsorgte. Er brauchte jemanden, um den er sich kümmern konnte. Für einen Moment empfand Simon Mitleid mit ihm, denn wenn dieser sich extra dafür einen kleinen Stricherjungen von der Straße holte und ihn zu seinem Petboy machte, musste er sicher ziemlich einsam sein. Und sein Mitleid wurde vor allem dadurch gestärkt, weil das Gefühl ebenso kannte, wenn man ganz alleine war und niemanden hatte. Diesen Zustand kannte er zu genüge und darum konnte er auch nachfühlen, wie es Leron gehen musste. Doch dann verdrängte er diesen Gedanken schnell wieder. Gefühle wie diese waren unangebracht, vor allem weil Leron nicht irgendjemand war, sondern sozusagen sein Arbeitgeber. Er hatte seinen Körper an ihm verkauft, deshalb war es besser, so etwas wie Mitgefühl gar nicht erst zuzulassen. Vor allem nicht, weil er in Lerons Augen eh nur ein Petboy war, mit dem er seinen Spaß haben konnte. Er war allein deswegen hier, um mit ihm zu schlafen und ihm seine sexuellen Fantasien zu erfüllen. Wenn es danach ginge, hätte er mit vielen seiner Freier Mitleid haben müssen, weil diese ein so verkorkstes Leben hatten, dass sie sich jemanden vom Straßenstrich holen mussten. Nein, in seinem Beruf überlebte man auf Dauer nur, wenn einem die Sorgen der Leute am Arsch vorbeigingen und man einen Scheißdreck auf die Misere der anderen gab. Sein eigenes Leben war doch auch keinen Deut besser und ihn bemitleidete niemand. Warum also sollte er es denn tun? Doch als Lerons Hand zärtlich über seinen Kopf streichelte, da gerieten seine Gedanken für einen Augenblick ins Wanken. Diese Geste brachte ihn ganz aus der Fassung und er wusste sie nicht einzuordnen. „Habe ich deine Fragen damit beantwortet?“ „Ja, Meister“, antwortete Simon und versuchte sich zusammenzureißen. Er durfte sich nicht von irgendwelchen Gefühlen durcheinanderbringen lassen! Vor allem nicht von einem Bonzen, der obendrein noch zehn Jahre älter war. „Gut, dann können wir ja weiter fortfahren.“ Damit legte Leron sein Hemd ab und enthüllte seinen Oberkörper. Er war zwar nicht muskulös und absolut durchtrainiert wie ein Spitzensportler, dennoch hatte er eine gute Figur und Simon musste zugeben, dass er wirklich nicht schlecht aussah. Nun, er hatte aber auch schon viel gesehen. Und teilweise waren seine Freier alles andere als Schönheiten gewesen. Am Anfang hatte er sich deswegen auch sehr gesträubt, aber irgendwann lernte man, das Äußere komplett auszublenden. Aber das hier war anders. Er hatte einen gut gebauten Milliardär vor sich, der vor allem so faszinierende Augen hatte. Die Augen waren es, die Simon schon recht früh in ihren Bann gezogen hatten. Ein haselnussbraun, vermischt mit einem leichten Hauch von grün. Doch das war nicht das Einzige, was ihn daran so verzauberte. Es war dieser Ausdruck in den Augen, der ihn jedes Mal fesselte, wenn er in sie hineinsah und aus irgendeinem Grund musste er dann an zwei wunderschöne Glasmurmeln denken, die in ihrem Kern diese Farbe in sich trugen und die ihm dieses besondere Glücksgefühl gaben, wenn er sie betrachtete. Aus diesem Grund wusste er aus einer tiefen Gewissheit, dass Lerons Augen die schönsten waren, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Diesen Glanz, den sie in sich trugen, erinnerte ihn auch ein Stück weit an sich selbst. Auch sie kannten die Traurigkeit, die Einsamkeit, die Wut und die Verschlossenheit des eigenen Herzens. Für einen Moment war Simon so gebannt von diesen Augen, dass er alles um sich herum vergaß. Erst als er Lerons Lippen wieder auf den seinen spürte, kehrte er wieder ins eigentliche Geschehen zurück und erwiderte den Kuss. Doch Leron beendete den Kuss sogleich wieder und drehte Simon auf den Bauch. Kurz darauf hörte der 21-jährige das Geräusch eines Reißverschlusses und er wusste, was jetzt kommen würde. Rein aus einem Reflex heraus schloss er die Augen und blendete in seinem Kopf alles um sich herum aus. Es war eine jahrelange Übung für ihn, den Kopf einfach auszuschalten und einfach für diesen Moment zu verdrängen, was da gerade geschah. So war es leichter für ihn, solche Dinge hinzunehmen und langfristig zu ertragen. Es lief schon fast automatisch bei ihm ab und machte seinen Job wenigstens ein bisschen erträglicher. Doch etwas in ihm sagte ihm wiederum, dass er das nicht brauchte. Bei seinen normalen Freiern wäre das gegangen, weil er sie sowieso für gewöhnlich verachtete und sie ihn auch anwiderten. Doch jetzt war es anders. Zwar verkaufte er in diesem Moment genauso seinen Körper wie zuvor auf der Straße oder in irgendwelchen dreckigen Gassen, aber etwas war nicht so wie bei den anderen. Allein wenn er an Lerons Worte dachte und an seine zärtlichen Berührungen vorhin, da erschien es ihm nicht richtig, ihn genauso zu behandeln wie seine anderen Freier. Er sollte zumindest dieses eine Mal nicht komplett seinen Kopf abschalten und es nur „über sich ergehen lassen“, wie bei den anderen. Das war nur fair nach dem, was Leron bis jetzt für ihn getan hatte. Vor allem weil dieser ihn geküsst hatte, obwohl seine abnormalen Augen für gewöhnlich nur Ekel und Beklemmung bei anderen Menschen auslösten. Ein Grund, warum er es sich angewöhnt hatte, sich immer von hinten durchnehmen zu lassen. Also löste er diese errichtete Blockade in seinem Kopf wieder und richtete sich auf, sodass er nun auf allen Vieren auf dem Bett kauerte und darauf wartete, dass Leron in ihn eindrang. Und lange brauchte er nicht zu warten. Erneut wurde ein starker Druck ausgeübt, als sein Schließmuskel noch stärker als zuvor schon gedehnt wurde. Eine unbeschreibliche Hitze durchflutete sein Innerstes, gefolgt von einem immensen Druck, als Lerons Glied immer tiefer in ihn eindrang. Simon keuchte leise auf und sein Oberkörper bäumte sich auf. Er spürte die pulsierende Hitze und wie Lerons Penis durch diese immense Stimulation weiter anschwoll. Sein Atem wich kurz einem geräuschvollen Keuchen, als sich auch schon zwei kraftvolle Hände um seine Hüften legten und sie festhielten. „Du bist wirklich ziemlich eng“, bemerkte Leron. „Dein kleiner Arsch verschlingt mich ja richtig…“ Simon sagte nichts dazu. Er begann sich auf seine Unterarme zu stützen, um Leron seinen Po noch weiter entgegenzustrecken und ihm dadurch die bestmögliche Position zu bieten. Und als wäre das genau die richtige Reaktion gewesen, spürte er, wie eine Hand sich von seiner Hüfte löste und zärtlich über seinen Rücken streichelte. So als wäre dies eine wortlose Art zu sagen „Genauso will ich das haben. Das machst du sehr gut.“ Langsam begann sich Leron wieder aus Simons After zurückzuziehen. Gerade mal so weit, dass er wieder tief in ihn eindringen konnte. Durch das Gleitgel und der Vorbereitung mit dem Dildo klappte es problemlos und da Simon schon längst keine Jungfrau mehr war, spürte er auch keinerlei Schmerz. Stattdessen durchfuhr ihn ein heißer Schauer, als Leron wieder diesen ganz besonderen Punkt streifte, der seinen Körper die Tatsache komplett vergessen ließ, dass er gerade erst einen Orgasmus gehabt hatte. Stattdessen spürte er, wie sich seine Erregung immer weiter steigerte und er wieder hart wurde. Er keuchte und versuchte, seine Sinne beisammen zu halten, doch das wurde ihm gänzlich unmöglich gemacht. Immer und immer wieder traf Leron diesen einen ganz besonderen Punkt und seine harten und tiefen Stöße trieben seinen Verstand nach und nach an seine Grenzen und diese Reizüberflutung war zu viel für ihn, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Sein Körper wurde von intensiven Schauern der Lust ergriffen und Simon spürte, wie ihm heiß wurde. Sein Herz hämmerte in seiner Brust und das Blut begann in seinen Adern zu pulsieren. Er konnte es selbst nicht glauben, wie gut sich das anfühlte. Noch nie in seinem Leben hatte er sonderlich viel bei Analsex gefühlt. Zwar hatte er hin und wieder mal ein gewisses Vergnügen dabei gehabt, aber das hier war kein Vergleich. Leron war nicht nur gut im Küssen, er war auch verdammt gut im Bett. „Ah… aaah…“ Simon verlor die Kontrolle über seine Stimme und seine Lustschreie erfüllten den Raum. „Es gibt keinen Grund, sich zurückzuhalten“, hörte er Leron sagen. „Wir sind hier ganz alleine und es gibt hier weit und breit niemanden, der uns hören würde. Also lass mich mehr von dir hören.“ „J… ja Meister“, keuchte er, doch sein Kopf war kaum noch in der Lage, irgendwelche Informationen zu verarbeiten. Sein Körper wollte mehr und befand sich wie in einer Art Rausch. Sein Verstand war wie in einer Art dichten Nebel gehüllt und sein Körper schien seinem eigenen Willen zu folgen. Er wollte noch mehr und bewegte seine Hüften im Rhythmus von Lerons Stößen. So heiß… ihm war so heiß zumute. Sein Körper schien regelrecht dahinzuschmelzen und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Haut. Unerbittlich und hart stieß Leron immer wieder tief in ihn hinein. Simon spürte, dass er seinen Orgasmus nicht mehr lange zurückhalten konnte, wenn es so weiterging. „M… Meister“, keuchte er. „Ich… ah… ich komm gleich…“ „Noch nicht“, hörte er ihn mit einem leicht mahnenden Unterton an. „Warte noch.“ Schließlich hielt Leron inne und Simon fragte sich, warum er plötzlich mittendrin einfach aufhörte. Doch dann wurde sein Oberkörper hochgezogen und der 31-jährige platzierte seinen Petboy direkt auf seinen Schoß. Durch diese neue Position hatte Simon das Gefühl, als würde Lerons Glied nur noch tiefer in ihn eindringen. Er stöhnte laut auf und verlor für einen Moment seine Kraft und kippte nach hinten. Schwer keuchend lehnte er sich an Leron, der einen Arm um ihn legte, um ihn wohl festzuhalten. Doch dann spürte er, wie zwei Hände über seinen Oberkörper glitten und seine Brust zärtlich streichelten, bis sie seine Brustwarzen umspielten und diese dann zu kneten begannen, während Leron eine besonders empfindliche Stelle an seiner Halsbeuge küsste. „Bewege deine Hüften ein wenig mehr“, wies Leron ihn an. Simon, der seine Gedanken nur mit Mühe zusammenhalten konnte, folgte dem Befehl und begann seine Hüften im Rhythmus zu Lerons zu bewegen. Sein Körper war wie im Feuer. Ihm war, als befände er sich wie im Fieber und er spürte, wie sein Verlangen nach der befreienden Erlösung immer stärker wurde. Er wollte kommen. „Meister“, brachte er unter schwerem, lustvollem Keuchen hervor und biss sich auf die Unterlippe. Er konnte sich nicht mehr länger zurückhalten. Er musste unbedingt kommen. Noch länger konnte er es unmöglich zurückhalten. Eine Hand glitt seinen Körper hinunter zwischen seine Beine und umschloss seinen Penis. Simon hatte alle Mühe, den letzten kläglichen Rest seiner Kontrolle zu bewahren und auf die Erlaubnis seines Meisters zu warten. Doch auch Leron schien sich langsam seinem Limit zu nähern. Sein Atem ging nun auch schwerer und sein Körper fühlte sich so heiß an. „Meister, bitte...“ flehte Simon nun, denn jede Sekunde wurde für ihn umso schwerer. Dann endlich ließ sich Leron doch umstimmen und sagte „Na schön, du darfst kommen.“ Nun setzten sie zum Endspurt an. Lerons Bewegungen wurden immer schneller und trieben Simon immer weiter und unerbittlich an sein Limit. Und dann schließlich war endgültig der Punkt erreicht, wo es für ihn kein Halten mehr gab. Vor seinen Augen explodierten grelle Sterne und für einen Moment war ihm fast so, als würde er für einen kurzen Augenblick sogar ohnmächtig werden, als er zu seinem Orgasmus kam. Leron betrachtete den Jungen einen Augenblick, der nach seinem Orgasmus erschöpft aufs Bett niedergesunken war und sich nicht mehr regte. Vorsichtig drehte er ihn auf den Rücken um zu sehen, ob auch alles mit ihm in Ordnung war. Doch Simons Augen waren geschlossen und so wie es schien, war er entweder ohnmächtig geworden, oder einfach eingeschlafen. Nun, er war ihm nicht böse deswegen. Eigentlich sah der Junge doch wirklich süß aus, wenn er schlief. Also nahm Leron ihm erst mal die Fesseln ab und strich ihm zärtlich über die Wange, bevor er sich zu ihm herüberbeugte und ihn küsste. Für ihn stand fest, dass er ihn nicht so schnell gehen lassen würde. Nein, er würde schon dafür sorgen, dass Simon bei ihm blieb und gar nicht mehr von hier weg wollte. Er würde ihm genug Gründe geben, freiwillig bei ihm zu bleiben. Erzwingen wollte er es nur äußerst ungern, denn wenn es etwas gab, was Leron verabscheute, dann war es Gewalt, ganz gleich ob psychischer oder physischer Natur. Nein, er würde Simon weder zwingen noch bedrohen, sondern ihm zeigen, wie gut er es hier hatte. Er würde gut für ihn sorgen und sich um ihn kümmern und nicht zulassen, dass ihm etwas passierte. Doch als er den Jungen betrachtete, der schweißgebadet und erschöpft auf seinem Bett lag, da überkam ihn ein leichter Zweifel. War es überhaupt richtig, was er da tat? War es wirklich die richtige Lösung gewesen, Simon mittels eines Vertrages dazu zu bewegen, zu ihm zu kommen? War das denn nicht auch eine Form des Zwanges? Aber es war die einfachste Art und Weise gewesen, ihn an sich zu binden und zumindest eine sexuelle Beziehung zu ihm haben. Der Rest würde sich mit der Zeit ergeben, dessen war er sich sicher. Trotzdem beschäftigte ihn eine Sache: wozu brauchte der Junge denn so viel Geld und warum brauchte er es denn so dringend, dass er dafür sogar auf dem Straßenstrich anschaffen ging? Drogenprobleme konnten es nicht sein, denn dann wäre Dr. Morris sofort etwas in der Art aufgefallen und hätte es ihm berichtet. Nein, Simon war clean und er wirkte auch nicht danach, als hätte er ein anderweitiges Suchtproblem. Und familiäre Probleme konnten es auch nicht sein, denn der Junge hatte keine Familie. Er war ganz allein, lebte in einem dreckigen Loch und hatte keinen richtigen Job, seit er aus der Schule raus war. Irgendwie passte das nicht so wirklich zusammen, dass er so heruntergekommen und ärmlich lebte und dann noch eine halbe Millionen brauchte. Vielleicht wollte er ja auswandern und ein neues Leben beginnen. Oder er hatte andere wichtige Gründe. Fest stand, dass er auf jedem Fall nachhaken würde, wozu Simon so viel Geld brauchte. Wenn er in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte, dann stand für Leron fest, dass er sich darum kümmern würde. Da Simon immer noch keine Reaktion von sich gab, beschloss Leron, ihn doch lieber schlafen zu lassen. Es war für ihn sicher ein ziemlich aufregender Tag gewesen, da hatte er sich auch diese Ruhe verdient. Vorsichtig hob Leron ihn hoch und staunte, wie leicht der Junge eigentlich war. Er hatte ohnehin bemerkt, dass er sehr schmal und etwas klein geraten für jemanden in seinem Alter war. Vom Aussehen her hätte man ihn auch problemlos für einen 17-jährigen halten können. Einen sonderlich gesunden Eindruck machte er jedenfalls nicht, wahrscheinlich hatte er auch nicht viel Geld gehabt, um sich wenigstens anständig zu ernähren. Dr. Morris‘ Bericht zufolge hatte der Junge auch Untergewicht. Naja, Simon war während seiner Abwesenheit bei Anthony in besten Händen. Immerhin hatte sich dieser auch jahrelang um ihn gekümmert. Schließlich, als Leron Simons Zimmer erreicht hatte, schaffte er es mit etwas Mühe, die Tür aufzubekommen und legte dann den Schlafenden ins Bett und deckte ihn zu. Doch bevor er ging, blieb er noch stehen und betrachtete Simon. Er musste wieder daran denken, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Es waren weiß Gott nicht die besten Umstände gewesen. Wahrscheinlich wäre Simon sogar gestorben, wenn sie sich nicht begegnet wären. Dann war der Junge spurlos verschwunden und Leron hatte überall nach ihm gesucht. Erst durch diese Meldung über den Serienmörder, der es auf Stricher abgesehen hatte, war er wieder auf seine Spur gekommen und hatte daraufhin Privatdetektive auf ihn angesetzt, um mehr über ihn herauszufinden. Schon bevor er von Simons ganzer Geschichte gehört hatte, stand für ihn fest, dass er ihn zu sich holen würde. Er würde schon gut für ihn sorgen. „Schlaf gut. Morgen ist ein neuer Tag…“ Und als Leron vorsichtig eine Haarsträhne aus Simons Gesicht streichen wollte, da bewegte der Schlafende seinen Kopf ein wenig und schmiegte sich an Lerons Hand und ein kleines Lächeln spielte sich auf seine Lippen. Er machte einen sehr glücklichen und friedlichen Eindruck. Kapitel 5: Familienkonflikt --------------------------- Schon seit heute Morgen war Leron schlecht gelaunt, obwohl er besser geschlafen hatte als in den letzten Tagen. Doch heute stand ein besonders unangenehmer Termin an und wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wäre er heute den ganzen Tag im Büro geblieben und hätte niemanden hereingelassen. Dummerweise ließen sich manche Gespräche nicht immer vermeiden und so war er gegen 14 Uhr mit einer innerlichen Zerknirschung in den Konferenzraum gegangen, wo ein untersetzter Mann von knapp 70 Jahren saß, dessen weißes und licht gewordenes Haar ordentlich zurückgekämmt war. Trotz seines stolzen Alters strahlte Lionel Evans immer noch Würde und Erhabenheit aus und hatte nichts von seiner Ausstrahlung als Geschäftsmann eingebüßt. Als Leron den Konferenzraum betrat, schloss er die Tür hinter sich und trat heran, wobei er seinem Vater einen eisigen Blick zuwarf. „Was willst du?“ fragte er kalt und setzte sich seinem Vater gegenüber hin. Wenn sich Lionel hierher bequemte, hatte es meist irgendwelche geschäftlichen oder familiären Gründe. Aber da diesen alten Mann die Familie an sich schon immer egal gewesen war und er Lerons Ansicht nach noch nie wirklich Gefühle gezeigt hatte, hatte sein Besuch nichts Gutes zu bedeuten. Viel eher bedeutete es meist einen neuen Streit zwischen ihnen, weil diesem alten Starrkopf nur seine eigenen Interessen wichtig waren. „Grüßt man so seinen eigenen Vater?“ grummelte Lionel missmutig und sichtlich verstimmt über diesen kaltherzigen Empfang, doch darauf ging Leron nicht ein, sondern sagte nur „Komm zur Sache, warum du hergekommen bist. Ich habe noch andere Dinge zu tun.“ Wie sehr es Leron doch hasste, seinen alten Herrn zu sehen. Dieser Kerl hatte ihn schon seit damals so angewidert, als sich diese Vorfälle ereignet hatten. Nein, es hatte schon vorher angefangen, dass er Verachtung für seinen Vater entwickelt hatte. Und Lionel wusste darüber Bescheid. Doch er hatte sich nie sonderlich darum gekümmert, wenn seine Kinder ihn hassten, solange er nur potentielle Nachfolger für sein Unternehmen hatte. Allerdings passte ihm gerade heute Lerons rebellisches Verhalten nicht und darum beschloss er auch, ihn diesbezüglich anzusprechen. „Du bist gestern nicht zur Jubiläumsfeier erschienen. Ich hatte dir doch ausdrücklich gesagt, dass deine Anwesenheit erforderlich ist, weil wir an diesem besonderen Tag das Familienunternehmen repräsentieren sollten.“ „Ich sehe nicht, warum meine Anwesenheit unbedingt von Nöten war“, erklärte Leron kalt. „Michael und Jordan waren doch da und Jordan hat seine Frau und die Kinder mitgebracht. Das genügt doch.“ „Als Teil der Familie…“ „Komm mir nicht damit!“ unterbrach der 31-jährige ihn sofort und sein Blick war so voller Hass und Verachtung, dass ein Außenstehender, der ihn gesehen hätte, tatsächlich hätte denken können, er würde seinen Vater gleich umbringen wollen. „Als ob dich die Familie jemals interessiert hätte. Du warst doch nie für uns da und wenn, dann nur um Michaels Eskapaden und Skandale vor der Öffentlichkeit zu vertuschen. Du hast es ja damals nicht mal für nötig gehalten, bei Mum zu sein, als sie im Sterben lag. Sie hatte nach dir gefragt gehabt aber du bist sie nie besuchen gegangen.“ „Hältst du mir das immer noch vor?“ fragte Lionel genervt. „Das Ganze ist ewig her und du warst noch ein kleines Kind. Du reitest immer nur auf diesen alten Geschichten herum und wirfst mir mangelndes Familiengefühl vor, dabei hast du aber völlig vergessen, was ich für euch getan habe und was ich alles für die Firma geopfert habe. Deine Mutter wusste, dass ich hart arbeiten musste, damit ihr ein schönes Leben führen konntet. Und nun, da ihr erwachsen seid, erwarte ich auch entsprechende Opfer von euch. Außerdem kannst du dich doch am allerwenigsten beschweren. Ich habe dich in der Villa aufwachsen lassen und dir einen Teil der Firma überlassen, damit du auf eigenen Beinen stehen kannst.“ „Du hast mich ganz alleine in diesem Haus aufwachsen lassen und bist mich nie besuchen gekommen“, wandte Leron ein und schlug mit der Faust auf dem Tisch. „Wo warst du an Geburtstagen oder an Weihnachten? Wann warst du denn je für mich oder für die anderen da? Dir ist es doch immer nur um die Firma gegangen und wenn du an uns mal Interesse gezeigt hast, dann doch nur weil es um die Nachfolge ging. Dass du nicht mal an Mums Sterbebett gestanden und während ihrer schlimmsten Stunden für sie da gewesen warst, das ist eine Sache und das solltest du alleine mit deinem Gewissen vereinbaren. Aber dass du von mir allen Ernstes verlangst, zur Familie zu stehen nach dem, was Michael und Jordan mir damals angetan haben, das…“ „Kommst du mir wieder mit dieser Geschichte? Ja dein ältester Bruder mag ein wenig falsch geraten sein, aber ihr ward damals Kinder!“ „Ich war ein Kind“, protestierte Leron energisch. „Jordan und Michael waren da schon längst keine Kinder mehr und sie wussten genau, was sie getan haben. Und anstatt, dass du etwas unternimmst, schiebst du mich in diese Villa ab und lässt mich ganz alleine aufwachsen ohne wenigstens einmal nach mir zu fragen und erwartest jetzt nach Jahren, dass ich zur Familie stehe? Tut mir leid, aber das mache ich nicht mit. Nicht solange du immer noch Michaels diverse Eskapaden vertuschst, nur weil er seine kranken Fantasien nicht im Griff hat.“ „Deshalb bin ich hier.“ Nun hielt Leron inne, denn das kam selbst für ihn überraschend. Sein Vater war wegen Michael hergekommen? Das war ungewöhnlich, denn normalerweise klärte sein Vater sämtliche Angelegenheiten selbst und er hatte nie eine große Staatsaffäre aus den Familienskandalen gemacht. Selbst wenn Michael jemanden umgebracht hätte, dann hätte Leron seinem Vater durchaus zugetraut, dass dieser ihm dabei noch geholfen hätte, die Spuren zu beseitigen. Darum war er sich auch sicher, dass es etwas Ernstes sein musste. Oder eben etwas sehr Wichtiges, das keinen Aufschub duldete. Deshalb fragte er auch „Was hat er jetzt schon wieder angestellt?“ Doch Lionel winkte nur ab und erklärte „Es ist nicht deshalb. Die Sache ist die, dass ich Ende dieses Jahres endgültig in den Ruhestand treten werde. Und bis dahin will ich einen entsprechenden Nachfolger ernennen. Dein Bruder Michael ist der beste Geschäftsmann von euch dreien und er ist überaus intelligent und geschäftstüchtig. Allerdings mache ich mir wegen seiner ständigen Eskapaden Sorgen. Er gibt das Geld mit vollen Händen für Prostituierte und Callboys aus und hinterlässt dabei einen Saustall, den ich jedes Mal in Ordnung bringen darf, damit nichts von alldem an die Öffentlichkeit dringt. Seine Liebschaften sind immer nur kurzweilig und er hat keine Kinder, obwohl er bereits 42 Jahre alt ist. Und so wie ich die Dinge sehe, wird er wohl nie einen Nachfolger in die Welt setzen. Dein Bruder Jordan hingegen ist verheiratet, hat zwei Töchter… aber er ist kein guter Geschäftsmann. Und für dich wird es langsam auch Zeit, Leron. Du bist schon 31 Jahre alt und immer noch ledig. Es wird allmählich Zeit, dass du endlich deinen Platz in der Familie einnimmst und vernünftig wirst. So langsam aber sicher solltest du eine Heirat in Betracht ziehen und eine Familie gründen.“ Leron zog die Augenbrauen zusammen und blieb ruhig. Er musste sich beherrschen, um ruhig zu bleiben, denn allein die Tatsache, dass sein Vater so etwas wirklich von ihm verlangte, war zu viel. „Ich dachte, wir hätten darüber gesprochen und ich hätte dir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich keine Frau heiraten, geschweige denn mit ihr Kinder in die Welt setzen kann.“ „Natürlich kannst du das“, erwiderte Lionel sofort. „Komm mir nicht wieder mit irgendwelchen Erklärungen und Ausreden. Ich habe dich deine Interessen ja ausleben lassen, solange du noch jung warst, weil ich dachte, es wäre nur so eine Phase. Aber jetzt bist du erwachsen und so langsam solltest du Verantwortung übernehmen. Sowohl für dich selbst, als auch für die Firma und für die Familie. Wir alle müssen unsere Opfer bringen. Und überhaupt: was willst du tun, wenn du so alt wirst wie ich und keine Kinder hast? Wer soll dann dein Unternehmen weiterführen? Ich habe diese Firma nicht aufgebaut, nur um sie für die Schwachsinnsideen meiner Söhne wieder zu verlieren!“ Nun reichte es Leron endgültig. Warum auch hatte er ihn überhaupt hereingelassen? Er hätte doch von Anfang an wissen sollen, dass es nichts bringen würde, mit ihm zu reden. Stattdessen regte er sich doch sowieso nur wieder über ihn auf. Es war doch jedes Mal dasselbe. „Misch dich nicht in mein Leben ein und lass das mal meine Sorge sein, was aus mir wird, wenn ich alt bin und keine Kinder habe. Zur Not adoptiere ich eines, wenn mir der Wunsch nach einem Kind kommen sollte. Aber ich werde sicherlich keine Frau heiraten, nur weil es dem Interesse der Firma dient. Das kannst du gerne Jordan oder Michael erzählen, aber verschone mich bitte damit. Ich werde mein Leben so leben wie ich es will und die Evans Hybrid Technologies hast du meiner Verantwortung überlassen. Regle deine Angelegenheiten wie du es willst, aber verschone mich mit deinem Gerede, ich wäre der Familie auch nur irgendetwas schuldig. Ich bin niemandem etwas schuldig. Weder dir noch irgendjemandem sonst. Du warst nie für mich da, nicht einmal als die beiden mir diese Dinge angetan haben. Und solange du nichts gegen Michaels kranker Sexgeschichten und seinen Eskapaden unternimmst und ihn für das enterbst, was er getan hat, werde ich nicht einen Finger für die Familie krumm machen. Dann erklär doch Jordan zu deinem Nachfolger, wenn er doch so ein Familienmensch ist. Aber ich lasse mir nicht auch noch den Rest meines Lebens vorschreiben. Ich habe es schon damals aufgegeben, irgendetwas von dir zu erwarten, darum sehe ich auch jetzt keine Veranlassung, um dir einen Gefallen zu tun.“ Nun wurde Lionels Miene düster. Zwar hatte er schon vorher einen sehr kühlen und distanzierten Eindruck gemacht, aber nun war sein Blick finster geworden und er faltete die Hände. Er sah aus wie ein alter Bösewicht, der einen grausamen Entschluss gefasst hatte. „Ist dir klar, in welcher Position du hier bist?“ fragte der 70-jährige. „Hast du vergessen, wer dir die Leitung von diesem Unternehmen anvertraut hat?“ „Das brauchst du mir nicht unter die Nase zu reiben“, kam es von Leron, der seinerseits unbeeindruckt blieb. „Aber du hast mich als neuen Inhaber der Evans Hybrid Technologies eingetragen. Mein Anwalt hat das genauestens geprüft: ich habe die alleinige Entscheidungsgewalt über dieses Unternehmen, was also bedeutet, dass ich auf dich nicht angewiesen bin. Ich kann es verkaufen oder verändern wie ich will und du kannst nichts dagegen tun. Du hättest es dir vorher genauer überlegen sollen. Oder hast du geglaubt, ich würde meine Rechte und Pflichten nicht kennen? Ich bin kein dummer kleiner Junge mehr und ich sage es dir ein für alle Male: halte dich aus meinem Leben raus. Außer unseren Genen und unserem Blut verbindet uns rein gar nichts. Also lass mich mit deinen Problemen in Ruhe und schau zu, wie du mit der Situation fertig wirst. Du hättest schon viel früher etwas wegen Michael unternehmen müssen. Spätestens als er selbst vor seinem kleinen Bruder nicht mehr zurückgeschreckt hat. Stattdessen hast du immer alles totgeschwiegen und vertuscht. Du hast immer seinen Dreckstall aufgeräumt, jetzt ist es auch mal Zeit, dass er ins kalte Wasser fällt und bekommt, was er verdient. Du erwartest von mir, dass ich zur Familie stehe, wo solche Geschichten einfach unter den Teppich gekehrt werden? Du hast ja keine Ahnung, was ich damals durchmachen musste und was das bei mir ausgelöst hat. Ebenso kannst du dir nicht vorstellen, wie lange es mich schon verfolgt. Ich soll die Vergangenheit und diese alten Geschichten ruhen lassen? Glaub mir, das würde ich selber nur zu gerne. Aber solange sich in dieser Familie nichts ändert, wird es das nie. Und wenn ihr nicht meine Familie wärt, hätte ich Michael schon längst bei der Polizei gemeldet und denen gesagt, dass du auch nicht ganz unschuldig bist. Also lass mich dir eines sagen: lass mich mit deinen Problemen und Anliegen in Ruhe, oder diese ganzen Familienskandale sind schneller ans Tageslicht gebracht als dir lieb ist.“ „Du willst deine eigene Familie erpressen?“ rief Lionel empört und erhob sich von seinem Platz. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so eine Unverschämtheit gefallen lassen müssen und dass sein jüngster Sohn sich so etwas erlaubte, nachdem er ihm sogar einen Teil des Konzerns überlassen hatte, war der Gipfel dieser Frechheit. Doch Leron lächelte kalt und abschätzig und ließ sich nicht einschüchtern. „Dachtest du etwa, ich wüsste nicht, warum du mir die Evans Hybrid Technologies überlassen hast? Doch nur weil du Angst hattest, ich könnte publik machen, dass Michael selbst nach 20 Jahren ein kranker Sadist ist und der sich beinahe eines Mordes schuldig gemacht hätte. Du hast mir diese Firma doch nur als eine Art Schweigegeld überlassen, weil du darauf spekuliert hast, dass ich es nicht wagen würde, über diese alten Geschichten zu reden, da ansonsten auch mein Unternehmen darunter leiden wird. Aber ich sage dir eines: ich bin nicht auf dein „Schweigegeld“ angewiesen. Ich kann jederzeit verkaufen und mich mit dem Geld zur Ruhe setzen, oder mir etwas Neues aufbauen. Die Zeiten, wo du mich unter deiner Kontrolle hattest, sind lange vorbei. Das Gespräch ist beendet.“ Damit erhob sich nun auch Leron, wandte sich ab und verließ den Konferenzraum einfach, ohne auch nur ein Wort mit seinem Vater zu wechseln. Er hatte alles gesagt und seinen Standpunkt klar gemacht. Die Familie interessierte ihn nicht im Geringsten. Nachdem Leron seiner Sekretärin Bescheid gesagt hatte, den Nachmittagstermin auf morgen früh zu verschieben, hatte er das Gebäude verlassen und seinen Chauffeur hierher zitiert, um zurück zur Villa zu fahren. Für heute hatte er ohnehin schon genug getan und die Verhandlungen mit Hong Kong und Tokyo für die Produktion der Hybridautos in Asien zu guten Konditionen gewinnen können. Auch die Besprechung der letzten Bilanzen war gut gelaufen und auch wenn es noch etwas früh war, gönnte er sich ausnahmsweise den Luxus, heute etwas früher zurückzufahren. Nach dem Treffen mit seinem Vater hatte er sich das auch verdient und wenn er nicht schnell wieder zur Ruhe kam, würde er noch die Kontrolle verlieren. Und wenn Leron etwas hasste, dann war es Gewalt. Als kleiner Junge war er ihr schon zu oft ausgeliefert gewesen… der psychischen Gewalt seines Vaters und der physischen Gewalt seiner beiden Brüder. Insbesondere der von Michael. Als Leron in die Limousine einstieg und es sich bequem machte, musste er an eine Szene aus seiner Kindheit denken. Er war sieben Jahre alt gewesen, als er eine streunende Katze gefunden hatte, die sich des Öfteren auf dem Grundstück herumgetrieben hatte. Leron hatte sie oft gefüttert und mit ihr gespielt. Er hatte ihr den Namen Midnight gegeben, da sie ein tiefschwarzes Fell gehabt hatte. Midnight war seine beste Freundin gewesen, bis er dann eines Tages in den Garten kam und sah, wie Michael mit einem Stein auf den Kopf der Katze einschlug. Er erinnerte sich noch deutlich an das Knirschen der Knochen und an das Blut, das an dem Stein geklebt hatte. Er hatte geschrien und geweint, doch Michael hatte nicht aufgehört. Nein, er hatte immer weitergemacht und als sein Bruder ihn aufhalten wollte, da war er auf ihn losgegangen. Und es war nicht bloß bei Schlägen geblieben. Lerons Magen verkrampfte sich für einen Augenblick und er spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. Für einen Moment konnte er Michaels Stimme in seinem Kopf hören, wie dieser sagte „Es ist Zeit für ein kleines Bestrafungsspiel, Ronnie!“ Und ihn überkam dabei ein eiskalter Schauer, weil er mit diesem Worten etwas verband, an das er sich nicht erinnern wollte. Michaels Spiele waren das Schlimmste gewesen, was er erlebt hatte. Und lieber wäre er von seinem großen Bruder geschlagen worden, als seine Spiele spielen zu müssen. Leron wusste, dass sein Bruder eine kranke Psyche hatte. Was genau der Auslöser war, wusste er nicht. Er wusste nur, dass Michael schon immer zu Gewalt und Sadismus geneigt hatte. Seine narzisstische Persönlichkeit war oft der Auslöser gewesen, warum er einen solchen Hass auf seinen jüngsten Bruder hatte, der aufgrund der Tatsache, dass er ein kleines Kind gewesen war, besondere Aufmerksamkeit benötigt hatte. Diese Erlebnisse hatte er nie vergessen können und selbst heute noch verfolgten sie ihn manchmal. Das wusste auch Michael, der sich daraus einen besonderen Spaß machte, indem er jedes Mal, wenn sie sich begegneten, mit einem hämischen Lächeln fragte „Lust auf ein kleines Spiel, Ronnie?“ Und er wusste dabei genau, was er dabei auslöste. In der Hinsicht war der Kerl wie ein Hund, der Angst wittern konnte. Für ihn stand fest, dass er selbst niemals so werden würde wie Michael. Er hasste solche Menschen und aus diesem Grund würde er auch niemals solche Dinge tun. Und während er sich diese Tatsachen in den Kopf rief, musste er wieder an Simon denken. Ja, er würde niemals so sein wie Michael oder sein Vater. Er würde Simon niemals solche Dinge antun oder ihn verletzen. Er würde sich nicht von seinen Gefühlen beherrschen lassen und seinen Frust an Simon auslassen und ihm dabei wehtun. Bevor das geschah, würde er sich anderweitig abreagieren. Er musste sich also unbedingt beruhigen und das Gespräch mit seinem Vater einfach vergessen. Denn wenn er sich darüber immer noch aufregte, wenn er bei Simon war, könnte es passieren, dass irgendetwas geschah, was er später bereuen würde. Und das durfte nie und nimmer passieren. Er wollte sein Vertrauen gewinnen und ihn dazu bringen, Gefühle für ihn zu entwickeln. Vielleicht mochte sein Vorgehen ein wenig fragwürdig sein, aber es war seiner Meinung nach die beste Art und Weise, den Jungen an sich zu binden und ihn lieben zu können wie er es wollte. Und er ließ ihm ja die Möglichkeit, sofort aufzuhören, wenn er etwas nicht wollte, denn der Gedanke, ihn zu etwas zu nötigen was Simon ganz und gar nicht wollte, wäre für Leron kaum zu ertragen. Es würde ihn zu sehr an seine eigenen seelischen Narben erinnern. Und doch konnte er wieder die Stimme seines Bruders Michael in seinem Kopf hören, die ihn auslachte und ihm sagte „Glaubst du etwa im Ernst, du wärst wirklich anders als ich? Sei doch mal ehrlich, Ronnie: du hältst dir den Jungen, den du angeblich liebst, als dein Haustier und zwingst ihn, dich seinen Meister zu nennen. Du glaubst allen Ernstes, dass du ihn wie jemanden behandelst, den du liebst? Komm schon, so dämlich bist noch nicht mal du. Mach dir doch nichts vor. Jemand wie du weiß doch nicht einmal was Liebe ist. Niemand liebt dich oder kümmert sich einen Dreck um dich. Wie willst du also jemand anderen lieben können? Du bist echt armselig, dass du echt denkst, du wärst besser als ich.“ Diese grausame Stimme in seinem Kopf, die alles in Zweifel zog, hatte schon sehr früh die Stimme seines ältesten Bruders angenommen. Sie war schadenfroh und grausam und sie liebte es, ihn zu verunsichern und ihn zu verspotten. „Du bist so jämmerlich…“, hörte er Michaels Stimme in seinem Kopf sagen. „Du nutzt die verzweifelte Lage eines armen kleinen Strichers schamlos zu deinem Vorteil aus, bezahlst ihn für Sex mit dir und nennst es dann auch noch einen Akt der Liebe? Du hast doch keine Ahnung von Liebe, Ronnie. Jemand wie du ist doch gar nicht fähig, überhaupt jemanden zu lieben.“ Nein, ich bin nicht so, dachte sich Leron und versuchte diese bösartige Stimme in seinem Hinterkopf zu verdrängen. Ich würde ihm nie etwas Schlimmes antun und ich kümmere mich besser um ihn als jeder andere in seinem Leben. Ich werde ihm ein besseres Leben ermöglichen! „Ach ja? Etwa das Leben eines Sexsklaven?“ fragte die Stimme heimtückisch. „Als ob du für ihn je etwas anderes sein würdest als irgendein schmieriger Freier. Sobald er die Kohle hat, wird er abhauen und dich danach keines Blickes mehr würdigen. Er wird dich verlassen, sobald er die Chance dazu hat und dann wird er dich komplett aus seinem Leben streichen.“ Und darauf konnte Leron keine Gegenargumente geben. Stattdessen fühlte er sich innerlich zerrissen und wusste nicht, was er tun sollte. Kapitel 6: Sommernachmittag --------------------------- Simon hatte sich gewundert, warum er plötzlich in seinem Bett aufgewacht war und fragte sich, wie und wann er denn dorthin gekommen war. Letzten Endes aber war er dann zu dem Schluss gekommen, dass Leron ihn wohl ins Bett gebracht hatte, nachdem er das Bewusstsein verloren hatte. Oh Mann, dabei wollte er doch auf gar keinen Fall einschlafen oder ohnmächtig werden. Hoffentlich war Leron nicht sauer deswegen. So etwas war ihm auch bislang nie passiert, aber wahrscheinlich waren der Stress und die Aufregung gestern einfach von ihm abgefallen und hatten dazu geführt, dass er daraufhin erschöpft eingeschlafen war. Vor allem war aber auch der Sex mit Leron einfach unglaublich gewesen. Simon konnte sich nicht wirklich daran erinnern, wann der letzte Sex so intensiv gewesen war. Er hatte es sogar regelrecht genossen, auch wenn er das nur ungern zugab. Aber das war verrückt. Wie zum Teufel konnte er denn bitte Sex mit einem Typen genießen, den er erstens gar nicht kannte und dem er zweitens seinen Körper verkauft hatte? Vor allem stellte ihn das vor die Frage, ob das überhaupt gesund war. Solange er keinen sonderlichen Spaß beim Sex mit seinen Freiern gehabt hatte, konnte er von sich wenigstens sagen, dass er normal war und es tat, weil er sonst keine andere Wahl hatte. Aber dass er jetzt tatsächlich ein persönliches Vergnügen aus dem Sex mit Leron gezogen hatte, schockierte ihn beinahe und er begann sich zu fragen, was bloß mit ihm los war. Was stimmte denn nicht mit ihm, dass ihm der Sex mit einem Freier gefiel? Das war nicht gut, ganz und gar nicht. Er würde nicht mehr wirklich in der Lage sein, die Dinge klar zu sehen und es würde schlimmstenfalls darauf hinauslaufen, dass er Leron nicht mehr als Freier ansehen konnte. Und das durfte nicht passieren. Doch was sollte er tun? Simon beschloss, sich auf etwas andere Gedanken zu bringen und ging nach draußen, um den Pool zu testen. Es war heute ohnehin sehr warm und da konnte eine Abkühlung nicht schaden. Der Butler Anthony hatte bereits freundlicherweise die Markise ausgefahren, damit wenigstens ein entsprechender Sonnenschutz vorhanden war. Denn es war doch sehr hell, sodass das Licht in Simons Augen wehtat und seine Sicht verschwamm. Durch den Schatten der Markise war es jedoch angenehm genug, sodass er nicht unbedingt eine Sonnenbrille brauchte, um nach draußen zu gehen. Dennoch war das erste, was er sah, als er ins Sonnenlicht trat, ein wabernder weißer Nebel vor seinen Augen und er musste die Augen zukneifen. Es herrschten gefühlte 30°C und das Wasser im Swimmingpool war glücklicherweise nicht so kalt, wie er zunächst befürchtet hatte. Es hatte eigentlich genau die richtige Temperatur, dass man sich abkühlen konnte. Er tauchte einmal kurz unter und schwamm einmal quer durch den Pool. Es war ein herrliches Gefühl, schwerelos durch das Wasser zu treiben und nicht mit irgendwelchen kreischenden Kindern zusammenzustoßen oder von knutschenden Paaren belästigt zu werden. Und er brauchte nicht auf irgendwelche Schwimmer achten, die ihre Bahnen zogen und er musste auch keine unangenehm sitzende Taucherbrille tragen, nur um seine Augen vor den anderen verstecken zu müssen. Er hatte den Pool nur für sich alleine und konnte machen, was er wollte! Rein theoretisch konnte er sogar nackt schwimmen gehen, ohne dass es jemanden stören würde. Aber das ließ er dann doch lieber, vor allem weil Anthony da war. Nachdem er ein paar Bahnen geschwommen war, lehnte er sich gegen den Massagestrahl, der sich an seinem Rücken sehr angenehm anfühlte und dachte nach. Die große Frage stellte sich für ihn, was er wohl tun sollte, wenn es nicht bloß bei diesem einen Mal blieb, dass sich der Sex mit Leron so gut anfühlte. Er konnte nicht abschätzen, wie sich dann sein Verhältnis zu ihm ändern könnte. Das Problem war einfach, dass er bis jetzt immer eine emotionale Distanz zu seinen Mitmenschen bewahren konnte. Sie wollten mit ihm nichts zu tun haben und er nichts mit ihnen. Auf diese Weise konnte er auch mit der Ablehnung seiner Mitmenschen immer gut umgehen. Aber nun drohte das alles durcheinander zu geraten, weil Leron anders war als die anderen. Er ließ ihn hier wohnen, störte sich nicht an seinen unheimlichen Augen und er war so leidenschaftlich und doch zärtlich zu ihm gewesen. Simon war, als könne er immer noch Lerons Hand an seiner Wange spüren und seine Brust schnürte sich zusammen. Noch nie hatte das jemand getan und er wusste nicht, wie er diese Geste deuten sollte. War es Zärtlichkeit, weil Leron ihn gerne hatte, oder machte er das mit allen, mit denen er schlief? Ach es kam ihm so kompliziert und verworren vor, dass er gar nicht wusste, was er tun sollte. Doch dann dachte er sich, dass er sich nur zu sehr hineinsteigerte und diese ganzen Dinge einfach überbewertete. Er machte doch nur deswegen so ein Fass auf, weil er durcheinander war. Kein Wunder, immerhin war auch einiges passiert. Er wohnte jetzt in einer schicken Villa und hatte ein echt tolles Zimmer. Und obendrein war Leron eigentlich ganz nett im Vergleich zu seinen bisherigen Freiern. Er hatte jetzt ein festes Gehalt und konnte sich somit seinen Traum bald erfüllen. Vor allem aber musste er nicht mehr auf den Straßenstrich zurück und Angst haben, wieder an einen potentiellen Serienmörder zu geraten oder von irgendwelchen Verrückten zusammengeschlagen oder mit einem Messer attackiert zu werden. Hier war er in Sicherheit und hatte ein komfortables Leben. Und selbst der Sex gestern war sogar schön gewesen. In solchen Momenten wünschte sich Simon, dass er jemanden zum Reden hätte. Aber da er keine Freunde oder Bezugspersonen hatte, stellte sich das eher schwierig dar und außerdem hätte er auch nicht gewusst, wie ihm auch nur irgendjemand in dieser Situation helfen konnte. Er musste allein damit klar kommen, eine andere Wahl blieb ihm da nicht. Simon schwamm noch ein kurzes Stück zur anderen Seite, damit er die Sonne im Rücken hatte. Er stützte sich am Rand des Pools ab und bettete seinen Kopf auf den Unterarmen und schloss die Augen. Es war sehr angenehm in dieser Position, wo sein Oberkörper den heißen Temperaturen ausgesetzt war und er gleichzeitig mit dem Rest seines Körpers vom Wasser wieder abgekühlt wurde. So hätte er noch länger bleiben können und er war auch tatsächlich kurz eingenickt, denn er bekam gar nicht mit, wie Leron zurückgekehrt war, kurz ins Haus verschwand und dann wenig später zu ihm in den Pool kam. Simon bekam nur am Rande mit, wie eine Hand zärtlich seinen Kopf streichelte. Es fühlte sich so wunderbar an. Ja er liebte diese Geste, die so liebevoll und zärtlich war und ihm ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit gab. Doch dann realisierte er, dass es nicht zu seinem Traum dazugehörte. Nein, da war wirklich eine Hand, die ihn streichelte. In diesem Moment überkam ihn ein heftiger Schreck und sofort fuhr er hoch und drehte sich erschrocken um, wurde dann aber sanft von Leron festgehalten, der die Angst in seinen schneeweißen Augen sah. „Schon gut“, sprach er besänftigend. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich tue dir nichts.“ Simon atmete auf, als er realisierte, dass es nur Lerons Hand gewesen war, dennoch klopfte sein Herz wie verrückt. „Entschuldigung, dass ich mich so erschreckt habe. Ich glaube, ich bin kurz eingenickt.“ „Du solltest ein wenig aufpassen“, sagte Leron und ging nicht auf diese heftige Reaktion von Simon ein. „Du bist sehr blass und wenn du an solchen Sommertagen draußen einschläfst, holst du dir noch einen Sonnenbrand oder schlimmstenfalls noch einen Sonnenstich.“ „Ist gut…“ Als Simon Leron in der Nachmittagssonne sah, mit nichts als einer Badehose bekleidet, da vergaß er für einen Moment, was er gerade tun oder sagen wollte. Und dann fragte er sich, ob er überhaupt etwas sagen wollte. Erst einen Augenblick später realisierte er, in was für einer Situation er gerade war und wieso Leron bei ihm war. Und dabei fiel ihm ein, dass er etwas vergessen hatte. Um sicherzugehen, legte er eine Hand an seinen Hals und tatsächlich: er trug das Halsband nicht. Leron hatte ihm doch aufgetragen, es jedes Mal zu tragen, wenn er im Haus war. Diesem Versäumnis musste er schnell nachkommen. „Entschuldigt, Meister“, sagte er hastig. „Ich bin eingeschlafen und habe gar nicht gemerkt, dass Ihr zurückgekommen seid. Ich gehe eben mein Hals…“ „Das geht schon in Ordnung“, winkte der 31-jährige ab. „Ich bin früher zurückgekommen und hatte meine Rückkehr auch nicht angekündigt gehabt. Außerdem hast du so friedlich ausgesehen, als du geschlafen hast.“ Simons Wangen wurden rot und er wandte verlegen den Blick ab. Vor allem aber wandte er den Blick deswegen ab, weil er merkte, dass ihm ganz seltsam zumute wurde, wenn er Lerons nackten und vor Wasser glänzenden Oberkörper sah. Er konnte es nicht genau beschreiben, wie es sich anfühlte. Vor allem aber merkte er, dass es ihn irgendwie erregte, Leron so zu sehen und das wollte er lieber nicht zulassen. Er hatte Angst, dass es schlimmer werden könnte, wenn er es zuließ. Doch als Leron sein Kinn hob und ihn küsste, da verlor er diesen Gedanken wieder. Er konnte ihn nicht mehr halten und vergaß schlagartig, was er wollte. Stattdessen übernahm sein Körper die Kontrolle über die Situation und erwiderte den Kuss, ließ sich mitreißen als er spürte, wie Lerons Zunge die seine umspielte und ihn zu einem leidenschaftlichen Zungenkuss herausforderte. Ohne weiter nachzudenken, legte er seine Arme um Leron und hielt sich an ihm fest, während eine Hand seinen Oberkörper hinab zu seinem Bauch glitt, bis sie die Beule in Simons ertastete und zu streicheln begann. Dabei lösten sich Lerons Lippen kurz von ihm und mit einem Lächeln bemerkte er „Das ging ja sehr schnell bei dir.“ „Ich bin nicht erregt“, protestierte Simon sofort, denn es war ihm selber extrem peinlich, dass er allein schon beim Anblick von Lerons nacktem Oberkörper und einem Zungenkuss bereits erregt war. Für gewöhnlich brauchte es schon etwas mehr dafür. Doch dann löste sich Leron plötzlich von ihm und für einen Moment dachte Simon, er hätte sich vielleicht im Ton vergriffen und ihn wütend gemacht. Doch stattdessen wurde er herumgedreht, sodass er mit dem Rücken zu Leron stand und dieser schob ihn zu der Stelle, wo sich er sich die Massagedüse befand. Zuerst begriff er nicht ganz, was nun geschah und was der Unternehmer jetzt vorhatte, doch dann spürte er auch schon den Wasserstrahl, der seine Beine und auch seinen erigierten Penis massierte. In seiner Badehose war es spürbar eng geworden und um das Ganze nur noch schlimmer zu machen, spürte er zwei Hände, die seine Brustwarzen umspielten. „Ach so?“ fragte der 31-jährige lauernd. „Du bist also nicht erregt?“ „N… nein…“ „Na dann werde ich wohl erst mal warten müssen, bis du es wirst“, kündigte er mit einer Stimme an, die Simon eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Lerons Stimme so dicht an seinem Ohr zu hören und seinen Atem zu spüren, während seine Brustwarzen unter der stimulierenden Berührung dieser großen Hände hart wurden, löste ein merkwürdiges Gefühl in ihm aus. Der Massagestrahl der Düse machte es ihm noch zusätzlich schwerer, sich zurückzuhalten und sich nichts anmerken zu lassen. Er presste die Lippen zusammen, doch als Leron eine besonders sensible Stelle an seinem Hals küsste und sich daran festsaugte, entfuhr Simon ein leises Keuchen. Wieder war er überwältigt davon, wie gut sich das anfühlte und er vergaß dabei völlig seinen inneren Konflikt von vorhin. Stattdessen spürte er, wie sein Körper nach mehr verlangte. Er wollte mehr als nur das einfache Vorspiel, während ein besonderer Teil seines Körpers völlig vernachlässigt wurde. Warum nur berührte Leron ihn nicht dort wie gestern auch? War das etwa eine Strafe dafür, dass er seine Erregung vor ihm dreist geleugnet hatte? Es war doch nicht böswillig gewesen. Es war ihm nur peinlich gewesen, dass er allein schon von einem Kuss einen Ständer bekam. „Ah…“, keuchte er und wollte zurückweichen, doch dabei drückte er sich nur dichter an Lerons Oberkörper. Eine warme, feuchte Zunge glitt über sein Ohr und für einen Augenblick hatte er das Gefühl, ihm würde schwindelig werden. Leichte Kopfschmerzen gesellten sich hinzu und für einen Moment war ihm beinahe so, als würde der den Halt verlieren und einknicken, doch Leron hielt ihn fest, als er einen Arm um ihn schlang, während seine andere Hand von Simons Brust hinab in seine Schwimmhose wanderte und seinen erigierten Penis umfasste und streichelte. „Und? Bist du jetzt erregt?“ „Ja“, antwortete Simon brav und sein Atem wurde geräuschvoller, als Leron weiter den Schaft massierte und mit seinen Daumen die sensible Eichel umspielte. Er hielt sich mit den Händen am Rand des Pools fest und fühlte sich für einen Moment hilflos, unfähig irgendetwas zu tun. Doch es war keine negative Hilflosigkeit, die einem Menschen für gewöhnlich Angst oder sogar Verzweiflung einjagen konnte. Etwas in seinem Hinterkopf sagte ihm, dass es okay war, hilflos zu sein. Denn er brauchte nichts Schlimmes zu befürchten. Er konnte sich fallen lassen und Leron die Kontrolle überlassen. „Willst du mehr?“ fragte Leron nun und ein Nicken und ein gepresstes „Ja“ kam zur Antwort. Und sogleich hakte er nach „Was genau willst du?“ um Simon aus der Reserve zu locken. Er wollte es direkt von ihm und aus seinem Mund hören. „Ich will es hier“, sprach Simon mit fast schon flehender Stimme und führte eine Hand zu seinem Gesäß um zu zeigen, wo er es haben wollte. Daraufhin verschwand Lerons Hand wieder aus Simons Schritt, nur damit der 21-jährige kurz darauf spürte, wie sich zwei Finger durch seinen Schließmuskel schoben, während Leron listig fragte „Du willst es also genau hier?“ „Ja“, rief Simon schon fast und bäumte sich lustvoll stöhnend auf, als sich die Finger zu bewegen begannen und ihn bis zu einem Punkt stimulierten, an dem er es kaum noch aushalten konnte. Er wollte es, er wollte es unbedingt. Wieder wurde ihm schwindelig und ihm war so heiß zumute, obwohl das Wasser seinen Körper größtenteils gut abkühlte. Doch der Wasserstrahl, die Wärme von Lerons Körper und diese anale Stimulation ließen seinen Kopf verrückt spielen. Sein Verstand war so bleiern und wie gelähmt, er wurde benommen und musste sich am Poolrand festhalten. Und als die zwei Finger damit begannen, seinen Schließmuskel zu spreizen, da entwich ihm ein kurzer Aufschrei, als er spürte, wie dabei etwas Wasser in sein Innerstes strömte. Es war ein merkwürdiges und fremdartiges, aber dennoch erregendes Gefühl. Wieder küsste Leron seine Halsbeuge, während seine andere Hand Simons Brust streichelte und seine linke Brustwarze knetete. Er verlor sich gänzlich in diesem unbeschreiblichen Gefühl und streckte Leron seinen Hintern ein wenig mehr entgegen. Er wollte mehr… etwas Größeres als nur diese zwei Finger. Und als hätte der Unternehmer seine stumme Einladung deutlich verstanden, entfernten sich die beiden Finger aus seinem After und daraufhin wurde seine Badehose heruntergeschoben. „Spreiz deine Beine und beug dich noch ein klein wenig vor.“ Gehorsam befolgte Simon diese Anweisungen, unruhig darauf wartend, dass Leron endlich anfangen würde. Und er merkte, dass irgendetwas mit ihm nicht so ganz stimmte. Warum nur fühlte sich sein Kopf so bleiern an und woher kam dieser Kopfschmerz? Vielleicht hatte er wohl doch ein wenig zu lange in der Sonne geschlafen. Leron hielt sich dieses Mal nicht damit auf, langsam und vorsichtig in ihn einzudringen. Kaum, dass sich die Spitze seines Gliedes durch Simons Schließmuskel gedrückt hatte, gab es für ihn kein Zurückhalten mehr. Simon stöhnte laut auf, als Leron kraftvoll und unerbittlich in ihn eindrang und der plötzliche Druck einen leichten Schmerz in seinem Innersten auslöste. Doch gerade dieser Schmerz und dieser fast schon animalische Antrieb raubten ihm fast den Verstand und trieben seine Erregung auf einen beinahe schmerzhaften Höhepunkt. Zwei Hände hielten seine Hüften fest gepackt, während sich Leron immer wieder aus ihm zurückzog, nur um dann wieder tief und hart zuzustoßen. Simons Hände klammerten sich nun fester an den Poolrand und er verlor das letzte bisschen seiner Selbstkontrolle, als Leron wieder und wieder diese ganz besondere Stelle traf, die seinen Geist und seinen Körper in Ekstase versetzten dieses intensive Gefühl der Lust noch weiter steigerte. Und das Einzige, was ihm in diesem Moment in den Kopf schoss, war der Gedanke, wie gut sich das anfühlte. Ja, es fühlte sich genauso gut wie gestern an und auch wenn er für gewöhnlich nicht so direkt auf harten Sex stand und den Spaß daran für seine Freier nur vorspielte, war das hier nicht im Geringsten damit vergleichbar, was er gewohnt war. Leron hatte sich genau eingeprägt, wo es sich für ihn am besten anfühlte und nutzte dies, um seinen Petboy in eine Lust und Ekstase zu treiben, die ihn völlig vergessen ließen, dass er hierfür bezahlt wurde. Stattdessen löste er in ihm das Gefühl aus, dass dies hier nichts Geschäftliches zwischen ihnen war, sondern ein persönliches Vergnügen. Und es war auch Lerons Ziel, dafür zu sorgen, dass Simon den Sex mit ihm genoss und Vergnügen daran entwickelte, dass er auch aus eigener Initiative Sex mit ihm haben wollte. Der Brünette ahnte nichts von Lerons Absichten. Er war viel zu benebelt von diesen unbeschreiblich starken körperlichen Empfindungen und diesem seltsam bleiernen Gefühl in seinem Kopf. Und letzteres schien immer stärker zu werden. Denn als er zu seinem Orgasmus kam, überkam ihn ein überwältigendes Dröhnen in seinem Kopf, woraufhin ihm für den Bruchteil einer Sekunde schwarz vor Augen wurde. In seinen Ohren war ein leises Rauschen zu hören und keuchend versuchte er, seinen Oberkörper am Poolrand abzustützen, um wieder klar zu werden. Leron sah mit Besorgnis, wie Simon schwer atmend zusammensank. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, er wirkte etwas benommen und erschöpft. Ein leiser Verdacht stieg in ihm auf und er drehte den Jungen daraufhin um, damit er sein Gesicht sehen konnte. Und was er sah, war ein benommener und leicht apathischer Blick und Wangen, die feuerrot waren. „Simon, geht es dir nicht gut?“ „Alles okay“, murmelte der dieser und winkte ab. „Ich habe nur Kopfschmerzen…“ „Du hast mehr als Kopfschmerzen“, sagte der Unternehmer streng. „Du hast einen Sonnenstich. Na komm, du musst erst mal raus aus dem Pool.“ Sie stiegen aus dem Pool und Leron holte ein Handtuch her, trocknete Simon ab und trug ihn dann ins Haus. Er wies Anthony an, ein Glas Wasser und einen Eisbeutel zu holen. Daraufhin brachte er den Benommenen zu einer Couch, legte ihn hin und stützte seinen Oberkörper mit ein paar Kissen ab, dass dieser etwas erhöht lag. Anthony kam mit dem Wasser und dem Eisbeutel zurück und Leron wies Simon an, etwas zu trinken und legte ihm den Eisbeutel auf die Stirn. „Wahrscheinlich hast du zu lange in der Sonne geschlafen“, vermutete er und betrachtete ihn besorgt. „Bleib erst mal liegen und ruh dich aus. Ich schalte gleich mal die Klimaanlage an, damit es hier ein wenig kühler wird.“ Simon nickte, wirkte aber noch etwas benommen und murmelte eine leise Entschuldigung, dass er solche Probleme bereitete, aber Leron winkte nur ab. Simon war hier der letzte, der sich entschuldigen sollte. Er hätte viel früher bemerken sollen, dass der Junge einen Sonnenstich hatte und hätte ihm den Sex in diesem Zustand gar nicht erst zumuten dürfen. Hoffentlich war es nur ein harmloser Sonnenstich. Ein Hitzeschlag war da wesentlich schlimmer. „Es ist allein deine Schuld, dass es ihm so schlecht geht“, hörte er Michaels Stimme in seinem Kopf flüstern, die schadenfroh lachte. „Und du willst dich allen Ernstes um ihn kümmern und für ihn sorgen? Da sieht man ja, was dabei herauskommt. Stattdessen sorgst du dafür, dass er zusammenbricht und sich sein Zustand nur verschlimmert. Siehst du es nun, Ronnie? Du tust ihm nur weh. Du bist wie ein Stachelschwein, hörst du? Immer, wenn du versuchst, jemanden an dich zu binden, tust du dieser Person nur weh und er bildet da keine Ausnahme.“ Leron presste die Lippen zusammen und versuchte, die Stimme in seinem Kopf zu ignorieren, doch sie ließ sich nicht so einfach ins Abseits drängen. Nein, sie war sehr gut hörbar und wurde lauter und ihre Schadenfreude und ihr Hohn waren deutlich herauszuhören. „Deine Liebe wird ihn verletzen, Ronnie. Früher oder später wirst du ihm wirklich wehtun. Du kannst es nicht verhindern.“ „Lass mich in Ruhe“, zischte er hinter zusammengepressten Zähnen hervor, um diese verdammte Stimme endlich zum Schweigen zu bringen. Erst einen Moment später realisierte er, dass Simon ihn fragend ansah. Seine Augen mit der hellgrauen, fast schon weißen Iris und den gleichfarbigen Pupillen ruhten auf ihn und es war eine leichte Unsicherheit darin zu erkennen. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Leron schüttelte den Kopf und winkte ab. „Nein, schon gut. Ich habe gerade nur zu mir selbst geredet. Bleib erst mal liegen, ruh dich aus und lass den Eisbeutel auf deiner Stirn, der wird dir gut tun. Du solltest vor allem viel trinken. Ist dir schlecht?“ „Nur ein wenig“, antwortete Simon. Leron nickte und immer noch zeugte seine Miene von ernster Besorgnis. „Mir ist hauptsächlich nur schwindelig, Meister.“ „… Lass uns das mit dem „Meister“ erst mal vergessen, okay? Nenn mich in Zukunft Leron.“ Damit ging der Unternehmer, um die Klimaanlage einzustellen, damit es ein wenig kühler im Wohnzimmer wurde. Simon sah ihm nach und ein leichter Stich ging durch seine Brust. Leron hatte nicht nur besorgt, sondern auch unglücklich ausgesehen. Ein trüber Glanz lag auf seinen haselnussbraunen Augen, der von Schuld zeugte. So wollte er ihn nicht gehen lassen. Es war ja nicht Lerons Schuld, dass er einen Sonnenstich hatte und aufgrund dessen zusammengeklappt war. Etwas in ihm wollte Leron aufmuntern und ihm dieses Gefühl der Schuld nehmen und so rief er aus einem reinen Impuls heraus: „Es… es war trotzdem sehr schön.“ Und dieses Mal war es nicht bloß vorgespielt, wie er es in der Vergangenheit oft getan hatte. Er meinte es wirklich so. Und ohne es zu wissen, hatte er mit diesen Worten bewirkt, dass die Stimme in Lerons Kopf fürs Erste verstummte und ein schwaches Lächeln über die Lippen des 31-jährigen schlich. Kapitel 7: Unruhige Nacht ------------------------- Er hatte sich ganz klein gemacht und wagte es kaum zu atmen. Sein kleiner Körper zitterte vor Angst und seine Augen waren voll von Tränen. Nur mit Mühe konnte er ein Schluchzen unterdrücken und er betete innerlich, dass sie ihn nicht finden würden. Ganz schwach konnte er Schritte hören und eine unheilverkündende Stimme rief laut vom Flur her: „Ronnie! Wo versteckst du dich, Ronnie?“ Aus Furcht, er könnte vor Angst aufschreien, presste er seine Hände auf den Mund und sah mit angsterfülltem Blick zur Tür. Sie durften ihn nicht finden, alles war ihm lieber aber nicht das. Doch ewig konnte das nicht gut gehen, das wusste er selbst. Anthony und sein Vater waren nicht da und seine Mutter… die einzige Person, die ihn hätte wirklich beschützen können, war tot. Es war niemand da, der ihm helfen, oder ihn beschützen konnte. Er war ganz alleine auf der Welt. Ein leises „Mommy…“ war das Einzige, was er hervorbrachte. Auch wenn er insgeheim wusste, dass seine Mutter ihn nicht mehr hören konnte und auch nicht kommen würde, sprach er es dennoch aus. Es war ein leiser, verzweifelter Hilferuf eines kleinen Jungen, der wusste, dass ihm Schlimmes bevorstand. „Ronnie!“ Er hielt sich die Ohren zu und versuchte verzweifelt, diese Stimme zu ignorieren und sie nicht mehr hören zu müssen. Warum nur ließen sie ihn nicht in Ruhe? Wieso waren sie so gemein zu ihm? Was hatte er ihnen denn getan, dass sie ihn so sehr hassten? Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn, als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde und Schritte näher kamen. „Ronnie….“, hörte er ihn rufen. „Komm raus, oder ich hole dich!“ Doch er blieb in seinem Versteck und hoffte insgeheim, dass er unentdeckt bleiben würde. Aber da wurden auch schon die Schranktüren aufgerissen und er sah Michael plötzlich vor sich stehen. Er wirkte wie ein monströser Riese und ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht. „Hab dich gefunden!“ Ängstlich versuchte der kleine Junge wegzukriechen und zu flüchten, doch da wurde er am Kragen gepackt und hochgerissen. „Aua Mike!“ rief er voller Angst. „Lass mich los! Du tust mir weh!“ Doch Michaels Hand umschloss seinen dünnen Arm und er schaffte es nicht, sich loszureißen. Er schrie vor Schmerz als sich der Griff verstärkte und er das Gefühl kam, als würde diese Hand ihm noch den Arm brechen. Unerbittlich schleifte Michael ihn zum Bett, wo Jordan auch schon wartete, wie immer mit einem kühlen und gefühllosen Glanz in den Augen und einer nichts sagenden Miene. Der kleine, achtjährige Junge wurde aufs Bett gestoßen und bevor er einen weiteren Fluchtversuch wagen konnte, packte Jordan ihn und hielt seine Handgelenke fest. „Du warst ein ungezogener kleiner Bruder“, hörte er Michael sagen. Er sah das breite Grinsen und diesen Ausdruck von Wahnsinn in den goldgelben Augen seines ältesten Bruders. Entsetzliche Angst überkam ihn und er schrie nun aus voller Kehle, wehrte sich nach Leibeskräften, doch er war mit diesem schwachen Kindeskörper nicht gegen seine Brüder gewachsen, die ihrerseits 18 und 19 Jahre alt waren. „Stopf ihm den Mund, damit er nicht so herumschreit“, wies Michael seinen Bruder Jordan an. „Es wird Zeit für ein kleines Bestrafungsspiel und ich hab keine Lust, wegen ihm noch taub zu werden…“ „Nein, ich will nicht. Lasst mich los! Mommy! Daddy!!!“ „Mum wird nicht kommen, um dich zu trösten“, schrie nun Michael und gab ihm eine Ohrfeige. „Sie ist tot und du warst lange genug Mommys kleiner Liebling. Es wird Zeit, dass aus dir ein großer Junge wird, Ronnie. Hast du gehört? Also nimm es wie ein großer Junge!“ Mit Entsetzen sah der kleine Junge, wie Michael näher kam und den Reißverschluss seiner Hose öffnete. Er wollte schreien, doch Jordan hielt ihm den Mund zu und hielt ihn so fest gepackt, dass es unmöglich war, sich zu befreien. Und der vor Angst zitternde kleine Junge schaffte es nicht, genügend Gegenwehr zu leisten, als Michael seine kleinen Beine auseinander drückte. „Zeit für das Bestrafungsspiel, kleiner Bruder…“, hörte er ihn flüstern, als auch schon ein infernalischer Schmerz durch seinen kleinen Körper jagte. Ruckartig fuhr Leron auf und war erst völlig orientierungslos. Er war schweißgebadet und seine Hände zitterten und sein Herz schlug wie verrückt. Ein Alptraum, schoss es ihm durch den Kopf. Es war nur ein Alptraum. Er war nicht mehr in seinem Elternhaus und er war auch nicht mehr der kleine Junge von damals. Das alles war nur ein Traum gewesen. So, so… Nur ein Traum? Dafür scheint er dir aber sehr real vorgekommen zu sein.“ „Lass mich in Ruhe“, brachte er hinter zusammengepressten Zähnen hervor und versuchte, sich wieder zu beruhigen. „Warum kannst du nicht endlich still sein?“ „Du willst mir den Mund verbieten? Mach dich nicht lächerlich, Ronnie. Ich bin hier der ältere von uns beiden. Ich habe einen Mann aus dir gemacht. Und du besitzt nicht den Mumm, um mir die Stirn zu bieten.“ „Hör auf damit!“ Leron stand aus dem Bett auf und ging zum Bad hin. Etwas kaltes Wasser machte ihn vielleicht wieder etwas klarer. Als er das Waschbecken erreichte, drehte er den Wasserhahn auf und wusch sich sein Gesicht. Doch als er sich wieder aufrichtete und in den Spiegel sah, fand er nicht sein Spiegelbild vor, sondern das von Michael. Erschrocken wich Leron zurück. Es kam sehr selten vor, dass Michael leibhaftig erschien, wenn er allein war, für gewöhnlich hörte er nur seine Stimme. Höhnisch betrachtete sein älterer Bruder ihn. Er trug wie immer einen schwarzen Anzug und eine gestreifte Krawatte, sein blondes Haar war ordentlich frisiert und er sah abschätzig und schadenfroh auf seinen jüngsten Bruder hinab. „Du bist immer noch so ein erbärmlicher Jammerlappen wie früher, Ronnie. Ein kleiner Junge, der immerzu nach seiner Mommy flennt und der immerzu nach Liebe und Aufmerksamkeit schreit. Selbst mit 31 Jahren bist du immer noch ein verdammtes Baby. Oder glaubst du echt, du könntest der Vergangenheit entkommen?“ „Warum sagst du mir das?“ fragte Leron seinen Bruder im Spiegel, ohne sich im Klaren zu sein, dass dieser nicht existierte, zumindest nicht in diesem Raum. Doch der Gedanke kam ihm nicht, dass etwas nicht stimmen könnte. Es erschien ihm zu wirklich, als dass er in der Lage gewesen wäre, diese Erscheinung zu hinterfragen. „Was willst du?“ „Du weißt, was ich will, Ronnie…“, erklärte Michael. „Du hast etwas, das mir gehört…“ Simon, schoss es Leron durch den Kopf und ihn überkam das Entsetzen. Seine schweißnassen Hände ballten sich zu Fäusten und sein Körper versteifte sich. Fassungslos sah er seinen Bruder im Spiegel an und wich zurück. Er will Simon, schoss es ihm durch den Kopf und hallte dort wieder wie ein Echo. Er will Simon! Er will ihm etwas antun! Er will ihn mir wegnehmen und wird ihn noch umbringen. „Ich werde ihn dir nicht überlassen“, rief Leron und Wut stieg in ihm auf. Wut gegen seinen Bruder und vor allem Wut über die Tatsache, dass dieser ihm tatsächlich androhte, Simon zu holen und ihm wieder diese schrecklichen Dinge anzutun. Allein der Gedanke an den zerschundenen, halb toten Körper, dessen Hand- und Fußgelenke an die Bettpfosten gefesselt waren während die Augen von einer Augenbinde verdeckt waren, weckte in ihm diese starken Gefühle, die er damals entwickelt hatte, als er den armen Jungen dort hatte liegen sehen. Entsetzen, Mitleid, Schuldgefühl… und schließlich auch eine seltsame Art der Zuneigung. Dieser Tag hatte sich tief in Lerons Gedächtnis gebrannt, als wäre es erst gestern gewesen, als er nichts ahnend zum Loft gefahren war und diesen 17-jährigen Jungen regungslos und nackt auf dem Bett liegen sah. Er hatte kaum noch geatmet und er hatte Würgemale am Hals gehabt und einige Verletzungen, die ihm durch Schläge beigebracht worden waren. Leron hatte den Jungen erst für tot gehalten und alles daran gesetzt, ihn wieder zurückzuholen und für einen kurzen Augenblick hatte der Junge sogar kurz die Augen geöffnet gehabt, bevor er wieder das Bewusstsein verlor. Als Leron diese Augen zum ersten Mal gesehen hatte, dachte er sich nur „Oh Mein Gott, er ist blind!“ Er war schon einiges von seinem Bruder gewohnt, doch der Gedanke, dass er einen blinden Teenager entführte, ans Bett fesselte, ihn blutig prügelte und sogar würgte, während er sich an ihm verging, war für Leron zu viel gewesen. Vor allem da er die Brutalität seines ältesten Bruders am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Nachdem er den Jungen erfolgreich reanimieren konnte, hatte er ihn in eine Decke gewickelt und ins Krankenhaus gebracht. Die Identität des Jungen hatte er nicht erfahren und als er ihn im Krankenhaus besuchen wollte um mehr über die Hintergründe zu erfahren, war dieser auch schon verschwunden gewesen. Er hatte das Krankenhaus verlassen, sobald er wieder genug Kraft hatte. Erst dieser Zeitungsartikel mit dem Serienmörder hatte Leron wieder auf seine Spur gebracht, nachdem er vergeblich nach dem Jungen gesucht hatte. Ein Foto und ein gut bezahlter Detektiv hatten binnen weniger Tage geschafft, was er alleine in drei Jahren nicht geschafft hatte. Und schnell hatte Leron die Hintergründe erfahren und sie hatten ihn nicht wenig schockiert: der Junge stammte aus einem Waisenhaus, hatte weder Familie noch Verwandte oder irgendwelche Freunde und verdiente sich sein Geld auf dem Straßenstrich. Schlimmer hätte ihn die Wahrheit nicht treffen können. Und sein einziger Gedanke war gewesen, ihn dort wegzuholen, egal wie. „Was ist?“ fragte Michael. „Hat es dir etwa die Sprache verschlagen? Mal im Ernst: was willst du von diesem Bengel denn schon? Er ist nicht mal ein gutes Betthäschen mit so hässlichen Augen und im Grunde ist er auch schon inzwischen zu alt, findest du nicht auch? Lass uns lieber etwas Jüngeres suchen. Etwas… weniger verbrauchtes…“ „Du bist ja krank“, rief Leron angewidert. „Ich lasse nicht zu, dass du dem Jungen auch nur ein Haar krümmst, hast du gehört? Wag es auch nur in seine Nähe zu kommen und ich bringe dich um!“ „Oho… der kleine Ronnie will auf großen Macker machen“, kommentierte Michael spöttisch, holte ein Taschentuch hervor und begann damit seine Brille zu putzen. „Und was willst du tun, um ihn vor mir zu schützen? Du kannst nicht ewig bei ihm sein und ich kann dir versprechen: sobald du ihn auch nur für eine Sekunde lang unbewacht lässt, hole ich ihn mir zurück. Ich gewinne immer, Ronnie. Und wenn ich ihn dann endlich wiederhabe, werde ich ihm das Hirn rausficken und lasse dich dabei zuschauen! Mal sehen, wessen Namen er dann schreien wird, wenn ich ihm den Verstand rausvögle.“ Ein lautes Knacken, gefolgt von einem leisen Klirren ertönte, als Leron gegen den Spiegel schlug und ihn dabei zerbrach. Scherben schnitten in seine Handknöchel und rissen blutige Wunden. Ein stechender Schmerz bohrte sich in seine Hand und er presste die Zähne zusammen. Seine Hand blutete und es steckten Splitter darin. Doch die Stimme war verschwunden und Michaels Erscheinung ebenfalls. Er war endlich fort… Die Tür zum Schlafzimmer wurde vorsichtig geöffnet. Licht fiel vom Flur in das dunkle Zimmer und eine Silhouette tauchte im Türrahmen auf. Für einen Moment überkam Leron die Angst, es könnte tatsächlich Michael sein, der gekommen war, um Simon mitzunehmen. Doch dann wurde das Licht eingeschaltet und er sah, dass es Simon selbst war. Er rieb sich müde die Augen und trug aufgrund der sehr warmen Sommernacht lediglich Boxershorts. „Was ist los?“ murmelte er verschlafen. „Ich habe Stimmen und einen lauten Krach gehört.“ „Simon…“ Leron atmete erleichtert aus. Dabei vergaß er für einen Moment seine blutende Hand. „Ich bin nur schlafgewandelt und hab dabei den Spiegel zerschlagen. Geh ruhig wieder ins Bett schlafen. Du solltest dich…“ „Ach du Scheiße, du blutest!“ Simons Müdigkeit war verflogen und er kam nun zu ihm und sah sich die Hand an. „Und da sind Splitter drin. Hast du eben eine Pinzette?“ Leron versuchte seine Hand wegzuziehen, denn es widerstrebte ihm, dass der Junge ihn so sah. Vor allem aber wollte er möglichst vermeiden, dass dieser die Wahrheit erfuhr. Nämlich dass er sich gerade eben mit seinem Bruder gestritten hatte, der ihm angedroht hatte, dem Jungen erneut wehzutun. Es war das Beste, ihn wegzuschicken. „Ich mach das schon selbst“, sagte er nur, doch Simon ging bereits nach einer Pinzette Ausschau halten. „Einer der Splitter sitzt tief, da braucht man zwei Hände. Äh, gibt es hier irgendwo einen Verbandskasten?“ „In der Küche ist einer.“ Simon drehte das Wasser auf und spülte das Blut von Lerons Hand, um die Splitter besser sehen zu können. Es brannte in den aufgeschnittenen Wunden und Blut tropfte ins Waschbecken. „Du musst das nicht tun“, versuchte Leron ihm zu erklären. Ich mache das lieber selbst.“ „Schon gut“, meinte Simon nur und schüttelte nur den Kopf. Er schnappte sich die Pinzette und während er mit der anderen Hand vorsichtig die kleinen Schnittwunden auseinanderzog, um besser an den Splitter heranzukommen, war er hochkonzentriert. „Jetzt bin ich ja eh da. Und außerdem ist es eh schwer, alleine die eigene Hand zu verarzten.“ Dem konnte Leron nichts entgegensetzen. Es wäre in der Tat schwierig geworden, alle Splitter herauszuziehen und dann die Hand zu verbinden. Trotzdem störte es ihn, dass Simon ihn verarztete. So wollte er es doch nicht haben. Er sollte sich um ihn kümmern, nicht umgekehrt. Doch das war nicht das Einzige, was ihn beschäftigte. Da war nämlich noch das Problem mit Michael. Sein Bruder würde herkommen und den Jungen mitnehmen. So etwas durfte er nie und nimmer zulassen. Aber was konnte er denn tun? Sollte er ihn vielleicht doch rund um die Uhr in der Villa einsperren, um ihn zu beschützen? Ja, das wäre womöglich keine schlechte Idee. Andererseits könnte es für seinen Plan, Simons Herz zu gewinnen, nicht förderlich sein. Nein, es war absolut kontraproduktiv und darum schied das erst mal aus. Aber was konnte er sonst tun? Zwar war Anthony tagsüber da, aber Leron war sich nicht sicher, ob dieser in seinem fortschreitenden Alter etwas gegen Michael ausrichten konnte. Und wenn Michael auch noch Jordan dabei hatte, der schon immer eine Art stiller Mitläufer gewesen war, dann hatte Anthony keine Chance. Vielleicht sollte er doch besser Kameras in der Villa installieren lassen, um sicherzugehen. Das schien eine bessere Lösung zu sein. Aber die Stimme der Vernunft sagte ihm, dass es unwahrscheinlich sei, dass Jordan wirklich so etwas noch mal tun sollte wie früher. Er war inzwischen verheiratet, hatte Kinder und damit genug andere Dinge, um die er sich kümmern musste. Da war es doch unwahrscheinlich, dass er sich zu irgendeinem Verbrechen hinreißen ließ. „An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher…“ „So, das war der letzte“, murmelte Simon und legte die Pinzette beiseite. Inzwischen waren neue Blutrinnsale hervorgequollen und flossen über seinen Handrücken und zwischen seine Finger. „Kannst du mir zeigen, wo ich den Verbandskasten finde?“ Leron ging voran in die Küche und er fragte sich, warum er sich denn nicht energischer durchsetzte. Er war hier der ältere und Simon hatte ihm zu gehorchen. Ganz einfach aus dem Grund weil er wusste, was das Beste war und Simon das seiner Meinung nach nicht einschätzen konnte. Stattdessen hatte er klein bei gegeben und das passte ganz und gar nicht zu ihm. Er gab nie nach. Schließlich erreichten sie die Küche und Leron holte aus einem der Schränke den Verbandskasten hervor. Simon öffnete ihn und nachdem er mit einem Spray die verletzte Hand desinfiziert hatte, begann er die Hand zu bandagieren. Dabei warf Leron einen flüchtigen Blick auf die Uhr: es war halb vier. „Wie geht es dir denn eigentlich?“ erkundigte er sich. „Es geht wieder“, antwortete Simon, während er nun damit begann, den Verband zuzuschnüren, damit er auch fest saß und sich nicht öffnete. „Ich hab noch leichte Kopfschmerzen, aber ich denke, morgen werde ich wieder fit sein.“ „Aha“, murmelte Leron ein wenig geistesabwesend. Simon betrachtete ihn mit einem fragenden Blick und ihm entging nicht, dass Leron sich ein wenig seltsam verhielt. Er wirkte durcheinander und etwas schien ihm zu schaffen zu machen. Wahrscheinlich war es ein ziemlich heftiger Traum gewesen, den er gehabt hatte. So laut, wie er geschrien hatte, war Simon ein eiskalter Schauer über den Rücken gelaufen und er hatte zuerst gedacht, es wäre ein Einbrecher in der Villa. Und dann hatte Leron den Spiegel zerschlagen und sich verletzt. Irgendetwas war passiert, das wusste er sofort. Er bezweifelte auch, dass es wirklich vom Schlafwandeln herkam, aber andererseits konnte er sich auch nicht erklären, was denn sonst noch infrage kam. Und es sah auch nicht danach aus, als würde Leron die Wahrheit erzählen wollen. Nun, es konnte ihm auch recht sein. Im Grunde gingen ihm die Probleme anderer Leute nichts an, vor allem nicht die seiner Freier. Und er tat Leron diesen Gefallen ja auch nur, weil dieser sich ja auch um ihn gekümmert hatte, als er am Nachmittag wegen seinem Sonnenstich zusammengeklappt war. Es war eine unverbindliche und höfliche Geste, mehr nicht. Und doch beschäftigte es ihn, Leron so zu sehen. Er hatte seine starke und selbstbewusste Ausstrahlung verloren. Stattdessen wirkte er fast schon ängstlich. Simon hätte fast geglaubt, dass das nicht der echte Leron war, sondern nur eine billige Kopie. Aber dem war nicht so. Irgendetwas war in diesem Zimmer passiert, das ihn sehr verstört hatte. Nachdem er die Wunden verarztet hatte, räumte er den Verbandskasten wieder weg und spürte, wie die Müdigkeit wieder zurückkehrte. Er konnte noch ein paar Stunden Schlaf gut gebrauchen. „Ich gehe dann mal wieder ins Bett“, sagte er und rieb sich die Augen. „Gute Nacht.“ „Ja…“, murmelte Leron und schien ihm nicht einmal zugehört zu haben. Er wirkte sehr geistesabwesend, als würde ihn irgendein Gedanke beschäftigen… oder eine schreckliche Erinnerung, die ihn bis ins Mark erschüttert hatte. Simon bekam es schon fast mit der Angst zu tun, als er ihn so sah. „Gute Nacht…“ Leise ging Simon zurück in sein Zimmer und kroch in sein Bett. Dank der Klimaanlage, die tagsüber lief, war es nachts sehr angenehm, sodass man nicht schweißgebadet aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte, weil im Zimmer noch die Hitze des Tages stand und man das Gefühl hatte, zu ersticken. Doch obwohl er sich sehr schläfrig fühlte und das Bett gemütlich und die Zimmerluft klar und angenehm war, bekam er kein Auge zu. Er hatte sich wirklich erschrocken, als er Leron vor dem zerschlagenen Spiegel gesehen hatte. Noch nie hatte er gesehen, wie jemand so totenbleich wie eine Leiche gewesen war. Und wenn er nicht gewusst hätte, dass es vollkommen unmöglich war, dann hätte er wirklich gedacht, dass Leron einen Geist gesehen hätte. Und für einen Moment kam ihm der kurze Gedanke, dass etwas in diesem Haus nicht stimmte… oder mit Leron. Vielleicht gab es ja tatsächlich so etwas wie Gespenster hier, nur nicht in der Form, wie man sie aus Gruselfilmen kannte. Es war eher eine andere Form von Gespenstern, die einen verfolgten und heimsuchten. Kapitel 8: Telefongeflüster --------------------------- Die nächsten fünf Tage waren eher ruhig verlaufen und da Leron kurz vor einer wichtigen Präsentation stand, kehrte er erst spät abends zurück und war danach so erschöpft, dass er direkt ins Bett ging, um sich auszuruhen. Es war für Simon eine gute Gelegenheit, um sich auch um sein eigenes Leben zu kümmern. Mit dem Bonus, den er sich verdient hatte, konnte er sich ein paar neue Klamotten kaufen. Seine Shirts und Jeanshosen waren teilweise schon kaputt und auch seine Schuhe waren ramponiert. So hatte er sich für seine 200$ ausschließlich Kleidung gekauft, die er aber auch wirklich dringend gebraucht hatte. Und während er unterwegs gewesen war, hatte er sich überlegt, was er sich wohl als nächstes holen würde. Ein neues Handy konnte nicht schaden. Seines hatte er in einem Pfandleihhaus gekauft und es war schon ziemlich zerkratzt, außerdem war der Akku kaputt und musste fast ständig aufgeladen werden. Außerdem war es nicht mal ein Smartphone und in der Zeit der Apps war es mehr als hinderlich, mit so einem alten Ding herumzulaufen. Ja, als nächstes würde er sich definitiv ein neues Handy kaufen, danach vielleicht ein paar neue Musikalben. Es war schon ein komisches Gefühl, dass er über solche Dinge nachdenken konnte, ohne dabei ständig die Kosten für die Augenoperation im Hinterkopf zu haben. Aber es erfüllte ihn auch mit Freude und es war auch ein gutes Gefühl zu wissen, dass er sich auch mehr vom Leben leisten konnte, als nur billiges Fertigessen, das mit Glutamaten und anderen Zusatzstoffen vollgestopft war oder ein kleines verschimmeltes Apartment, wo die Luft modrig und feucht roch. Er brauchte sich für die nächsten vier Jahre keine Gedanken darum zu machen, wie er die Miete aufbringen konnte, oder wo er noch sparen konnte. Zum ersten Mal konnte er sich den Luxus erlauben und sich mehr gönnen als nur das allernötigste. Und es war ein wunderbares Gefühl. Aber er merkte trotzdem, dass irgendetwas fehlte. Dass Leron fast die ganze Zeit weg war und er die Abende und Nächte allein verbrachte auch wenn der Unternehmer dann wieder zuhause war, ließ in ihm ein merkwürdig leeres Gefühl zurück. Es war seltsam und es beschäftigte ihn natürlich. Vor allem warum diese Leere existierte. Bisher hatte es ihn nie sonderlich gejuckt, wenn er mal eine Auszeit von der Arbeit genommen hatte wenn er beispielsweise mit einer Grippe oder ähnlichem im Bett lag. Er war in diesen Momenten auch froh gewesen, dass er körperlich nicht in der Lage war, zu arbeiten und mit irgendwelchen alten Säcken zu schlafen, weil es in seinem tiefsten Herzen ein Graus war. Aber jetzt fühlte er sich irgendwie einsam und er verstand die Welt nicht mehr. Warum nur fühlte er sich denn bitteschön einsam? Er sollte froh sein, endlich mal ein paar Tage für sich zu haben. Doch stattdessen fühlte er sich unruhig und seine Gedanken schweiften immer wieder zu Leron wenn er sich fragte, wie lange er wohl mit diesem wichtigen Projekt beschäftigt war. Das führte dann fast jedes Mal dazu, dass er sich danach am liebsten die Haare raufen und sich zu Tode ärgern würde, dass er tatsächlich seine Freizeit damit verschwendete, an so etwas zu denken. Offenbar hatte er wirklich zu wenige Hobbys. Als er nach seiner Einkaufstour zurückkam, erwartete ihn bereits der Butler Anthony. Gemeinsam brachten sie die Tüten hoch in Simons Zimmer und dabei kündigte der Butler auch direkt an, dass Leron ihn angewiesen hatte, Simon in seine Aufgabe einzuweisen. Etwas verwundert sah der 21-jährige ihn an und fragte „Eine Aufgabe? Was denn genau?“ „Mr. Evans wies mich an, Ihnen dieses Headset zu geben und Sie in den korrekten Gebrauch einzuweisen.“ Damit drückte Anthony ihm ein schnurloses Headset in die Hand, welches recht klein war, aber dennoch sehr gut saß, als Simon es sich testweise aufsetzte. „Ich habe in Ihren Räumlichkeiten eine Telefonanlage installieren lassen, über die Sie telefonisch für Mr. Evans erreichbar sein werden. Es ist so eingestellt, dass alle Anrufe automatisch auf Ihr Headset umgeleitet werden. Das Headset verfügt über eine Taste, mit der Sie den Anruf annehmen können. Die Ladestation steht neben der Telefonanlage, der Akku hält knapp fünf Stunden. Mr. Evans wird Sie um 14:30 Uhr anrufen.“ „Aha…“, murmelte Simon etwas zögerlich, denn er konnte sich nicht sonderlich vorstellen, was er denn mit dem Headset anfangen sollte und was das mit seiner eigentlichen Tätigkeit zu tun hatte. Naja, vielleicht würde er das ja noch früh genug erfahren. Als der Butler merkte, dass der 21-jährige ein wenig überfordert aussah, bot er ihm deshalb an: „Wie wäre es, wenn ich einen Testanruf durchführe?“ Den Vorschlag nahm Simon gerne an und so setzte er sich das Headset auf. Anthony verließ kurz den Raum und wenig später war dann ein Klingeln des Telefons zu hören. Glücklicherweise brauchte Simon nicht lange zu suchen, bis er die Taste für die Gesprächsannahme gefunden hatte. Und als er sie gedrückt hatte, hörte er auch schon Anthonys Stimme klar und deutlich. „Hören Sie mich gut, Mr. Cavanaugh?“ „Klar und deutlich. Und wie lege ich wieder auf?“ „Drücken Sie einfach dieselbe Taste erneut.“ Und nachdem Simon auch das geschafft hatte, legte er das Headset wieder ab und Anthony kam wieder herein. Er sah zufrieden aus und meinte auch „Damit dürften Sie wesentlich mehr Sicherheit für den Anruf von Mr. Evans haben.“ „Auf jeden Fall. Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, Sie können mich auch ruhig Simon nennen. So alt bin ich ja nun auch wieder nicht.“ Der Butler lächelte und er machte auch ein wenig den Eindruck, dass er sich wohl schwer damit tat, gegen diese altbekannten Regeln zu verstoßen, während der Arbeitszeit niemals seine Arbeitgeber oder dessen Freunde oder Familie mit dem Vornamen anzusprechen. Er schien wohl eben sehr großen Wert auf seinen Beruf zu legen, wofür Simon ihn auch bewunderte. Deshalb erklärte er auch „Im Grunde arbeite ich ja auch für Leron, also ist es doch nicht so dramatisch, mich beim Vornamen zu nennen, oder?“ „Nun gut. Wenn Sie es so wünschen, Simon. Darf ich fragen, ob Sie vielleicht irischer Abstammung sind?“ Simon sah ihn erst überrascht an, aber dann verstand er, warum Anthony diese Frage gestellt hatte und musste schmunzeln. „Keine Ahnung. Ich wurde direkt nach meiner Geburt in einen Müllcontainer geworfen. Zwei Passanten hörten mich schreien und retteten mich vor dem sicheren Tod. Der Mann hieß Simon Tozier und die Frau trug den Namen Susan Cavanaugh. Die Leiter des Waisenhauses benannten mich also nach meinen Lebensrettern. Meine leibliche Familie kenne ich bis heute nicht. Ich denke mal, das ist auch nicht so sonderlich wichtig bei Eltern, die ihr eigenes Kind wie Abfall entsorgen, nur weil es anders ist.“ Ein bitteres Lächeln zog sich über Simons Lippen und Anthony nickte mitfühlend. Doch genau das war es, was Simon nur noch mehr verbitterte: dieses Mitleid. Es war so verlogen, wenn die Menschen einem sagten, sie könnten nachvollziehen, wie er sich fühlen würde oder was er durchmachte. Das war nichts als Heuchelei, denn verstehen würden sie es niemals. Nicht solange sie eine intakte Familie und ein glückliches Leben hatten. Keiner konnte verstehen wie es sich anfühlte, so wie er zu sein. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr seine Brust, als er daran dachte und ein schreckliches Gefühl der Einsamkeit überkam ihn. Und für einen flüchtigen Moment überkam ihn der Gedanke, dass er jetzt gerne Leron sehen würde. Simon hatte die meiste Zeit auf seinem Bett sitzend verbracht, während er sich im Fernsehen alte Folgen von Law & Order ansah und dabei Tortillas mit Dip als kleinen Snack aß. Dabei vergaß er fast den angekündigten Anruf und als das Telefon in seinem Zimmer klingelte, hätte er fast das Headset vergessen. Schnell setzte er es sich auf und nahm den Anruf an, wobei er sich aber dennoch etwas ungeschickt mit „Ja, hallo?“ meldete. Und am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen, weil er sich doch allen Ernstes wie ein jämmerlicher Amateur verhielt. „Hallo, Simon“, hörte er diese vertraute Stimme und ihn überkam das Gefühl, als hätte er Leron schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört. Dabei wusste er doch selber am besten, dass das totaler Schwachsinn war, immerhin hatte er ihn auch gestern Abend noch begrüßt, als Leron heimgekommen war. Aber dennoch fühlte es sich so an, als hätte er seit Monaten nichts mehr von ihm gehört. Dementsprechend schlug auch sein Herz höher, als er seine Stimme hörte. „Bist du bereit für deine nächste Lektion?“ „Ja, ich bin bereit“, antwortete Simon und spürte, dass er aufgeregt war, aber das kam ihm nicht allzu seltsam vor, denn immerhin hatte er überhaupt keine Vorstellung davon, was Leron mit ihm anstellen wollte und wozu er denn das Headset benötigte. „Was genau wird das für eine Lektion?“ „Nun, da ich aufgrund meines Projekts viel zu tun habe, werde ich abends bedauerlicherweise nicht dazu kommen, mich deiner Erziehung zu widmen. Deshalb habe ich beschlossen, dir stattdessen eine andere besondere Art von Lektion zu erteilen. Du hast ja weder Erfahrung im Dirty Talk und Telefonsex, nicht wahr?“ „Ja“, gab Simon zu und ahnte so langsam, worauf das alles hinauslief. Und so ganz wusste er nicht, was er davon halten sollte, immerhin würde es ja nicht mal richtig zur Sache kommen. Es war für ihn ziemlich schwer vorstellbar, dass es wirklich so gut sein konnte wie normaler Sex. Für ihn war Telefonsex nur etwas für verzweifelte Kerle, die sich nicht mal trauten, zu einer Nutte zu gehen. Mit anderen Worten: Telefonsex war ein Armutszeugnis. „Deshalb werde ich dir einen einfachen Einstieg geben. Als erstes gehst du in mein Zimmer.“ Mit einem kurzen „Okay“ machte sich Simon auf den Weg, verließ sein Zimmer und steuerte Lerons Räumlichkeiten an, immer noch unsicher, was jetzt gleich kommen würde und was ihn eigentlich dort erwartete. Aber er konnte nicht leugnen, dass er auch neugierig war zu sehen, was Leron für ihn vorbereitet hatte. Als er das Zimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah er sich kurz um und sagte schließlich „Ich bin jetzt drin. Was soll ich jetzt tun?“ „In der obersten Schublade der kleinen Kommode neben meinem Bett findest du ein paar kleine Spielzeuge. Da ich nicht hier bin und dich dementsprechend nicht sehen kann, wirst du mir haarklein sagen, was du denkst und was du fühlst. Selbst deine Fantasien wirst du in diesen Momenten mit mir teilen, was also bedeutet, dass du verbal deutlich aktiver werden wirst als du es vielleicht gewohnt bist.“ „Und was genau soll ich beispielsweise sagen?“ „Na zum Beispiel was dir jetzt gerade durch den Kopf geht. Erzähl einfach drauf los, ich werde dich schon in die richtige Richtung lenken. Du musst mir nur vertrauen.“ Simon ging zu der Kommode hin und öffnete sie. Darin fand er die Lederfesseln und den Dildo, welche Leron bereits bei ihm benutzt hatte, dann noch einen dünnen langen Metallstift mit einer kleinen, kugelförmigen Spitze mit dem er aber nichts anzufangen wusste, eine angebrochene Tube Gleitgel, eine Analkette, zwei Vibroeier in verschiedenen Größen und dann noch einen Dildo aus Glas mit blauen Noppen. Er sah auf dem ersten Blick mehr wie Dekoration und nicht wie ein Sexspielzeug aus. „Ich habe jetzt die Schublade geöffnet“, erklärte Simon nun. „Sag mal… wie lange hast du dieses Spielzeug schon?“ „Es ist noch sehr neu. Ich habe es extra für dich geholt, Simon. Nun? Welches Spielzeug sagt dir denn am meisten zu?“ Simon sah sich den Inhalt der Schublade an, doch sein Blick schweifte immer wieder zu dem Glasdildo und er nahm ihn in die Hand. „Der Glasdildo sieht interessant aus.“ „Eine sehr gute Wahl.“ „Und wofür ist dieser komische Metallstift mit der Kugelspitze eigentlich gut?“ „Das erfährst du später noch. Erzähl mir mal wie du dich gerade fühlst.“ „Etwas nervös, aber auch aufgeregt. Für mich ist Sex über das Telefon ziemlich neu…“ Simon nahm noch die kleine Tube Gleitgel aus der Schublade und überlegte, ob er wieder in sein Zimmer zurückgehen sollte. Doch dann entschied er sich spontan anders und machte es sich auf dem Bett bequem, legte seinen Kopf kurz auf das Kissen und konnte einen vertrauten Geruch wahrnehmen. Der Duft von Lerons Parfum. Und als hätte dies einen Schalter in seinem Kopf umgelegt, schloss er die Augen, sog diesen Duft ein und ihm war, als wäre Leron in diesem Moment tatsächlich hier. „Gerade liege ich auf deinem Bett und kann dein Parfum am Kopfkissen riechen. Ich schließe meine Augen und stelle mir gerade vor, dass du hier bist. Ich warte auf deine Befehle.“ „Zieh dich aus.“ Simon gehorchte und legte nach und nach seine Kleidung ab, wobei er kurz das Headset abnahm, um sein Shirt vernünftig ausziehen zu können. Nachdem er es abgelegt hatte, setzte er das Headset schnell wieder auf, um Lerons Stimme nicht zu verlieren und streifte dann seine Jeans und dann seine Unterhose ab, sodass er schließlich nackt auf Lerons Bett saß. „Ich habe all meine Sachen jetzt abgelegt und sitze nun vollkommen nackt auf deinem Bett“, sagte er nun. „Ich glaube, ich bin ein wenig nervös, aber auch ungeduldig. Auch wenn ich etwas unruhig bin, ist da etwas in meinem Körper, das nach mehr verlangt als nach ein bisschen reden.“ „Dann lass diesen Teil von dir nicht warten. Leg dich hin, schließ die Augen und stell dir vor, dass ich jetzt bei dir bin. Und gemeinsam werden wir ganz einfach in unserer Fantasie miteinander schlafen. Es kommt dabei vor allem auf deine Vorstellungskraft an, wie gut es für dich wird. Deshalb wirst du dich allein nach meiner Stimme richten.“ Simon gehorchte, nahm eine geeignete Position auf dem Bett ein und legte seinen Kopf auf Lerons Kissen, wobei er wieder diesen vertrauten Duft einatmete. Er schloss die Augen und er stellte sich vor, Leron würde sich über ihn beugen und mit seinen großen und zärtlichen Händen seine Brust streicheln, während sie sich leidenschaftlich küssten. Um dieses Gefühl zu verstärken, strich Simon mit seiner linken Hand über sein Schlüsselbein hinab zu seiner Brust und umspielte dabei seine rechte Brustwarze, während seine rechte Hand zwischen seine Beine glitt und dabei seinen Penis ertastete und diesen umschloss. „Ich sehe dich in meiner Fantasie direkt über mir, Leron. Du beugst dich über mich und wir küssen uns, während ich spüre, wie deine Hand über meine Brust streichelt und meine Erregung langsam steigt.“ „Aber dann löse ich meine Lippen von deinen und beginne nun, deinen Hals zu küssen, um dich in Stimmung zu bringen.“ Ein wohliger Schauer überkam Simon und als Leron es so direkt beschrieb, war ihm tatsächlich so, als würde Leron seinen Hals küssen und eine besonders sensible Stelle liebkosen, um seine Erregung zu steigern. So langsam begriff Simon nun, was der Sinn und Zweck dieser Lehrstunde war: es ging ganz einfach darum, es zusammen mit seinem „Sexpartner“ gemeinsam im Kopf stattfinden zu lassen. Also eine Art Mindfuck im anderen Sinne. Und es dabei auch noch auszusprechen, was man tat, fühlte und dachte, machte das Ganze nur noch erregender und Simon musste zugeben, dass das irgendwie was hatte, auch wenn er nicht so ganz wusste, ob er das auch so schnell mit anderen Freiern machen würde. „Ich erschaudere, als du eine besonders empfindliche Stelle an meinem Hals küsst. Ich keuche leise, als ich spüre, dass meine Erregung langsam steigt.“ „Aber da ich sehe, dass dir das noch nicht genügt, will ich einen Schritt weitergehen. Ich beginne deshalb mit meiner anderen Hand deinen Penis zu stimulieren.“ Wieder durchfuhr ein leichter Schauer über Simons Körper, als er Leron diese Worte aussprechen hörte. Es hatte etwas viel Intimeres an sich, so etwas zueinander zu sagen, als es einfach nur so zu tun. Und gleichzeitig fühlte es sich so unanständig an, allerdings auf eine positive Art und Weise. So etwas hatte er noch nie erlebt, vor allem nicht eine angenehme Art der Unanständigkeit. Für gewöhnlich hatte er es immer anders erlebt. „Ich spüre, wie meine Erregung weiter steigt und mein Herz schlägt schneller. Etwas in mir sucht nach Halt und ich lege deshalb meine Arme um dich, um mich an dir festzuhalten“, führte Simon weiter, als dieses Bild immer deutlicher vor seinen Augen auftauchte. „Ich will mehr, aber ich bringe es nicht fertig, es laut auszusprechen. Stattdessen unterdrücke ich mein Verlangen, es zu sagen und dich um mehr zu bitten.“ „Deine Augen sagen mir aber mehr als dein Mund es tut. Ich will dich deshalb noch weitertreiben und dich dazu bringen, es zu tun. Als ich über eine deiner Brustwarzen lecke, spüre ich, dass sie hart ist und beginne sie vorsichtig mit meinen Zähnen zu bearbeiten, um dir eine Mischung aus Lust und leichtem Schmerz zu bereiten.“ „Ich keuche laut auf und bekomme eine Gänsehaut. Für einen Moment überkommt mich ein leiser Zweifel und ich versuche mich wegzudrehen.“ „Zwecklos. Ich ergreife deine beiden Handgelenke und drücke sie aufs Bett nieder, damit du mir nicht flüchten kannst. Du sitzt in der Falle, aber wohl wissend, dass du nicht vollkommen hilflos ausgeliefert bist und immer noch alle Sicherheiten auf deiner Seite hast.“ Simon keuchte auf, als dieses Bild vor seinen Augen auftauchte, dass Leron seine Handgelenke mit festem Griff auf Bett niederdrückte und ihm die Möglichkeit nahm, ihn mit seinen Händen abzuwehren. Es hatte etwas so Erregendes an sich, auf diese Weise Lerons Berührungen und Liebkosungen ausgeliefert zu sein und dennoch keine Angst haben zu müssen. Denn er wusste, dass er ihm vertrauen konnte und ein einfaches Wort genügte, um das alles sofort zu stoppen, wenn er es so wollte. Er konnte sich fallen lassen und ganz diesem Gefühl hingeben, das er dabei verspürte. „Ich erkenne, dass ich meine Arme nicht nutzen kann, um Gegenwehr zu leisten, doch anstatt beunruhigt zu sein, erregt es mich umso mehr, insbesondere der Griff deiner Hand, der zwar stark, aber nicht grob ist.“ „Dich so zu sehen, provoziert mich nur noch mehr. Ich beschließe deshalb, meine Strategie zu ändern und drehe dich auf dem Bauch und sehe, wie du mir deinen süßen kleinen Hintern entgegenstreckst.“ Ohne es zu merken, hatte Simon die Position gewechselt und wartete ungeduldig auf mehr. Zwar wusste er, dass er auch einfach so weitermachen konnte, aber es war nicht das Gleiche, wenn er Lerons Stimme nicht dazu hatte. Also übte er sich in Geduld. „Mein Körper zittert vor Erregung, während ich ungeduldig auf dich warte.“ „Um dich vorzubereiten, lasse ich zwei meiner Finger in dich eindringen und mir entgeht dabei nicht, wie sehr du schon lustvoll zuckst wie ein notgeiles kleines Luder.“ Daraufhin befeuchtete Simon zwei Finger und schob sie langsam durch seinen Schließmuskel. Einen kurzen Moment lang kam es ihm ein klein wenig komisch vor, denn so etwas hatte er noch nie zuvor in seinem Leben getan und kurz kam ihm auch die Frage auf, ob das überhaupt normal war, so etwas zu tun. Aber dieser Gedanke blieb nicht lange in seinem Kopf, denn da tauchte das Bild vor seinem geistigen Auge auf, dass es Leron war, der es tat und nicht er selbst. Doch es fühlte sich noch nicht so ganz danach an, dass es auch Leron war, der ihn so berührte. Nein, Leron berührte ihn immer an einer ganz besonderen Stelle, wo es sich besonders intensiv anfühlte. Also ließ er seine Finger noch tiefer eindringen und spürte, wie sie von seinen inneren Muskeln fest umschlossen wurden. Doch da er keinerlei Erfahrung in so etwas besaß, dauerte es eine Weile, bis er ihn endlich gefunden hatte. „Ich stöhne laut auf, als ich deine Finger in mir spüre und das Verlangen nach mehr wird immer stärker. Um dich noch stärker in mir zu spüren, strecke ich mich dir mehr entgegen. Mein Körper wird langsam heiß und ich will dich jetzt umso mehr.“ „Da ich aber noch nicht die magischen Worte von dir gehört habe, lasse ich dich vorerst noch zappeln und lasse dich erst mal mit meinen Fingern begnügen.“ Simon keuchte und spürte immer stärker werdende Lust und wie sein Körper nach mehr zu hungern begann. Doch er wartete noch. Ein wenig wollte er es noch in die Länge ziehen, um es zu genießen. Dabei war es doch völlig verrückt. Er lag hier auf dem Bett seines Freiers und befriedigte sich während eines Telefonates mit ihm gerade selbst. So etwas konnte er doch wirklich nur verrückt nennen. Doch es kam ihm seltsamerweise nicht ganz so verrückt vor wie es vielleicht sollte. Er dachte auch nicht wirklich daran, sondern war viel tief in diesem Spiel drin, als dass er es abgebrochen hätte. Allein Lerons Stimme zu hören und wie dieser dabei noch diese Dinge zu ihm sagte, trieb ihn immer weiter und ließ ihn alles andere vollkommen vergessen. Aber dann, als ihn sein Verlangen endgültig übermannte, da konnte er sich nicht mehr zurückhalten. „Leron, ich… ich will mehr.“ „Da musst du schon ausführlicher werden“, hörte er ihn sagen. „Du weißt ja inzwischen, wie das Spiel läuft. Wenn du etwas willst, musst du es klar und deutlich sagen.“ „Ich will mehr als nur einen Finger“, rief Simon plötzlich. „Ich will es tief und hart besorgt bekommen.“ „So ist es brav“, sprach Leron mit deutlicher Zufriedenheit in der Stimme. „Dann nimm jetzt das Spielzeug zur Hand, welches du dir ausgesucht hast.“ Damit griff Simon nun nach dem Glasdildo und der Tube. Er verteilte das Gleitgel über die Oberfläche und während er dieses „Spielzeug“ betrachtete, fragte er sich, ob das auch wirklich eine gute Wahl war. Immerhin war dies ein massiver Gegenstand und soweit er richtig informiert war, waren die meisten Dildos aus Material gefertigt, das etwas weicher war und sich dementsprechend besser anpassen konnte. Hier aber würde sich rein gar nichts anpassen und eine leichte Sorge kam ihm, dass das Ding seinem Allerwertesten nicht gut bekommen würde. Und was war, wenn schlimmstenfalls was einreißen würde oder dergleichen? Ach was, er machte sich zu viele Gedanken. Immerhin führte er das Ding ja selber ein, da würde schon alles glatt gehen und außerdem hatte er sich bestens vorbereitet. Solche Bedenken wären vielleicht passend gewesen, wenn er noch Jungfrau wäre, aber die Zeiten waren schon mit 17 Jahren vorbei gewesen und er konnte schon einiges aushalten. Also würde das schon gut gehen. Simon drehte sich wieder auf den Bauch, um wieder seine bevorzugte Position einzunehmen. Doch er heilt sich noch zurück, denn Leron hatte ihm noch nicht gesagt, dass er jetzt anfangen durfte. „Und?“ fragte Lerons Stimme. „Kannst du es nicht mehr erwarten?“ „Nein“, antwortete Simon und machte sich bereit. Nachdem die letzten Unsicherheiten und Zweifel erloschen waren, wollte er es unbedingt tun und sich auf diese Weise zum Höhepunkt bringen, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, was richtig oder falsch war. „Na dann los“, hörte er Leron sagen. „Es hält dich niemand davon ab.“ Simon atmete tief durch und begann nun vorsichtig den Dildo in seinen Anus einzuführen. Dank dem Gleitmittel und der gläsernen Oberfläche klappte es besser als zuerst gedacht. Dennoch war es durch diese Unebenheit aufgrund der Noppen ganz neues Gefühl für ihn. So etwas hatte er bislang noch nie gehabt und es war erst ein klein wenig gewöhnungsbedürftig. Aber je tiefer er ihn einführte, desto besser fühlte es sich an. „Und? Wie fühlt es sich an?“ „Unglaublich“, keuchte Simon. „Es fühlt sich viel intensiver an…“ Nach einer kurzen Gewöhnungsphase begann der 21-jährige nun den Dildo zu bewegen. Er konnte nicht glauben, wie gut sich das anfühlte. Insbesondere da der Dildo selbst wärmer zu werden schien. Doch er wollte nicht das Spiel mit Leron vergessen, welches sie immer noch miteinander spielten. „Ich beginne es mir selbst von hinten zu machen und bewege den Dildo immer tiefer und stärker in mir.“ „Schließ die Augen und stell dir vor, dass es nicht deine Hand ist, die ihn bewegt, sondern meine. Ich drücke deinen Oberkörper aufs Bett, um dich dort festzunageln und es dir hart zu besorgen wie du es liebst.“ „Ah… Ja, das ist es“, keuchte Simon und spürte heiße Schauer über seinen Körper jagen und wie sich Schweißperlen auf seiner Haut bildeten. Nie im Leben hätte er gedacht, dass ihn so etwas tatsächlich so sehr erregen konnte und auch jetzt konnte er es kaum glauben. Vor allem war aber Leron ein wichtiger Grund, warum es erst so ein unbeschreibliches Erlebnis wurde. Seine Worte zu hören und sich diesen Fantasien einfach hinzugeben, war für ihn eine völlig neue aber verdammt heiße Erfahrung. „Härter…“ Immer stärker und tiefer bewegte er den Dildo und spürte, wie er sich langsam aber sicher seinem Limit näherte. Er hatte längst ausgeblendet, dass er alleine auf dem Bett lag und sich selbst befriedigte, während er mit Leron telefonierte. Das Ganze war inzwischen zu einem so intensiven Spiel geworden, dass er das Gefühl hatte, als wäre Leron wirklich hier bei ihm. „Ah… ich… ich komme gleich…“ „Dann komm ruhig und lass mich deine süße Stimme hören.“ Simon setzte zum Endspurt an und seine freie Hand krallte sich in das Kopfkissen. Der Duft von Lerons Parfum intensivierte nur noch die Fantasie, dass dieser jetzt in diesem Moment wirklich bei ihm war und Simon verlor sich in den intensiven Wogen der Lust, bis schließlich Sterne von seinen Augen explodierten und er zu seinem Höhepunkt kam. Schwer atmend lag er auf dem Bett und brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Dabei bemerkte er, dass ihm das Headset heruntergefallen war und setzte es sich schnell wieder auf. „Entschuldige, ich hab kurz das Headset verloren.“ „Schon gut“, sagte Leron und schien sich nicht daran zu stören. „Du hast deine Sache sehr gut gemacht, Simon. Dafür hast du dir einen kleinen Extrabonus zur Belohnung verdient.“ Nun setzte sich Simon überrascht auf, als er das hörte. Eine Belohnung? War Leron irgendwie in guter Laune oder hatte er die Lektion mit solcher Bravour gemeistert, dass er seine Erwartungen sogar übertroffen hatte? „Was für ein Extrabonus?“ wollte er nun wissen und war neugierig geworden. Doch Leron zeigte sich geheimnisvoll. „Lass dich einfach überraschen. Für heute brauchst du nicht mehr arbeiten.“ „Okay, danke. Bis heute Abend, Leron.“ Damit war das Telefonat beendet und Simon blieb noch eine Weile im Bett liegen, den Kopf auf das Kopfkissen gelegt, während er den Duft von Lerons Parfum einatmete, welches eine angenehm beruhigende Wirkung auf ihn hatte. Kapitel 9: Gewitter ------------------- Knapp drei weitere Tage vergingen, in denen sie sich ausschließlich über das Telefon näherkamen, da Leron teilweise erst gegen ein Uhr morgens zurückkehrte und dementsprechend auch sehr müde und erschöpft war. Nun kam es, dass er am darauf folgenden vierten Tag endlich die Präsentation der neuen Hybridmodelle erfolgreich über die Bühne gebracht hatte. Deshalb kam er wesentlich früher zurück, da er die Party etwas zeitiger verlassen hatte, denn er wollte seiner Familie möglichst aus dem Weg gehen. Zufrieden über die gelungene Präsentation und dem lukrativen Geschäft mit Dubai, Tokyo und Moskau war er am Abend nach Hause gefahren. Es donnerte laut und Blitze erhellten den dunklen Himmel. Ein heftiges Unwetter war hereingebrochen und insgeheim hoffte Leron, dass wenigstens der Strom nicht ausgefallen war und der Sturm keine allzu schlimmen Schäden verursacht hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es acht Uhr war. Um die Zeit war Anthony schon heimgegangen, was also hieß, dass Simon alleine war. Eigentlich gefiel es ihm nicht sonderlich, den Jungen alleine im Haus zu lassen, aber er hatte ja glücklicherweise Sicherheitsvorkehrungen getroffen, falls seine Brüder hier auftauchen sollten. Anthony hatte ihm auch noch eingeschärft, in seinem Zimmer zu bleiben, wenn die Tür klingeln sollte und so wie er Simon kannte, würde er sich an diese Anweisungen halten. Trotzdem hatte er zur Sicherheit eine Kamera über der Eingangstür anbringen lassen, damit er wenigstens Bescheid wusste, wenn Michael auftauchen sollte. Bei Jordan machte er zwar nicht so große Sorgen, aber es war dennoch wahrscheinlich, dass dieser später Michael von Simon erzählen würde und das musste natürlich verhindert werden. Als Leron das Haus betrat, war es stockdunkel. Selbst als er einen der Lichtschalter betätigte, blieb es dunkel, was ihn in seinen Verdacht bestätigte, dass entweder der Strom oder nur die Sicherung ausgefallen war. Nachdem er den Regenschirm in den Schirmständer gestellt hatte, betätigte er die Taschenlampenfunktion an seinem Handy und ging nach unten in den Keller, um nach der Sicherung zu sehen. Wenn es nur die war, konnte er sich problemlos selber darum kümmern. Zum Glück hatte er ein wenig Ahnung von Technik und Anthony hatte ihm viel gezeigt, als er noch jung war. Er war auch selbst der Ansicht, dass es nicht schaden konnte, zu wissen, wie man Reifen wechselte oder die Sicherung reparierte. So war man nicht allzu sehr aufgeschmissen, wenn man alleine war. Und wie sich herausstellte, lag das Problem tatsächlich an der Sicherung. Dieses war schnell wieder behoben und wenig später funktionierte auch der Strom wieder. Na wunderbar, damit wäre das auch erledigt. Zufrieden ging Leron wieder nach oben und steuerte sein Schlafzimmer an. Als er aber die Tür öffnete und das Licht einschaltete, blieb er überrascht stehen, denn da lag jemand in seinem Bett und zuerst erschrak der Unternehmer kurz, bis er dann feststellte, dass es nur Simon war. Dieser schlief tief und fest und erinnerte Leron irgendwie an ein kleines Kätzchen. Da konnte er einfach nicht anders, als Simons Kopf zu streicheln. Der Kleine war einfach viel zu süß, allerdings wunderte er sich, warum der Junge nicht in seinem eigenen Bett war, wenn er so müde war. Konnte es vielleicht sein, dass er sich wegen dem Unwetter nicht wohl gefühlt hatte? Der hatte doch nicht etwa Angst vor Gewitter, oder doch? Als ein lauter, ohrenbetäubender Donner draußen ertönte und ein greller Blitz den Himmel erleuchtete, wurde Simon aus seinem Schlaf gerissen und fuhr hoch, wobei er sich ruckartig aufsetzte. Und für einen Moment machte er einen etwas orientierungslosen Eindruck und registrierte erst einen Augenblick später, wo er eigentlich war. „Entschuldige“, murmelte er und stand hastig auf. „Ich hab in der Dunkelheit die Zimmer verwechselt. Ich bin sofort weg.“ Doch so ganz kaufte Leron ihm das nicht ab, denn Simon sah ganz deutlich danach aus, als wäre er ganz gezielt in dieses Zimmer gekommen. Und als ein neues Donnern zu hören war und der Brünette leicht zusammenzuckte, da verstand er allmählich, was los war und ergriff seine Hand. „Schon gut, du kannst ruhig hier bleiben, wenn du dich hier wohler fühlst. Draußen ist auch wirklich die Hölle los und die Sicherung ist auch rausgesprungen. Vermutlich ist hier vorhin ein Blitz eingeschlagen.“ Leron begann nun, seine Krawatte abzunehmen und sein Jackett auszuziehen. Inzwischen hatte sich Simon wieder aufs Bett gesetzt und es schien ihm wohl etwas peinlich zu sein, dass er erwischt worden war, wie er im Bett eines anderen geschlafen hatte. Wahrscheinlich hatte er sich nicht anders zu helfen gewusst, als das Unwetter hereingebrochen war und er schließlich ganz alleine gewesen war. „Du kannst gerne hier bleiben, solange du möchtest. Ich habe nichts gegen ein wenig Gesellschaft, vor allem weil wir uns in den letzten Tagen ohnehin kaum gesehen haben.“ „Ist dein Projekt gut verlaufen?“ erkundigte sich Simon etwas zögerlich und immer noch schien ihm diese Situation ein wenig unangenehm zu sein. „Ja, die Präsentation war ein voller Erfolg und wir konnten neue Geschäftskunden im Ausland gewinnen. Da ich allerdings kein Freund dieser ausschweifenden Partys bin, habe ich beschlossen, etwas früher nach Hause zu kommen. Aber sag mal, Simon… hast du Angst vor Gewitter?“ Augenblicklich verfärbten sich die Wangen des 21-jährigen glutrot und mit einem etwas grimmigen Gesichtsausdruck sagte dieser „Ich habe keine Angst, ich fühle mich halt nur etwas unwohl, das ist alles. Vor allem weil es auf einmal stockfinster wurde.“ „Ja, das kenne ich gut“, pflichtete Leron bei und verschwand kurz ins Bad, ließ aber die Tür offen. „Vor allem in der Kindheit ist es am schlimmsten, wenn man dann niemanden hat, der einen trösten kann, wenn man Angst bekommt.“ „Ist halt so, wenn man im Waisenhaus aufwächst“, seufzte Simon. „Da lernt man sehr früh, auch ohne Eltern klar zu kommen.“ „Dazu muss man nicht unbedingt im Waisenhaus aufwachsen“, wandte Leron ein. „Ich habe schon alleine in diesem Haus gelebt, als ich acht Jahre alt war.“ „Wieso das denn?“ „Ich habe mich mit meinen Brüdern nie verstanden und unser Vater erachtete es deshalb als das Beste, wenn ich getrennt von den anderen lebe. So bin ich isoliert vom Rest der Familie aufgewachsen.“ „Komische Erziehungsmethoden…“ Nach einer kurzen, heißen Dusche kam Leron zurück und sah, dass der Junge immer noch auf dem Bett saß und den Eindruck erweckte, als erwarte er irgendetwas, das jedenfalls nichts Gutes zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich wäre er am liebsten gegangen, nur um aus dieser für ihn sehr peinlichen Situation zu flüchten. „Ich glaube, im Bett zu liegen ist wesentlich gemütlicher, als nur auf dem Bett zu sitzen.“ Stumm folgte Simon dieser indirekten Aufforderung und kroch unter die Bettdecke. Ein lautes Donnern ließ ihn erneut leicht zusammenzucken, woraufhin Leron einen Arm um ihn legte und an sich heranzog, um ihm ein wenig die Angst zu nehmen. Dabei dachte er daran, wie er selber als Kind gewesen war. Er hatte nie Angst vor Stürmen oder Gewittern gehabt, aber auch nur deshalb, weil es viel schlimmere Dinge gab, vor denen er Angst hatte. Nämlich die Bestrafungsspiele von Michael. Für manche wäre es schwer vorstellbar gewesen, dass ein Erwachsener Angst vor Donner hatte, aber in Lerons Augen war Simon noch nicht erwachsen, sondern immer noch ein Junge. Das mochte vor allem an dessen jungem Erscheinungsbild und der etwas kurz geratenen Körpergröße liegen. Vielleicht spielte aber auch sein starker Beschützerinstinkt für Simon eine große Rolle, dass er ihn nicht als einen Erwachsenen sehen konnte. „Ich will dir mit meiner Frage nicht zu nahe treten“, sagte er schließlich, als er beschloss, Simon vielleicht durch ein bisschen Reden vom Gewitter ablenken zu können. „Aber wie bist du eigentlich darauf gekommen, deinen Körper auf dem Straßenstrich zu verkaufen? Hattest du Geldsorgen oder irgendwelche anderen Probleme?“ Als Simon die Frage hörte, haderte er für einen Moment, denn er mochte es eigentlich nicht, über sein Leben zu erzählen, vor allem nicht irgendwelchen Fremden. Aber inzwischen war Leron nicht mehr „irgendein Fremder“, auch wenn er immer noch sein Freier war. Und doch war ihre Beziehung nicht mehr bloß rein geschäftlich, das hatte selbst er gemerkt, auch wenn er es sofort abgestritten hätte, wenn man ihn fragen würde. Er fühlte sich bei Leron gut aufgehoben und vertraute ihm. Und inzwischen vertrat er auch die Ansicht, dass Leron zwar einige sehr seltsame Vorlieben hatte, er aber dennoch ein anständiger Mensch war. Auch wenn er reich war, so war er überhaupt nicht abgehoben und er behandelte ihn auch nicht von oben herab oder hielt ihm seine Herkunft vor. Stattdessen kümmerte er sich um ihn und das rechnete Simon ihm hoch an. Als er einen Sonnenstich bekommen hatte, da hatte sich Leron liebevoll um ihn gekümmert und das hatte deutlich dazu beigetragen, dass er in ihn nicht mehr bloß einen reichen Fetischisten sah. Er sah auch einen fürsorglichen Menschen in ihm und deshalb beschloss er, mit seiner Regel zu brechen und über sein Leben zu erzählen. „Wegen meiner Augen wollte mich niemand einstellen. Da ich aus einem Waisenhaus komme, hatte ich nie hochtrabende Ziele und wäre mit einem Bürojob schon glücklich geworden. Mag langweilig klingen, aber ich hatte schon immer ein sehr gutes Händchen für Zahlen und Finanzen und ich wollte in die Buchhaltung. Aber kaum, dass ich beim Vorstellungsgespräch antanzen musste, da verbanden die Personalchefs meine Augen mit einer Behinderung und Behinderte will keiner einstellen oder ausbilden. Mir war schon in der High School klar gewesen, dass ich keine Zukunft habe und meine einzige Chance auf ein normales Leben ein experimenteller Eingriff war. Ein berühmter Augenarzt hatte von meinen Augen gehört und untersuchte mich. Er sagte, er könnte meine Pigmentanomalie heilen, allerdings kostet das viel. Tja und da ich als Zeitungsbote nicht genug verdiente und mich sonst niemand einstellen wollte, blieb nur die Lösung, meinen Körper zu verkaufen, um das nötige Geld für die Operation zu verdienen.“ „Es war sicher nicht einfach für dich, oder?“ Simon nickte und dachte an seine Anfangszeit als Stricher. Es „nicht leicht“ zu nennen, wäre stark untertrieben gewesen. In Wahrheit war die erste Zeit die Hölle für ihn gewesen. „Mein erster Kunde fuhr mich in ein schäbiges Motel am East End, es war das sogenannte Paradise Inn mit einem Neonleuchtschild, das so heftig blinkte, dass man einen epileptischen Anfall bekommen konnte, wenn man zu lange drauf starrte. Es war alles dreckig und heruntergekommen und ich hatte Angst gehabt. Angst vor dem, was mir bevorstehen würde, Angst vor diesem Ort und Angst vor den Schreien in den anderen Zimmern. Es wurde sogar geschossen, als wir zu seinem Zimmer gingen. Die ersten zwei Monate waren die Hölle gewesen. Ich hatte oft Schmerzen und habe mich so schmutzig und schäbig gefühlt, dass ich wie ein Mädchen in der Dusche gekauert und geheult habe und das so lange, bis meine Lippen blau waren und meine Haut vom Schrubben wundgescheuert war. Teilweise habe ich mich auch oft übergeben müssen und ich begann Alkohol zu trinken. Die Kohle der ersten drei Monate gingen größtenteils für Alkohol drauf, weil ich vergessen wollte, was ich tat, aber ich realisierte, dass mich das nicht weiterbringen würde. Außerdem kriegten die Leiter des Waisenhauses mit, dass ich oft besoffen war und drohten, mich rauszuschmeißen. Da ich nicht auf der Straße leben wollte, musste ich also gezwungenermaßen das Trinken wieder aufgeben und lernen, mit den Dingen zu leben, die ich tat. Je öfter ich es tat, desto leichter wurde es.“ Leron wurde ernst und sein Magen verkrampfte sich, als er das hörte. Der Junge musste wirklich durch die Hölle gegangen sein und es musste wirklich die reine Verzweiflung gewesen sein, dass er diesen Schritt gegangen war. Er spürte schon, wie sich wieder die verräterische Stimme seines Bruders in seinem Kopf ankündigte, doch er beschloss, ihr zuvorzukommen und fragte „Wie stehen denn die Chancen, dass die Operation gelingt?“ „Nicht gut“, seufzte Simon. „Gerade mal 35% und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass mein Sehnerv beeinträchtigt wird, was also heißt, dass sich meine Sehkraft verschlechtert. Schlimmstenfalls werde ich mein Augenlicht dabei verlieren.“ „Und wieso willst du dann dieses Risiko auf dich nehmen, wenn die Chancen so schlecht stehen?“ „Weil das meine einzige Chance ist“, erklärte Simon und sah Leron direkt an. Etwas sehr trauriges lag in seinen Augen. „Ich werde niemals ein normales Leben haben, wenn ich diese hässlichen Augen habe. Sobald ich das Geld zusammen habe, kann ich die Operation bezahlen und wer weiß… vielleicht sieht das Ganze in vier Jahren anders aus und die Erfolgschancen haben sich erhöht. Aber es ist meine einzige Hoffnung, dass mich die Menschen nicht mehr wie ein Monster behandeln, nur weil ich mit solchen Augen gestraft bin.“ Leron hörte die Hilflosigkeit und die Verzweiflung in Simons Stimme und sah sie auch in seinen Augen. Ihn so zu sehen, tat ihm weh und daraufhin strich er ihm aufmunternd über den Kopf. „Wenn dir die Operation so wichtig ist, werde ich dir helfen. Ich werde mich mit diesem Arzt in Verbindung setzen und sehen, was sich tun lässt, um die Erfolgschancen zu erhöhen.“ „Das würdest du echt tun?“ fragte Simon überrascht. „Aber warum?“ „Ich dachte, du hättest Schuldenprobleme und bräuchtest deshalb so viel Geld“, erklärte Leron. „Nur deswegen würde ich dir das Geld nicht so ohne weiteres geben. Aber wenn du es aus gesundheitlichen Gründen brauchst und deine Augen ein so großes Problem für dich sind, dann will ich dir helfen. Natürlich wird sich nichts an unserem Vertrag ändern, aber da dir diese Operation so wichtig ist und ich auch verstehen kann, wie sehr dich diese Situation so belasten muss, werde ich sehen, was ich tun kann.“ Ein zögerliches aber dennoch dankbares Lächeln huschte über Simons Lippen, als Leron das sagte und er konnte nicht glauben, dass dieser so etwas tatsächlich für ihn tun würde. Noch nie hatte jemand so etwas für ihn getan. „Danke.“ „Schon gut“, sagte Leron nur und winkte ab. „Warum hast du nicht schon früher gesagt, wofür du das Geld brauchst?“ „Weil meine Vergangenheit niemanden etwas angeht“, erklärte der 21-jährige und verkrallte seine Hände in die Decke, als ein lautes Donnergrollen seine Stimme übertönte. Es war so laut, dass es einem das Gefühl gab, als wäre nicht weit von hier eine Bombe detoniert und gleich das Dach über dem Kopf zusammenstürzen. Und draußen heulte immer noch der Wind. Wahrscheinlich würde das Gewitter noch die ganze Nacht anhalten. „Ich habe keine Lust, den Leuten vorzujammern, wie beschissen mein Leben ist und ihnen einen Grund liefern, sich noch über mich lustig zu machen. Es reicht doch schon, wenn ich für sie ein Freak bin. Da brauch ich ja nicht noch ein bemitleidenswerter Freak zu sein.“ Als ein lautes Krachen über sie hereinbrach und es mit einem Male wieder dunkel wurde, sah Leron, wie Simon sich erschrocken duckte und die Hände über den Kopf legte, als wolle er sich vor einem Blitzschlag schützen. Sofort stand der Unternehmer auf und ging zu seinem Schreibtisch hin, um sein Feuerzeug zu holen und zündete ein paar Kerzen an, die er auf die Kommode neben das Bett stellte. „Offenbar ist die Sicherung schon wieder rausgeflogen“, murmelte er. „Da das Unwetter wohl noch länger dauert, lohnt es sich wohl nicht sonderlich, die Sicherung wieder einzusetzen. Aber Kerzenschein hat ja schließlich auch etwas. Findest du nicht auch?“ Doch Simon schwieg und man sah ihm an, dass er nun wirklich Angst hatte. Es kostete ihn wohl wirklich viel Mühe, seine Angst vor Gewittern zu verbergen und heute, wo es besonders heftig zuging, schien es ihm nicht so wirklich zu gelingen. In diesem Moment wirkte er auf Leron wie ein verängstigtes kleines Kätzchen. Als der Unternehmer ihn so sah, kam er wieder zu ihm ins Bett und nahm ihn in den Arm, um ihm etwas mehr Sicherheit geben zu können. Für gewöhnlich hätte Simon so eine Situation nicht zugelassen, aber in diesem Moment war er einfach nur froh, nicht alleine zu sein. „Wenn es dir hilft, kannst du gerne die Nacht hier bei mir bleiben. Ich habe mir die nächsten drei Tage ohnehin freigenommen, da habe ich auch so etwas mehr Zeit für dich.“ „Das geht so einfach?“ fragte Simon zögerlich. „Ich meine… du als Chef eines Konzerns?“ „Ich habe zwei Prokuristen und einen Sekretär, die den Laden eine Weile am Laufen halten können. Und in einer Sache muss ich dich korrigieren: ich leite ein Unternehmen, den Konzern leitet mein Vater.“ Nun sah der Brünette ihn etwas ratlos an und schien nicht ganz zu verstehen. Und da das vielleicht eine gute Gelegenheit war, um ihn vor seiner Angst abzulenken, erklärte Leron es ihm. „Ein Unternehmen setzt sich aus mehreren Betrieben zusammen, die unterschiedliche Aufgabenbereiche übernehmen. So zum Beispiel die Verwaltung, den Einkauf der verschiedenen Teile, die Herstellung der Hybridautos und die technische Entwicklung. Ein Konzern hingegen setzt sich aus mehreren Unternehmen zusammen, was also heißt, er steht über einem Unternehmen. Es ist wie eine Art Hierarchiekette. Die Evans Hybrid Technologies ist also ein Unternehmen, das vom Evans-Konzern ins Leben gerufen wurde und wenn sie zu einem Konzern gehören, sind sie auch nichts anderes als ein kleineres Zahnrad im Getriebe. Allerdings gibt es da eine Ausnahme: auch wenn meinem Vater der Konzern gehört, verfüge ich über sämtliche Entscheidungsgewalt über das Unternehmen, wodurch wir also unabhängig vom Konzern sind.“ „Dann heißt das, ihr gehört nur noch zum Schein zum Konzern dazu?“ „So in etwa.“ „Und warum?“ „Der Konzern genießt ein sehr gutes Image, auch im Ausland. Und da viele Geschäftspartner und Kunden gewohnt sind, das Unternehmen mit dem Konzern zu verbinden, habe ich es so dabei belassen. Außerdem kann es sich schlecht auf unser Image auswirken, wenn die Leute erfahren, dass wir nichts mehr mit dem Konzern zu tun haben. Dadurch gewinnen Geschäftspartner den Eindruck, als würden sich eventuelle familiäre Probleme auch im geschäftlichen Bereich bemerkbar machen und das könnte sie abschrecken. Schlimmstenfalls würden sie keine Geschäfte mehr mit uns schließen wollen, was sich zu unserem Nachteil auswirkt. Um das zu vermeiden, belassen wir es bei diesem Schein und handhaben diese Trennung rein inoffiziell. Nun ja, das sind halt komplizierte Geschäftspolitiken. Interessierst du dich für so etwas?“ Simon nickte ein wenig zögerlich und gab zu „Ich wollte schon immer im Büro eine Ausbildung machen. Vielleicht habe ich nach vier Jahren ja eine Chance.“ „Warum nicht?“, meinte Leron und nickte zustimmend. „Wenn du wirklich Spaß daran hast, dann tu das ruhig. Du scheinst mir ein sehr intelligenter Junge zu sein und ich könnte mir auch vorstellen, dich bei uns als Auszubildender zu sehen. Natürlich nur wenn du möchtest.“ Es dauerte noch knapp zwei Stunden, bis sich das Gewitter etwas abschwächte und auch der Donner eher etwas weiter weg zu hören war. Dennoch blieb Simon noch bei Leron und lauschte dem Regen, der gegen die Fenster prasselte. Als er merkte, wie er langsam müde wurde, wandte er sich an Leron, nur um festzustellen, dass dieser bereits schlief. Also stand er kurz auf und blies die Kerzen aus, bevor er zurück ins Bett kroch. Doch auch wenn er müde war, beschäftigte ihn eine Frage, die ihm auf dem Herzen lag und die er schon die ganze Zeit stellen wollte, sich aber nicht getraut hatte. „Was bin ich eigentlich für dich?“ Er ärgerte sich, dass ihm diese Frage erst dann über die Lippen kam, als es eh keinen Zweck mehr hatte, da Leron ihm die Frage nicht beantworten konnte. Auch wenn er glaubte, die Antwort eigentlich zu kennen, beschäftigte ihn die Frage schon seit Tagen. Insbesondere jetzt fragte er sich das, nachdem er schon hier in Lerons Bett lag und dieser ihm sogar Hilfe angeboten hatte. Kein normaler Freier würde das machen und Simon wusste nicht, was er davon halten sollte und ob er sich nicht vielleicht lieber wünschen sollte, dass Leron sich mehr wie ein Freier verhielt und nicht wie ein Wohltäter. Das hier war doch nicht Jean Websters „Daddy Langbein“, wo einem Waisenmädchen dank einem anonymen Gönner ein Studium ermöglicht wurde und sie ihm zum Dank regelmäßig Briefe schrieb. Nein, er war eher in einer Mischung aus Fifty Shades of Grey und Pretty Woman gelandet. Egal wie sehr man es auch drehte und wendete, er war immer noch Lerons Petboy und ein Stricher, womit er offiziell zur untersten Gesellschaftsstufe gehörte. Aber er war nie wie ein Haustier oder wie ein Stricher behandelt worden, seit er hier war. Auch wenn Leron einen gewissen Gehorsam erwartete, verlangte er nie Unmögliches oder Grenzwertiges und es herrschte immer ein sehr respektvoller Umgang, so als würde er Simon als einen Menschen und nicht als ein Spielzeug fürs Bett ansehen. Und genau das war es, was ihn so verwirrte. „Was bin ich für dich?“ Als hätte Leron diese Frage gehört und wollte ihm eine wortlose Antwort geben, legte sich ein Arm um Simon und so wurde dieser näher zu ihm herangezogen. Naja, dachte sich Simon. So dringend eilt die Antwort ja nun auch wieder nicht. Und so schloss er die Augen und fühlte sich so geborgen wie noch nie in seinem Leben. Kapitel 10: Erziehungsstunde ---------------------------- Ein leises Schnarchen weckte Leron am nächsten Morgen und als er die Augen öffnete und sich aufsetzte, sah er Simon, der die Hälfte seines Gesichts ins Kissen gedrückt hatte und bäuchlings der Länge nach ausgestreckt da lag, während er tief und fest schlief. Dieser Anblick ließ ihn schmunzeln und er beschloss, ihn noch ein wenig schlafen zu lassen. Und als er ihn so betrachtete, konnte er sich den Gedanken nicht verkneifen, dass Simon wie ein kleiner Engel aussah, auch wenn er in seinem Tiefschlaf gerade ein wenig auf das Kissen sabberte. Dennoch war der Anblick einfach zu süß. Zuerst dachte Leron daran, sich noch mal ein klein wenig hinzulegen und diese Zweisamkeit zu genießen, aber den Gedanken verwarf er wieder, denn ihm fiel ein, dass er noch etwas Wichtiges zu erledigen hatte. Er suchte nämlich sein Handy und wählte die Nummer seines Sekretärs heraus. Um die Zeit war der Gute schon längst im Büro und da konnte er auch mal etwas für sein Geld tun. Damit er aber Simon nicht noch aufweckte, ging er ins Bad, wo er telefonieren konnte, ohne den Jungen aufzuwecken. Es dauerte nicht lange, bis sich die Stimme seines Sekretärs Stuart Hansen meldete. „Guten Morgen, Mr. Evans. Was kann ich für Sie tun?“ „Morgen, Hansen. Ich will, dass Sie einen Termin für mich bekommen. Suchen Sie die Nummer eines gewissen Dr. Dawson heraus. Er ist vom Beruf Augenarzt und wenn Sie ihn gefunden haben und ihn anrufen, sagen Sie ihm meinen Namen und sagen Sie ihm, dass ich einen geschäftlichen Termin mit ihm vereinbaren will.“ „Einen Geschäftstermin?“ fragte der Sekretär verwirrt und seine Irritation war nicht ungerechtfertigt. Immerhin hatte ein Augenarzt nicht sonderlich viel mit Hybridtechnologie am Hut. „Dürfte ich fragen…“ „Sie werden nicht bezahlt, um meine Entscheidungen zu hinterfragen, sondern um meine Anweisungen auszuführen, Hansen. Besorgen Sie mir gefälligst einen Termin bei diesem Augenarzt und wenn er Anstalten macht, ein Treffen abzulehnen, dann sagen Sie ihm, dass ich gedenke, eine große Summe in ihn zu investieren. Meinetwegen erzählen Sie ihm irgendeine rührselige Geschichte und appellieren an seine moralische Verpflichtung als Arzt. Hauptsache Sie verschaffen mir einen schnellstmöglichen Termin bei ihm. Ich will diesen Termin noch vor Ende der nächsten Woche und wenn er seinen freien Tag dafür opfern muss. Und ich erwarte spätestens heute Nachmittag ein positives Ergebnis, Hansen. Andernfalls werden Sie mich nämlich noch sehr stinksauer erleben und das wollen Sie garantiert nicht!“ Und nachdem sein Sekretär mit etwas eingeschüchterter Stimme versichert hatte, dass er sich darum kümmern werde, legte Leron auf und kehrte zurück. Damit war das erst mal erledigt. Er würde diesen Augenarzt persönlich wegen der Augenoperation für Simon sprechen und alles daran setzen, damit die Erfolgschancen für die Operation erhöht werden konnten. Für ihn stand fest, dass er alles tun würde, um dem Jungen zu helfen, nachdem er die Wahrheit erfahren hatte, warum dieser die 500.000$ so dringend brauchte. Er würde schon dafür sorgen, dass es ihm bald wieder besser ging und er seinen Traum von einem normalen Leben erfüllt bekam. „Dir ist aber schon klar, dass du nur versuchst, dein Gewissen zu beruhigen, weil du die verzweifelte Lage des Jungen ausnutzt, um ihn zu deinem Spielzeug zu machen.“ Und wenn man vom Teufel sprach, musste sich sein Bruder wieder melden. Verdammt noch mal warum konnte er nicht einfach mal die Klappe halten? „Du redest mal wieder nur Schwachsinn und es interessiert mich einen Scheiß, was du sagst.“ „Du willst doch einfach nur nicht der Realität ins Auge sehen, dass du die Hilflosigkeit dieses Bengels ausnutzt. Aber mach dir nichts draus, ich bin sogar fast stolz auf dich. Ich hab diesen armen Schwachkopf zu mir gelockt indem ich ihm versprochen habe, ihm 500$ zu zahlen wenn er dafür alles mit sich machen lässt. Und letzten Endes hat er nicht einen einzigen Cent von mir zu Gesicht bekommen. Im Grunde hatte ich ein paar echt tolle Gratisstunden mit dem Jungen und das nur auf seine Kosten. Tja, gerissen muss man eben sein.“ „Sag das noch einmal und ich schlage dir die Zähne ein, wenn ich dich sehe!“ rief Leron wutentbrannt und bemerkte dabei nicht, dass Simon aufgewacht war. Als er wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte, hatte sich dieser bereits aufgesetzt und rieb sich müde die Augen. „Was ist denn los?“ murmelte er und gähnte laut. „Warum das Geschreie?“ Müde blinzelte Simon und als er das Handy in Lerons Hand sah, dachte er sich, dass er offenbar ein sehr unerfreuliches Telefonat am Morgen hatte. Nun, wahrscheinlich wäre er auch stinksauer gewesen, wenn er so früh geweckt wurde, weil irgendjemand an seinem freien Tag anrief. „Ich hatte nur ein energisches Gespräch gehabt“, erklärte Leron. „Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe. Da ich übrigens die nächsten drei Tage frei habe, werde ich dich öfter als sonst beanspruchen. Nur damit du schon mal informiert bist.“ „Okay…“, murmelte Simon etwas verschlafen und streckte sich laut gähnend. „Ich geh mich dann mal fertig machen.“ Damit verabschiedete sich der 21-jährige fürs Erste und ließ Leron allein. Später saßen sie gemeinsam am Frühstückstisch zusammen und während Leron sich mit einem Kaffee und der Zeitung begnügte, belud Simon seinen Teller, als hätte er schon seit längerem keine anständige Mahlzeit mehr gehabt. Und als er sah, dass Leron nichts zu sich nahm, meldete er sich auch gleich zu Wort indem er anmerkte „Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag. Wenn du nichts isst, wirst du nie groß und stark werden.“ Hier sah Leron ungläubig von seiner Zeitung auf, woraufhin er mit einem halb amüsierten Schmunzeln meinte „Also ich glaube, über meine Größe kann ich mich eher wenig beklagen. Ich frühstücke morgens nur äußerst selten, ich war auch nie ein sonderlich großer Fan davon. Ein Kaffee oder Espresso reicht mir meist vollkommen.“ Damit gab sich Simon zufrieden und nahm sich noch etwas Rührei und goss sich noch etwas Orangensaft ein. „Darf ich mal eine Frage stellen?“ „Klar“, sagte Leron und legte die Zeitung beiseite. „Was willst du denn wissen?“ Doch Simon schien noch ein wenig mit seiner Frage zu zögern und war sich wohl nicht ganz sicher, ob er sie wirklich stellen sollte. Aber dann wagte er den Versuch. „Du weißt ja inzwischen, dass ich Probleme mit Gewittern habe. Gibt es irgendetwas wovor du dich fürchtest? Irgendwie wirkst du wie der absolut Unantastbare auf mich, aber selbst jemand wie du muss doch vor etwas Angst haben.“ Nun war Leron etwas verwundert, denn mit so einer Frage hätte er nicht gerechnet. Vor allem wunderte es ihn, warum der Junge so etwas wissen wollte. Normalerweise hätte er auch auf so eine Frage keine Antwort gegeben, denn niemanden gingen seine Probleme und Ängste etwas an. Aber andererseits könnte er auf diese Weise vielleicht Simons Vertrauen besser gewinnen. Außerdem erschien es ihm fair, etwas von sich preiszugeben, wenn er schon gestern miterlebt hatte, dass der Kleine Angst vor Gewittern hatte. „Ich habe Angst vor Hunden“, antwortete er. „Als ich klein war, hatten wir einen Wachhund und als ich mit ihm spielen wollte, griff er mich an und biss mir ins Bein und in den rechten Arm. Ich musste daraufhin ins Krankenhaus und seitdem traue ich mich nicht mehr in die Nähe eines Hundes. Wobei ich aber offen gestanden weniger Angst vor einem kleinen Chihuahua als vor einem Kampfhund hätte.“ Und noch eine Angst hatte er, aber darüber wollte er nicht einmal mit Simon reden: er hatte Angst vor Michael. Schon seit dieser ihn damals mit diesen Bestrafungsspielen gequält hatte, existierte diese Angst vor ihm. Doch davon durfte niemand etwas erfahren. Es war schon schlimm genug, dass Michael selbst davon wusste und es schamlos ausnutzte. „Hunde sind auch nicht so meine Lieblingstiere“, pflichtete Simon bei. „Ich kann mit diesen Kötern auch nichts anfangen und diese kleinen Handtaschen-Fiffis finde ich besonders nervig, weil die immer nur am herumkläffen sind. Da finde ich Katzen wesentlich angenehmer, auch wenn sie ihre Besitzer im Schlaf ersticken und dann die Leichen auffressen. Hab ich zumindest mal in einer Doku gesehen.“ „Ja, Katzen sind schon wunderbare Tiere.“ Ob er wohl bei mir an eine Katze denkt, wenn ich sein Petboy bin?, fragte sich Simon, als ihm der Gedanke durch den Kopf ging. Und dabei musste er sich selbst mit Katzenohren, einem Katzenschweif und einem roten Schleifchen mit goldenem Glöckchen vorstellen. Und dabei kam er zu dem Schluss, dass das eher ein perverser Fetisch war. Doch seine Gedanken wurden unterbrochen, als Leron aufstand und seine Hände auf Simons Schultern legte. Fragend blickte Simon auf und ihm war, als wäre Leron wieder so abwesend und als wäre er weit entfernt mit seinen Gedanken. „Leron?“ „Dein Training wird in knapp einer Stunde anfangen. Ich gehe noch ein paar Dinge vorbereiten.“ Damit verließ Leron die Küche und Simon fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, Leron nach seinen Ängsten zu fragen, denn seine Stimmung war blitzartig umgeschlagen. Hatte er gut gelaunt und entspannt gewirkt, war er schlagartig ganz komisch geworden, so als würde ihm irgendetwas große Sorgen bereiten. Vielleicht war er versehentlich in ein Wespennest getreten und etwas hatte Leron daraufhin ziemlich schlimm gestochen. Und das war nicht das erste Mal gewesen. Es war schon mal passiert, nämlich als er den Sonnenstich erlitten hatte und ins Wohnzimmer gebracht worden war. Ob Leron unter Stimmungsschwankungen litt? Nun, das erklärte zumindest das aggressive Telefonat, das er im Halbschlaf mitbekommen hatte. Nach dem Frühstück ging Simon in sein Zimmer und zog sich um. Er entschied sich für ein Top und eine etwas engere Hose, dazu zog er sein Halsband an. Auch wenn er es nie und nimmer zugegeben hätte, aber er freute sich schon ein wenig auf sein Training. Der Telefonsex war zwar auch eine ganz nette Erfahrung gewesen, aber es war nicht das gleiche wie echter Sex und nachdem sie sich tagelang kaum gesehen hatten, vermisste er dementsprechend auch ein wenig die direkte Intimität mit Leron. Darum wartete er auch ein wenig ungeduldig darauf, dass Leron zu ihm kam, um ihn abzuholen. Dann endlich öffnete sich die Tür und Leron kam herein, um ihn zu holen. Sofort stand Simon auf und folgte ihm. Es ging aber nicht ins Schlafzimmer, sondern nach unten. Im Untergeschoss hatte sich Simon schon mal umgesehen. Dort gab es einen Indoorpool, eine Sauna und eine abgeschlossene Tür. Nun war sie geöffnet und als Simon die rot tapezierten Wände und die Spiegel mit vergoldeten Rahmen sah, dachte er sich insgeheim „Und damit wechseln wir von Pretty Woman zu Fifty Shades of Grey“, doch er behielt es für sich und bemerkte, dass es nicht bloß ein einziger Raum war, der dahinter lag. Es war eine Art langer Flur, der in mehrere Räume führte. Wahrscheinlich waren diese Hobbyräume alle unterschiedlich eingerichtet. „Weiß dein Butler eigentlich von deinem Pornokeller?“ „Es gibt Dinge, die er weiß und Dinge, die er nicht unbedingt zu wissen braucht, aber vermutlich bereits erahnt“, erklärte Leron und beließ es dabei. Simon verstand auch so was er meinte. Und als der Unternehmer bemerkte, dass sein Petboy ein wenig nervös wurde weil er wohl nicht wusste, was ihn erwarten würde, tätschelte er ihm den Kopf und versicherte ihm „Ich werde nichts Schlimmes von dir verlangen und du hast jederzeit die Chance, abzubrechen. Du musst mir nur vertrauen.“ „Es mag an meiner Berufserfahrung liegen“, murmelte Simon und versuchte seine aufkommende Anspannung zu bekämpfen. „Aber unsereins verbindet nie etwas Gutes damit, wenn es in den Keller geht.“ „Ach echt? Und was denn genau?“ „Dass unser Freier eventuell ein Psychopath ist, der sich aus unserer Haut ein Kleid nähen will.“ Bei dieser Anspielung musste Leron unverhofft lachen und versicherte ihm, dass er nichts dergleichen vorhatte. Schließlich betraten sie einen Raum, in welchem sich ein Stuhl befand, der über Auflagen für die Beine und Armlehnen verfügte. Er erinnerte Simon irgendwie an einen Gynäkologenstuhl. „Zieh dich aus und setz dich.“ Simon folgte der Anweisung und nahm auf dem Stuhl Platz, nachdem er seine Kleidung vollständig abgelegt hatte. Dank der Polsterung war der Stuhl sehr bequem, doch da begann Leron plötzlich seine Arme und Beine mit Gurten festzubinden und als nächstes bekam er auch noch einen Knebel und eine Augenbinde verpasst, sodass die Welt um ihn herum vollkommen dunkel wurde. Sogar sein Oberkörper wurde festgeschnallt, sodass Simon fast vollständig bewegungsunfähig war. Lediglich seinen Kopf und seine Handgelenke konnte er bewegen. Es war schon ein sehr merkwürdiges Gefühl und er wusste nicht so ganz, was er davon halten sollte. Ein wenig beängstigend war es schon, immerhin konnte er sich überhaupt nicht bewegen, oder „Halt! Stopp!“ sagen. Und er konnte auch überhaupt nicht sehen, was ihn erwarten würde. Das war für ihn eigentlich das Schlimmste von allen: rein gar nichts sehen zu können und deshalb nicht zu wissen, was mit ihm passieren würde. Als hätte Leron seine Gedanken gelesen, trat er näher heran, strich ihm zärtlich über die Wange und sagte „Du kannst dich über die vereinbarten Klopfsignale jederzeit bemerkbar machen. Zwei Mal wenn eine Grenze für dich erreicht ist, du aber trotzdem weitermachen willst und drei Mal klopfen für den Fall, dass du komplett abbrechen willst. Du brauchst dich nicht zu scheuen, sie einzusetzen. Immerhin hat dein Wohlergehen den höchsten Vorrang. Versuch es ruhig, wenn du sichergehen willst.“ Simon nickte und ballte seine rechte Hand zur Faust. Zwar konnte er den Arm nicht bewegen, allerdings schaffte er es mühelos, sein Handgelenk zu bewegen und auf die Armlehne zu klopfen. „Siehst du? Du kannst dich jederzeit bemerkbar machen. Wenn du zwei Male klopfst, werde ich mit dem aufhören, was ich gerade mache, aber das Training wird dennoch weiter fortgesetzt. Solltest du drei Male klopfen, werde ich dich auf der Stelle losbinden. Das ist mein Versprechen.“ Wieder nickte Simon um zu signalisieren, dass er verstanden hatte. Es nahm ihm ein wenig die Nervosität, als Leron es noch mal ganz genau erklärte, denn so ganz hatte er diese stummen Codes nicht mehr im Gedächtnis gehabt und war dementsprechend froh, dass sie noch mal erklärt wurden. Es wird schon gut gehen, dachte er sich. Immerhin passt Leron auf mich auf und ich kann jederzeit abbrechen, wenn es zu viel wird. Doch diese künstliche Blindheit machte ihm dennoch Angst und hinterließ ein schreckliches Gefühl der Hilflosigkeit bei ihm. Simon atmete noch mal tief durch, so gut es mit dem Knebel im Mund jedenfalls ging. Sehen konnte er rein gar nichts, sodass ihm lediglich sein Gehör blieb. Er hörte, wie sich Lerons Schritte kurz entfernten und wenig später wieder zurückkamen. „Ich kann mir gut vorstellen, dass es erst einmal gewöhnungsbedürftig ist, nichts sehen zu können und obendrein bewegungsunfähig zu sein“, hörte er Lerons Stimme ungefähr vor ihm und wahrscheinlich redete er deshalb, um ihm die Nervosität zu nehmen. Und Simon war ihm dafür auch dankbar, denn so völlig ausgeliefert zu sein, war für ihn auch etwas unheimlich, denn er war es gewohnt, wenigstens zu einem gewissen Grad die Kontrolle zu haben. Zumindest in dem Maße, wo er von sich aus sagen konnte, was er wollte und was nicht, wo er auch jederzeit flüchten konnte… In seinem Job war es wichtig, immer zu einem gewissen Grad die Kontrolle über die Situation zu haben, denn man wusste ja nie, mit was für einem Typen man sich gerade einließ und ob er zu den Rücksichtsvollen oder zu den perversen Sadisten zählte. Man musste immer vom schlimmsten Fall ausgehen und deshalb immer in der Lage sein, sich auch zur Wehr setzen zu können. Nur einmal hatte er diesen Fehler begangen und die Kontrolle vollständig abgegeben, mit dem Ergebnis, dass er fast umgebracht worden wäre. Und deshalb fiel es ihm schwer, sich auf diese Situation hier einzulassen. Plötzlich spürte er eine Berührung an seinem Oberschenkel, als sich Lerons Hand darauf legte. „Jetzt wollen wir dich erst mal in Stimmung bringen…“ Damit legte sich diese Hand nun um seinen Penis und begann diesen zu massieren. Ein leichter Schauer durchfuhr den 21-jährigen und seine Hände umklammerten die Armlehnen. Doch es blieb nicht bloß dabei. Er spürte eine Berührung an seinem Schließmuskel und wie zwei Finger ihren Weg in sein Innerstes suchten. Simon zuckte kurz zusammen, beruhigte sich aber schnell wieder und entspannte sich dann. Es sah ihm doch gar nicht ähnlich, so nervös zu sein. Aber es erinnerte ihn irgendwie an diese Stunden im Loft, die er nicht gerade positiv in Erinnerung hatte. Die Tatsache, dass er überhaupt nichts sehen konnte und das letzte bisschen Kontrolle verloren hatte, machte ihm wirklich Angst und machte es für ihn umso schwerer, das alles hier überhaupt zuzulassen. Nein, es ging einfach nicht. Beim besten Willen nicht. Bevor er es überhaupt realisierte, hatte er aus einem Impuls heraus auf die Armlehne geklopft, woraufhin Leron sofort aufhörte und ihm den Knebel abnahm. „Was ist los?“ hörte er ihn besorgt fragen und bekam für einen Moment ein schlechtes Gewissen, dass er das getan hatte und vom Slowword Gebrauch gemacht hatte. Doch ihm wurde langsam klar, dass es nicht gut gehen würde, wenn er nicht sagte, was ihn dazu veranlasst hatte. „Könntest du mir die Augenbinde abnehmen?“ fragte er vorsichtig. „Ich fühle mich ohne sie wesentlich wohler.“ „Klar, kein Problem.“ Damit nahm Leron ihm die Augenbinde ab, woraufhin Simon wieder sehen konnte. Und das war ihm wesentlich lieber. „Tut mir leid“, murmelte Simon. „Ich kann so was noch nicht so wirklich.“ „Ist doch kein Problem. Ich hätte wissen müssen, dass das zu viel für dich ist. Soll ich auch den Knebel weglassen?“ „Nein, das geht schon so in Ordnung. Es ist nur die Augenbinde, die mir Probleme macht.“ „Na gut, dann werde ich jetzt weitermachen.“ Simon nickte und ließ sich brav den Knebel wieder anlegen. Nun, da er wenigstens wieder sehen konnte, war er wesentlich entspannter als vorher und auch die Angst fiel von ihm ab. Schließlich fuhr Leron mit dem Training weiter fort, nachdem er selber gesehen hatte, dass sich Simon nun wesentlich wohler fühlte. Wieder drückten sich zwei Finger durch seinen Schließmuskel und drangen tief ein. Simon keuchte leise in den Knebel hinein, als er spürte, wie sehr ihn das erregte. Vor allem als Leron wieder diese ganz besondere Stelle berührte, die ihn jedes Mal fast verrückt machte. Und das Ganze steigerte sich noch weiter, als sich wieder eine Hand um seinen Penis legte. Diese doppelte Stimulation war unbeschreiblich gut und er vergaß schlagartig die Angst und die Nervosität, die er bis gerade eben noch gespürt hatte, weil er nichts sehen konnte. Doch kaum, dass sein Penis vollständig erigiert war, ließ Leron auch sogleich wieder von ihm ab. „So, damit wären die Vorbereitungen soweit fertig“, sagte der Unternehmer und betrachtete zufrieden das Ergebnis. „Dann können wir jetzt mit deinem Training beginnen.“ „Mh?“ Simon beobachtete, wie Leron nun zu einem Tisch ging, wo auf einem Tablett mehrere verschiedene Sexspielzeuge ordentlich aufgereiht waren. Ihm dämmerte, was gleich folgen würde und er beobachtete Leron genau um sehen zu können, was er sich aussuchen würde. Und letztendlich entschied er sich für ein Vibro-Ei. „Wie wäre es mit einem kleinen Test? Wie viel passt wohl bei dir rein?“ „Mh… ng?“ Damit führte Leron das erste Vibro-Ei ein, kurz darauf folgte das nächste. Simon spürte, wie sie immer tiefer in seinen After geschoben wurden. Eine Weile hielt er still, während Leron sein kleines Spiel weitertrieb, bis nach dem vierten Vibro-Ei die Grenze für Simon erreicht war und er dies durch das vereinbarte Signal zu verstehen gab. Der Druck war immens und als die Vibro-Eier eingeschaltet wurden und eine starke Vibration durch sein Innerstes ging, durchfuhr ihn ein immenser Lustschauer und laut stöhnend krallte er seine Hände in die Armlehnen und für einen Moment war ihm so, als würde etwas in seinem Kopf explodieren und all seine Gedanken vollständig auslöschen und nichts als eine leere, weiße Leinwand hinterlassen. „Das scheint dir richtig zu gefallen“, bemerkte Leron und streichelte zärtlich über Simons Oberschenkel. „Genauso wollte ich das haben.“ Simon keuchte und konnte nicht glauben, wie unfassbar gut sich das anfühlte. Der Druck war stark, ganz ohne Zweifel. Aber gleichzeitig intensivierte er auch die Lust, die ihn ergriff, als die Vibrationen vor allem auch diese ganz besondere Stelle stimulierten. Und durch die Tatsache, dass er sich rein gar nicht bewegen konnte und nicht anders konnte, als das einfach zu genießen und es geschehen zu lassen, schien es umso erregender zu werden. Und Leron entging durchaus nicht, wie es seinem Petboy gerade erging. Er lächelte zufrieden und holte eine Art Stoppuhr hervor, woraufhin er erklärte „Die zweite Runde des Spiels besteht darin, es so lange wie möglich auszuhalten. Du musst versuchen, deinen Höhepunkt so lange wie möglich zurückzuhalten. Und je nachdem wie lange du durchgehalten hast, wartet entweder eine Belohnung oder eine weitere Erziehungsmaßnahme auf dich. Bei weniger als zehn Minuten erfolgt eine Erziehungsmaßnahme und wenn du zehn Minuten oder mehr schaffst, wirst du für dein Durchhaltevermögen belohnt. Hast du soweit verstanden?“ Ein Nicken erfolgte und daraufhin startete Leron die Stoppuhr. „Dann fangen wir mal an.“ Simon hatte seine Hände in die Lehnen gekrallt und versuchte sein Bestes, um die zehn Minuten zu schaffen, doch er merkte schnell, dass es ihm nicht leicht gemacht wurde. Denn Leron schien wohl seinerseits alles daran tun zu wollen, damit sein Petboy die zehn Minuten nicht schaffte. Als wären die Vibrationen nicht schon schlimm genug, begann Leron nun auch seinen Penis und seine Hoden zu massieren, was es für Simon nur noch schwieriger machte, sich zusammenzureißen. Die Minuten vergingen quälend langsam und es wurde für Simon immer schwieriger, sich unter Kontrolle zu halten. Die Vibrationen und vor allem Lerons Berührungen trieben ihn noch in den Wahnsinn, wenn das so weiterging. Ihm wurde heiß und sein Herz begann regelrecht in seiner Brust zu hämmern. Sein Körper begann unter den immer stärker werdenden Wellen der Lust zu zittern und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Haut. Sein Kopf war vollständig leer und er war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Er war wie in einem Rausch und lediglich die Vibrationen in seinem After und Lerons Berührungen nahm er bewusst und deutlich wahr, genauso wie das immer stärker werdende Verlangen seines Körpers, sich endlich Erleichterung zu verschaffen und zum Höhepunkt zu kommen. Doch er schaffte es, ein paar klägliche Reste seines Willens zusammenzukratzen und weiter durchzuhalten. Er durfte nicht so einfach aufgeben. Der Druck wurde immer schlimmer und jede weitere Minute schien eine Ewigkeit zu dauern. So langsam merkte Simon, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Er wollte kommen, sein ganzer Körper schrie danach und der letzte Rest seines verbliebenen Willen schien immer mehr dahinzuschwinden. Und dann schließlich schaffte er es nicht mehr, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten. Für einen Moment explodierten Sterne vor seinen Augen, bevor die Welt vor seinen Augen kurz in eine tiefe Schwärze tauchte, als sich sein Körper, soweit es die Fesseln zuließen, aufbäumte und er zu seinem Orgasmus kam. Danach sank er keuchend auf dem Stuhl zusammen und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Einen so heftigen Orgasmus hatte er seit einer Ewigkeit nicht mehr gehabt. „9 Minuten und 48 Sekunden“, hörte er Leron sagen. „Ganz knapp daneben. Tja mein lieber Simon. Sieht so aus, als wäre da noch eine zusätzliche Erziehungsmaßnahme für heute notwendig.“ Kapitel 11: Ein kleines Experiment ---------------------------------- Simon war immer noch ein wenig schwindelig und sein Herz schlug wie wild. Das Atmen fiel ihm schwer und er war froh, als Leron ihm den Knebel aus dem Mund nahm, damit er einmal richtig durchatmen konnte. Doch die Atempause währte nicht lange, denn kurz darauf legten sich Lerons Lippen auf die seinen und küssten ihn. Simon erwiderte ohne zu zögern diesen Kuss und sah ihn erwartungsvoll an, als dieser ihm nun die Vibro-Eier entfernte. „Und was wird jetzt meine Strafe sein?“ „Lass dich überraschen“, sagte der 31-jährige geheimnisvoll. „Aber es ist keine Bestrafung, sondern eine Erziehungsmaßnahme.“ „Wo liegt denn da der Unterschied?“ fragte Simon und verstand das nicht so ganz. „Ist doch eigentlich dasselbe, oder?“ „Nicht für mich“, widersprach ihm der Unternehmer mit fester Stimme. „Eine Bestrafung bedeutet nichts anderes als eine Sanktion wegen eines bestimmten Fehlverhaltens und bedeutet ein willkürliches Verbot oder den Entzug einer „Vergünstigung“. Strafen lösen für gewöhnlich immer negative Gefühle aus und bedrohen vor allem auch das Vertrauensverhältnis, was ich aber nicht erzielen will. Eine Erziehungsmaßnahme ist keine Strafe. Ich will dich nicht für deine Fehler bestrafen, sondern dich durch Zuspruch und positive Erlebnisse erziehen und die Vertrauensbasis stärken. Das bedeutet im Klartext, um es verständlicher zu machen: ich zeige dir lieber die Konsequenzen deines Verhaltens, als dass ich gleich mit der Peitschenmethode beginne.“ Soll also heißen: er nennt es Erziehung und nicht Strafe, weil es positiver klingt, schlussfolgerte Simon für sich und beließ es dabei. Letzten Endes war es ja Lerons Ding, wie er es nannte und er musste tatsächlich zugeben, dass es weitaus weniger beunruhigend klang, wenn Leron von einer Erziehungsmaßnahme sprach. Und auch wenn er es nie offen zugegeben hätte, aber ihm imponierte es auch, dass der Unternehmer so viel Wert darauf legte, sein Vertrauen zu gewinnen und es auch zu bewahren. Das war ja nicht gerade selbstverständlich, vor allem nicht für einen Freier. Nun betätigte Leron ein kleines Tastenfeld neben dem Stuhl, woraufhin die Lehne langsam zurückging und Simon fast eine liegende Position einnahm. Er war gespannt, was nun als nächstes folgen würde und was sich Leron ausgedacht hatte. „Deine nächste Erziehungsmaßnahme wird ein wenig anspruchsvoller werden. Aber wenn du deine Sache gut machst, dann wirst du natürlich eine kleine Belohnung bekommen.“ „Und wenn ich es vergeigen sollte?“ „Dann wird das Training eben weitergehen. So einfach ist die Sache. Nur zur Vorwarnung: das könnte jetzt gleich ein wenig kalt werden.“ Hier zog Simon die Augenbrauen zusammen und fragte sich, ob Leron etwa vorhatte, ihm Eiswürfel reinzuschieben. Von seiner Position aus konnte er nicht mehr sehen, was jetzt passieren würde und so blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten, was jetzt folgen würde. Ein wenig nervös wurde er schon, als er daran dachte, dass die Erziehungsmaßnahme anspruchsvoller als die vorherigen sein würde. Doch sogleich kam ihm wieder diese Frage auf, die ihn schon letzte Nacht beschäftigt hatte, als er bei Leron geschlafen hatte. Die Frage danach, was er für Leron war. Nur ein Petboy, oder doch mehr als das? Auf der einen Seite wollte er gerne eine Antwort darauf haben, um endlich Gewissheit zu haben, aber andererseits fürchtete er sich vor dem, was Leron sagen könnte. Vor allem fürchtete er sich auch davor, was die Antwort bei ihm selber auslösen würde. Wenn Leron ihm sagte, dass er ihn lediglich als Petboy ansah, wäre er enttäuscht darüber, weil es nicht mehr war? Und wenn Leron ihm sagte, dass er mehr für ihn war, würde er nicht vielleicht Angst bekommen, weil es ihre geschäftliche Beziehung zueinander verändern könnte? Welche Antwort erhoffte er sich denn? Er wusste es nicht und so blieb diese Frage vorerst unausgesprochen. Dann aber spürte er, wie etwas Dünnes durch seinen Schließmuskel geschoben wurde. Okay, also doch kein Eiswürfel, dachte er sich und legte seinen Kopf auf dem Kissen ab, während er wartete, dass es losgehen würde. Doch dann, ganz ohne Vorwarnung, spürte er, wie plötzlich eine kalte Flüssigkeit in seinen Darm strömte. „Ah…“ rief er laut und für einen Moment verkrampfte er sich vor Schreck. „Was… was ist das?“ „Ich gehe mal davon aus, dass du noch nie so etwas wie eine Darmspülung hattest.“ Wie bitte was? Simon glaubte nicht recht zu hören und er hob den Kopf. Das war doch wohl nicht wirklich Lerons Ernst. Das war also die Erziehungsmaßnahme? „Wie bitte?“ rief er und stöhnte laut auf, als ein erneuter kalter Schwall sein Innerstes durchströmte. Eine Gänsehaut überkam ihn und ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in seinem Körper aus. Noch nie in seinem Leben hatte er so etwas erlebt und es fühlte sich seltsam und fremd an. Er presste die Zähne zusammen und spürte, wie ihn ein erneuter heftiger Schauer überkam. Und obwohl es sich so seltsam anfühlte und er nicht wirklich sagen konnte, dass es angenehm war, spürte er dennoch eine wachsende Erregung, was er noch weniger verstand. Der Druck wurde immer stärker und Simon hatte schon fast die Befürchtung, dass er nicht imstande sein würde, alles drin zu behalten. Er musste seine ganze Konzentration aufwenden und sein Schließmuskel zog sich zusammen. Es war ein so seltsames Gefühl, dass er es nicht mit Worten beschreiben konnte und für einen Moment überkam ihn die Angst, dass ihn seine Körperkontrolle urplötzlich verlassen könnte und er die Flüssigkeit nicht drin behalten konnte. Dann aber spürte er, wie etwas Neues in seinen After geschoben wurde. Er keuchte auf, als sein Schließmuskel auf das Maximale gedehnt wurde und wie ihn ein stechender Schmerz durchfuhr. Auch Leron blieb nicht verborgen, dass er sehr verkrampft war und sagte deshalb „Entspann dich ruhig, mach dir keine Sorgen.“ „Ja aber…“ „Vertrau mir einfach.“ Und mit einem zögerlichen „Okay…“ entspannte sich Simon wieder, woraufhin auch der Schmerz wieder wich. Für einen Moment überkam ihn die Angst, er könnte die Flüssigkeit nicht mehr in seinem Darm behalten, doch es geschah nichts. Der Anal-Plug, den Leron ihm eingesetzt hatte, verschloss alles. Simon lag da und spürte den immensen Druck in seinem Inneren. Es fühlte sich so seltsam und unanständig an, dass er nicht einmal genau sagen konnte, ob ihm das nun so wirklich gefiel oder nicht. Und er schämte sich schon fast dafür, als er realisierte, dass er ziemlich erregt war und es auch deutlich sichtbar war. Leron schien zu erahnen, wie es in seinem Kopf aussah und begann nun über seinen Bauch zu streicheln. „Du musst dich nicht dafür schämen. Wenn es für dich erregend ist, dann steh ruhig dazu. Solange du hier bist, kannst du dich ruhig deinen Fantasien hingeben und sie ausleben.“ „Es kommt mir aber trotzdem etwas… seltsam vor.“ „Du hast in vielen Bereichen noch keine Erfahrung und da ist es natürlich, dass es dir seltsam vorkommen mag, Lust dabei zu verspüren. Aber daran ist nichts verkehrt. Dazu sind die Erziehungsmaßnahmen da: um deinen Horizont zu erweitern und das zu finden, was dir die meiste Lust beschert.“ Damit legte Leron eine Hand um Simons Penis und begann diesen zu massieren. Der 21-jährige biss sich auf die Unterlippe und spürte, wie sich sein Innerstes zusammenzog. Und obwohl es kein sonderlich angenehmes Gefühl war, war ihm so, als würde dieser starke Druck in seinem Darm ihn nur noch mehr erregen und Lerons Berührungen intensivierten alles nur. Doch das war vollkommen verrückt. Wie um alles in der Welt konnte ihn so etwas nur erregen? War das nicht irgendwie krank? War das überhaupt normal? Was stimmte bloß nicht mit ihm, dass er allen Ernstes Lust dabei verspürte, dass er einen Einlauf verpasst bekam? „Und was genau wird jetzt passieren?“ fragte Simon und verstand noch nicht so wirklich das Ziel dieser Erziehungsmaßnahme. „Wird das wieder irgendein Spiel oder so?“ „Kein Spiel“, versicherte Leron, während er ihn weiterhin stimulierte. „Dieses Mal brauchst du dich nicht zurückzuhalten und es gibt kein festgesetztes Zeitlimit. Es hängt allein von deinem Durchhaltevermögen ab. Und Ziel ist ganz einfach, dass du zu deinem Höhepunkt kommst.“ Simon hätte wahrscheinlich einen Kommentar dazu abgegeben, doch da überkam ihn ein erneuter heftiger Schauer und er hatte das Gefühl, jeden Moment explodieren zu müssen. Der Druck schien immer stärker zu werden und gleichzeitig wurden diese Wellen der Lust, die ihn überkamen, immer intensiver und er bekam keine Ordnung mehr in seinen Kopf. Was war nur mit ihm los? Was passierte hier bloß mit ihm? Wie konnte ihn so etwas nur erregen? Und warum ließ er so etwas überhaupt mit sich machen? Für gewöhnlich hätte er sofort nein zu so etwas gesagt, ganz egal wie viel ihm sein Freier auch anbot. Selbst ein Stricher wie er hatte Grenzen, die niemand überschreiten durfte. Und so etwas hätte definitiv dazugehört. Trotzdem ließ er das hier gerade wirklich zu und auch wenn es sich sehr gewöhnungsbedürftig anfühlte, war es gleichzeitig so verdammt erregend. War er denn so masochistisch veranlagt oder war er einfach nur zu sehr von seinen Freiern verdorben worden? Irgendetwas stimmte doch nicht ihm. Simon biss sich wieder auf die Unterlippe, doch dieses Mal biss er so stark zu, dass er den metallischen Geschmack von Blut auf seiner Zunge schmeckte. Der Schmerz holte seinen Verstand für einen kurzen Moment zurück und machte ihn wieder klarer, allerdings hielt dieser Zustand nur sehr kurz an, bevor alles wieder in einem dichten, wabernden Nebel verschwand. Sein lustvolles Stöhnen ähnelte nunmehr einem hilflosen Wimmern ihm war, als würde er gleich den Verstand verlieren. „Nein… bitte…“, keuchte er. „Hör bitte a… ah…“ Doch Leron hörte nicht auf. Er kam gerade erst richtig in Fahrt und man sah ihm an, dass er seinen Spaß dabei hatte. Aber er selber sah auch, dass Simon sein Vergnügen aus dieser Sache zog, auch wenn er versuchte, es vor ihm zu verbergen. Solange er keines der Codewörter von Simon zu hören bekam, stand für ihn fest, dass er weitermachen würde. Er wollte den Jungen an seine Grenzen treiben dafür sorgen, dass er nicht mehr in der Lage sein würde, noch irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Und solange der Junge von den Codewörtern keinen Gebrauch machte, wusste er, dass alles in Ordnung war und diese Proteste bislang nichts Ernstes bedeuteten. Wahrscheinlich sträubte er sich wegen seines Schamgefühls dagegen. Zugegeben, Leron war auch erst nicht ganz sicher gewesen, ob er diese Art der Erziehung auch wirklich anwenden sollte, oder ob es nicht noch zu früh dafür war. Doch erstaunlicherweise schlug sich Simon sehr gut und schien Gefallen hieran zu haben. Trotzdem beschloss er, dem Jungen ein wenig zu helfen. Immerhin sollte dieser bei dieser Erziehungsmaßnahme ja voll auf seine Kosten kommen. „Dafür, dass du es nicht willst, scheinst du es ja sehr zu genießen“, stellte er fest und lächelte. „Wie ich schon sagte: du brauchst dich nicht zu schämen.“ Doch Simon bekam nur noch ein lustvolles Stöhnen zustande und hatte seine Hände in die Armlehnen verkrallt. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn und er schien kurz vor seinem Limit zu stehen. Sein fast schonhilfloses Wimmern war wie Musik in Lerons Ohren und er verlor sich selbst völlig in diesem Augenblick. Er selbst war wie in einem Rausch gefangen und erst als Simon laut aufschrie, als er zu seinem Orgasmus kam, kehrte auch sein Geist wieder in die Normalität zurück. „Leron…“, keuchte Simon und er sah fast schon leidend aus. „Könntest du… bitte… die Gurte abnehmen? Ich… ich muss dringend…“ „Klar, kein Problem.“ Die Gurte waren schnell gelöst und Leron bemühte sich auch, sich zu beeilen, damit es für den Jungen nicht allzu unangenehm wurde. „Den Gang rechts die zweite Tür ist das Bad.“ Mit etwas zitternden Beinen und wankenden Schritten verließ Simon daraufhin das Zimmer, um sich selbst aus diesem Zustand zu erlösen, in welchem er sich gerade befand. Nach ein paar Minuten kam Simon wieder zurück, wirkte noch ein klein wenig erschöpft. Nun, das Training war dieses Mal auch wirklich anspruchsvoll gewesen. Als der Unternehmer ihn so sah, nahm er ihn in den Arm und streichelte zärtlich seinen Kopf. „Du hast deine Sache wirklich sehr gut gemacht“, lobte er ihn. „Willst du dich kurz setzen?“ Simon nickte und nahm wieder auf dem Stuhl Platz, wobei er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte. „Wird es so etwas jetzt öfter geben?“ fragte er etwas zögerlich und seine unnatürlichen Augen ruhten auf Leron und zeugten von gemischten Gefühlen. „Das hängt von dir ab“, erklärte Leron. „Die Erziehung ist nicht nur zu meinem Vergnügen da, sondern damit auch du auf deine Kosten kommst. Und wenn du etwas nicht magst, dann kannst du es mir ruhig sagen. Letztendlich dient die Erziehung auch dazu um festzustellen, was dir am meisten gefällt. Ich möchte dein Vertrauen, Simon. Und deshalb werde ich auch nichts tun, was du nicht willst oder was dir unangenehm ist.“ Einen Moment lang betrachtete der 21-jährige ihn schweigend. Er war immer noch nackt, schien sich aber nicht sonderlich daran zu stören. Schließlich aber atmete er kurz und geräuschvoll aus und gestand „Es war ganz nett, aber… ich würde das nicht gerne wiederholen. Ich weiß auch nicht, es war halt nicht ganz mein Ding.“ „Okay, dann belassen wir es dabei. Es war aber gut, dass du mir das gesagt hast.“ Ein schwaches Lächeln huschte über seine etwas blassen Lippen und er war erleichtert, dass Leron nicht sauer oder enttäuscht war. Er hatte schon in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass einige Freier sehr allergisch auf ein „Nein“ reagierten und teilweise sogar unberechenbar geworden waren. Und da war es eine große Erleichterung, dass Leron ihm sogar mit Zuspruch und Verständnis begegnete. Doch dann dachte er wieder an seine Frage, die ihn beschäftigte. Und obwohl er immer noch sehr damit haderte, sie zu stellen und er sie am liebsten wieder verdrängt hätte, bemerkte Leron, dass ihn etwas beschäftigte und legte eine Hand auf Simons Schulter. „Was ist los? Bedrückt dich irgendetwas?“ Simon presste die Lippen zusammen und überlegte, was er tun sollte. Schließlich aber entschied er sich, den Versuch zu wagen, selbst auf das Risiko hin, dass er höchstwahrscheinlich eine Antwort erhalten würde, die ihm nicht gefiel. „Ich weiß einfach nicht, wie ich das interpretieren soll. Ich meine… naja… du quartierst mich hier ein, du bist immer so verständnisvoll und zuvorkommend. Meine bisherigen Freier waren nicht gerade die herzlichsten gewesen. Manche haben mich verprügelt oder mich beim Sex beschimpft, weil sie darauf standen. Aber du… wie du mich umarmst und mit mir redest… Gehört das irgendwie auch zu diesem Petboy-Spiel dazu? Sorry wenn das jetzt komisch klingt, aber ich könnte wenigstens besser damit umgehen, wenn du dich mehr wie ein Freier verhältst. Diese ganze Zuwendung und so weiter lässt bei mir halt die Frage aufkommen, ob ich wirklich nur ein Petboy für dich bin. Das ist bescheuert, ich weiß… Vor allem weil ich doch die Antwort…“ Bevor Simon weitersprechen konnte, hatte Leron einen Arm um ihn gelegt, zog ihn näher an sich heran und küsste ihn. „Wenn du die Wahrheit wissen willst, dann sag ich sie dir: du bist mir sehr wichtig, Simon. Ich will, dass es dir gut geht und dass du bei mir bleibst. Und eben weil du mir wichtig bist, behandle ich dich mit Respekt und nehme dich in den Arm, wenn du unsicher bist oder Angst hast, oder küsse dich, wenn mir danach ist. “ „Aber warum ich?“ wollte Simon wissen. „Wieso ausgerechnet jemand wie ich?“ „Weil du es bist. Vielleicht verstehst du es nicht, weil du bisher immer anderes von deinem Umfeld gewohnt warst. Aber für mich bist du etwas Besonderes. Nicht wegen deiner Augen, sondern weil wir vielleicht gar nicht so verschieden sind.“ Nicht so verschieden? Simon dachte erst, Leron wollte ihn auf den Arm nehmen. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Er war ein armer Stricher, der aus einem Waisenhaus stammte und Leron gehörte einer reichen Familie an und leitete ein erfolgreiches Unternehmen. Oder meinte er damit, dass sie nicht ganz so verschieden waren, weil sie beide eine recht einsame Kindheit gehabt hatten? Immerhin war Leron getrennt von seinen Brüdern allein in dieser Villa aufgewachsen. „Und?“ fragte Leron schließlich. „Habe ich dir deine Frage damit beantworten können?“ Simon nickte, auch wenn er trotzdem nicht so ganz verstehen konnte, wieso er für Leron etwas Besonderes war. Und auch wenn es für ihn komisch zu hören war, dass jemand ihn als etwas Besonderes ansah und es nicht im negativen Sinne wegen seiner Augen gemeint war, erfüllte es ihn mit einer gewissen Erleichterung, dass Leron ihn nicht nur als einen Petboy ansah, sondern dass er ihm tatsächlich wichtig war. Doch auf der anderen Seite löste dieser Gedanke eine gewisse Nervosität bei ihm aus, weil er nicht wusste, wie er damit jetzt umgehen sollte. Doch da streichelte Leron ihm den Kopf und ein verständnisvolles und warmherziges Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Mach dir nicht allzu viele Gedanken, okay? Du brauchst dich zu nichts zwingen oder genötigt zu fühlen. Alles, was ich mir von dir wünsche, ist dein Vertrauen und dass du mit mir sprichst, wenn dir irgendetwas Sorgen oder Probleme bereitet.“ „Okay.“ „Sehr schön“, meinte Leron mit einem zufriedenen Lächeln. „So, ich denke, diese kleine Pause haben wir sinnvoll genutzt und können nun fortfahren. Und da du deine Sache hervorragend gemacht hast, wird eine weitere Erziehungsmaßnahme für heute nicht mehr nötig sein. Lehn dich einfach zurück.“ Simon gehorchte seiner Anweisung und machte es sich wieder auf dem Stuhl bequem. Er spürte wie Leron seine Beine anwinkelte und wurde von einer seltsamen Ungeduld ergriffen. Diese Trainingsmaßnahmen erschienen ihm nur noch wie eine Art Vorspiel zum eigentlichen Akt und umso mehr sah er nun dem Kommenden entgegen. Er wollte Sex mit Leron, ganz außer Frage. Vor allem sein Körper verlangte danach. Aber konnte es nicht vielleicht auch sein, dass auch sein Herz nach dieser Art der Intimität verlangte? Diese Frage schlich sich kurz in seinen Kopf, doch sie verschwand auch schnell wieder, als er spürte, wie erneut Druck auf seinen Schließmuskel ausgeübt wurde. Eine fremdartige Hitze erfüllte sein Innerstes und Simon keuchte leise, als er spürte, wie Leron ihn vollständig ausfüllte, als er tief in ihn eindrang. Es war ungewohnt für ihn, von vorne genommen zu werden und für gewöhnlich hatte er so etwas vermieden. Doch als er ihn so vor sich sah und seine haselnussbraunen Augen, da erkannte er auch durchaus die Vorzüge. Und zumindest sah Leron nicht schlecht aus und auch vom Charakter her war er ganz anders als seine bisherigen Freier. Darum machte es Simon auch nicht allzu viel aus, dieses Mal von vorne genommen zu werden und Leron dabei direkt ins Gesicht zu sehen. Leron stieß tief und hart in ihn und schien sich selbst kaum zurückhalten zu können. Er verkrallte seine Hände in die Armlehnen, um irgendwie Halt finden zu können. Alles um ihn herum verschwand hinter einer Art dichten Nebelschleier und trübte seine Sinne. Erneut befand er sich wie in einem Rausch und schaffte es nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Es war, als wäre sein Verstand vollkommen reizüberflutet und könnte deshalb nicht mehr richtig arbeiten. Darum fehlten ihm später auch einzelne Erinnerungsfragmente, wie Leron zu seinem Höhepunkt kam und ihn, als er merkte dass sein Petboy völlig am Ende war, daraufhin in sein Zimmer trug. Das Erste, woran Simon sich wieder ganz genau erinnern konnte, war, dass er in seinem Bett lag, nachdem er wohl eine Weile weggetreten war. Leron saß bei ihm und deckte ihn zu. „Ruh dich erst mal aus“, hörte er ihn sagen. „Bis heute Abend hast du erst mal frei.“ Simon wollte etwas sagen, wusste aber nicht mehr, was es war und wurde daraufhin von einer lähmenden Müdigkeit ergriffen und dann war er auch schon eingeschlafen. Diese Erziehungsmaßnahmen hatten ihm dieses Mal wirklich viel abverlangt. Kapitel 12: Ein folgenschwerer Abend ------------------------------------ Nachdem sich Simon ein wenig ausgeruht hatte, war es auch schon später Nachmittag. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass er nicht wirklich fit genug war, um heute Abend noch mal eine Runde zu schaffen. Nein, das würde eher schwierig werden. Doch zu seiner Überraschung machte Leron keinerlei Anstalten oder Andeutungen, die darauf schließen ließen. Stattdessen gab er ihm ein paar Kleidungsstücke und erklärte „Heute Abend werden wir beiden ausgehen. Immerhin habe ich dir ja einen kleinen Zusatzbonus versprochen für deine hervorragende Leistung am Telefon.“ Das machte den 21-jährigen natürlich neugierig und er wollte wissen, was der Unternehmer denn geplant hatte, doch dieser gab sich geheimnisvoll und sagte nichts dazu. Auf die Frage, was er denn anziehen sollte, sagte er, dass er sich ein wenig schicker anziehen sollte. In dem Moment war Simon froh, dass er bereits neue Klamotten eingekauft hatte und er konnte schwören, dass er auch darunter ein Hemd hatte. Also ging er in sein Zimmer und suchte sich entsprechend etwas Anständiges aus in der Hoffnung, dass Leron nicht noch von ihm verlangte, dass er einen Anzug tragen musste. Simon hatte noch nie Anzüge getragen und konnte sich auch keine leisten. Deshalb hoffte er, dass ein schwarzes Hemd und eine dunkle Jeans mit Gürtel ausreichen würden. Was seine Schuhe betraf, da fand er ein Paar, das noch halbwegs in Ordnung war. Trotzdem würde er sich definitiv neue Schuhe besorgen müssen. Schließlich betrachtete er sich selbst im Spiegel und begann noch ein wenig seine Frisur zu richten, bevor er sich eine passende Sonnenbrille aufsetzte, um seine Augen zu verstecken. So im Großen und Ganzen sah er eigentlich ganz passabel aus. Blieb nur zu hoffen, dass Leron derselben Meinung war. Er kehrte schließlich wieder ins Wohnzimmer zurück, wo Leron zuletzt gewesen war und fragte „Geht das so?“ und verwies mit einer Handbewegung auf seine Klamotten. Der Unternehmer betrachtete ihn kurz, nickte dann und meinte „Ja das sieht sehr gut aus. Allerdings passt die Sonnenbrille nicht.“ Doch Simon zögerte. Er war es gewohnt, immer mit Sonnenbrille nach draußen zu gehen, auch bei Dunkelheit. Es war die einzige Sicherheit für ihn, wenn er unter Menschen trat. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, gab er zu bedenken. „Die Leute werden mich wegen meiner Augen anstarren.“ „Sie werden nicht dich anstarren, sondern mich weil ich wichtig aussehe. Also wirst du in meiner Gegenwart diese Brille gar nicht brauchen.“ Zwar war Simon noch nicht gänzlich überzeugt, dass das eine gute Idee war, aber er nahm die Sonnenbrille trotzdem ab. Damit schien Leron zufrieden zu sein und so verließen sie gemeinsam das Haus. Draußen wartete bereits der Chauffeur mit der Limousine und als sie einstiegen, entging dem Unternehmer nicht, dass sein Begleiter ziemlich angespannt war. Wahrscheinlich fühlte er sich alles andere als wohl, wenn er ohne Sonnenbrille nach draußen ging. Ihn aber mit Sonnenbrille zu sehen, gefiel Leron noch weniger, weil er nicht wollte, dass sich der Junge versteckte. Es würde schon alles gut werden und er würde schon nicht zulassen, dass sich irgendjemand über seine Augen lustig machte. Um ihm ein bisschen die Anspannung und die Nervosität zu nehmen, legte er einen Arm um Simons Schultern und zog ihn zu sich heran. „Du solltest dir weniger Gedanken darum machen, wie andere über dich denken könnten. Außerdem bist du ja nicht alleine.“ Hieraufhin lehnte Simon seinen Kopf an Lerons Schulter, sagte aber nichts. Schließlich erreichten sie nach knapp einer Viertelstunde den Zielort. Leron und Simon stiegen aus der Limousine aus und standen vor einem Restaurant, in welchem der Unternehmer schon des Öfteren gewesen war, vor allem zu Geschäftsessen. Hier war er bestens bekannt und er hatte kurzerhand eine der Räumlichkeiten im VIP-Bereich reservieren lassen, um mit Simon ungestört zu sein. Mit Sicherheit fühlte sich dieser dabei auch wesentlich wohler, wenn er nicht den Blicken der anderen Gäste ausgesetzt war. Als er hineingehen wollte, bemerkte er, dass Simon wie angewurzelt stehen geblieben war und das Gebäude mit deutlicher Skepsis betrachtete. „Ist das so eines dieser Schickimicki-Restaurants?“ fragte er und man sah deutlich seinen Widerwillen. „Ich weiß doch gar nicht, wie man sich dort verhält und so.“ „Das ist nicht weiter tragisch“, versicherte Leron. „Vertrau mir einfach.“ Immer noch mit großem Widerwillen folgte Simon ihm hinein und sogleich wurden sie von einer hübschen jungen Dame mit blonden Locken empfangen, die sie mit einem freundlichen Lächeln empfing. Auf ihrem Namensschild las Simon „Jennifer Webster“ und äußerlich war sie nicht älter als 25 Jahre. Und anscheinend schien Leron hier bereits bekannt zu sein, denn er brauchte nicht einmal etwas zu sagen, denn da sagte die junge Frau auch schon „Einen schönen guten Abend, Mr. Evans. Sie haben ein Privatzimmer im VIP-Bereich reservieren lassen, richtig? Dann folgen Sie mir bitte.“ Es ging in einen Seitengang und Simon bemerkte erstaunt, wie groß das Restaurant eigentlich war. Und wie es aussah, gab es zwei große Räume, wo die Gäste untergebracht wurden und dann führte eine etwas unscheinbare Tür in den so genannten VIP-Bereich. Sie wurden zu einem Zimmer geführt, wo sie tatsächlich ganz alleine einen Tisch hatten und nicht gestört würden. So nahmen sie schließlich Platz und ließen sich von der jungen Dame die Speisekarten geben, bevor ihnen jeweils ein Glas Champagner einschenkte. Simon durchblätterte die Speisekarte und staunte nicht schlecht, was es so alles gab. Zuerst hatte er ja ernsthaft befürchtet gehabt, es wäre eines dieser Restaurants, wo man dutzende Gabeln und Messer hatte und wo Weinbergschnecken als Delikatesse serviert wurden. Aber offenbar war das wohl nur ein Vorurteil oder aber Leron hatte gezielt so ein Restaurant ausgesucht, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. „Bestell dir was du willst“, sagte Leron und orderte seinerseits eine Suppe als Vorspeise, eine französisch klingende Hauptspeise und ein Dessert. Simon entschied sich nach kurzer Überlegung für dieselbe Vorspeise, wählte aber dann lieber ein Fischgericht und dann auch ein Dessert. Die blonde Frau nickte und notierte sich die Bestellung und fragte dann nach den Weinwünschen. Hier fragte Simon zögerlich, ob er auch ein anderes Getränk haben könne, weil er nicht gerade ein Weinliebhaber sei. Um ehrlich zu sein mochte er Weine überhaupt nicht. Glücklicherweise war das kein Problem und er bestellte sich deshalb ein Mineralwasser. Schließlich ging die Kellnerin und ließ sie allein. Damit waren Leron und Simon erst einmal ungestört und das war vor allem für den 21-jährigen eine große Erleichterung. „Ich dachte mir, es wäre praktischer, ein Zimmer im VIP-Bereich zu reservieren. So können wir ungestört miteinander reden.“ „Bist du hier öfter?“ fragte Simon neugierig. „Die schien dich zu kennen.“ „Ich komme ab und an zu Geschäftsessen hierher, deswegen bin ich auch gut bekannt hier. Hier herrschen keine strengen Etiketten und wenn ich ehrlich sein soll: ich kann mir auch bis heute nicht merken, wann man die verschiedenen Gabeln benutzt. Deswegen habe ich mich schon immer vor solchen Restaurants gegraust.“ Simon musste unwillkürlich lachen, denn er konnte sich nicht so wirklich vorstellen, dass Leron mit so etwas tatsächlich Probleme hatte. Immerhin war er doch der Sohn einer wohlhabenden Familie. Da wuchs man doch mit so etwas auf, oder nicht? Nun, offenbar gab es wohl so einige Dinge, die er nicht wusste oder falsch eingeschätzt hatte. Aber dann lag ihm noch eine wichtige Frage auf den Lippen, die ihn interessierte. „Als du gesagt hast, ich wäre dir wichtig… hast du das wirklich so gemeint?“ „Es ist mein Ernst“, versicherte Leron. „Du bist für mich etwas Besonderes, Simon.“ „Dann heißt das also, ich bin mehr als nur ein Petboy für dich?“ „So kann man das sagen“, bestätigte er wieder. „Als ich hörte, dass du auf dem Straßenstrich dein Geld verdienst, stand für mich fest, dass ich dich zu mir holen würde. Man weiß ja nicht, was für Individuen man begegnet und wie gefährlich sie sind. Man hört ja viele unschöne Geschichten. Deswegen habe ich dir diesen Job angeboten.“ „Und warum hast du nicht direkt gesagt, dass du auf mich stehst und hast diesen Aufwand betrieben?“ „Hättest du mir das geglaubt oder wärst darauf eingegangen?“ Wahrscheinlich nicht direkt, in der Hinsicht wusste Simon ja selbst, wie stur er sein konnte. Sein Stolz verbot es ihm, sich auf solche Sachen einzulassen und außerdem hätte er ihm nicht wirklich abgekauft, dass Leron wirklich etwas für ihn empfinden würde. Er war von seinen Mitmenschen ja eher anderes gewohnt. „Ich gebe zu, dass es vielleicht ein unkonventioneller Weg war. Aber es erschien mir als die effektivste Methode, dich zu mir zu holen.“ Schlau eingefädelt, das musste Simon wirklich zugeben. Seltsamerweise war er Leron nicht einmal böse deswegen. Nun gut, er hatte halt nicht ganz ehrlich gespielt, aber gelogen hatte er nie wirklich, lediglich diese Details verschwiegen und er konnte sich ja auch nicht sonderlich beklagen. Immerhin hatte Leron ihn immer respekt- und rücksichtsvoll behandelt und ihn sogar bei sich schlafen lassen, als das Gewitter getobt hatte. Allerdings wusste er seinerseits nicht wirklich, was er für Leron empfand. Er war ihm dankbar für alles, ganz ohne Zweifel und auch der Sex war verdammt gut. Aber trotzdem wusste er einfach nicht, was er in Lerons Nähe denken oder fühlen sollte. Vielleicht weil er nicht wusste, was Liebe war? Ja, das war wahrscheinlich der Grund. „Bist verärgert deswegen?“ fragte Leron schließlich und Simon beendete seine Gedanken abrupt. „Nein, nein“, sagte er hastig. „Für mich ist das alles nur halt ziemlich neu und überraschend.“ „Das kann ich verstehen. Ich erwarte auch nicht sofort eine Antwort von dir. Solange du bei mir bleibst, reicht es mir auch.“ Ein schwaches Lächeln huschte über Simons Lippen und er musste sich vorstellen, wie es wohl in Zukunft zwischen ihnen aussehen würde. Und irgendwie war es nicht so schlimm, wie er zunächst gedacht hatte, als Leron ihm gestanden hatte, dass er etwas für ihn empfand. Zwar war es ein sehr komisches Gefühl für ihn, aber es erleichterte ihn auch, dass es von jemandem wie Leron kam. Bei ihm wusste er inzwischen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. „Wie wäre es, wenn du mir etwas mehr über dich erzählst?“ fragte Simon schließlich. „Immerhin weißt du ja schon so viel über mich.“ Etwas erstaunt runzelte Leron die Stirn, denn so etwas hatte er offenbar nicht erwartet. Aber ein Schmunzeln seinerseits verriet, dass es ihn freute, dass Simon mehr über ihn wissen wollte. „Nun gut, dann erzähle ich dir gerne etwas über mich: ich bin am 10. November geboren und bin somit vom Sternzeichen Skorpion. Ich betreibe gerne Sport, wobei ich mich aber nicht auf eine Sportart festlege, sondern verschiedene Dinge ausprobiere. An gemütlichen Abenden schaue ich mir auch gerne Filme an.“ „Was denn für Filme?“ „Meistens Thriller oder Krimis, selten aber auch Psycho-Horror. Was ich nicht mag ist Golf. Ich habe es schon immer gehasst und finde es langweilig. Und ich gehöre zu den Leuten, die der Ansicht sind, dass Schach kein Sport ist.“ Hier musste Simon unwillkürlich lachen. Das, was Leron da erzählte, passte irgendwie so gar nicht in sein Bild eines reichen Bonzen. Normalerweise spielten solche Leute Golf in ihrem Privatclub, hingen in der Oper herum und aßen Kaviar zu ihrem teuren Champagner. Zumindest war das immer seine Ansicht gewesen. Aber Leron schien da wohl anders zu sein. „Und hat man dir als kleiner Junge damals Musikstunden aufgebrummt?“ „Ja da entspreche ich leider dem Klischee. Ich hatte seit meiner Jugend Klavierunterricht. Meine Fertigkeiten sind zwar etwas eingerostet, aber ein paar Lieder bekomme ich noch ganz gut hin. Ach ja: ich hatte schon immer eine Schwäche für Schokolade.“ „Und für versaute Sexspielchen“, ergänzte Simon scherzhaft und sie mussten beide darüber lachen. Schließlich öffnete sich die Tür und die Kellnerin Miss Webster kam mit den Vorspeisen. Nachdem sie serviert und sich danach diskret wieder zurückgezogen hatte, stießen Simon und Leron an. Die Stimmung war sehr ausgelassen und auch Leron wurde wesentlich gesprächiger als die Tage zuvor. Er erzählte ein paar Anekdoten über schwierige Geschäftspartner und wie ein kommunikatives Missverständnis fast dazu geführt hatte, dass ein französischer Unternehmer Leron tatsächlich angebaggert hatte. Es waren sehr unterhaltsame Geschichten, aber sobald Simon mehr über seine Kindheit wissen wollte, blockte der Unternehmer mit der Erklärung ab, dass es nicht viel darüber zu erzählen gäbe. Aber Simon hakte nicht weiter nach, denn über sein Leben gab es ja auch nicht viel Großartiges zu erzählen. Schließlich aber, als sie mit der Vorspeise fertig waren, erhob er sich von seinem Platz und fragte „Wo ist denn hier die Toilette?“ Hieraufhin stand Leron ebenfalls auf. „Ich gehe eben mit.“ Sie verließen das Zimmer und gingen den Gang entlang. Simon folgte Leron und sah sich dabei neugierig um, aber viel gab es nicht zu sehen. Es gab ein paar weitere Zimmer, die wohl von VIPs benutzt wurden und es gab auch eine Terrasse, die ebenfalls genutzt wurde und in einem separaten Bereich lag, der vom Rest des Restaurants abgeschirmt war. Schließlich aber konnte er schon die Herrentoilette sehen und steuerte sie direkt an, wobei er nur am Rande mitbekam, wie sich eine der Türen öffnete und jemand herauskam. Er schenkte dem aber keine Beachtung. Im Moment hatte er Dringenderes zu erledigen. Leron blieb wie angewurzelt stehen und glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können, als plötzlich Jordan vor ihm stand. Der 40-jährige war körperlich ein kleines bisschen kleiner geraten und hatte einen kühlen und distanzierten Blick. Sein Haarwuchs war im Laufe der Jahre zurückgegangen, doch er schien sich nicht sonderlich die Mühe zu machen, es zu kaschieren. Seine dunklen Augen, die fast schon tiefschwarz wie dunkle Tunnel waren, wirkten schon seit seiner Jugend ausdruckslos und zeugten nicht gerade von Herzlichkeit und Mitgefühl. Für einen Moment überkam Leron ein tiefer Schock, als er ihn sah. Doch Jordan schenkte dem keinerlei Beachtung und sagte „Guten Abend Ronnie, das ist ein überraschender Zufall.“ „Was machst du hier?“ fragte Leron direkt, ohne sich mit Begrüßungsfloskeln aufzuhalten. „Bist du etwa mit Michael hier?“ „Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte. Nein, meine Frau und ich feiern unseren Jahrestag und falls du es vergessen hast: außerhalb des geschäftlichen Bereiches habe ich mit Michael nur noch sporadisch zu tun. Wer ist denn überhaupt der Junge, der da gerade vorbeigelaufen ist?“ Hier verfinsterte sich Lerons Blick und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Doch er spürte, dass seine Hände schwitzten. Eine ungewollte Reaktion, wenn er seinen Brüdern begegnete. „Was geht dich das denn bitteschön an?“ „Ist das nicht der Bengel, den Michael vor einiger Zeit von der Straße aufgelesen hat? Was sucht er denn bei dir?“ Nun packte Leron ihn am Kragen und stand kurz davor, sich endgültig zu vergessen. Wut und Hass überkamen ihn und hätte er Gewalt nicht so sehr verabscheut, hätte er ihm womöglich eine reingehauen. Verdient hätte dieser Scheißkerl es alle Male. „Lass ihn bloß in Ruhe und wenn ich erfahre, dass du Michael etwas davon erzählst, dann schwöre ich bei Gott, dass du…“ Doch da schlug Jordan seine Hand weg und funkelte ihn kalt und herablassend an. „Lass deine verschwitzten Hände gefälligst bei dir. Was ich tue und was nicht, ist allein meine Sache und von dir lasse ich mir gewiss nichts sagen. Du hast wohl vergessen, wo dein Platz ist, Ronnie. Deine Probleme interessieren mich nicht die Bohne und wenn du meinst, dich mit einem schmutzigen Stricherjungen abgeben zu müssen, dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber wenn du Probleme mit Michael hast, dann kläre das mit ihm.“ Damit ging Jordan nach draußen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Und Leron verschwand seinerseits zu den Toiletten und spürte, wie sich sein Magen verkrampfte und ihm schlecht wurde. Auch das passierte ihm oft, wenn er auf einen seiner Brüder traf. Es war eine etwas seltsame Atmosphäre, als Simon und Leron wieder zurück in ihrem Zimmer waren und den Hauptgang serviert bekamen. Dem 21-jährigen entging nicht, dass Leron sehr angespannt wirkte und blass im Gesicht war. Besorgt fragte er deshalb nach, was denn los sei, doch Leron reagierte eine ganze Weile nicht und rührte auch sein Essen nicht an. Erst nachdem der Brünette ihn zum dritten Mal fragte, schien der Unternehmer wieder ansprechbar zu sein. „Ich hatte nur eine kurze Begegnung mit meinem Bruder Jordan“, erklärte er und dann realisierte Simon, an wen er da vorhin vorbeigelaufen war. „Ach herrje“, rief er deshalb. „Und ich hab ihm nicht mal gegrüßt. Soll ich das nachholen?“ „Nein!!!“ Erschrocken zuckte er zusammen, als Leron das so laut und mit strenger Stimme aussprach und dabei sogar die Hand auf den Tisch schlug. So eine heftige Reaktion hatte er noch nie bei ihm erlebt und er verstand nicht, was los war. Doch als der Unternehmer selber bemerkte, wie heftig er gerade reagiert hatte, zwang er sich dazu, sich wieder zu beruhigen, doch man sah ihm trotzdem an, dass etwas sehr an ihm nagte. „Ich will, dass du dich von meinen Brüdern fernhältst, Simon“, sagte er ruhig, aber mit sehr ernster Miene. „Egal was sie dir auch erzählen, du darfst dich nicht auf sie einlassen oder mit ihnen alleine bleiben, hast du verstanden?“ „Wieso denn nicht? Du tust ja so, als wären sie gemeingefährlich.“ „Das sind sie auch“, erklärte Leron. „Glaub mir, du bekommst nur Probleme, wenn du dich auf sie einlässt. Versprich es mir, okay? Versprich mir, dass du dich von ihnen fernhältst.“ Simon versprach es, doch er verstand immer noch nicht, was mit Leron los war. Er hatte einen fast schon verstörten Ausdruck in den Augen und das machte ihm Angst. Und erst einen Moment später realisierte er, dass Lerons Hände zitterten. Irgendetwas musste in der Vergangenheit passiert sein, so viel stand fest. Etwas sehr schlimmes. Um ihn zu beruhigen, ergriff er eine dieser zitternden Hände, stellte aber erschrocken fest, dass sie ganz verschwitzt war. Ein Zeichen von starkem Stress. „Okay, ich halte mich von deinen Brüdern fern“, versprach er und versuchte, einen lockeren Ton zu finden, um Leron ein wenig die Anspannung zu nehmen. „Wenn sie wirklich so furchtbar sind, hab ich eh kein großes Interesse daran, sie näher kennen zu lernen. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, Ronnie.“ Er hatte sich nicht wirklich etwas dabei gedacht, Leron so zu nennen. Es schien ihm ein netter Spitzname zu sein und war auch scherzhaft gemeint. Deshalb dachte er auch, dass Leron vielleicht darüber schmunzeln würde, doch stattdessen weiteten sich seine Augen vor Entsetzen und er wirkte nun so blass wie eine Leiche. Und nun sah Simon auch die Angst in seinen Augen und wich daraufhin zurück, wobei er sich innerlich wünschte, er hätte ihn nicht so genannt. „Nenn mich nie wieder so“, sagte Leron mit gepresster Stimme. „Bitte nenne mich nie wieder Ronnie, okay? Ich… ich mag es nicht, so genannt zu werden.“ Es war draußen kühl und etwas windig. Nur mit Mühe schaffte Jordan es, sich seine Zigarette anzuzünden. Er ärgerte sich. Was fiel Leron ein, sich so unverschämt ihm gegenüber zu verhalten? Allein schon dafür hatte er eine Zurechtweisung mehr als verdient. Allerdings würde nicht er sich darum kümmern. Nein, er hatte genug mit seiner eigenen Familie zu tun, als dass er sich mit seinem kleinen Bruder herumärgern würde. Das war immer noch Michaels Hobby. Das Einzige, was er tun würde war, Michael über seine interessante Entdeckung zu informieren. Sollte der sich doch die Hände schmutzig machen. Außerdem war es für ihn eine hervorragende Gelegenheit. Wenn sich Michael eines Vergehens schuldig machte, würde ihr gemeinsamer Vater ihn mit Sicherheit enterben und ihm, Jordan Evans, die Nachfolge des Konzerns anvertrauen. So hatte er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zwar war er kein so hervorragender Geschäftsmann wie Michael, aber er wusste seine Mitmenschen besser gegeneinander auszuspielen und wusste das für sich zu nutzen. Also holte er sein Handy hervor und wählte Michaels Nummer. Es dauerte nicht lange, bis dieser ranging. „Ja Jordan, was gibt’s?“ „Sag mal, erinnerst du dich noch an den Jungen vom Straßenstrich, den du vor zwei oder drei Jahren zum Loft geschleppt hast? Der mit den seltsamen Augen, von dem du mir erzählt hast.“ „Ach ja. Der, den Ronnie einfach weggebracht hat. Wieso? Was ist mit dem? Hast du ihn etwa wiedergefunden?“ „Ja, er ist mit Ronnie zusammen im Restaurant Bluebird. Wie es aussieht, hat Ronnie ein Auge auf ihn geworfen.“ Ein Lachen war am anderen Ende der Leitung zu hören und es klang danach, als hätte Michael gerade den besten Witz aller Zeiten gehört. Er konnte sich kaum einkriegen. „Ronnie hat sich diesen kleinen Stricherbengel angelacht? Ach das ist ja zu herrlich. Okay, dann weiß ich Bescheid. Danke für die Info, Jordan. Ich glaube, unser kleiner Bruder hat mal wieder ein kleines Bestrafungsspiel nötig um zu kapieren, dass er die Finger von meinem Spielzeug lassen soll. Ihm fehlt es eindeutig an Respekt.“ „Scheint so. Du hör mal, ich muss gleich wieder rein.“ „Ach ja, du hast ja heute deinen Jahrestag. Richte deiner Familie schöne Grüße von mir aus. Schönen Abend noch, Jordan!“ Damit war das Gespräch beendet und Jordan steckte sein Handy wieder ein. Damit war der Stein ins Rollen gebracht. Nun brauchte er sich nur noch zurücklehnen und seine beiden Brüder einfach ihr Ding machen lassen. Michael würde sein krankes Spiel treiben und wenn das passierte, würde Jordan seinen Vater benachrichtigen und ihn schon in die Richtung bearbeitet bekommen, dass Michael aus der Nachfolge ausgeschlossen wurde und er stattdessen zum neuen Konzernleiter wurde. Wie sagte man denn immer so schön: wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte. Kapitel 13: Wie eine Droge -------------------------- Den Rest des Abends verhielt sich Leron sehr merkwürdig und Simon wurde nicht so ganz schlau daraus. Vor allem nachdem er ihn scherzhaft „Ronnie“ genannt hatte, machte er einen sehr verstörten Eindruck. Als sie wieder zuhause waren, wollte Simon in sein Zimmer gehen und sich hinlegen, doch da hielt Leron ihn am Arm fest und sein Blick war sehr ernst, als er sagte „Bleib heute Abend bei mir.“ Kurzerhand hatte Simon ja gesagt und sich die Nacht bei ihm einquartiert. Nun, so schlecht war es ja auch nicht, aber er bemerkte schnell, dass Leron nicht so schnell einschlafen würde. Irgendetwas schien ihm wirklich sehr auf der Seele zu lasten. Und deshalb wagte er schließlich eine Frage. „Sag mal Leron, was genau ist denn eigentlich zwischen dir und deinen Brüdern passiert, dass du so eine Angst vor ihnen hast? Weißt du, ich habe dieses Foto gesehen, wo du mit deiner Familie drauf warst. Und da habe ich gesehen, dass zwischen dir und deinen Brüdern etwas nicht in Ordnung ist.“ Doch Leron schwieg und es sah nicht danach aus, als würde er überhaupt etwas dazu sagen. Aber dann legte er einen Arm um Simon und drückte ihn an sich. Und irgendwie wirkte er auf ihn in diesem Moment fast wie ein Kind, das sein geliebtes Haustier festhielt aus Angst, es könnte ihm etwas zustoßen. „Es gibt viele unschöne Geschichten in unserer Familie“, begann Leron schließlich. „Vor allem mit Michael. Er hat zu viel von der Familie unserer Mutter geerbt.“ „Inwiefern?“ „Es gibt in einem kleinen Städtchen namens Annatown in Ohio eine Familie, die für ihre unrühmliche Geschichte für Aufsehen gesorgt hat. Sie haben viele Mörder und Psychopathen hervorgebracht. Es gab Gewalt in der Familie und teilweise brachten sich die Familienmitglieder gegenseitig um. Die Mitglieder der Cohan-Familie haben eine Art genetische Veranlagung.“ „Gibt es so etwas echt?“ Der 31-jährige nickte und Simon spürte mit leichtem Entsetzen, dass Leron zitterte. „Psychische Krankheiten oder gewisse Charaktermuster können tatsächlich in der Familie vererbt werden. Und diese Familie hat eine sehr lange Geschichte an „Infizierten“. Es hieß sogar, dass jene, die besonders stark betroffen waren von diesen Genen, mit einer außergewöhnlichen Augenfarbe zur Welt kamen. Meistens waren es aber nur männliche Angehörige, während die Frauen meistens die Träger waren, die das Gen auf ihre Nachkommen übertrugen. Unsere Mutter selbst war eine liebevolle Frau und sie hat nie Hand an uns gelegt. Aber dafür war Michael ein wahrer Sprössling des Cohan-Clans. Er war immer zornig, hat alles und jeden gehasst und seine Wut und seine Zerstörungswut richteten sich gegen alles und jeden. Als er klein war, quälte er Tiere, vor allem aber Katzen. Er prügelte sich in der Schule und las Lektüren von de Sade, in denen es um kranke Sexpraktiken, Vergewaltigungen und Inzest ging. Doch egal wie oft er auch Tiere und Menschen quälte, er bekam nie genug und konnte nie damit aufhören. Es war… nein… es ist wie eine Sucht, von der er nicht loskommt und die ihn immer weiter vorantreibt. Man kann sagen: er ist stigmatisiert vom Wahnsinn, der in der Cohan-Familie weitergegeben wird. Er ist als Monster zur Welt gekommen und wird als solches sterben.“ Simon erschauderte, als er das hörte und es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass es so etwas tatsächlich gab und eine Familie sich aus Mördern, Psychopathen und Gewalttätern zusammensetzte. Ihm war, als würde er leicht frösteln und so zog er die Decke etwas weiter über seine Schultern. „Was hat er dir angetan?“ fragte er schließlich, auch wenn er tief in seinem Herzen bereits wusste, dass Leron es ihm nicht sagen wollte. Vielleicht weil er es nicht fertig brachte, es auszusprechen, oder weil er sich schämte. „Er hat Dinge getan, die man als großer Bruder niemals tun sollte. Vor allem nicht als Volljähriger mit einem kleinen Jungen. Aus irgendeinem Grund hatte er es schon immer auf mich abgesehen. Ich vermute mal, dass es in erster Linie Neid war, weil unsere Mutter mir die meiste Aufmerksamkeit widmen musste, weil ich noch klein war. Er hatte es aber nie gewagt, vollständig über die Stränge zu schlagen, solange sie da war, weil er sehr an ihr hing. Als sie aber starb, verlor er die Kontrolle und ließ alles ungebremst an mir aus. Ich war damals sieben, als er mit seinen Schikanen anfing. Er nannte es Bestrafungsspiel. Wenn etwas nicht so lief wie er wollte, ließ er seinen Wahn an mir aus. Damals hatte ich eine streunende Katze gefunden und sie gefüttert. Sie kam immer zu uns in den Garten und ich nannte sie Midnight, wegen ihrem schwarzen Fell. Als ich versehentlich ein Glas Orangensaft umkippte und ein paar von Michaels Notizen ruinierte, wartete er ab, bis ich wieder mit Midnight im Garten spielte. Er schnappte sich einen Stein und schlug der Katze damit immer und immer wieder auf den Schädel ein und ich konnte nichts tun, um das zu verhindern. Während er das tat, hielt Jordan mich fest, damit ich sehen konnte, was Michael da tat. Jordan ist nicht so destruktiv veranlagt wie Michael. Die beiden kamen schon immer gut miteinander zurecht, was vor allem daran lag, weil Jordan immer zurückhaltend und ruhig war. Er störte sich nicht an Michaels Charakter und half ihm sogar, indem er mich meist festhielt. Er selber war aber nie gewalttätig geworden. Jordan ist ganz anders als mein ältester Bruder. Man kann sagen, dass er der Funke ist, der das Benzin entzündet und Michael stellt den Brand an sich da, der alles zerstört und verwüstet. Um selbst nicht in Michaels Visier zu geraten, hat er ihn auf den Trichter gebracht, dass ich sein schlimmster Feind wäre und da Michael ihm vertraut, hat er sich darauf eingelassen. Er ist sehr manipulativ und benutzt seine Mitmenschen, um den bestmöglichen Vorteil für sich aus der Situation zu ziehen. Damals hat er sich mit Michael verbündet, weil ihm klar war, dass er ihn besser nicht zum Feind haben sollte. Und es klappte. Michael ließ ihn in Ruhe und versteht sich bis heute gut mit ihm. Dieser Dreckskerl hat ihn nie geschlagen oder ihm andere Dinge angetan, weil Jordan clever ist. Und ich befürchte, dass er nun eine neue Intrige plant. So wie ich ihn einschätze, wird er Michael erzählen, dass du bei mir bist, um uns erneut gegeneinander aufzuhetzen.“ „Warum das denn? Wieso will er noch mehr Öl ins Feuer gießen? Ist es wegen mir?“ Erneut schüttelte Leron den Kopf und wirkte nun sehr nachdenklich. „Ich vermute, er will sich Michael vom Hals schaffen. Unser Vater tritt gegen Ende des Jahres als Konzernleiter zurück und er kann sich nicht entscheiden, wen er zum Nachfolger ernennen soll. Michael ist zwar der beste Geschäftsmann, allerdings ledig, kinderlos und aufgrund seines Charakters wird er auch wahrscheinlich nie in der Lage sein, eine romantische Beziehung zu führen. Jordan hat zwar Frau und Kinder, ist aber nicht ganz so geschickt als Geschäftsmann wie Michael. So wie ich ihn einschätze, will er Michael heimlich in den Rücken fallen und ihn endgültig diskreditieren, damit er zum Nachfolger ernannt wird. Das würde diesem Scheißkerl zumindest ähnlich sehen. Und dafür will er dich mit reinziehen. Aus diesem Grund will ich, dass du dich von den beiden fernhältst, egal was auch passieren mag.“ Simon spürte, wie eine Hand durch sein Haar strich und so langsam verstand er Lerons heftige Reaktion im Restaurant. Diese Begegnung mit Jordan musste wirklich ein Schock für ihn gewesen sein und wenn diese beiden Brüder wirklich so gefährliche Zeitgenossen waren, konnte er auch die Angst verstehen, die Leron vor ihnen empfand. Wahrscheinlich würde er nicht anders reagieren. „Und was war mit dem Spitznamen?“ „Jordan und Michael haben mich immer Ronnie genannt. Am Anfang tat Michael es damals immer, wenn er zu mir kam. Er nannte es immer Bestrafungsspiel, wenn er mich das ganze Ausmaß seiner kranken Fantasien spüren ließ.“ So langsam begann Simon zu verstehen, warum Leron so heftig auf diesen Spitznamen reagiert hatte. Es hatte mit Sicherheit schlimme Erinnerungen an seine Kindheit wachgerufen. Und nun begriff er auch, warum Leron immer von Erziehungsmaßnahmen, aber nie von Bestrafungen sprach. Es hätte ihm wahrscheinlich das Gefühl gegeben, genauso schlimm zu sein wie Michael, der nicht mal davor zurückschreckte, seinen jüngsten Bruder zu quälen. Und wahrscheinlich war das auch der Grund, wieso Leron so bestürzt war, als die Sache mit dem Sonnenstich passierte. Er musste offenbar gedacht haben, es wäre seine Schuld und er hätte ihm etwas Schlimmes angetan. Offenbar reflektierte sich Leron sehr oft mit seinem ältesten Bruder und redete sich ein, er wäre genauso schlimm. Aber das war doch völliger Unsinn. Auch wenn es vielleicht eine seltsame Methode gewesen war, die Person, die man liebte, mittels eines Petboy-Vertrages vom Straßenstrich zu holen, aber Leron war nie gewalttätig oder aggressiv geworden. Er war immerzu verständnisvoll, aufmerksam, er behandelte ihn mit Rücksicht und Respekt. Nur vielleicht war ihm das ja nicht wirklich klar. Kurzerhand beschloss Simon, ihm ein wenig entgegenzukommen und ihm diesen Gedanken zu nehmen, indem er die Umarmung erwiderte und Leron küsste. „Weißt du was ich glaube? Du vergleichst dich zu sehr mit deinem Bruder. Keine Ahnung, wie du darauf kommst, aber ich fühle mich bei dir sehr gut aufgehoben. Du hast mich nie wie einen Stricher behandelt oder dich an meinen Augen gestört. Du hast mir ein tolles Heim gegeben und du kümmerst dich sehr um mich. Als ich den Sonnenstich hatte, hast du mich ins Haus getragen und bist nicht von meiner Seite gewichen. Und als das Gewitter getobt hat, da durfte ich bei dir bleiben und du warst für mich da, du hast dich nicht mal über mich lustig gemacht. Du hast mich immer wie einen Menschen behandelt und nicht wie einen Freak oder wie Abschaum vom Straßenstrich. Und das zeigt doch eigentlich, dass du ein guter Mensch bist, oder etwa nicht?“ Und da hellte sich Lerons Gesicht langsam auf. In seinen haselnussbraunen Augen kehrte ein kleiner Glanz zurück und man sah deutlich, wie tief ihn diese Worte bewegten. „Danke, Simon“, sprach er. „Ich glaube, du weißt nicht, wie viel mir diese Worte bedeuten.“ Simon lächelte und war froh, ihn auf diese Weise ein wenig aufmuntern zu können. Es musste sicherlich hart sein, mit solchen Brüdern leben zu müssen. Vor allem wenn man selber noch ein Kind war. „Es ist nicht leicht“, sagte Leron schließlich nach einer kurzen Pause, „mit so einem Bruder wie Michael. Er redet einem immer alles Mögliche ein und macht sich dann einen Heidenspaß daraus, andere mit seinem Psychoterror zu quälen.“ „Wieso ist er dann nicht in einer Klapse, wenn er doch so gestört ist?“ „Unser Vater war dagegen. Er wollte jeglichen Skandal in der Familie vertuschen und möglichst vermeiden, dass die Öffentlichkeit irgendetwas mitbekommt und das Image des Konzerns dadurch Schaden nimmt. Also bestand für ihn sie beste Lösung darin, mich vollständig vom Rest der Familie zu isolieren und alleine aufwachsen zu lassen.“ Verständnislos schüttelte Simon den Kopf darüber. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf rein, wie ein Vater so verantwortungslos gegenüber seiner Familie sein konnte und gegen solche Söhne nichts unternahm. Stattdessen hatte er alles unter dem Teppich gekehrt mit der Konsequenz, dass sich nichts geändert hatte und immer noch Streit unter den Brüdern herrschte. Was für ein absoluter Mist… „Du bist echt nicht für deine Familie zu beneiden“, seufzte er schließlich. „Ich glaube, ich würde mich bei so etwas echt lieber freiwillig zur Adoption freigeben lassen.“ Nun zog sich ein leichtes Schmunzeln über Lerons Lippen. „Genau das mag ich an dir. Du sagst immer direkt, was dir durch den Kopf und scheust dich auch nicht, solche Sachen zu sagen. Und eines verspreche ich dir: ich werde nicht zulassen, dass Jordan und Michael dir irgendetwas antun.“ Michael Evans saß in seinem Sessel und knirschte mit den Zähnen. Drei Stück… drei verdammte Aspirin hatte er heute genommen und die Kopfschmerzen gingen einfach nicht weg. Dieser widerliche Schmerz, der sich tief in sein Hirn zu bohren schien wie hundert glühende Nadeln, machte ihn noch wahnsinnig. In der letzten Zeit wurden sie immer häufiger und egal was er auch tat, es ging einfach nicht weg. Es machte ihn rasend und ließ ihn jegliche Selbstkontrolle vergessen. Und als er das vierte Aspirin in einem Glas Wasser aufgelöst und getrunken hatte, da reichte es ihm endgültig. Eine unbändige Wut stieg in ihm auf und er warf das leere Glas gegen die Wand, wo es mit einem lauten Klirren zerbrach. Doch es war nicht genug… es würde niemals genug sein, das wusste er selbst. In ihm loderten immer noch dieser unbändige Hass und die Wut… und das Verlangen danach, es andere spüren zu lassen. Es war wie eine Sucht, von der er einfach nicht loskam. Anders konnte er es nicht beschreiben. So lange er sich zurückerinnern konnte, war er immer wütend oder leicht reizbar gewesen. Alles hatte ihn leicht auf die Palme gebracht. Egal ob es Leron gewesen war, wenn er geweint hatte oder wenn jemand eine nervende Stimme gehabt hatte. Als Kind hatte er sich selbst dafür gehasst, dass er immer so voller Wut war und diesen Drang verspürte, anderen wehzutun. Und er hatte nicht verstanden, wieso er immer solche Aggressionen hegte und warum er andere in seiner Umgebung verletzte. Da sein Vater nie für ihn da war, hatte er bei seiner Mutter Zuwendung gesucht, weil sie ihn als Einzige immer verstanden hatte. Sie hatte sich niemals von ihm abgewendet und ihn als Teufelsbrut oder Quälgeist bezeichnet. Nein, sie hatte ihn trotz allem geliebt und verstanden, warum er so war: weil er ein Teil ihrer Familie geerbt hatte und mit dem besonderen Mal der Cohans geboren worden war. Seine Iris hatte schon seit seiner Geburt einen goldgelben Ton gehabt. Es war eine außergewöhnliche Augenfarbe, wie es sie bei Menschen normalerweise nicht gab. Lediglich in der Cohan-Familie. Und die war bekannt dafür, dass sie Mörder, Psychopathen, Vergewaltiger und Gewalttäter hervorgebracht hätte. Seine Mutter hatte gewusst, dass er keine Ausnahme bildete und doch hatte sie ihn abgöttisch geliebt. Zumindest bis zu dem Tag, als Leron geboren wurde und sie sich dann nur noch um ihn gekümmert hatte. Ausgerechnet Leron! Dieser verdammte Mistkerl war doch genauso verrückt wie er selber. Das war einfach nicht fair. Wieso hatte Leron immer die ganze Aufmerksamkeit bekommen, obwohl er zuerst da gewesen war und so ein besonderes Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter existiert hatte? Warum nur? Wieso hatte seine Mutter Leron bevorzugt, obwohl er der Erstgeborene war? Auch wenn er verrückt und kein einfaches Kind gewesen war, sein kleiner Bruder Leron war doch genauso verrückt. Er führte doch ständig Selbstgespräche und steigerte sich in irgendwelche Wahnvorstellungen rein. Und trotzdem war er der bevorzugte Sohn. Er war Mutters Lieblingskind gewesen und selbst von seinem Vater hatte er mehr Aufmerksamkeit bekommen. Obwohl er der Jüngste war, hatte er einfach das Unternehmen Evans Hybrid Technologies bekommen. Das war einfach nicht fair! Dieser verdammte Bastard… Als ob es nicht schon eine Frechheit war, dass er trotz der Tatsache, dass er ebenfalls verrückt war, ohne die Augen der Cohans geboren worden war, er hatte ihm seine Mutter weggenommen. Leron… immerzu ging es nur um Leron. Alles drehte sich immer nur um ihn. Das konnte und wollte er nicht akzeptieren. Er war der älteste Sohn und der beste Geschäftsmann. Dass er mit den Augen und der labilen Psyche der Cohans geboren worden war, das war doch nicht seine Schuld. Er konnte nichts dafür, dass er so war und ein Vergnügen daraus zog, andere zu quälen. Nein, die Familie seiner Mutter trug Schuld daran, dass er so war. Warum sollte er sich da irgendetwas vorwerfen? Es war nicht seine Schuld, dass er Leron damals geschlagen und missbraucht hatte. Leron hatte sich das selber zuzuschreiben, weil er es gewagt hatte, ihm seine Mutter wegzunehmen. Michael kniff stöhnend die Augen zusammen, als ein schmerzhafter Stich durch seinen Kopf ging. Dieses Mal waren die Kopfschmerzen so schlimm, dass er das Gefühl hatte, sie würden ihn noch umbringen. Doch nach einer Weile spürte er eine leichte Linderung durch das Aspirin, auch wenn die Kopfschmerzen nicht vollständig verschwanden. Seine Gedanken wanderten schließlich zu Jordans überraschenden Anruf. Er hatte schon gleich gedacht, dass irgendetwas war, denn normalerweise hatten sie eher sporadisch Kontakt zueinander. Und auch wenn Jordan kalt und glatt wie ein Aal war, gehörte er zu den wenigen Personen, die Michael nicht hasste und das war eine große Seltenheit. Jordan war ruhig, er machte nie Ärger und er hatte ihn hier und da mal unterstützt. Zwar waren sie momentan Rivalen im Kampf um die Nachfolge, aber Michael wusste, dass Jordan keinerlei Chancen gegen ihn hatte. Er war nicht annähernd so ein guter Geschäftsmann, auch wenn er alles andere als dumm war. Im Gegenteil, er war wahrscheinlich sogar der Intelligenteste von ihnen dreien, aber er war viel zu passiv und zog die Fäden lieber im Hintergrund. Er besaß nicht die Dynamik, um in den Vordergrund zu treten und aktiv zu werden. Und aus diesem Grund würde er auch nie der Nachfolger werden. Michael mochte Jordan irgendwie. Intellektuell waren sie auf einem ähnlichen Level, Jordan hatte ihn nie provoziert oder getadelt und er hatte ihm das eine oder andere Mal unter die Arme gegriffen. Außerdem passte Jordans Passivität zu seiner aggressiven und impulsiven Natur. Deshalb waren sie auch ein gutes Team. Und dass Jordan zu ihm hielt, zeigte sich ja auch durch die Tatsache, dass dieser ihm von Lerons „Eroberung“ erzählt hatte. Zuerst hatte Michael es für einen Scherz gehalten, aber jetzt, wo er so darüber nachdachte, passte es doch. Leron hatte ihm doch sein kleines Spielzeug damals weggenommen. Diesen niedlichen kleinen Jungen vom Straßenstrich mit den weißen Augen. Er hatte einen gewissen Gefallen an den Bengel gefunden, weil er ähnlich stigmatisiert war. Sie beide waren mit Augen gestraft, die sie als Monster brandmarkten. Der Vorteil war gewesen, dass der Junge auf dem Straßenstrich anschaffen ging und deswegen leicht zu haben gewesen war. Und er hatte wirklich Spaß mit ihm gehabt. Aber dann musste Leron kommen und ihm alles kaputt machen. Mal wieder… Immerzu musste er ihm alles wegnehmen, obwohl er nicht das Recht dazu hatte. Erst ihre gemeinsame Mutter, dann einen Teil des Konzerns und dann sein kleines Spielzeug. Immerzu nahm Leron ihm etwas weg, das ihm wichtig war. Wie es aussah, musste er ihm erneut beibringen, dass er nicht das Recht hatte, ihm immer alles wegzunehmen. Er würde es Leron am eigenen Leib spüren lassen, so viel stand fest. So wie er damals dieser Streunerkatze den Schädel eingeschlagen hatte. Aber dem Jungen würde er nicht den Schädel einschlagen. Nein, dazu war der Kleine zu niedlich. Er würde ihn einfach als sein Eigentum markieren und seinen Spaß mit ihm haben, während Leron dabei zugucken durfte. Das würde ihm endlich mal eine Lehre sein. Dieser Dreckskerl hatte es einfach so gewagt, ihm den Jungen wegzunehmen, der ihm gehörte und nun holte er sich einfach so seinen Spaß mit ihm. Der Junge gehörte ihm allein und nicht Leron oder irgendjemand anderem sonst. Schließlich erhob sich Michael aus seinem Sessel, denn er hatte eine kleine Eingebung. Eine Idee war ihm gekommen, was er machen könnte und es war genial. Jetzt brauchte er nur noch das entsprechende Equipment. Aber das würde er schon sicher besorgt kriegen. Und er wusste auch schon, wen er fragen würde. Mit dem Porsche, den er sich erst vor kurzem zugelegt hatte, fuhr er in eine etwas entlegenere Gegend, ein heruntergekommenes Ghetto nicht weit vom Straßenstrich entfernt. Dort wohnte jemand, der ihn als Einziger wirklich verstand. Als er das Apartment erreichte und an die Tür klopfte, wurde die Tür geöffnet und ein Mann mit vernarbtem Gesicht, langen schwarzen Haaren und goldgelben Augen tauchte auf. Sein Name war Jackson Cohan, ein sehr entfernter Verwandter. Genau genommen waren ihre Urgroßväter Cousins gewesen und die Cohan-Familie hatte einen außergewöhnlich weit reichenden Stammbaum und Verwandte fand man sogar in ganz Amerika. Trotzdem hatte gleich von Anfang an eine gewisse Verbundenheit zwischen ihnen beiden geherrscht, als wären sie Brüder. Auch das war ein merkwürdiges Phänomen in der Cohan-Familie. Familienmitglieder, die besonders labil waren, quälten ihre Kinder und Geschwister, aber Cousins oder entfernte Verwandte hielten zusammen. Vor allem wenn sie mit diesen Augen stigmatisiert waren. „Hey Mike, was willst du denn um die Uhrzeit hier?“ Jackson Cohan bot einen furchtbaren Anblick. Seine Haare waren zerzaust und fielen ihm teilweise ins Gesicht und sein Gesicht und auch der Rest seines Körpers waren hässlich vernarbt durch alte Brandverletzungen. Jacksons fanatische Tante hatte geglaubt, er wäre besessen und hatte ihn angezündet. Sein Vater war Metzger und Frauenmörder gewesen und hatte seinen Sohn regelmäßig misshandelt. Jackson war schließlich durchgedreht und hatte seinen Vater mit einem Messer mehrfach in die Brust gestochen, als dieser ihn töten wollte. Danach war Jackson zu seiner Tante gekommen, die gleichzeitig auch seine Mutter war, nachdem sie von ihrem eigenen Bruder vergewaltigt und geschwängert worden war. Jackson war das Produkt dieses Inzests und um ihre Seele zu retten, wollte sie ihr Kind töten. Nur ein kleiner Auszug aus dieser langen Familiengeschichte voller Gräueltaten. „Guten Abend, Jack. Ich dachte, du kannst mir ein wenig unter die Arme greifen. Ich habe meinem jüngsten Bruder eine Lektion zu erteilen, weil er mir etwas weggenommen hat, was mir gehört. Und ich will ihn dafür bestrafen. Hättest du da etwas für mich?“ Jackson grinste und seine goldgelben Augen funkelten gefährlich. Etwas Manisches tauchte in ihnen auf. „Aber klar doch. Komm rein und erzähl mir mehr davon. Ich denke ich habe da ein paar Utensilien, die du nehmen kannst, um deinen Bruder angemessen zu bestrafen.“ Und damit verschwanden sie gemeinsam in die Wohnung, wo Michael ihn in seinen Plan einweihte. Er wusste, dass er Jackson vertrauen konnte. Nachdem Jordan weggefallen war, hatte sich sein entfernter Verwandter, der seinerseits kein ungeschriebenes Blatt war und nur aufgrund der Tatsache, dass er seine vier Morde als „Scarecrow Jack“ in Verkleidung und ohne das Hinterlassen von Spuren durchgeführt hat, noch nicht von der Polizei gesucht wurde. Und das verband sie beide: sie konnten tun und lassen was sie wollten, ohne dass jemand sie schnappen würde. Michael hatte seinen Vater, der ihn immer aus der Scheiße rausholte und Jackson war vorsichtig genug, um keine Spuren zu hinterlassen. Sie beide waren auf ihre Weise süchtig und konnten nicht ohne ihre ganz spezielle Droge nicht leben. Kapitel 14: Fesselspiel Teil 1 ------------------------------ Es war trotz der beunruhigenden Geschichte am Abend eine sehr ruhige Nacht gewesen und vielleicht hatte die Tatsache, dass sie beide zusammen geschlafen hatten, dazu beigetragen, dass sowohl Leron als auch Simon am nächsten Morgen gut erholt aufwachten und dann auch gemeinsam frühstücken gingen. Nun, zumindest ging Simon zuerst in die Küche, denn Leron wollte vorher noch duschen gehen. Nach dem Frühstück würde es mit dem Training weitergehen, denn der Unternehmer hatte noch so einiges für Simon geplant und er brannte auch schon regelrecht darauf, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Als er aber das Bad betrat, hörte er wieder die Stimme seines Bruders in seinem Kopf. Und die hatte ihm gerade noch gefehlt, wo er doch eine halbwegs gute Laune am Morgen hatte. „Na Ronnie, hattet ihr zwei ein nettes kleines Gespräch gestern Abend? Hast wohl ein wenig aus dem Nähkästchen geplaudert, wie?“ „Es ist besser, wenn er die Wahrheit kennt, damit er sich von dir fernhält, okay? Ich werde nicht zulassen, dass du ihm etwas antust. Und wenn ich dich mit Gewalt aufhalten muss!“ rief Leron wütend und stieg in die Dusche und drehte das Wasser auf. Die heißen Wasserstrahlen belebten und beruhigten ihn vor allem. Trotzdem änderte es nichts daran, dass er nach dem gestrigen Treffen mit Jordan immer noch ziemlich angespannt war. Das war nicht gut. Er musste sich irgendwie beruhigen. Er durfte nicht in Rage verfallen, sondern musste einen kühlen Kopf bewahren. Nur so gelang es ihm, vernünftig zu bleiben. „Mit Gewalt also… Du hast deinem kleinen Lustknaben wohl nicht erzählt, dass du auch nicht ganz ohne bist, oder? Auch in dir fließt das Blut einer Familie, die aus Verrückten besteht. Das macht dich genauso zu einem Verrückten wie mir. Oder hast du vergessen, was du damals getan hast?“ „Das habe ich nicht und ich habe mir geschworen, nie wieder einen Menschen zu schlagen oder ihm wehzutun.“ „Nachdem du in der Schule auf einen jüngeren Schüler mit einem Besenstil so lange eingeprügelt hast, dass er mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Und vergiss nicht, wie du deine Angestellten in der Firma behandelst und wie sehr sie dich hassen, weil du als Chef ein echter Tyrann bist. Auch in dir steckt eine gewalttätige Ader, Ronnie. Wir beide sind verrückt und ich frage mich, wie weit wohl deine Selbstbeherrschung reicht, dass du nicht eventuell auch zu einer Gefahr für dein kleines Betthäschen wirst. Was, wenn du mal die Kontrolle verlierst und ihm dieselben Dinge antust, die ich dir angetan habe? Ach ja! Hast du ihm denn eigentlich erzählt, dass ich aus dir einen Mann gemacht habe?“ „Das braucht er nicht zu wissen. Und hör auf, so abwertend über Simon zu reden. Ich werde ihm niemals wehtun und versuch bloß nicht, mir einreden zu wollen, ich würde ihm schaden oder ihn unglücklich machen. Er hat gesagt, dass ich nicht wie du bin und dass ich ein guter Mensch bin. Für ihn bin ich nicht der Sprössling einer Familie, die aus Verrückten besteht, sondern jemand, der sich um ihn kümmert. Im Gegensatz zu dir und der Sippschaft unserer Mutter habe ich gelernt, meine Wut in den Griff zu bekommen und mich nicht irgendwelchen kranken Trieben hinzugeben so wie du es getan hast. Solange ich zumindest für Simon ein gutherziger Mensch bin, werde ich niemals so sein wie du. Und das lasse ich mir von dir nicht ausreden.“ Damit schwieg die Stimme in seinem Kopf fürs Erste und Leron war nur froh drum. Zwar schaffte es Michael ziemlich gut, ihn zu verunsichern oder ins Wanken zu bringen, aber nachdem Simon ihm selber gesagt hatte, dass er ihn für einen guten Menschen hielt und er dankbar für das war, was er getan hatte, ließ er sich nicht mehr so von Michael verrückt machen. Er wusste nun mit Sicherheit, dass er für jemanden wichtig sein konnte. Und der Gedanke daran, dass er Simons Vertrauen und seine Zuneigung hatte, ließ ihn wieder langsam ruhig werden und diese aufwallende Wut nach und nach abebben. Es hatte ihn unglaublich viel Disziplin gekostet, mit dieser Wut umzugehen. Nicht selten hatte er den Drang verspürt, Michael und Jordan die Zähne auszuschlagen und ihnen die Finger einzeln zu brechen. Einfach nur um Rache für die Dinge zu nehmen, die sie ihm angetan hatten. Doch er tat es nicht und er unterdrückte dieses Verlangen mit eiserner Willenskraft. Niemals wollte er einem Menschen wehtun. Er würde alles daran setzen, dass er niemals so werden würde wie Michael. „Ich habe Mum damals an ihrem Grab versprochen, dass ich nie so werden würde wie ihre Familie. Und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um Simon zu beschützen. Insbesondere vor dir…“ Nach der Dusche zog sich Leron etwas Bequemeres an und wollte gerade nach unten in die Küche gehen, da klingelte sein Handy. Und schon war es wieder vorbei mit seiner Ruhe, als er sah, dass es Hansen war. „Was ist?“ rief er gereizt, als er das Gespräch angenommen hatte. „Ich… ich habe mit Dr. Dawson gesprochen und mit ihm einen Termin für Mittwoch nachmittags um 15:30 Uhr vereinbart.“ „Aha…“, sagte Leron knapp. „Haben Sie den Geschäftstermin mit Mr. Walters verschoben?“ „Nein, noch nicht.“ „Dann machen Sie das gefälligst, oder ich mache Ihnen höchstpersönlich Beine, Hansen! Und für den Rest meiner freien Tage bin ich nicht erreichbar!“ Damit war das Gespräch für ihn beendet und er atmete noch ein paar Male tief durch, um sich zu beruhigen und jegliche Wut und Aggression abzulegen. In diesem Zustand ging er lieber nicht in die Küche. Ansonsten würde er Simon schlimmstenfalls noch Angst einjagen und das konnte er nicht gebrauchen. Nachdem er sich beruhigt hatte, verließ er sein Schlafzimmer und ging nach unten. In der Küche angelangt, sah er Simon am Tisch sitzen, der gerade gespannt die Zeitung las und ein belegtes Brötchen dazu aß. Als sich der Unternehmer dazu setzte, wollte Simon ihm schnell die Zeitung geben, da er wohl in der Annahme ging, dass Leron sie lesen wollte. Doch dieser winkte nur ab und sagte: „Lies du ruhig die Zeitung. Ich brauche erst mal einen Kaffee. Und? Hast du gut geschlafen?“ Simon nickte und schluckte den Bissen runter, bevor er antwortete „Wie ein Stein. Ich lese mir gerade die Horoskope durch.“ Ungläubig runzelte Leron die Stirn, als er das hörte und schüttelte den Kopf, wobei er skeptisch fragte „Du glaubst an so einen Schwachsinn?“ „Nö, aber manchmal ist es schon ganz lustig, sie zu lesen und zu erkennen, dass sie total falsch liegen. Meins zum Beispiel lautet Ihre Arbeitskollegen schätzen Ihre Mitarbeit. Teamwork stellt für Sie kein Problem dar. Sehr witzig… Willst du deines hören?“ Eigentlich hatte Leron keine große Lust dazu, da er eh nicht an diesen Horoskop-Kram glaubte und es als Unsinn abstempelte. Aber er wollte Simon gegenüber nicht unhöflich sein und sagte stattdessen ja. Hieraufhin räusperte sich der 21-jährige kurz und las vor: „Sie müssen nicht versuchen, alles alleine zu schultern. Um Probleme zu lösen, muss man auch Hilfe annehmen können. Ein netter Ratschlag, aber auch so allgemein gehalten, dass es auf jeden zutreffen könnte.“ „Das auf jeden Fall“, stimmte Leron zu und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Trotzdem stimmte ihn diese Botschaft ein klein wenig nachdenklich. „Wie wird denn das heutige Training aussehen?“ erkundigte sich Simon nun und klang neugierig, auch seine Augen machten einen aufgeweckten Eindruck, auch wenn man genau hinsehen musste, um das zu erkennen. Er hatte anscheinend Gefallen an seiner Rolle gefunden, oder aber es lag an der Person, mit der er Sex hatte, dass er danach fragte, ohne in irgendeiner Art und Weise nervös oder besorgt zu wirken. Nein, er war aufgeregt und schien sich sogar ein wenig darauf zu freuen. Dass er dabei zusätzlich Geld verdiente, schien ihm recht egal zu sein. Und allein diese Tatsache ließ Leron erweichen, ihn über seine Pläne einzuweihen. „Wir werden weiter mit Bondage arbeiten, was also heißt, dass du wieder gefesselt wirst. Aber keine Sorge, ich habe dieses Mal nicht vor, dir die Augen zu verbinden. Ich werde es nur tun, wenn du es wirklich willst. Wichtig ist nur, dass du…“ „Dass ich dir vertraue“, ergänzte Simon für ihn und lächelte. „Das tue ich doch auch. Ich weiß, dass du auf mich aufpasst. Die Sache mit der Augenbinde ist halt nur deshalb so, weil ich vor drei Jahren an einen ziemlich üblen Freier geraten bin. So ein reicher Bonze. Er hat mich in so eine Art Loft gefahren, mich dann überwältigt, ans Bett gefesselt und mir Augenbinde und Knebel verpasst. Tja und er war nicht sonderlich zimperlich mit mir, als er es mit mir machte. Für gewöhnlich lasse ich mich nicht fesseln, dazu gehört ja auch Vertrauen. Und um ehrlich zu sein: ich tue mich sehr schwer damit, Menschen zu vertrauen. Aber bei dir ist es irgendwie anders. Vielleicht weil du der Erste bist, der sich wirklich Gedanken um mich macht.“ Für einen kurzen Moment schwand Lerons Lächeln, als Simon ihm die Geschichte vom Loft erzählte und wieder hatte er diesen geistesabwesenden Blick, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders. Allerdings währte dieser Zustand nur für einen kurzen Augenblick, denn da kehrte seine Aufmerksamkeit wieder zurück. „Das ist schön zu hören, dass du mir vertraust. Also gut, ich lass dir noch zwei Stunden Zeit. Wir können es heute ja ruhig angehen. Du kommst dann später in mein Schlafzimmer.“ Simon lächelte und nickte. Er machte einen glücklichen Eindruck und erleichterte Leron ungemein, ihn so zu sehen. Simon war ein wenig ungeduldig und hatte hin und wieder überlegt, ob er nicht vielleicht doch schon früher zu Leron kommen sollte. Andererseits konnte es ja gut sein, dass er noch ein paar Dinge vorbereiten musste und in dem Fall würde er ihn sicher stören. Und das wollte Simon lieber nicht riskieren, also entschied er sich, doch lieber zu warten und nutzte stattdessen die Zeit, um ein Bad zu nehmen, während er ein wenig Musik dabei hörte. So bekam er die restliche Wartezeit ganz gut rum, bis er dann endlich zu Leron gehen konnte. Da er eh nachher keine Klamotten brauchen würde, zog er dieses Mal lediglich eine Hose und natürlich sein Halsband an. Zuerst war es ihm wie ein perverser Fetisch vorgekommen, doch inzwischen glaubte er, dass es für Leron weniger ein Fetisch war, sondern eine ganz eigene Art, ihm seine Zuneigung zu zeigen. Da er diese Fehde mit seinen Brüdern hatte und auch sonst ziemlich einsam aufgewachsen war, besaß er wohl nicht viel Erfahrung darin, wie man mit Menschen umzugehen hatte. Und da er eine große Liebe für Tiere zu haben schien, hatte er diesen Bezug gewählt. Inzwischen glaubte Simon, Leron ziemlich gut zu kennen und ihn auch einschätzen zu können. „Ah da bist du ja“, hörte er ihn sagen und sogleich trat er näher und spürte, wie sein Herz schneller schlug und ein leichtes Kribbeln durch seinen Körper ging. Er konnte es kaum erwarten. Und Leron wahrscheinlich genauso wenig, als dieser einen Arm um ihn legte, ihn näher zu sich heranzog und ihn küsste. Und wieder einmal wurde sich Simon bewusst, wie gut Leron eigentlich küssen konnte. Mensch, wo hatte der Kerl bloß gelernt, so gut zu küssen? Allein schon wie leidenschaftlich und wild Lerons Zunge mit seiner spielte und seinen Mund verwöhnte, ließ ihn spüren, wie seine Erregung langsam stärker wurde. Und als eine Hand sich zwischen seine Beine schob und spielerisch sein Geschlecht massierte, reagierte er unbewusst darauf, indem er sich weiter gegen Lerons Hand drückte. Er wollte es. Ganz egal was ihm auch bevorstand, er wollte Sex mit Leron. Und dieses Mal machte er auch kein großes Geheimnis daraus, sondern zeigte offen, was er wirklich wollte. Nun, da er wusste, dass Leron mehr in ihn sah als nur einen Petboy, sah er auch nicht mehr wirklich einen Grund darin, sich seinerseits zurückzuhalten und sich irgendetwas zu verbieten, weil Leron ein Freier war. Nun, er war zwar nach wie vor an den Vertrag gebunden, aber das bedeutete doch nicht, dass er nicht etwas mehr Leidenschaft zulassen konnte. „Du gehst ja richtig ran“, stellte Leron fest und seine Hand wanderte nun zu Simons Hintern. Der 21-jährige grinste ein wenig frech und drückte sich nun näher an Leron heran. „Selbst schuld“, sagte er. „Wer hat mir denn so den Kopf verdreht?“ „Pass bloß auf, ansonsten mach ich noch viel mehr als das.“ „Dann zeig es mir.“ Diese Herausforderung sollte genügen, um Leron zu motivieren, dass sie endlich mit dem Fesselspiel beginnen konnten. Und tatsächlich wurde Simon auch schon aufs Bett gedrückt und er sah gespannt in Lerons haselnussbraune Augen, als sich der 31-jährige direkt über ihn beugte. Dann trafen sich ihre Lippen erneut zu einem Kuss und Simon blieb fast die Luft weg. „Wo hast du eigentlich gelernt, so gut zu küssen?“ „Naturtalent“, erklärte Leron selbstüberzeugt und begann nun damit, Simons Hose auszuziehen und bemerkte mit leicht amüsierter Miene, dass der Junge bereits jetzt schon war. „Und offenbar bin ich sogar ein so großes Naturtalent, dass du allein vom Küssen einen Ständer kriegst.“ „Ist doch deine Schuld. Und außerdem: seit wann benutzt ein Unternehmer aus gutem Hause solche Wörter?“ Nun griff Leron zu der Kommodenschublade neben dem Bett und holte Lederhandschellen heraus. „Ein bisschen Dirty Talk kann doch nicht schaden. Und inzwischen solltest du wissen, dass ich nicht unbedingt dem Bild eines stereotypischen wohlhabenden Geschäftsmannes entspreche.“ Der Punkt ging damit eindeutig an Leron. Bereitwillig ließ Simon seine Handgelenke an das Kopfende des Bettes fesseln. Diese Art des Fesselspielchens war ihm wesentlich lieber als der Stuhl im Untergeschoss, denn hier hatte er noch ein klein wenig Bewegungsfreiheit. Die Lederhandfesseln saßen fest, aber nicht zu eng. Zärtlich streichelte Leron über seine Brust und sein Blick blieb eine Weile an seinem nacktem Körper hängen, bis er sich wieder dem Inhalt der Schublade widmete, wo er seine Spielzeuge aufbewahrte. Er machte einen sehr ruhigen Eindruck, auch wenn er es wahrscheinlich selbst kaum erwarten konnte. Aber es gab Simon ein gewisses Gefühl, als wäre alles in bester Ordnung und dass es nicht zu befürchten gäbe, wenn Leron so ruhig und entspannt war. „Bleib ganz entspannt auf dem Bett liegen und atme tief durch“, wies der Unternehmer ihn an. Simon nickte und folgte der Anweisung, wobei er sich allerdings fragte, was denn jetzt folgen würde. Ein Gefühl riet ihm, einfach erst mal abzuwarten und so richtete er seinen Blick zur Decke und wartete ab. Doch dann, als er spürte, wie etwas Glattes und Hartes in seine Harnröhre geschoben wurde, erschrak er und schrie kurz auf. Er wollte sich aufsetzen und sich instinktiv wehren, doch da ermahnte Leron ihn mit strenger Stimme „Bleib liegen, ansonsten könnte ich dich eventuell verletzen.“ „Was… was ist das?“ rief Simon und erschrak, als der fremde Gegenstand immer tiefer eindrang. Und kurz darauf war eine leichte Vibration zu spüren, die den 21-jährigen laut aufstöhnen ließ. Teils vor Erregung, teils vor Schreck. „Das ist ein Harnröhrenvibrator“, erklärte Leron schließlich. „Der praktische Effekt ist, dass er sowohl stimuliert, aber auch verhindert, dass du noch vorzeitig kommst. Keine Sorge, du wirst dich schon daran gewöhnen und es ist auch nicht gefährlich.“ Dennoch war sein Petboy immer noch ein wenig durch den Wind und der Schreck wirkte immer noch nach. Sanft strich er ihm über die Wange, um ihn zu beruhigen. „Es ist alles gut“, versicherte er ihm. „Es kann dir nichts passieren.“ „Okay“, murmelte Simon und nickte. Dennoch ließ Leron ihm noch ein wenig Zeit, sich daran zu gewöhnen, bevor er weitermachte. Es war nicht gut, wenn der Junge jetzt irgendwie Angst bekam und diese schlechte Erinnerung ihr Verhältnis zueinander beeinträchtigen würde, nachdem er es schon so weit geschafft hatte. Er wartete ab, bis er merkte, dass Simons Angst und Nervosität gewichen waren und er sich wieder entspannt hatte. Ein gutes Zeichen dafür, dass er nun weitermachen konnte. Als nächstes holte er das Gleitgel aus der Schublade und ein weiteres Spielzeug, welches er an ihm ausprobieren wollte. „Ich mache jetzt weiter, okay?“ Ein kurzes „Okay“ kam von dem 21-jährigen. So langsam glaubte er, sich an diesen merkwürdigen Druck und die Vibrationen zu gewöhnen. Er war froh, dass Leron ihm eine kurze Eingewöhnungspause gegeben hatte. Ansonsten hätte er in einem Affekt noch die gesamte Aktion komplett abgebrochen. Kurz darauf spürte er, wie zwei Finger sich durch seinen Schließmuskelring schoben und tief eindrangen. Sofort spreizte er seine Beine noch ein wenig mehr und streckte seinen Körper Lerons Fingern noch ein wenig mehr entgegen. „Du stehst irgendwie darauf, wenn du es mit den Fingern besorgt kriegst, oder?“ „Du kannst das halt so gut“, gab Simon zurück, ohne eine direkte Antwort auf die Frage zu geben. „Irgendwann hast du das doch mal geübt, oder etwa nicht?“ Er hörte den Unternehmer amüsiert schnauben. „Nicht direkt, aber sagen wir es mal so: ich kenne mich sehr gut in der Anatomie aus und kann es sehr gut in die Praxis umsetzen.“ Bevor Simon näher nachfragen konnte, spürte er auch schon wie Leron seine Finger wieder herauszog und kurz darauf etwas viel größeres in ihn eindrang. Ein lautes Stöhnen entwich ihm und er spürte den starken Druck, der auf seinen Anus ausgeübt wurde. Da das Gleitgel nicht mal kalt war, fühlte es sich umso angenehmer an. Immer tiefer drang der Gegenstand in ihn ein und kurz darauf hörte er ein leises Klicken, woraufhin eine starke Vibration durch sein Innerstes ging. „Ah… aaaah!!“ Für einen Moment hatte Simon das Gefühl, als würde etwas in seinem Verstand aussetzen. Die Lust und die Erregung, die er verspürte, raubten ihm fast den Atem. Er rang nach Atem und schaffte es nicht, bei klarem Verstand zu bleiben. Es fühlte sich so gut an, dass er es nicht in Worte fassen konnte. Als Leron ihn so sah, hätte er diesen Anblick am liebsten auf Kamera festgehalten. Simon sah einfach nur heiß aus, wie er ans Bett gefesselt da lag, splitternackt mit einem Dildo und einem Harnröhrenvibrator. Nun konnte er einfach nicht mehr an sich halten. Er wollte sich jetzt seinen Spaß mit dem Jungen holen, nachdem dieser schon so frech zu ihm war. Zärtlich strich er über diese blasse, zarte Haut und küsste Simons Hals. „Du bist wirklich süß“, raunte er leise in Simons Ohr. „Wirklich zum Anbeißen.“ „Kann es sein, dass du ein Sadist bist?“ „Liegt halt in meiner Familie… Wobei ich aber bei weitem nicht so sadistisch bin wie die.“ Damit leckte Leron über sein Ohr und küsste dann eine besonders sensible Stelle an Simons Hals. Er spürte, wie der Junge vor Erregung zitterte und sein Keuchen wurde lauter. Er begann nun den Dildo zu bewegen um seinen gefesselten Petboy noch ein wenig mehr an seine Grenzen zu treiben. Zwar juckte es ihn selbst, jetzt gleich zum nächsten Schritt überzugehen, aber er beherrschte sich noch. Es war doch langweilig, das alles zu überstürzen, wenn sie doch so viel Zeit hatten. Und zuerst war Simon an der Reihe. Als Belohnung dafür, dass er seine Sache so gut machte. „Ah… Le… Leron…“ „Hab ich da eine empfindliche Stelle erwischt?“ Dieses wunderbare hilflose und gleichzeitig lustvolle Keuchen wurde lauter und er beobachtete, wie Simon vor Erregung zitterte und an seinen Fesseln zu zerren begann. Nun beugte sich er hinunter und fuhr mit seiner Zunge über Simons Penis, der inzwischen steinhart war. „Leron… bitte…“, flehte der 21-jährige und machte einen fast schon gequälten Eindruck. Dieser Gesichtsausdruck war einfach zu verführerisch für Leron. „Bitte lass mich kommen!“ Nun, wenn er jetzt richtig gemein wäre, dann würde er ihn noch weiter zappeln lassen. Aber dann wäre das Risiko zu groß, dass Simon danach komplett ausgelaugt war und dann keine Energie mehr für eine weitere Runde hatte. Darum entfernte er vorsichtig den Harnröhrenvibrator, woraufhin der Brünette laut aufstöhnte, als er zu seinem erlösenden Orgasmus kam. Kapitel 15: Fesselspiel Teil 2 ------------------------------ Noch etwas benommen von seinem Orgasmus lag Simon schwer atmend auf dem Bett. Immer noch war er gefesselt, aber Leron hatte ihn zumindest von dem Dildo befreit. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn und seine Wangen waren gerötet. Leron beschloss, ihm erst mal eine kurze Pause zu gönnen, bevor sie weitermachten. Er würde ja schon selber noch früh genug zum Zug kommen, also war es auch nicht nötig, großartig zu drängen. „Na? Immer noch so große Töne am spucken, oder bist du schon am Ende?“ „Hättest du wohl gerne, was?“ „Nicht wirklich. Ansonsten wäre ich der Einzige von uns beiden, der nichts davon hätte.“ „Na gut. Dann mach mich eben kurz los und du kriegst von mir einen Ausgleich.“ Nun wurde Leron neugierig. Ein Ausgleich? Wollte Simon etwa von sich selbst aus mehr zu diesem Spiel beitragen, anstatt immer nur der Passive zu sein? Nun, der 31-jährige Unternehmer war gespannt und befreite ihn daraufhin von den Handfesseln. Dieser kletterte daraufhin aus dem Bett und kniete sich vor ihm nieder, woraufhin er Lerons Hose öffnete. Er sah direkt schon die Beule in der Hose, die allzu deutlich verriet, dass der Unternehmer erregt war. Und mit geschickten Händen befreite er Lerons Männlichkeit aus der unbequemen Enge. Für gewöhnlich waren Blowjobs nicht gerade sein Ding, aber in seiner Anfangszeit war es eine sehr gute Möglichkeit gewesen, schnelles Geld zu machen. Und durch die jahrelange Übung wusste er genau, wie seine Kunden es gerne haben wollten und dieses Wissen ließ sich sicherlich auch bei Leron anwenden. Er würde schon dafür sorgen, dass auch der zu seinem Vergnügen kam. Und so konnte er ihm auch mal eine Kostprobe geben, dass sein Mund mehr konnte, als bloß Töne spucken. Seine Zunge umspielte die Spitze der Eichel, während seine Hand den Schaft bearbeitete. Dabei spürte er deutlich, wie Lerons Penis durch diese Stimulation weiter anschwoll und leicht zu zucken begann. Aber noch hatte er nicht richtig angefangen. Schließlich ließ er Lerons Glied vollständig in seinen Mund gleiten und spürte die Hitze und das Pulsieren, während er ihn mit seiner Zunge zu verwöhnen begann. Ein leises befriedigendes Keuchen kam von Leron, der das Ganze offenbar genoss. Das war für ihn eine Motivation, noch einen Zahn zuzulegen. Nachdem Leron schon so viel für ihn getan hatte, wollte er ihm auch ein wenig zurückgeben. Und da Sex das Einzige war, das er ihm geben konnte, sollte Leron voll und ganz auf seine Kosten kommen. Gierig begann er an der Eichel zu saugen und hörte, wie Lerons Atem geräuschvoller wurde. „Simon…“ Der 21-jährige reagierte nicht darauf. Er zog seinen Kopf immer wieder zurück, nur um Lerons Glied erneut tief in seinen Mundraum eindringen zu lassen. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, deren Griff immer stärker wurde. Dann plötzlich drückte Leron ihn weg und in dem Moment kam er auch schon zu seinem Orgasmus. Simon kniff die Augen zusammen, als Lerons Sperma über sein Gesicht spritzte. „Entschuldige“, murmelte Leron und holte ein Taschentuch herbei, woraufhin er begann, Simons Gesicht zu säubern. „Alles gut?“ „Klar“, versicherte der 21-jährige. „Aber so wie du abgegangen bist, hatte ich fast den Eindruck, als hättest du noch nie Oralsex.“ „Doch schon, nur nicht auf diese Art und Weise“, gab er zu und warf das zusammengeknüllte Taschentuch beiseite. „Aber was hat dich denn dazu veranlasst, plötzlich so etwas zu tun?“ Simon errötete und wich ein wenig verlegen seinem verwunderten Blick aus. „Na du hast schon so viel für mich getan und Sex ist das Einzige, was ich dir halt geben kann.“ Doch Leron schüttelte den Kopf und streichelte ihm den Kopf. Ein liebevolles Lächeln lag auf seinem Gesicht und seine haselnussbraunen Augen hatten einen warmherzigen Glanz. „Sag so etwas nicht“, sprach er. „Reduziere dich nicht nur auf den Sex. Du kannst viel mehr als das. Du bist ein sehr aufmerksamer und intelligenter Junge und hast viele Qualitäten. Und du gibst mir viel mehr als bloß Sex. Vielleicht verstehst du das nicht so wirklich, aber… du gibst mir schon viel, wenn du bei mir bist. Du bist der einzige Mensch, für den ich solche Gefühle empfinden kann.“ „Wieso?“ „Ich hab dir ja von meiner Familienabstammung erzählt. Und ein Hauptproblem ist, dass wir für gewöhnlich erhebliche Schwierigkeiten haben, normal mit anderen Menschen umzugehen.“ „Du reagierst dann ziemlich gereizt, oder? Ich hab das am Telefon mitgekriegt.“ „Ja… das ist leider ein Problem von mir, dass ich meine Wut nicht gänzlich unterdrücken kann. Zwar habe ich gelernt, meinen Gewaltdrang durch Sport auszugleichen, aber mit Menschen kann ich nicht gut umgehen. Konnte ich noch nie… Du bist im Prinzip der Erste, mit dem ich normal umgehen kann, ohne dass diese unliebsame Seite in mir zum Vorschein kommt.“ Offenbar kämpft er sehr mit sich, dachte sich Simon und stand nun auf, denn so langsam taten ihm die Knie ein bisschen weh. Zwar schien Leron anders zu sein als diese Familie aus Psychopathen und Mördern, aber auch er war nicht gänzlich immun gegen diese genetische Veranlagung. Auch er schien mit einer gewissen Wut zu kämpfen, genauso wie sein Bruder Michael. Vielleicht hatte sich diese Wut aber auch erst nach Jahren manifestiert, nachdem er von seinen Brüdern gequält worden war. Aber er schien auch hart daran zu arbeiten, nicht in dieses gleiche Muster zu verfallen, indem er lieber zum Sport ging, bevor er seine Aggressionen an einem anderen Menschen ausließ. Trotzdem konnte er offenbar immer noch nicht vernünftig mit Menschen umgehen, was aber auch vielleicht an der Isolation während seiner Jugend liegen konnte. Simon setzte sich nun neben ihn. „Vielleicht kannst du dir ja Hilfe suchen. Ich meine… es gibt vielleicht Möglichkeiten. Na gut, vielleicht bin ich ja auch nicht sonderlich besser, weil ich kein Vertrauen in andere Menschen habe und für gewöhnlich lieber alleine bin. Aber wenn du einsam bist und ein Leben ohne diese ständige Wut führen willst, dann kannst du dir doch irgendwo Hilfe suchen. Wenn du bei mir keine Wut verspürst, zeigt das doch, dass du nicht immer so ein Leben führen musst. Immer nur aggressiv gegenüber anderen zu sein, macht sicherlich auch keinen Spaß.“ Ein Arm legte sich um seine Schultern und Leron drückte ihn zärtlich an sich. „Ich liebe dich, Simon.“ Simon war wie elektrisiert, als er diese Worte hörte. Hatte Leron das etwa wirklich gesagt? Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er reagieren? Was sollte er sagen? Nun, ein normaler Mensch hätte entweder dieses Geständnis erwidert oder eine Abfuhr erteilt, wenn die Gefühle nicht beiderseitig waren. Aber Simon, der noch nie solche Worte von einem anderen Menschen gehört hatte, war überfordert und ratlos. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Und da es ihm an Worten fehlte, entschied er, stattdessen seinen Körper sprechen zu lassen. Also legte er seine Arme um Lerons Schultern, streckte sich ein wenig zu ihm herauf und küsste ihn. Dieser Kuss wurde sofort erwidert und während sie sich einem wilden und leidenschaftlichen Zungenkuss hingaben, wanderten Lerons Hände langsam Simons Körper hinunter und blieben an seinen Hüften. Doch dieses Mal ließ sich Simon nicht aufs Bett drücken, so wie die letzten Male zuvor. Nein, dieses Mal wollte er Leron verwöhnen und sich einfach dem hingeben, was er wollte. Auch wenn für das heutige Training ursprünglich etwas anderes geplant war, wollte er den Versuch wagen und etwas mehr in die Offensive gehen. Leron konnte ihn ja immer noch zurückweisen, wenn er es nicht wollte. Schließlich war es nicht er, der auf dem Bett lag, sondern Leron. Auch wenn dieser deutlich danach aussah, als wäre er es ganz anders gewöhnt, ließ er sich das gefallen. Vermutlich weil er neugierig war, was sich sein Petboy nun einfallen ließ. Nun, auch für Simon war diese Position noch ziemlich neu, denn für gewöhnlich war er immer der Untere. Aber heute wollte er es einfach wagen. „Ist das eigentlich okay für dich?“ fragte er sicherheitshalber nach, nur um zu realisieren, dass seine Frage ein wenig spät kam. Das dachte sich wohl auch Leron, der ein wenig belustigt lächelte. „Warum nicht? Ist doch auch mal eine interessante Abwechslung.“ „Interessant ist der kleine Bruder von Scheiße.“ „Ich meine ja auch interessant im positiven Sinne.“ Nun musste auch Simon schmunzeln und er schüttelte den Kopf. Nun begann er Lerons Hemd aufzuknöpfen und seinen Oberkörper freizulegen. Verdammt hatte er einen heißen Körper. Doch sogleich merkte Simon, dass er ein wenig nervös wurde. Diese Situation war ziemlich ungewohnt für ihn und ihm fiel ein, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, was er jetzt tun sollte und wie er es am besten tun konnte. Leron machte es immer so verdammt gut bei ihm, was wenn er seine Sache total vergeigte? Ach ich mache mir wahrscheinlich zu viele Gedanken, sagte sich Simon. Es brachte doch nichts, sich verrückt zu machen. Er beugte sich vor und küsste Lerons Hals. Dabei roch er das Aftershave, was der Unternehmer immer benutzte und welches immer so verführerisch roch. Und dann kam ihm plötzlich eine Idee. Warum drehte er den Spieß nicht einfach mal um? „Du fragst mich doch immer, ob ich dir vertraue, Leron. Vertraust du mir auch?“ „Natürlich“, antwortete der Angesprochene, wirkte aber ein wenig skeptisch, worauf das alles hinauslief. Daraufhin schnappte sich Simon die Lederhandfesseln und legte sie ihm kurzerhand an, wobei er sich ein leicht provokantes Grinsen nicht verkneifen konnte. „Dann tauschen wir jetzt einfach mal. Jetzt sind mal deine Hände gefesselt und überlässt mir die Arbeit. Und keine Sorge: ich bin zärtlich.“ „Das wird beim nächsten Mal ein Nachspiel haben, das weißt du schon…“ Trotzdem wollte Simon die Sache durchziehen. Zwar war er rein offiziell der Petboy und verpflichtet, Lerons Anweisungen Folge zu leisten, aber da dieser ihn nicht aufhielt, bestand da auch kein Problem in der Sache. Und so konnte er Leron zeigen, was er für ihn empfand, wenn ihm schon die Worte dafür fehlten. „Das ist es mir trotzdem wert.“ Damit senkte Simon seine Hüften und ließ Lerons Glied in sich eindringen. Er keuchte auf, als er diesen vertrauten Druck spürte, der sein Innerstes vollständig ausfüllte. Und Lerons Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien ihm diese neue Erfahrung zu gefallen. Langsam ließ der 21-jährige ihn immer tiefer in sich eindringen und verlagerte dabei sein Gewicht nach und nach immer mehr auf seine Beine, während er Leron immer tiefer in sich eindringen ließ. Allein der Gedanke, dass er dieses Mal die Oberhand hatte und Leron dieses Mal die Rolle des Passiven innehatte, war schon verdammt heiß aber bei dem Anblick spürte er, wie er wieder hart wurde. Nun begann Simon seine Hüften zu bewegen und versuchte dabei seine Arme in einer besseren Position auf dem Bett abzustützen. Er brauchte aber nicht lange, um eine viel komfortablere Position zu finden und setzte daraufhin etwas mehr Kraft in seine Bewegungen. Als sich sein Blick mit Lerons traf, konnte er nicht anders als zu lächeln und fragte „Und? Wie gefällt dir diese Abwechslung?“ „Nun… es hat auf jeden Fall etwas“, gab Leron zu. „Auch wenn ich es eher bevorzuge, dich gefesselt zu sehen.“ „Wäre in dieser Stellung aber eher unpraktisch.“ Dem musste der 31-jährige zustimmen, denn es wäre wirklich etwas schwieriger geworden. Trotzdem änderte das nichts an seiner Meinung, aber andererseits genoss er es auch, dass Simon so aktiv war und auch mal die Initiative ergriff. Es machte ihm nicht einmal etwas aus, der Gefesselte zu sein, obwohl das für gewöhnlich nur schlimme Erinnerungen hervorrief. Als jemand es schon einmal versucht hatte und er der Untere war, da hatte er die Kontrolle über sich selbst verloren. Doch jetzt geschah das nicht. Er spürte nicht den geringsten Hauch von Aggressionen in seinem Innersten aufwallen, keinen Drang danach, blind zuzuschlagen und andere zu verletzen. Konnte es sein, dass diese Gefühle, die er für Simon hegte, so stark waren, dass sie seine angeborene Veranlagung unterdrücken konnten? War so etwas denn möglich? War das auch der Grund, warum Michaels Stimme verstummte, wenn Simon ihm Worte sagte, die ihn aus dieser seelischen Finsternis retteten, in die er immer wieder aufs Neue hineingezerrt wurde? Vielleicht hätte er dazu eine Antwort gefunden, doch es viel ihm zunehmend schwerer, denn sie immer stärker werdende Lust und die Befriedigung, die Simon ihm bescherte, lähmten seine Gedanken. Schließlich setzte etwas in seinem Kopf aus und ihm war, als würde ein leichter Stromstoß durch seinen Körper jagen, als er zu seinem Höhepunkt kam. Kurz bevor auch Simon sein Limit erreichte. Keuchend und selbst noch völlig erschöpft von dem Orgasmus ging Simon von Leron runter und sah sich die Bescherung an, die er versehentlich angerichtet hatte. Er hatte ihn bei seinem Orgasmus ganz schön eingesaut. Und obwohl der Anblick verrückterweise auch irgendwie etwas sehr Erotisches an sich hatte, war er trotzdem beschämt darüber. „Entschuldige… hast du irgendwo Taschentücher oder irgendetwas Ähnliches?“ „Im Bad müsste was sein.“ Schnell stieg Simon aus dem Bett und ging ins anliegende Badezimmer und fand eine Packung Feuchttücher. Er nahm sich ein paar davon und kehrte wieder zurück, um die Spermaspuren zu entfernen. Dabei entging ihm nicht, dass Leron plötzlich sehr nachdenklich wirkte und sich seine Miene etwas verdüstert hatte, was man schnell als schlechte Stimmung hätte deuten können, aber wahrscheinlich beschäftigte ihn nur irgendetwas. Da Simon befürchtete, dass es an seiner Eigeninitiative lag, fragte er auch sicherheitshalber nach. „Bist du irgendwie verstimmt oder so?“ „Was?“ fragte Leron, der offenbar so in seine Gedanken vertieft war, dass er kaum zugehört hatte. „Äh nein. Ich dachte nur gerade an etwas…“ „Hat es mit mir zu tun?“ „Gewissermaßen. In erster Linie bin ich verwundert, dass es mir so wenig ausmacht, ans Bett gefesselt zu sein, wenn du es bist. Normalerweise sähe das Ganze anders aus.“ Doch so ganz verstand Simon nicht so wirklich, was der Unternehmer damit sagen wollte und schaute ihn ratlos an, während er die Spermatropfen wegwischte. Und als Leron den fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, erklärte er: „Ich habe dir ja erzählt, wie es um meine Familie steht und dass auch ich gewisse Schwierigkeiten mit meiner Veranlagung habe, die auch Michael besitzt. Im Gegensatz zu Michael kann ich sie unterdrücken, auch wenn es viel Disziplin erfordert. Aber es gibt gewisse Situationen, in denen ich die Kontrolle über mich selbst verlieren kann und außer Stande bin, mich zu beherrschen. Das passiert genau dann, wenn ich die Kontrolle über die Situation verliere.“ „Du brauchst Kontrolle, um dich zu beherrschen?“ Der Unternehmer nickte. „Scheint ebenfalls in der Familie zu liegen, dass wir einen gewissen Kontrollwahn entwickeln. Aber für mich dient sie als eine Art Leitfaden, auch für mich selbst. Mangelnde Kontrolle weckt nur unangenehme Gefühle und Erinnerungen und diese muss ich unterdrücken. Wenn mir das nicht gelingt, werde ich zu einem anderen Menschen. Es ist schon vorgekommen, dass ich die Beherrschung verloren habe, nachdem ich derjenige war, der beim Sex gefesselt wurde. Seitdem habe ich es nie wieder zugelassen. Insbesondere weil ich niemanden in Gefahr bringen will. Normalerweise hätte ich bei dir sofort nein gesagt, aber ich habe es nicht getan. Und seltsamerweise hat es mir rein gar nichts ausgemacht, dass du mich gefesselt hast. Das ist bisher noch nie vorgekommen.“ „Vielleicht hast du deinen bisherigen Partnern ja nicht genug vertraut“, vermutete Simon und warf die benutzten Tücher in den Müll. „Du sagtest ja selbst, dass Bondage auch ein Zeichen von Vertrauen ist und dass Vertrauen enorm wichtig ist. Vielleicht konntest du bisher niemandem so sehr vertrauen, dass du auch mal Kontrolle abgeben konntest. Und deshalb sind wahrscheinlich auch die schlechten Erfahrungen hochgekommen und haben dich deine Beherrschung vergessen lassen, weil du dasselbe nicht noch mal erleben wolltest.“ „Wie kommst du darauf?“ „Weil ich das aus eigener Erfahrung kenne“, gab er zu und dachte wieder an die Horrorstunden im Loft. „Dieses eine Mal hatte gereicht, dass ich mich nie wieder fesseln oder mir die Augen verbinden ließ. Auch ich versuche die Situation unter Kontrolle zu halten, auch wenn ich mir das meist nur vormache und in Wahrheit kaum Kontrolle habe. Aber allein die Illusion gibt mir irgendwie Sicherheit. Dass das mit dir so leicht geht, liegt halt auch daran, dass ich dir vertraue und weiß, dass du mir nichts tun würdest, was ich nicht wollen würde. Ich schätze mal, in der Hinsicht sind wir beide gleich. Auch wenn wir aus verschiedenen Welten kommen und zehn Jahre zwischen uns liegen.“ Nun nahm Simon ihm wieder die Handfesseln ab, denn er konnte sich gut vorstellen, dass sie auf die Dauer nicht sonderlich bequem waren. Dabei fragte er sich aber, was wohl bei Leron der Grund war, warum er die Kontrolle so sehr brauchte, um ruhig zu bleiben. Ob es vielleicht wegen seinen Brüdern war? Hatte Leron nicht gesagt, dass Michael ihm etwas angetan hatte, was er niemals hätte tun dürfen, schon gar nicht als großer Bruder? War es vielleicht etwas viel Schlimmeres als Prügel und Quälereien gewesen, die dieser Kerl ihm angetan hatte und die ausschlaggebend dafür waren, dass Leron ganz alleine hier in der Villa aufwachsen musste, isoliert vom Rest der Familie? Vielleicht hätte er das gefragt, aber er konnte sich auch gut vorstellen, dass Leron nicht darüber sprechen wollte und es ihn zu sehr beschämte, es zu thematisieren. Ihm selbst würde es ja auch nicht anders ergehen, wenn er plötzlich gefragt wurde, ob er von seinem älteren Bruder als Kind sexuell belästigt worden war. Oder vielleicht sogar noch viel schlimmer… Also verdrängte Simon diesen Gedanken schnell wieder aus seinem Kopf und legte sich zu Leron ins Bett. Zwar konnte er jetzt eine Dusche ganz gut vertragen, aber er wollte sich noch einen Moment ausruhen und auch die Zweisamkeit im Bett nach dem Sex genießen. „Du bist wirklich ein sehr scharfsinniger Junge“, stellte Leron fest und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um seine Augen besser sehen zu können. „Und es kann gut sein, dass wir uns trotz unserer Altersgrenzen und unserer sozialen Herkunft vielleicht gar nicht mal so sehr voneinander unterscheiden. Vielleicht ist das auch ein Grund, wieso es mir in deiner Gegenwart leichter fällt, selbst in so einer Situation nicht die Beherrschung zu verlieren. Noch ein Grund, warum du mir so viel bedeutest.“ Simon sagte nichts und wich Lerons Blick aus. Es so direkt zu hören, dass er jemandem etwas bedeutete, war ungewohnt und auch seltsam für ihn. Er wusste einfach nicht, wie er damit umgehen sollte. „Tut mir leid, wenn ich das nicht so mit Worten erwidern kann. Mir war noch nie irgendjemand wirklich wichtig gewesen, weil ich immer alleine war. Deshalb bin ich echt miserabel darin, meine Gefühle in Worten auszudrücken…“ Doch da legte Leron einen Arm um ihn, zog ihn zu sich heran und küsste ihn. Es war, als wollte er damit ohne Worte sagen, dass es in Ordnung war und er es verstand. „Schon gut“, sagte er tatsächlich. „Deine Initiative gerade eben hat mir mehr gesagt als tausend Worte. Wenn es dir schwer fällt, deine Gefühle in Worte zu fassen, dann lass dir Zeit. Solange du für dich einen Weg findest, dich am besten auszudrücken, ist es doch in Ordnung, So… ich weiß ja nicht wie es dir geht, aber ich brauche jetzt eine Dusche.“ „Ist es schlimm, wenn ich noch ein kleines bisschen liegen bleibe? Ich bin echt erledigt.“ „Kein Problem, dann gehe ich eben als Erster.“ Damit stand Leron auf und ging ins Badezimmer. Dabei dachte er darüber nach, was er zu Simon gesagt hatte. Nämlich, dass sie sich gar nicht mal so verschieden wären. Letzten Endes war das doch ziemlich untertrieben. Sie waren sich viel ähnlicher als erwartet. Sie beide hatten ihre Kindheit alleine verbracht, hatten jeweils soziale Defizite und eine miserable Jugend. Und sie konnten beide ihre Gefühle schlecht zum Ausdruck bringen. Simon ließ Taten sprechen um diesen Mangel auszugleichen. Er selbst wandte Tricks an, indem er das mit dem Petboy-Vertrag eingefädelt hatte, weil er es nicht geschafft hatte, ihm seine Liebe zu gestehen. Das war ihm erst jetzt gelungen, nachdem er solch eine Angst um den Jungen gehabt hatte, als er im Restaurant seinem Bruder Jordan begegnet war und dieser Simon gesehen hatte. Doch auch jetzt war er nicht ehrlich zu ihm. Immer noch verschwieg er ihm die Hintergründe, wie er Simon begegnet war und dass sein ältester Bruder derjenige war, der ihm diese schrecklichen Dinge im Loft angetan hatte. Ein Teil von ihm wusste, dass er es besser sagen sollte, doch ein anderer Teil wehrte sich dagegen. Die Angst, dass der Junge ihm das nicht verzeihen und sich dann von ihm abwenden würde, war einfach zu groß. Noch nie hatte ein Mensch ihm so viel bedeutet wie Simon. Und er fürchtete sich davor, was passieren könnte, wenn er ihn verlor. Er hatte die Menschen auf Abstand gehalten, um keine enge Beziehung aufbauen zu müssen. So konnte er immer die Kontrolle wahren. Gefühle waren für ihn gefährlich, denn sie machten ihn angreifbar und schwächten seine Kontrolle. Und zudem waren Gefühle auch der Grund, wieso die Familie seiner Mutter so war wie sie war. Sie waren der Funke, der die Flamme entzündete. Liebe wurde zur Obsession oder krankhaften Eifersucht, Neid und Eifersucht wurden Wut und Zorn. Und diese führten dann zur Gewalt. Es war eine gefährliche Spirale und trotzdem hatte er sie bei Simon zugelassen, weil er endlich mal jemanden so lieben wollte, wie er zuletzt bei seiner Mutter in der Lage war. Doch diese Liebe war viel stärker und sie war anders. Und es schien so, als wäre diese Liebe auch irgendwie auf eine gewisse Art heilsam. Doch was geschah, wenn sie zerbrach? Liebe konnte auch Verzweiflung bedeuten. Und genau das war seine größte Angst gleich nach der Angst vor seinen Brüdern: dass er genauso werden würde wie Michael. Nämlich indem eine zerstörte Liebe und Sehnsucht dazu führte, dass er nichts mehr anderes empfinden würde, als blanken Zorn, Neid und blinde Zerstörungswut. Kapitel 16: Eine Frage des Vertrauens ------------------------------------- Am nächsten Morgen wachte Simon erst spät auf und rieb sich müde die Augen. Erst einen Augenblick später realisierte er, dass er in Lerons Bett eingeschlafen war. Mal wieder. Nun ja, der gestrige Abend hatte ihn auch ziemlich ausgelaugt, aber warum nur hatte Leron ihn nicht geweckt? Als er sich zur Seite wandte, bemerkte er, dass dieser gar nicht im Bett lag. Offenbar war er schon aufgestanden. Da es ohnehin schon etwas spät war, wollte er nicht noch länger liegen bleiben und so nahm er eine schnelle Dusche und kam wenig später angezogen hinunter in die Küche, blieb jedoch bereits im Flur stehen, denn er hörte Lerons Stimme und dieser klang ziemlich gereizt. So wie es schien, führte er ein wichtiges Telefonat. Aber an einem Wochenende? Nun, er wäre da wahrscheinlich auch ziemlich genervt, wenn er in seiner Freizeit gestört wurde. „Du kannst sagen was du willst, es interessiert mich nicht. Halt einfach dein verdammtes Maul oder ich stopfe es dir eigenhändig. Spar dir deine Psychospiele für jemand anderen auf aber lass mich endlich in Ruhe, Mike!“ Mike? Telefonierte er da gerade etwa mit seinem Bruder Michael? Für einen Moment überlegte Simon, ob es nicht vielleicht besser war zu gehen. Wer weiß, ob es wirklich so vernünftig war, da zu stören. Doch dann fasste er sich ein Herz und betrat die Küche. In dem Moment bemerkte auch Leron ihn und wirkte im ersten Moment erschrocken. „Simon“, rief er überrascht. „Du bist schon wach?“ „Äh ja… und du hattest anscheinend ein ziemlich hitziges Gespräch mit deinem Bruder, oder?“ „Ach er ist halt ein Drecksack, der sich nie ändert…“, seufzte Leron und setzte sich, wobei er sich Kaffee einschüttete. „Aber mach dir da mal keine Sorgen. Ich regle das schon.“ Simon setzte sich und goss sich ein Glas Orangensaft ein. Es wunderte ihn zuerst, dass Leron gar kein Handy in der Hand hatte, obwohl er doch telefoniert hatte. Naja, dachte er sich und versuchte, sich nicht allzu sehr darüber den Kopf zu zerbrechen. Vermutlich war es auch irgendein neumodisches Bluetooth Gerät und er hatte es einfach nur übersehen. „Heute werden wir eine kleine Einkaufstour machen. Es gibt da noch ein paar Dinge, die du gut gebrauchen könntest.“ „Ach echt?“ fragte Simon verwundert. „Stimmt etwas mit meinen Sachen nicht?“ „Das meine ich nicht. Ich denke halt nur, dass du viel zu bescheiden lebst und es wäre eine Freude für mich, wenn ich dir etwas geben könnte.“ Zuerst überlegte der 21-jährige, ob er etwas dagegen sagen sollte. Immerhin hatte Leron ihm doch schon genug gegeben, aber als er merkte, dass eine Ablehnung Leron wohl ziemlich verletzen könnte, schwieg er und wandte verlegen den Blick ab, wobei er spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen. Diese ganze Situation war ziemlich ungewohnt für ihn, vor allem da er jetzt wusste, dass Leron ihn liebte und er sich auch zu ihm hingezogen fühlte. Er wusste nicht, wie man sich in so einer Situation verhielt und was man als ein Paar machte. Nun… er wusste ja noch nicht einmal, ob sie wirklich ein Paar waren. Immerhin existierte da immer noch dieser Vertrag zwischen ihnen. Und fraglich war, wie sie dann ein Paar sein konnten? Vielleicht sollte er ihn mal darauf ansprechen. „Sag mal, Leron… Wie soll das mit dem Vertrag eigentlich weiter aussehen? Ich meine… wie kann es da eine vernünftige Beziehung geben, wenn…“ „Ich verstehe, was du sagen willst“, unterbrach Leron und hob die Hand, um ihm zu signalisieren, dass er nicht weiterzureden brauchte. „Die Sache ist halt die, dass dieser Vertrag dazu da ist, weil ich sicherstellen wollte, dass du bei mir bleibst und nicht bei der nächstbesten Gelegenheit davonläufst. Und gleichzeitig dient dieser Vertrag auch als Absicherung für dich.“ „Ja aber bedeutet das auch nicht auch, dass wir uns gegenseitig nicht vertrauen?“ entgegnete Simon und sah ihn ernst an. „Ich meine… kannst du nicht auch darauf vertrauen, dass ich auch ohne Vertrag bei dir bleibe?“ Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen und Leron dachte mit ernster Miene darüber nach, was Simon sagte. Natürlich war da etwas Wahres dran, doch er tat sich halt ziemlich schwer damit, auch Vertrauen zuzulassen. Vor allem weil er noch nie jemandem wirklich vertrauen konnte. Nicht einmal seiner eigenen Familie. Und dann war da noch die Stimme seines Bruders, die immer wieder auf ihn einredete und es ihm noch schwerer machte. Außerdem wunderte er sich, warum Simon das mit dem Vertrag so sehr beschäftigte. Es war doch alles recht locker zwischen ihnen und es hatte nie Probleme gegeben. Warum jetzt? „Na ganz einfach, Ronnie: er will abhauen, nachdem du ihm die Operation bezahlt hast. Der nutzt dich nur aus, erzählt dir irgendetwas, damit du ihm seine Wünsche erfüllst und dann haut er ab.“ Konnte das wirklich sein? War Simon wirklich darauf aus? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. „Warum können wir den Vertrag nicht einfach bestehen lassen und so ganz normal weitermachen? Der Vertrag dient nur zur Absicherung und du hast doch auch deine Vorteile davon.“ „Das mag ja sein, aber wenn man doch in einer Beziehung ist, dann kann man diese doch nicht vertraglich regeln. Du sagst doch immer, ich soll dir vertrauen. Warum kannst du mir nicht vertrauen?“ „Was redest du da?“ fragte Leron verständnislos. „Was hat das denn damit zu tun?“ „Na viel! Bei anderen Paaren funktioniert das doch auch ganz normal ohne Vertrag. Und eine Beziehung funktioniert nur mit gegenseitigem Vertrauen.“ „Mit anderen Worten: ich hatte Recht. Er macht sich aus dem Staub sobald du ihm freie Hand lässt. Da siehst du mal, wie die Dinge wirklich stehen, Ronnie. Als ob sich jemand freiwillig mit dir abgeben will. Es war von Anfang an nur eine Illusion gewesen…“ „Sei einfach still!!!“ schrie Leron und schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass das Geschirr klapperte und Simons Glas umfiel. Erschrocken zuckte der 21-jährige zusammen und sah den Unternehmer mit einem Ausdruck der Angst in den Augen an. Für einen Moment erschien es ihm so, als hätte da etwas in Lerons Augen aufgeleuchtet. Als hätte sich die Farbe von dem wunderschönen haselnussbraun in einen leichten Gelbstich geändert. Es mochte aber auch am Licht liegen. Doch für einen Moment hatte er etwas anderes gesehen. Etwas Zorniges und Unkontrollierbares. Und es machte ihm Angst. Als Leron realisierte, dass er die Beherrschung verloren hatte, war er tief geschockt und konnte nicht fassen, dass er sich in Simons Anwesenheit so verhalten hatte. Dabei hatte er sich doch geschworen gehabt, dass er das niemals zulassen würde. Und als er die Angst bei Simon sah, hasste er sich selbst dafür, dass er so dumm gewesen war und sich wieder von Michaels Stimme so verrückt machen ließ, obwohl der Junge doch gar nichts Böses gewollt hatte. „Entschuldige, ich wollte dir keinen Schreck einjagen. Ich glaube zu verstehen, worum es dir geht, aber ich brauche eine Weile, okay? Wie du ja weißt, fällt es mir nicht leicht, Kontrolle abzugeben. Ich bitte dich also darum, mir etwas Zeit zu geben.“ „Okay“, murmelte Simon und senkte den Blick. Er sah aus wie jemand, den ein schlechtes Gewissen plagte. „Ich verstehe schon. Tut mir leid, dass ich mich so aufgeführt habe.“ „Nein, dafür kannst du ja nichts. Es ist ja nicht deine Schuld, sondern meine. Entschuldige mich, ich muss weg. Sei so gut und störe mich die nächsten eineinhalb Stunden nicht.“ Beinahe fluchtartig verließ Leron die Küche und Simon sah ihm mit gemischten Gefühlen nach. Er konnte es selbst nicht fassen, was da gerade passiert war. Von einer Sekunde zur anderen hatte sich Leron vollkommen verändert und war nicht mehr derselbe gewesen. Er hatte wie ein ganz anderer Mensch gewirkt. Das war also seine andere Seite, von der er bisher nur gehört hatte. Offenbar war er mit der Situation so überfordert gewesen, dass er die Beherrschung verloren hatte. Dieser Zustand hatte nur für einen Augenblick angehalten, doch man hatte deutlich gesehen, wie bestürzt er deswegen gewesen war. Vielleicht war es auch einfach zu früh gewesen, ihn wegen dem Vertrag anzusprechen. So lange lebten sie ja jetzt auch nicht zusammen und Leron hatte ihm ja gesagt, dass er Kontrolle brauchte, um die Beherrschung nicht zu verlieren. Da war doch vorauszusehen gewesen, dass er ihn damit so überfordert hatte. Insgeheim ärgerte er sich darüber, dass er ihn in diese Lage gebracht hatte. Knapp zwei Stunden später ließ sich Leron wieder blicken. Wie sich herausstellte, hatte er sich beim Sport abreagiert, um seine Aggressionen abbauen zu können und wirkte nun, nachdem er sich ausgepowert hatte, wesentlich entspannter und ausgeglichener. Und es erleichterte auch Simon, ihn so zu sehen. Gemeinsam machten sie sich schließlich auf den Weg und fuhren in der Limousine in die 5th Avenue. Und als Simon bemerkte, wo sie waren, wandte er sich an den Unternehmer und fragte „Bist du verrückt?!“ Doch der Unternehmer schien es ernst zu meinen und stieg schließlich aus, wobei er fragte „Wo liegt das Problem? Ich sagte doch, dass wir Kleidung für dich einkaufen gehen.“ „Ja aber die 5th Avenue?“ „Ganz genau.“ Simon gab es auf, weiter zu protestieren. Eine der teuersten Shoppingmeilen war wahrscheinlich genau das Richtige für Leron, der der Sohn einer milliardenschweren Unternehmerfamilie war. Er war es wahrscheinlich gewohnt, hier einzukaufen. Wahrscheinlich stammten seine Anzüge auch von hier. Nachdem sich der 21-jährige seine Sonnenbrille aufgesetzt hatte, folgte er Leron und betete insgeheim, dass dieser nicht auf die Idee kam, ihm auch solche Anzüge zu kaufen. Aber wie sich herausstellte, gingen sie erst mal in Läden hinein, die auch jugendlichere Kleidung anbot. Nachdem Leron kurz mit einer Verkäuferin gesprochen hatte, kam plötzlich der Manager höchstpersönlich, um Simon zu beraten. Dieser wusste kaum, wie ihm geschah und ließ sich bereitwillig beraten, während Leron sich setzte und wartete. Und nachdem sie ein paar Shirts, eine Jacke für kühlere Tage und zwei neue Hosen gekauft hatten, gingen sie in ein anderes Geschäft und wie sich herausstellte, war es tatsächlich ein Laden für Anzüge. Etwas unwillig blieb Simon vor der Tür stehen. „Anzüge?“ fragte er Leron. „Wozu brauche ich denn bitte Anzüge?“ „Du willst doch nach deiner Augenoperation eine Ausbildung machen und einen richtigen Job ausüben, oder nicht? Jeder Mann sollte immer mindestens einen Anzug im Schrank haben.“ „Ich bin kein Anzugmensch…“, murmelte Simon und hätte am liebsten kehrt gemacht, aber letzten Endes beugte er sich Lerons Willen und betrat gemeinsam mit ihm den Laden, der einen italienischen Namen hatte. Sie wurden von einem Mann mittleren Alters begrüßt, der Leron sogar mit Namen ansprach, was also bedeutete, dass Leron hier seine Anzüge kaufte. Aber wie sich herausstellte, gab es keine Anzüge so zum Kaufen. Stattdessen handelte es sich um einen Laden für maßgeschneiderte Anzüge. Bereitwillig ließ Simon seine Maße nehmen, konnte schon mal einen Musteranzug zur Probe tragen und als er sich im Spiegel sah, wie er einen richtigen Anzug und ein weißes Hemd mit Krawatte trug, musste er erst mal schlucken. Er wirkte wie ein ganz anderer Mensch, wie jemand der erfolgreich war und mitten im Leben stand. Trotzdem kam er sich sehr fremd in diesem Anzug vor. Er wusste, was er war und wie sein Leben aussah, deshalb wirkte dieser Anzug auch irgendwie fehl am Platz. Er kam sich wie eine große Lüge auf zwei Beinen vor. „Und?“ fragte Leron. „Ist es so schlimm, einen Anzug zu tragen?“ „Ich weiß nicht, ob so ein Anzug halt für mich geeignet ist“, versuchte Simon zu erklären. „Ich meine… jemand wie ich…“ „Du machst dir viel zu viele Gedanken darüber“, beruhigte Leron ihn. „Die meisten Menschen versuchen durch Kleidung, anders zu wirken. Da bist du nicht der Einzige und so falsch ist es ja auch nicht. Du schadest damit niemanden und ein Anzug kann auch das Selbstbewusstsein stärken.“ Nun, dass er sich ein kleines bisschen selbstbewusster fühlte, als er sich so im Anzug sah, bestritt er durchaus nicht. Trotzdem hatte er das Gefühl, als wirkten diese Klamotten irgendwie unpassend an ihm. So als würde man einer fetten, hässlichen Frau aus der unteren Sozialschicht ein Diamantkollier geben. Vielleicht brauchte er auch eine Weile, um sich daran zu gewöhnen. Schließlich bestellte Leron zwei Anzüge für Simon und im Anschluss gingen sie noch passende Schuhe einkaufen. Nachdem sie stundenlang unterwegs waren, beschlossen sie, eine Pause einzulegen und Leron schlug vor, dass sie zusammen etwas essen gehen könnten. „Ich kenne einen guten Asiaten nicht weit von hier. Hast du schon mal Sushi gegessen?“ „Sushi?“ fragte Simon skeptisch. „Ist Sushi nicht das mit dem rohen Fisch?“ „Nicht zwangsläufig. Aber sie bieten auch anderes an, wenn du für Sushi nicht zu haben bist.“ Da der 21-jährige so langsam merkte, dass er Hunger bekam und er nach der knapp vierstündigen Shoppingtour eine Stärkung gut gebrauchen konnte. Nachdem sie die ganzen Taschen in der Limousine verstaut hatten, machten sie sich auf den Weg und erreichten nach ein paar Minuten ein japanisches Restaurant. Um die Zeit war noch nicht allzu viel los und sie fanden einen Platz, wo sie ihre Ruhe hatten. Sie bestellten sich eine Sushiplatte für zwei Personen, da Simons Neugier doch recht große war und er den Versuch wagen wollte. Nachdem die Kellnerin die Bestellung aufgenommen hatte und gegangen war, wandte sich Simon wieder Leron zu. „Danke übrigens für die ganzen Sachen. Ich wünschte, ich könnte mich irgendwie dafür revanchieren.“ „Schon gut“, winkte Leron mit einem Lächeln ab. „Du hast lange genug in so bescheidenen Verhältnissen gelebt und es war mir eine Freude, dir etwas zu geben.“ „Trotzdem musst du mir keine Geschenke machen“, murmelte der 21-jährige und schämte sich ein wenig dafür, dass er errötete. Aber diese Sache machte ihn halt etwas verlegen. „Jedes Mal, wenn du mir irgendetwas gibst, komme ich mir fast so vor, als würde ich dich nur ausnutzen. Du gibst mir ja schon immer diesen Bonus und…“ „Du brauchst deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben“, versuchte der Unternehmer ihm zu erklären und nahm seine Hand. „Geld gehört nicht unbedingt zu den Dingen, um die ich mich sorgen muss. Und du kannst das Geld doch für Dinge ausgeben, die du schon immer mal haben wolltest oder du sparst es für deine Zukunft.“ „Trotzdem…“ Simon trank einen Schluck Wasser, denn seine Kehle fühlte sich trocken an. „Es ist nicht gegen dich oder so. Aber ich bin es halt gewohnt, ganz alleine klar zu kommen und nichts geschenkt zu bekommen. Da ist es eben schwer für mich, etwas anzunehmen.“ Leron schmunzelte und wirkte ein wenig amüsiert, aber auch sehr gerührt über Simons Worte. Die Stimmung zwischen ihnen war wesentlich besser als am Morgen und auch wenn Simon nicht so ganz diese Szene am Küchentisch nicht vergessen konnte, so hatte er dennoch seinen Spaß und auch der Schreck war einigermaßen verdaut. Trotzdem beschäftigte ihn etwas: die Augen… Er hätte wirklich schwören können, dass Lerons Augen sich verändert hatten, wenn auch nur ganz schwach. Vielleicht hatte es auch nur am Licht gelegen, aber seine Augen hatten einen schwachen Gelbton angenommen, als er die Beherrschung verloren hatte. Und er hatte schon einmal gelbe Augen gesehen. Nämlich bei jenem Freier, der ihn zum Loft gebracht und ihn fast umgebracht hätte. Ob das irgendetwas zu bedeuten hatte? War das ein Zufall oder vielleicht mehr? Nachdem die Sushiplatte gebracht wurde, versuchte Simon mit den Stäbchen umzugehen, doch selbst als Leron versuchte, es ihm zu zeigen, gelang es ihm nicht, damit die Sushirollen festzuhalten, weshalb er gezwungen war, normales Besteck zu verwenden. „Mit Stäbchen essen ist auch sehr schwer“, meinte Leron, der seinerseits keinerlei Probleme zu haben schien. „Für so etwas braucht es schon eine gewisse Übung. Ich würde dir empfehlen, sie vorher in die Sojasauce zu tauchen, bevor du sie isst. Wenn du es scharf haben willst, kannst du auch Wasabi nehmen.“ Damit wies er auf ein kleines Keramikschälchen mit einer merkwürdig grünen Paste. „Pass aber auf. Das Zeug ist verdammt scharf.“ Also entschied sich Simon lieber für die Sojasauce und nahm sich eine Sushirolle mit Sesam und Gemüse. Zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass es gar nicht mal so schlecht war, wie er zuerst gedacht hatte. Und sogleich probierte er auch eines mit rohem Tunfisch. Leron seinerseits nahm noch etwas eingelegten Ingwer dazu und bediente sich auch am Wasabi. Nachdem sie eine Weile lang geschwiegen hatten, räusperte sich der kurz und legte seine Stäbchen kurz beiseite. „Ich habe nächsten Dienstag ein Gespräch mit Dr. Dawson dem Augenarzt, von dem du mir erzählt hast. Ich werde mit ihm bezüglich der Augenoperation sprechen und über die eventuellen Risiken und wie man diese eventuell minimieren kann. Vielleicht lassen sich die Erfolgschancen erhöhen, wenn mehr in die Forschung investiert wird. Nachdem es dir so wichtig ist, deine Augenmutation zu korrigieren, helfe ich dir gerne.“ Simons Augen wurden groß und er konnte kaum fassen, was er da hörte. „Das würdest du wirklich für mich tun?“ fragte er und hätte Leron am liebsten umarmt. „Ich… ich weiß nicht, wie ich dir dafür danken soll!“ „Bleib bei mir“, sagte Leron nur und hielt Simons Hand noch fester. Doch der 21-jährige war seinerseits etwas irritiert über diese Worte und verstand sie nicht so ganz. „Warum sollte ich denn weggehen?“ fragte er ihn. „Selbst wenn der Vertrag nicht wäre, ich fühle mich wohl bei dir und ich würde auch gerne bei dir bleiben, wenn du es auch willst.“ „Ja… eigentlich sollte mir das auch klar sein“, seufzte der Unternehmer und versuchte zu lächeln, doch es wirkte eher gespielt. „Aber es fällt mir schwer zu glauben, dass jemand freiwillig bei mir bleiben würde.“ „Scheint so, als hätten wir beide ein ziemlich verkorkstes Ego, oder?“ Dem konnte Leron nur zustimmen. Wenigstens war sein einziger Lichtstreifen am Horizont die Tatsache, dass er versuchte, nicht so zu sein wie seine Familie und dass er wenigstens Simon beschützen und sich um ihn kümmern konnte. Wenigstens einen Menschen auf dieser Welt. Er fragte sich, wie er heute Morgen nur so dumm sein konnte und auf Michael gehört hatte. Das war einfach nicht fair gegenüber Simon gewesen. Im Grunde hatte dieser ja Recht. Dass der Vertrag noch weiter bestehen blieb, bewies doch eigentlich, dass er ihm nicht ausreichend vertraute. Aber die Angst war einfach so groß, dass der Junge ihn verlassen würde, wenn er hatte, was er wollte. Dann wäre er wieder ganz alleine und er hätte den einzigen Menschen verloren, der ihm wirklich wichtig war. Diesen Gedanken konnte er nicht ertragen. Simon sollte für immer bei ihm bleiben und am liebsten würde ein Teil von ihm gleich im Haus einsperren, damit er ihn immer um sich hatte. Aber der vernünftige Teil seines Verstandes würde das niemals zulassen. Denn das hätte nur bedeutet, dass er seiner Schwäche nachgab und in das gleiche Muster verfiel wie seine Familie und das wollte er nicht. Ihm war klar, dass er versuchen musste, ihm zu vertrauen. Wenn er ihn nicht verlieren wollte, musste er endlich lernen, die Kontrolle über ihn abzugeben und Vertrauen zu haben. Nur dann würde eine Beziehung zwischen ihnen auch wirklich funktionieren. Kapitel 17: Lerons Geständnis ----------------------------- Nach der langen Shoppingtour war Simon fix und fertig und ihm taten die Füße weh. Darum freute er sich auch umso mehr auf den Pool, wo er noch ein wenig relaxen wollte, bevor er den Tag zu Ende gehen ließ. Während der Chauffeur die Taschen ins Haus trug und Simon sein Zimmer ansteuerte, um sich umzuziehen, ging Leron in sein Arbeitszimmer, wo er noch ein paar wichtige Daten prüfen und an seinen Prokuristen schicken musste und es nicht aufschieben konnte. Doch so schlimm war es ja auch nicht. Simon genoss auch ein wenig die Ruhe und die Einsamkeit an diesem Abend. Es herrschte noch eine angenehme Wärme und als er mit Badeutensilien bewaffnet nach draußen zum Pool ging, war der Himmel bereits in die Farben der Dämmerung getaucht und spiegelte sich auch auf der spiegelglatten Wasseroberfläche wieder, was zusätzlich ein schönes Bild bot. Nachdem er seinen Bademantel und ein Handtuch über einem der Stühle gelegt hatte, ging er vorsichtig ins Wasser, doch es war ganz angenehm warm von der Hitze des Tages. Mit einem zufriedenen Lächeln schwamm Simon eine Bahn, dann ließ er sich vom Wasser treiben und genoss die angenehme Schwerelosigkeit, die ihn die Strapazen des Tages vergessen ließ. Er fühlte sich seltsam befreit und unbeschwert, als er im Wasser trieb und den Abendhimmel betrachtete. Als befände er sich in einem angenehmen Traum. Nach wenigen Wochen Aufenthalt schien er nun wirklich angekommen zu sein. Das hatte ja auch gedauert, aber irgendwo hatte er mal gelesen, dass man für gewöhnlich länger brauchte, um sich an ein neues Umfeld vollständig zu gewöhnen. Und nun, da er auch noch wusste, dass er mehr war als nur ein Petboy und Lerons Gefühle viel tiefer gingen, überkam ihn ein ungewohntes Gefühl des Glücks. Er konnte nicht aufhören zu grinsen und ihm war, als wäre er in einem wahr gewordenen Märchen. Auch wenn er bei Lerons Geständnis ziemlich überfordert gewesen war, weil er so etwas noch nie erlebt hatte, machte es ihn so unbeschreiblich glücklich und er fühlte sich ihm jetzt auch emotional viel näher als zuvor. Doch ob es Liebe war? Tja, da war er sich immer noch nicht ganz sicher. Vor allem weil er nicht einmal wusste, wie sich Liebe anfühlte doch er vermutete, dass dieses Gefühl dieser "Liebe" vielleicht sehr nahe kam. Naja, er musste sich darüber auch nicht den Kopf zerbrechen. Er wurde zum Glück nicht unter Druck gesetzt und es wurde auch keine Antwort von ihm verlangt. Und wegen der Sache mit dem Vertrag konnte er ja noch warten, bis Leron innerlich so weit war, dass er Kontrolle abgeben konnte. Nachdem er selber noch mal darüber nachgedacht hatte, verstand er auch Lerons Sichtweise. Durch den Vertrag hatten sie beide Sicherheit. Er die finanzielle, und Leron die soziale. Er war auf diese Weise geschützt für den Fall, dass Leron plötzlich sagen würde, dass er ihm keinen Cent mehr zahlen würde. Zwar war er immer noch der Ansicht, dass eine Beziehung nicht auf Verträgen basieren sollte, aber vielleicht war er auch einfach nur zu naiv und besaß zu wenig Erfahrung in diesen Bereichen. Immerhin gab es ja auch Paare, die Eheverträge abschließen. Vielleicht konnte er diesen Petboyvertrag ja auch irgendwie als eine Art Ehevertrag betrachten und die Sache damit auf sich beruhen lassen, solange Leron noch nicht bereit war, den nächsten Schritt zu gehen. Vielleicht hatte er auch zu viel auf einmal verlangt, immerhin war das zwischen ihnen noch recht frisch. Er hätte sich mit dieser Sache noch mehr Zeit lassen sollen. Nachdem es langsam dunkel draußen wurde, verließ er den Pool, trocknete sich ab und legte den Bademantel an, bevor er zurück ins Haus ging. Er stieg die Stufen hoch und ging als erstes im Schlafzimmer nachsehen, ob Leron vielleicht dort wäre. Doch da das Zimmer leer war, schien der Unternehmer noch im Arbeitszimmer zu sein. Offenbar schien es wohl mehr Arbeit zu sein als erwartet. Also steuerte er das Arbeitszimmer an und als er schon die Türklinke in der Hand hatte, hörte er plötzlich Lerons wutentbranntes Geschrei, welches ihn erschrocken zusammenzucken ließ. „Wag es nicht, auch nur ein einziges Mal in seine Nähe zu kommen, ich schwöre es dir, Mike. Ich lasse nicht zu, dass du ihm wieder etwas antust!“ Wieder antun? Was war denn da los und wieso schrie Leron so herum? Telefonierte er etwa wieder mit seinem Bruder Michael? Konnte dieser Kerl ihn nicht einfach mal in Ruhe lassen? Simon zögerte einen Moment lang, dann aber öffnete er vorsichtig die Tür einen Spalt breit um nachzusehen, ob er reingehen oder doch lieber draußen bleiben sollte. Doch was er sah, erschrak ihn noch mehr als das plötzliche Geschrei. Denn was er sah, war Leron, der vor einem Spiegel stand und mit diesem redete. Von einem Handy war nichts zu sehen, auch nicht von einem Bluetooth-Headset oder ähnlichem. Er stand da und redete mit seinem Spiegelbild, als wäre es sein Bruder Michael. Simon begriff nicht, was er da sah und war wie erstarrt. Es war wie ein Ausschnitt aus einem bizarren Film. Und so langsam dämmerte es ihm, dass es nie ein Handy gegeben hatte, wenn Leron alleine war und mit jemandem geredet hatte. Er redete mit imaginären Personen, die nicht vorhanden waren. Und wahrscheinlich war das auch der Fall gewesen, als Leron den Spiegel in seinem Schlafzimmer zerschlagen und sich die Hand verletzt hatte. Fassungslos beobachtete Simon die Szene und wurde von einer Mischung aus Angst und Schock ergriffen. Sein erster Gedanke war „Er ist verrückt!“ Doch es sollte schlimmer kommen, denn das, was er da hörte, riss ihm endgültig den Boden unter den Füßen weg: „Wenn ich Simon damals nicht ins Krankenhaus gebracht hätte, nachdem du ihn sogar gewürgt und verprügelt hast, wäre er noch gestorben. Du hast ihn fast umgebracht! Also verschwinde endlich aus meinem Leben und lass deine Pfoten von ihm.“ Etwas in Simon setzte aus. Wut und Enttäuschung verdrängten die Schockstarre, die ihn bis dahin beherrscht hatte und er platzte ins Arbeitszimmer und schlug die Tür hinter sich mit einem so lauten Knall zu, dass Leron erschrocken zusammenfuhr. „Wie war das?“ rief er und stürmte direkt auf den Unternehmer zu. Auch wenn dieser ihm körperlich überlegen war, hielt ihn das nicht davon ab, ihn zu packen und ihn nach hinten zu stoßen. „Du warst das damals in dem Loft gewesen? Bist du damals durchgedreht, hast dich verkleidet und mich damals ans Bett gefesselt und mich vergewaltigt? Du hast die ganze Zeit nur ein krankes Spiel mit mir gespielt, du verdammtes Arschloch?“ In seinem Kopf herrschte ein totales Chaos und er wusste nicht, was er denken oder fühlen sollte. Er konnte nicht glauben, was er da soeben noch gehört hatte und war einfach nur wütend und verletzt. Es tat weh zu wissen, dass Leron ihn die ganze Zeit belogen hatte, obwohl er ihm vertraut hatte. In seiner Wut holte er mit der Hand aus und schlug sie Leron ins Gesicht. Das klatschende Geräusch der Ohrfeige hallte durchs Zimmer und Simon spürte das Prickeln und Brennen in seiner Handfläche, doch er nahm es kaum zur Kenntnis. Stattdessen wandte er sich um und wollte einfach nur weg. Möglichst weit weg von Leron. Er schämte sich dafür, dass er so dumm gewesen war, einem anderen Menschen zu vertrauen, nur um dann wieder enttäuscht zu werden. Das war ja mal wieder so typisch für ihn. „Simon, warte!“ rief Leron und hielt ihn am Arm fest. „Du verstehst da etwas völlig falsch.“ „Was gibt es denn da falsch zu verstehen?“ entgegnete der 21-jährige aufgebracht und versuchte sich loszureißen. „Dachtest du etwa, nur weil ich meinen Körper auf dem Straßenstrich verkaufe, lasse ich mich so verarschen? War ich die ganze Zeit nur dein Hampelmann gewesen, bei dem du dir jederzeit deinen Spaß abholen kannst, nur weil du die Kohle dafür hast? Auch für mich gibt es Grenzen und hätte ich gewusst, dass du so ein mieses Spiel mit mir treibst, dann wäre ich niemals zu dir ins Auto gestiegen oder hätte diesen verdammten Vertrag unterschrieben. Weißt du was? Steck dir deinen scheiß Vertrag sonst wohin und such dir einen anderen Stricherjungen! Behalte dein Geld, ich hab…“ Doch weiter kam Simon nicht, denn da wurde er plötzlich gegen die Wand gedrückt und Leron hielt seine Handgelenke fest. Und gegen diese Kraft kam er unmöglich an. Der Unternehmer war einfach zu stark für ihn. „Ich habe dir nie etwas angetan!“ beharrte Leron mit fester Stimme und sah ihn ernst an. Seine Wange war gerötet und man sah in seinen Augen, dass diese Worte ihn tief getroffen hatten. Aber es steckte immer noch eine unfassbare Entschlossenheit in ihm. „Und ich hatte nie die Absicht, dir wehzutun. Ich kann dir alles erklären. Es ist…“ „Ich will deine scheiß Erklärungen nicht hören!“ unterbrach Simon ihn und versuchte sich zu befreien, doch es erwies sich als vollkommen zwecklos. „Ich habe doch schon genug gehört.“ „Was du da gehört hast, war eine Auseinandersetzung zwischen mir und meinem Bruder Michael gewesen. Er droht mir doch seit deinem Einzug damit, dass er dich mir wegnehmen und dir wieder die gleichen Dinge antun wird.“ „Jetzt komm mir nicht damit! Außer uns ist doch niemand hier.“ „Er ist auch nicht hier, Ich habe mit seiner Stimme geredet.“ Diese in Simons Augen völlig absurde Erklärung, die für ihn überhaupt keinen Sinn ergab, irritierte ihn so sehr, dass er augenblicklich ruhiger wurde. Und diesen Moment nutzte Leron, um die ganze Situation zu erklären: „Vor drei Jahren kam ich nichts ahnend in den Loft und habe dich da im Bett liegen sehen. Gefesselt und geknebelt. Du warst so übel zugerichtet gewesen, dass ich dich wiederbeleben musste, bevor ich dich ins Krankenhaus brachte. Von Michael habe ich erfahren, dass er dich vom Straßenstrich aufgegabelt hatte, um sich zu amüsieren. Ich wollte mit dir reden, aber du hattest das Krankenhaus bereits verlassen und warst unauffindbar. Und unser Vater hatte die ganze Angelegenheit unter den Teppich gekehrt, um einen Skandal zu vertuschen. Ich habe drei Jahre nach dir gesucht und schließlich einen Privatdetektiv angeheuert, der dich dann über die Meldung gefunden hatte, als du an diesen Serienmörder geraten bist.“ „Und warum hast du mir nichts gesagt?“ fragte Simon und spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte und ihm die Tränen kamen. „Wieso hast du mich die ganze Zeit belogen, obwohl du mir ständig gesagt hast, ich solle dir vertrauen? Warum?“ „Weil ich Angst hatte!“ platzte es aus Leron heraus und mit einem unglücklichen Blick ließ er den Kopf sinken. Er wirkte mit einem Male kraftlos und verzweifelt. Dieses Charismatische, stets Beherrschte und Überlegene war von ihm abgefallen und er wirkte nun irgendwie gebrochen und emotional am Ende. Und Simon wusste nicht, was schmerzlicher war: diese Lüge oder ihn in diesem Zustand zu sehen. „Was Michael getan hatte, war wirklich abscheulich und ich hätte ihn am liebsten dafür umgebracht. Aber… ich hatte mich in dich verliebt gehabt, auch wenn du in dieser schlimmen Verfassung warst. Ich wollte dich vor ihm beschützen und wiedergutmachen, was er dir angetan hatte. Aber hättest du mich je in dein Leben gelassen, wenn du gewusst hättest, dass mein Bruder dir das angetan hat? Du hättest mich doch genauso verurteilt, nur weil ich in derselben Familie aufwachsen musste wie er und mich genauso als gemeingefährlich eingestuft, nur weil ich Probleme mit meiner Aggression habe. Für die meisten bin ich ja nicht anders als mein Bruder. Ich hätte doch nie eine Chance bei dir gehabt, wenn du alles gewusst hättest. Meinst du mir hat das Spaß gemacht? Ständig diese Sticheleien von Michael hören zu müssen, dass ich dich nur ausnutzen und verarschen würde und dass du nur wegen dem Geld bei mir bleibst. Tag für Tag muss ich mir das anhören und fühle mich selber wie ein Monster. Und es stimmt ja auch, dass ich dich immer wieder angelogen und Spielchen mit dir gespielt habe. Ich habe den Vertrag benutzt, damit ich einen Grund habe, dich bei mir zu behalten und dir durch Aufmerksamkeit und Zuwendung alles zu geben, damit du dich auch in mich verliebst. Ich wollte dich niemals verletzen, aber letzten Endes habe ich nicht besser gehandelt als meine Brüder. Ich habe dich belogen und mit deinen Gefühlen gespielt, weil ich dich um jeden Preis an meiner Seite haben wollte.“ Seine Hände begannen zu zittern und seine Stimme bebte. Und als Simon Tränen in Lerons Augen sah, war ihm, als würde es ihm das Herz zerreißen. Ihn in so einem Zustand zu sehen, das war für ihn unerträglich und ihm war, als würde er in diesem Moment all seine Wut vergessen. Sein Kopf war leer und er wusste nicht mehr, was er denken oder fühlen sollte. Nur eines wusste er: er wollte Leron nicht weinen sehen. Er hatte immer das Bild dieses starken und dominanten Unternehmers gehabt, der mit jeder Situation souverän umgehen konnte. Aber die Realität sah anders aus. Leron litt… Er litt schon eine ganze Weile still und heimlich und schaffte es perfekt, es zu kaschieren, damit niemand es bemerkte. Aber jetzt, wo er den einzig wichtigen Menschen in seinem Leben zu verlieren drohte, schaffte er es nicht mehr, die Fassade aufrecht zu erhalten. „Aber ich liebe dich einfach so sehr und ich weiß nun mal nicht, wie man mit Menschen umgeht. So etwas wie Liebe gibt es in unserer Familie nicht. Für mich gibt es keine normale Art, mit anderen umzugehen, deshalb habe ich dich belogen und manipuliert, auch wenn ich wusste, dass es nicht der richtige Weg war. Ich dachte mir: solange ich nur dafür sorgen kann, dass du glücklich bist, ist es nicht so schlimm. Aber letzten Endes habe ich dir wohl nur wehgetan. Wie Michael sagte: ich kann niemanden glücklich machen, sondern nur verletzen.“ Nun ließ Leron ihn los und eigentlich wäre es die perfekte Gelegenheit, um zu verschwinden. Doch Simon blieb stehen und sah ihn nur mit gemischten Gefühlen an. Dann schließlich schloss der Unternehmer ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. „Es tut mir leid“, sprach er mit verzweifelter Stimme. „Es tut mir alles so leid.“ Simon sagte nichts, sondern schwieg einfach. Er wusste nicht, was er sagen oder denken sollte. Er war sehr verletzt über diese Lüge und das Spiel, welches mit ihm gespielt worden war. Aber wenn Leron ihm sagte, dass er nie beabsichtigt hatte, ihm ernsthaft zu schaden, musste er ihm einfach glauben. Was hatte er denn selbst bis jetzt erlebt gehabt? Leron hatte sich um ihn gekümmert, wenn es ihm schlecht ging, er war immer rücksichtsvoll gewesen und hatte auf seine Wünsche, Sorgen und Probleme Rücksicht genommen, ihm Zuwendung und Liebe gegeben und ihn aufgebaut und bestärkt. Das passte einfach nicht in das Bild eines manipulativen Intriganten, der ihn aus reiner Arglist belog. Und so wie er die Sache darlegte, konnte Simon ihn auch irgendwie verstehen, warum er so gehandelt hätte. Es stimmte schon: wenn er von Anfang an gewusst hätte, dass sein älterer Bruder Michael ihm das damals im Loft angetan hatte, dann hätte er Leron nie und nimmer eine Chance gegeben, sondern ihn sofort abgewiesen. Natürlich änderte es nichts an dem Vertrauensbruch, aber war es ein Grund, ihn für das zu verurteilen, was sein Bruder zu verschulden hatte? Leron war doch derjenige gewesen, der ihn gerettet und ins Krankenhaus gebracht hatte. Er war doch nicht für das verantwortlich, was sein älterer Bruder getan hatte. Alles, was er getan hatte, war doch nur, etwas zu verheimlichen, damit er eine Chance bekam, das Herz des Menschen zu gewinnen, in den er sich verliebt hatte. Und war das wirklich so verachtenswert? Würde nicht jeder normale Mensch so handeln, wenn er in dieser Situation wäre? Was hätte er denn an Lerons Stelle getan? Wäre er gleich sofort mit der Tür ins Haus gefallen und hätte damit alles aufs Spiel gesetzt, oder hätte er es so lange geheim gehalten, bis er sicher war, dass er eine Chance hatte? Nun, selbst da blieb immer noch ein Risiko, aber man konnte doch auch verzeihen, oder nicht? Man musste doch ganz klar abgrenzen, was Leron getan hatte und was sein ältester Bruder verbrochen hatte. War es denn fair, Leron die Schuld für Michaels Verbrechen zu geben, obwohl er sich so um ihn bemüht hatte? Nein, es wäre ganz und gar nicht fair gewesen und als Simon dies erkannte, da wusste er auch schon, wie er sich entscheiden würde und erwiderte die Umarmung. „Ich bin wirklich verletzt wegen der Lüge“, erklärte er mit ruhiger Stimme. „Aber… ich kann es verstehen. Wahrscheinlich hätte ich an deiner Stelle auch nicht anders gehandelt. Ich bin natürlich enttäuscht, aber ich weiß auch, dass du so viel für mich getan hast. Tut mir leid, dass ich dir diese Sachen an den Kopf geworfen habe und dass ich dir eine geklebt habe. Aber es tat einfach so weh, erfahren zu müssen, dass man von dem Menschen belogen wurde, dem man so sehr vertraut und der einem wichtig ist. Und dabei sollte ich dir doch eigentlich dankbar sein, dass du mir damals das Leben gerettet hast. Wenn du nicht in den Loft gekommen wärst, wäre gestorben. Eigentlich… naja eigentlich bin ich doch derjenige, der sich gerade unfair verhält, oder nicht?“ Schließlich löste Simon sich von ihm, hielt aber seine Hände fest, denn es gab etwas, das er unbedingt sagen musste. „Aber ich glaube wirklich, dass du dringend Hilfe brauchst, Leron. Nicht nur allein wegen deiner Aggressionsprobleme, sondern auch weil du psychische Probleme hast. Stimmen im Kopf zu hören oder Personen zu sehen, die nicht da sind, ist nicht normal. Wenn du wirklich jeden Tag die Stimme deines Bruders im Kopf hörst, die dich immer und immer wieder nur fertig macht, ist es doch kein Wunder, wenn du solche Probleme hast. Deshalb bitte ich dich: such dir irgendwo Hilfe und lass dich behandeln. Dann geht es dir vor allem viel besser. So ein Leben muss doch furchtbar sein.“ Geschlagen senkte Leron den Blick und man merkte ihm an, wie sehr ihn diese Kämpfe gegen die Stimme in seinem Kopf gezeichnet hatten und wie viel Kraft sie ihn gekostet hatten. Doch vor allem sah man ihm die Bestürzung an. All die Jahre schien er nie wirklich realisiert zu haben, dass er psychisch krank war und dass die Stimme seines Bruders nur ein Produkt seiner eigenen Fantasie war. Und nun, da Simon ihm den Spiegel vorhielt und ihm die Wahrheit offenbarte, wurde ihm klar, dass er sich die ganze Zeit nur etwas vorgemacht hatte. All die Jahre hatte er eisern seine Aggressionen unterdrückt um zu beweisen, dass er anders als seine Familie mütterlicherseits war. Doch sein Problem war nicht dieses angeborene Gewaltpotential, sondern seine Wahnvorstellungen. Und diese zeigten ihm nur allzu deutlich, dass er sich nicht wirklich vom Rest dieser Familie unterschied. „Mein ganzes Leben lang dachte ich, ich könnte diesem Fluch entkommen“, sagte er mit kraftloser Stimme. „Aber letzten Endes scheine ich keinen Deut anders zu sein…“ „Das stimmt nicht“, widersprach Simon. „Nur weil du krank bist, heißt das noch lange nicht, dass du wie dein Bruder bist. Du kannst etwas daran ändern und dir helfen lassen, damit es dir besser geht. Du hast immer noch die Wahl, entweder in das gleiche Muster zu verfallen wie dein Bruder, oder dagegen anzukämpfen und einen Ausweg zu finden. Vielleicht brauchst du eine Therapie oder kriegst eine medikamentöse Behandlung, keine Ahnung…. Aber wenn du dir Hilfe suchst, um mit deinen Problemen fertig zu werden, zeigst du doch, dass du nicht wie Michael bist, oder?“ Leron hielt inne, als er das hörte und eine Unsicherheit überkam ihn, die er schon seit Jahren nicht mehr in diesem Maße empfunden hatte. Er hatte wirklich befürchtet, Simon würde ihn verlassen und ihn als Irren abstempeln, wenn dieser erfuhr, dass er die Stimme seines Bruders in seinem Kopf hörte, so als würde jemand direkt neben ihm stehen und mit ihm reden. Er hatte mit eiserner Disziplin die Stimme in Simons Gegenwart ignoriert und nie darauf geantwortet. Bis auf das eine Mal, als Simon auf den Vertrag angesprochen hatte. Aber sonst hatte er versucht, sich nichts anmerken zu lassen und den Anschein eines normalen Menschen zu erwecken. Die Angst, dass Simon ihn dann in einen Topf mit Michael werfen würde, war einfach zu groß gewesen. Und was war nun? Der Junge riet ihm, sich behandeln zu lassen. Und er verurteilte ihn nicht dafür, dass er Stimmen im Kopf hörte und mit ihnen redete. Und selbst diese gemeine, selbstsüchtige Lüge verzieh Simon ihm. So einen Menschen hatte er an seiner Seite nicht verdient. „Hast du es die ganze Zeit vor mir zu verbergen versucht?“ fragte Simon schließlich und mal wieder musste Leron zugeben, dass der Junge verdammt scharfsinnig war. Als wäre er mal Detektiv gewesen. „Natürlich habe ich das“, gestand er und seufzte. „Ich wollte nicht, dass du Angst vor mir bekommst. Wer vertraut denn schon jemanden, der mit Stimmen redet, die andere nicht hören?“ „Seit wann hast du das schon?“ „Seit meiner Kindheit…“ Leron ging zu seinem Bürostuhl und setzte sich. Er fühlte sich müde und erschöpft, aber innerlich fühlte er sich wesentlich leichter. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er frei über sein schlimmstes Problem sprechen. „Wann genau es anfing, kann ich nicht mehr genau sagen. Vermutlich zu der Zeit, als unsere Mutter krank wurde. Es fing an, dass ich mir einbildete, mich würde jemand rufen. Zuerst war es eher harmlos gewesen und keiner bemerkte etwas, aber als Mutter starb und Michael außer Kontrolle geriet, da verschlimmerte es sich. Vorher hatte ich fremde Stimmen gehört, danach hörte ich nur noch Michaels Stimme in meinem Kopf, die mich bedrohte und einzuschüchtern versuchte. Als mein Vater mitbekam, dass ich mit mir selbst redete, ließ er mich unter anderem deshalb alleine in der Villa wohnen, um mich von meinen Brüdern zu trennen, weil er dachte, es würde aufhören, wenn Michael keinen Einfluss auf mich ausüben kann. Eine Therapie oder dergleichen hat er aber nie zugelassen. Wenn herauskäme, dass ich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen würde, würde man über uns reden und das hätte nur dem Ruf unserer Familie geschadet. Also musste ich lernen, mir selbst zu helfen.“ „Und warum hörst du ausgerechnet die Stimme deines Bruders?“ „Weil er der Mensch ist, vor dem ich schon als Kind am meisten Angst hatte“, vermutete Leron und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht passte es einfach, dass er immer derjenige in meinem Kopf war, der mir einzureden versucht, ich wäre ein Verrückter und würde anderen nur wehtun. Als du dir am Pool den Sonnenstich geholt hast, war das auch natürlich ein gefundenes Fressen für ihn und natürlich musste er mir da einreden, dass es meine Schuld war, dass es dir da so schlecht ging.“ „Klingt danach, als wäre dein Bruder eine Art Verkörperung deiner eigenen inneren Stimme“, bemerkte Simon und lehnte sich gegen die Wand und hörte aufmerksam und interessiert zu. „Jeder Mensch hat mal Zweifel und Unsicherheiten. Aber was du da hast, hört sich irgendwie an, als wäre das dein Selbsthass, der da aus dir spricht und der sich wie dein Bruder anhört, weil er dich hasst. Ich bin kein Psychologe und kann das nicht exakt feststellen, aber das ist irgendwie so mein Eindruck. Und dass dein Vater dachte, dass es genügen würde, euch voneinander zu trennen, war ja wohl eine absolute Schwachsinnsidee. Ich glaube, du brauchst wirklich Hilfe, weil dich diese ganzen Dinge immer noch ziemlich zu verfolgen scheinen und du doch nicht ganz alleine etwas gegen Stimmen ausrichten kannst, die dich in deinem Kopf fertig machen. Ich an deiner Stelle wäre da schon längst durchgedreht. Warum hast du dir denn keine Hilfe mehr gesucht, nachdem du alleine warst?“ „Weil es sich so real anfühlt und man vergisst, dass es nicht real ist. Als Außenstehender kann man das sofort differenzieren, aber wenn man selbst Stimmen im Kopf hört, dann hat man nicht das Gefühl, als bilde man sich das ein. Es erscheint einem so real, als würdest du gerade mit mir sprechen. Solange ich vor anderen Menschen diese Eigenschaft erfolgreich verbergen konnte und mich im Griff hatte, kam ich immer gut klar.“ „Aber vor allem wolltest du vor der Tatsache flüchten, dass du auch krank bist.“ Es schien, als könnte er ihm nichts vormachen. Der Junge hatte ihn durchschaut und wusste nun, wie es in ihm drin aussah und was er dachte oder fühlte. Und er hatte Recht. Er hätte es einfach nicht ertragen, wenn er sich mit der Tatsache auseinandersetzen musste, dass er genauso psychisch krank war wie Michael. Wer wäre denn da gewesen, um ihn aufzufangen? Er war alleine und er hatte gewusst, dass er es nicht durchstehen würde, wenn er sich diesen Fakten stellen musste. Er brauchte jemanden, der für ihn da war und ihm die Kraft gab, standhaft zu bleiben, wenn er sich diesen Dingen stellte. Langsam trat Simon nun auf ihn zu, dann umarmte er ihn. „Tut mir leid, dass ich dir diese Dinge an den Kopf geworfen habe. Ich war sauer gewesen und habe nicht darüber nachgedacht, was ich gesagt habe.“ „Schon gut“, sagte Leron und streichelte liebevoll und zärtlich seinen Kopf. „Ich kann es verstehen. Ich wäre auch wütend geworden. Ich bin nur froh, dass du mir nach all den Dingen noch eine Chance geben willst.“ „Du kannst ja nichts dafür, dass du krank bist“, erklärte der 21-jährige und spürte diese liebevolle und sanfte Geste, die er an Leron so liebte. Für ihn stand fest, dass er nicht gehen würde. Er würde Leron nicht im Stich lassen. Es war seine Aufgabe, für ihn da zu sein und ihm Halt zu geben, das wusste er jetzt. So wie sich Leron um ihn kümmerte, so musste er sich in Momenten wie diesen auch um ihn kümmern. „Und ich kenne es ja selbst am besten wie es ist, nicht wie die anderen zu sein und deshalb immer nur verurteilt zu werden. Wir schaffen das schon irgendwie. Und weißt du was? Scheiß doch auf deine Familie. Was hat die denn schon für dich getan, dass du etwas für sie tun musst?“ Leron nickte und lächelte erleichtert. Nie im Leben hätte er gedacht, dass es tatsächlich einen Menschen geben könnte, dessen Worte ihn so sehr erreichten und der ihn so gut verstand, ohne dass er es sagen musste. Und umso glücklicher war er, dass Simon ihn nicht für seine Krankheit oder seine Familie verurteilte. Zum ersten Mal konnte ihn jemand mit diesen ganzen Makeln nehmen. „Danke, Simon“, flüsterte er und drückte ihn fest an sich. „Ich glaube du weißt nicht, wie glücklich du mich gerade gemacht hast.“ Nachdem sich beide beruhigt hatten, verließen sie das Arbeitszimmer und gingen zu Leron ins Schlafzimmer. Heute Abend würde nicht mehr viel passieren, dazu waren sie beide momentan nicht in der Stimmung, aber einander Gesellschaft leisten konnten sie ja trotzdem. Außerdem wollte Simon ihn heute Abend nicht alleine lassen da er spürte, dass Leron ihn heute mehr denn je brauchen würde. Also schlüpfte er zu ihm ins Bett und kuschelte sich neben ihn. Leron legte einen Arm um ihn und starrte an die Zimmerdecke. Er war sehr schweigsam geworden und schien nachzudenken. „Warum hat dich dein Vater eigentlich von der Familie getrennt?“ fragte er schließlich. „Du sagtest vorhin, es wäre nur einer der Gründe. Was ist passiert?“ „Michael hat damals seine Dominanz klar zeigen und seine Triebe ausleben wollen“, erklärte Leron und seine Miene wurde sehr ernst. „Er nannte es immer seine Bestrafungsspiele. Während Jordan mich festhielt, machte er, wie er es zu sagen pflegt, einen Mann aus mir. Ich war acht, als das passierte.“ Simon setzte sich auf und sah Leron erschüttert an und sein Magen zog sich zusammen. Zwar hatte er schon etwas Ähnliches vermutet, aber es direkt zu hören, war noch mal etwas ganz anderes. „Soll das etwa heißen…“ Leron nickte und hielt seinen Blick starr auf die Zimmerdecke gerichtet, doch seine Augen starrten in Wirklichkeit ins Leere. „Ja… mein Bruder hat mich als Kind regelmäßig missbraucht. Das war der eigentliche Grund, warum ich alleine in diesem Haus aufgewachsen bin.“ Kapitel 18: Lionel erinnert sich zurück --------------------------------------- Lionel Evans saß zurückgelehnt in seinem Stuhl und war tief in seinen Gedanken versunken. Es war wieder mal einer dieser typischen Montage, an denen sein linkes Knie schmerzte. Eine alte Verletzung, die mit vielen Erinnerungen verbunden war. Wie so viele andere seiner alten Wunden auch. Die Narbe an seinem Bauch, die an seiner Schläfe… Er konnte ewig weiterzählen und es erstaunte ihn, dass ihn die Erinnerung inzwischen vollkommen kalt ließ. Es war viele Jahre her, als es passierte und er war alt. Eigentlich hatte er das Rentenalter schon überschritten, trotzdem war er weiter im Vorstand geblieben, um auf den geeigneten Moment zu warten. Und vor allem weil er noch warten wollte, bis er seinen Söhnen freie Hand ließ. Er war lieber vorsichtig und das hatte seine Gründe. Immerhin hatte er am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie gefährlich das Blut der Cohan-Familie wirklich war. Heute war der Todestag seiner Frau Katherine. Und ironischerweise auch der von Lucy. Diese Hexe hatte es aber auch wirklich geschafft, selbst bei ihrem Tod etwas von ihm zu zerstören und den Todestag seiner geliebten Lucy zu ihrem Todestag zu machen. Katherine hatte bis zu ihrem Tod sein Leben beherrscht und alles von ihm abgetötet, was er in sich gehabt hatte und so hatte er sich nicht einmal freuen können, als sie ihrem Bauchspeicheldrüsenkrebs erlag und dahinschied. Damals war er noch wirklich blind gewesen, dass er nicht erkannt hatte, wie Katherines wahre Natur war. Als er sie während seines Studiums kennen gelernt hatte, war sie bildhübsch, lebensfroh und voller Energie gewesen. Sie war nett, charmant und intelligent gewesen und nachdem sie eine Zeit lang zusammen gewesen waren, hatten sie sich sogar verlobt gehabt, als sie von ihm schwanger wurde. Doch kaum, dass sie verlobt waren, zeigte Katherine ihr wahres Gesicht und sie nahm immer mehr von seinem Leben ein. Zuerst hatte er es genossen, dass sie während ihrer gemeinsamen Beziehung so engagiert war und überall dabei sein sollte. Für ihn war es der Beweis ihrer Liebe gewesen. Aber dann war ihre Fürsorglichkeit immer aufdringlicher geworden und wurde zur Kontrolle. Als er sich selbstständig gemacht hatte und viel arbeiten musste, hatte sie ihm Affären vorgeworfen, sie begann zu entscheiden, was er zu tun oder zu lassen hatte und als er einmal auswärts essen gegangen war, war sie ausgerastet und hatte ihm eine Weinflasche gegen den Kopf geschlagen und ihm eine Platzwunde verpasst, die mit mehreren Stichen genäht werden musste. Daraufhin hatte er sie verlassen, auch wenn sie schwanger war, aber das war für ihn das Aus ihrer Beziehung gewesen. Und dann hatte er Lucy kennengelernt. Lucy war eine zurückhaltende junge Frau mit hübschen platinblonden Haaren und einer kleinen zierlichen Figur gewesen. Sie war sehr sanftmütig und das Gegenteil zu der temperamentvollen und dominanten Katherine. Bei ihr hatte er sich wesentlich geborgener gefühlt und er hatte sie abgöttisch geliebt. Für ihn hatte festgestanden, das Lucy die Frau war, mit der er alt werden würde. Und es war ihm völlig egal, dass sie nur eine einfache Kellnerin in einem Café war und sein Vater damals gegen diese Beziehung war. Er hatte Lucy mit ganzer Hingabe verehrt, weil sie auf der einen Seite zerbrechlich und hilfsbedürftig wirken konnte und somit Beschützerinstinkte weckte, aber sie besaß eine innere Stärke, mit der sie andere Menschen auffangen konnte. Ihr gemeinsames Glück währte ein halbes Jahr und in der Zeit hatte Katherine mehrfach versucht, ihn zurückzuholen, was aber nicht geklappt hatte. Und als Katherine schließlich ihren ersten Sohn Michael zur Welt gebracht hatte und aus dem Krankenhaus entlassen wurde, da brach sie heimlich bei ihm und Lucy ein, versetzte seinen Drink, den er sich jeden Freitagabend gönnte, mit K.O.-Tropfen und schlug Lucys Kopf mit einem Vorschlaghammer ein. Im Anschluss hatte sie ihm noch Drogen gespritzt und als er wieder aufgewacht war, hatte sie vor ihm gestanden. Blutverschmiert, zufrieden lächelnd und immer noch mit dem schweren Hammer in der Hand, an dem noch Hautfetzen, Knochensplitter und Gehirnmasse klebte. „Du kommst wieder zurück zu mir, Lionel“, hatte sie gesagt. „Oder ich werde dafür sorgen, dass man dich wegen Mordes lebenslang wegsperrt!“ Erst da war ihm klar geworden, wie gefährlich sie wirklich war und dass das, was er bis jetzt erlebt hatte, nicht einmal im Ansatz das war, was sie wirklich verkörpert hatte. Sie wollte sein Leben beherrschen und sie duldete es nicht, dass er eine andere Frau liebte. Dieses Weib hatte ihn in der Hand gehabt. Die ganze Zeit über. Wenn er es wagte, ihr nicht zu gehorchen und sie allein nur das Gefühl hatte, er würde sich nach einer anderen Frau umsehen, drohte sie damit, ihn bloßzustellen und ihm das Leben schwer zu machen. Und dafür war ihr jedes Mittel recht. Sie hatte vor nichts zurückgeschreckt. Als sie mal das Gefühl hatte, als würde seine Sekretärin mit ihm flirten, hatte sie sich selbst den Arm gebrochen und erzählt gehabt, er würde sie schlagen. Aber sie schreckte auch nicht davor zurück, auf ihn loszugehen. So hatte sie ihm, nachdem er ein altes Foto von Lucy betrachtet hatte, ein Messer in den Bauch gerammt. Sie war eine gewalttätige, herrschsüchtige und manipulierende Frau gewesen, die dem Namen ihrer Familie alle Ehre machte. Dank ihrer schauspielerischen Fähigkeiten konnte sie allen die liebe Hausfrau vorspielen, die unter einem kaltherzigen Mann zu leiden hatte. Sie hatte sogar farbige Kontaktlinsen getragen, um ihre gelbe Iris zu verstecken, die sie als Mitglied der Cohan-Familie brandmarkte und ihre wahre Natur offenbarte. Lionel war klar gewesen, dass er dieser Frau nicht entkommen konnte. Sie beherrschte sein Leben und wenn er es gewagt hätte, ihr untreu zu sein oder sie zu verlassen, hätte sie alles getan, um sein Leben zu zerstören. Er hatte Katherine verachtet, aber viel mehr noch hatte er sie gefürchtet. Und umso schrecklicher war die Erkenntnis, dass ihr erstgeborener Sohn dieselben dämonischen Augen besaß. Als er ihre Familiengeschichte beleuchtet hatte, war ihm klar geworden, dass in ihrer Brut dieselben Gene steckten wie in ihr, die sie zu einer kontrollsüchtigen Psychopathin machten. Doch obwohl Katherine eine eiskalte manipulierende Verrückte war, liebte sie ihre Kinder abgöttisch. Die Kinder bekamen nie mit, dass ihre Mutter eine Geisteskranke war, die fähig war, sogar zu morden, um das zu bekommen, was sie wollte. Katherine war eine selbstsüchtige und grausame Person gewesen, die ihre Kinder mit niemandem teilen wollte, nicht einmal mit ihrem Ehemann. Doch letzteres machte Lionel nicht mehr viel aus. Er wollte mit seinen Kindern keine emotionale Beziehung eingehen. Insbesondere nicht, als er erkannte, dass sie dieselbe Veranlagung hatten wie ihre Mutter. Michael war aggressiv und gewalttätig und genauso besitzergreifend. Er vergötterte seine Mutter so sehr, dass er rasend eifersüchtig auf jeden anderen wurde, dem sie ihre Aufmerksamkeit widmete. Jordan besaß ein kühles und verschlossenes Wesen, war aber ein hochintelligenter Puppenspieler, der seine Mitmenschen gegeneinander ausspielte, um seinen Willen zu bekommen. Diese Charaktereigenschaften hatten seine Lucy getötet. Immer, wenn er versuchte, sich nach der Arbeit ein bisschen mit seinen Söhnen zu beschäftigen, sah er nichts anderes, als ein Abbild ihrer Mutter, die ihn tyrannisierte und ihm den Menschen genommen hatte, den er so sehr geliebt hatte. Er war nicht in der Lage, seine Kinder zu lieben, ohne dabei vor Augen zu haben, dass sie die Sprösslinge eines Psychopathen-Clans waren. Als Leron geboren wurde, fingen die Probleme unter den Brüdern erst so richtig an. Leron war zarter als seine älteren Brüder. Er war jung und brauchte die Aufmerksamkeit seiner Mutter. Katherine vergötterte ihren jüngsten Sohn und vernachlässigte ihre anderen Söhne, die langsam älter wurden und das war für Michael, der genauso besitzergreifend war wie seine Mutter, ein rotes Tuch. Es war abzusehen gewesen, dass es Probleme geben würde. Doch Lionel hatte eine gewisse emotionale Gleichgültigkeit entwickelt. Katherine beherrschte nach wie vor sein Leben und auch wenn er ihr egal geworden war, hätte sie trotzdem nie im Leben zugelassen, dass er sich von ihr trennte. Und seine drei Söhne waren auf ihre Weise genauso gefährlich wie ihre Mutter. Lionel hatte sich daraufhin vollständig von der Familie distanziert. Sein Konzern wurde zu seinem einzig wertvollen Besitz, er wurde zu seinem Leben, denn das war etwas, was Katherine ihm nicht wegnehmen würde. Sie war auf sein Geld angewiesen, deshalb war nicht einmal sie so dumm und zerstörte ihm auch das. Sie hätte es nur getan, wenn er ihren Zorn auf sich gezogen hätte. Als Katherine schließlich ihre Diagnose bekam, war er weder sonderlich erleichtert noch froh darüber gewesen. Im Laufe der Jahre war sein Herz so kalt geworden, dass er weder Mitleid noch Schadenfreude empfunden hatte. Eigentlich war schon nach Lucys Tod ein großer Teil von ihm gestorben. Er hatte sein Herz vollständig verschlossen und wollte nie wieder jemanden lieben. Hätte er damals auf seinen Verstand gehört, dann hätte er vielleicht erkannt, wie gefährlich Katherine wirklich war und dann wäre ihm so etwas nicht passiert. Als sie starb, war er statt in der Firma in einer Bar gewesen, hatte getrunken und versucht, damit auch die bitteren Jahre dieser Zwangsehe hinunterzuspülen, in die sie ihn gedrängt hatte. Er wollte einfach nur vergessen und die Erinnerungen an sie begraben. Doch die Realität holte ihn schneller ein, als ihm lieb war. Denn seine Kinder waren noch da. Aber für ihn waren sie nicht seine Kinder, sondern Katherines Fluch, den sie ihm nach ihrem Tod hinterlassen hatte, damit sie ihn weiterhin terrorisieren konnte. Als die Übergriffe und Missbrauchsgeschichten von Michael zu ihm durchdrangen, wusste er, dass er niemals aus diesem Teufelskreis herauskommen konnte. Katherine hatte ihm die Ketten schon in dem Moment angelegt, als sie sich das erste Mal begegnet hatten und selbst nach ihrem Tod behielt sie ihn noch angekettet. Lionel sah, dass Lerons bloße Anwesenheit die schlimmsten Seiten in Michael hervorbrachte und Michaels gewalttätiges Verhalten dafür Lerons Krankheit verschlimmerte. Er beschloss, die beiden voneinander zu trennen und Leron in der Villa beim Familienbutler aufwachsen zu lassen. Seine Kinder waren ihm schon seit Jahren vollkommen fremd gewesen. Er konnte sie nicht lieben, aber hassen tat er sie auch nicht. Sie waren Katherines Fluch und er wollte diesen möglichst unter Kontrolle halten. Nachdem Katherine schon den Großteil seines Lebens kontrolliert und zerstört hatte, wollte er nicht auch noch das letzte bisschen verlieren, was er sich selbst aufgebaut hatte. Sein Konzern war das Einzige, was er all die Jahre vor ihrem Wahnsinn beschützen konnte. Das Einzige, was wirklich ihm gehörte und was er beschützen wollte. Sein Leben hatte er daraufhin damit gewidmet, sein Lebenswerk zu bewahren und weiter auszubauen und Michael unter Kontrolle gehalten. Dass dieser sich niemals vollständig normalisieren würde, war ihm klar gewesen und er hatte ihm eingeschärft, dass er nur so lange seine ganzen Skandale vertuschen würde, solange es nicht auf einen Mord hinauslief. In dem Fall konnte er ihn nicht mehr decken. Jordan hatte sich zu seiner Erleichterung besser gemacht als der durch und durch antisoziale Michael. Er hatte Frau und Kinder und schien auch ein guter Vater zu sein. Seine Töchter hatten sich normal entwickelt, was wohl vermuten ließ, dass sie die Gene ihrer Mutter und nicht die des Vaters geerbt hatten. Jordan besaß keine aggressive Ader und er hatte niemals die Hand gegen seine Frau und seine Kinder erhoben. Aber als Geschäftsmann war er nur durchschnittlich. Sein Spezialgebiet war es, Menschen gegeneinander auszuspielen und sie auszunutzen, aber für das Geschäftliche hatte er kein allzu gutes Händchen. Fraglich war, ob er ihm deshalb sein Lebenswerk anvertrauen sollte. Michael war ein begnadeter Geschäftsmann, aber ihm den Konzern zu überlassen war so, als würde er es Katherine übergeben. Und das war für ihn noch schlimmer. Sein einziger Lichtschimmer war sein jüngster Sohn. Leron war ein sehr guter und tüchtiger Geschäftsmann. Lionel hatte ihn auf die Probe gestellt und ihm das Hybridunternehmen überlassen um zu sehen, ob er es schaffen würde. Nun gut, Leron hatte psychische Probleme und auch er besaß eine aggressive Ader, aber er konnte sich unter Kontrolle halten. Zwar war er nicht gerade zimperlich mit den Angestellten, aber seine strenge und unnachgiebige Art verzeichneten viele Erfolge und auch wenn in ihm das Blut der Cohan-Familie floss, sah Lionel ein wenig Hoffnung bei ihm. Sein jüngster Sohn hegte eine starke Abneigung gegen die Familie seiner Mutter und das hatte Lionel trotz seiner Gefühlskälte seinen Kindern gegenüber ein wenig imponiert. Zwar hasste Leron ihn, aber Lionel war der Ansicht, dass es vielleicht besser war, wenn Leron ihn hasste und ihn für seine Gefühlskälte verachtete. Seine Mutter hatte er als liebevolle Frau in Erinnerung behalten und er hatte beschlossen, seine Söhne in diesem Glauben zu lassen und das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, was für eine Frau Katherine wirklich war. Für Leron und Michael war der emotionale Halt die Erinnerung an ihre Mutter gewesen und wenn das der Grund war, warum keiner von ihnen so durchgedreht war, dass sie jemanden umgebracht hätten, dann würde er sie in diesem Glauben lassen, auch wenn er es besser wusste. Er war zwar gefühlskalt, aber er war kein Unmensch. Seinen Kindern sagen zu müssen, dass die eigene Mutter eine gemeingefährliche, kontrollsüchtige Mörderin war, das war herzlos. Kinder waren für gewöhnlich stärker auf ihre Mütter fixiert als auf den Vater. Er konnte damit leben, dass seine Kinder ihn für einen kaltherzigen Egoisten hielten oder dass Leron ihm sein Verhalten nicht verzeihen konnte. Sein Ziel war es eigentlich gewesen, Leron aus der Reserve zu locken, damit er ihm die Leitung des Konzerns zum Jahresende überlassen konnte. Er war der einzig geeignete Nachfolger, auch mit seiner Krankheitsgeschichte. Aber es gab ein Problem: Leron war immer noch unverheiratet und kinderlos und er hatte homosexuelle Neigungen. Ob die ihren Ursprung in Michaels Übergriffen hatte, wusste er nicht aber er hatte gehofft, ihn zur Vernunft bringen zu können. Doch dieser Dummkopf war einfach so stur gewesen und dass er ernsthaft mit dem Gedanken spielte, den Konzern zu verkaufen… Nein, das würde er sicher nicht machen. Leron drohte zwar, aber sein Ehrgeiz verbot es ihm, die Dinge einfach in den Sand zu setzen. Er würde die Leitung des Konzerns übernehmen und seinen Job gut machen. Es klopfte an der Tür und herein trat Abigale Wiseau, seine Sekretärin. Sie war 30 Jahre alt, zierlich und hübsch. Eine wirklich gute Sekretärin, die zudem einen verdammt guten Kaffee kochen konnte. „Mr. Evans, Ihr Sohn Michael hat angerufen und mitgeteilt, dass er heute nicht zum Meeting kommen wird.“ Na großartig, dachte sich Lionel und seufzte. Mal wieder tanzte dieser Kerl ihm nur auf der Nase herum. „Und wieso nicht?“ „Er sagte, er hätte einen Arzttermin wegen seiner chronischen Kopfschmerzen.“ „Ah… ich verstehe…“ Lionel hatte im Hinterkopf gehabt, dass Michael in der letzten Zeit noch reizbarer und aggressiver war als sonst und unter massiven Kopfschmerzen litt, die anscheinend nicht weggingen. Na dann, wenn er sich jetzt endlich mal untersuchen ließ und etwas gegen sein Problem tat, dann würde er auch hoffentlich wieder etwas ruhiger werden. „Außerdem hat noch Ihr Sohn Leron angerufen“, fuhr Abigale fort. „Er lässt sich für die nächsten Wochen von seinen Prokuristen vertreten und ist geschäftlich vorübergehend nicht erreichbar.“ Wie bitte? Jetzt fängt er auch noch damit an, krank zu werden? Was war denn jetzt schon wieder mit seinen Söhnen los? Kurzerhand holte Lionel sein Handy hervor und rief Leron auf seiner Privatnummer an. Es dauerte eine Weile, bis dieser sich meldete. „Was gibt es?“ kam es unwirsch von der anderen Leitung. „Erklärst du mir bitte, warum du dich von deinen Prokuristen vertreten lassen wirst und geschäftlich nicht mehr erreichbar bist? Was hat das zu bedeuten?“ „Ich muss mich gerade um mich selbst kümmern“, erklärte Leron kalt. „Ich habe es satt, immer nur alles totzuschweigen so wie du es zu tun pflegst. Ich brauche Zeit, um mir Hilfe zu suchen, weil ich nicht die Menschen verletzen will, die mir wichtig sind. Und es ist mir vollkommen egal, was du dazu sagst. Es ist mein Leben, also halte dich da raus!“ Doch Lionel versuchte nicht, seinen jüngsten Sohn abzuhalten oder ihm reinzureden. Wozu denn? Was war denn der größere Skandal? Dass man sich Hilfe suchte, oder dass Leron so wurde wie seine Mutter oder wie sein Bruder Michael? Lionel seufzte und kam zu dem Schluss, dass es sinnlos und auch für ihn selbst unvorteilhaft wäre, wenn sich diese Probleme weiter fortsetzten. Also lautete seine Antwort: „Wenn du dir professionelle Hilfe suchen willst, dann tu das ruhig. Solange du dich gedeckt hältst und es nicht an die große Glocke hängst, dann such dir meinetwegen einen Therapeuten oder Psychologen.“ „Du denkst doch nicht allen Ernstes, dass ich Lust auf das Geschwätz der Leute hätte.“ „Das hätte ich in der Tat nicht erwartet. Hast du über meine Worte noch mal nachgedacht, in Zukunft über eine Heirat nachzudenken?“ „Ich habe dir gesagt, wie ich dazu stehe“, kam es gereizt vom anderen Ende der Leitung. „Ich werde ganz sicher keine Frau heiraten oder Kinder in die Welt setzen. Erstens bin ich kein Familienmensch und zweitens kommt bei der genetischen Vorgeschichte nichts Gutes dabei heraus.“ Da musste Lionel ihm insgeheim zustimmen. Das Risiko, dass Lerons Kinder genauso werden könnten wie der Rest der Cohan-Familie, war sehr hoch, da er ja selbst sehr anfällig war, genauso wie Michael. Jordan war eine Ausnahme, aber konnte man sich darauf verlassen? Nein, es war viel zu riskant. „Na schön, wir reden ein anderes Mal weiter darüber. Bist du momentan in einer Beziehung?“ „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Nun wurde Leron wieder aggressiv und das wurde er immer dann, wenn man ihm zu nahe trat. Also doch. Er war mit jemandem zusammen und das machte Lionel neugierig. Bislang hatte sein jüngster Sohn noch nie eine ernsthafte Beziehung gehabt, weil er sich nicht unter Kontrolle bekam oder weil seine Partner nicht mit ihm umgehen konnten. Er hatte genauso antisoziale Eigenschaften wie Michael, aber es war bei weitem nicht so schlimm bei ihm. „Wenn du in einer wirklich ernsthaften Beziehung bist, werde ich meine Pläne vielleicht überdenken. Es geht mir nur um deine Zukunft und um die des Unternehmens.“ „Ich bin in einer Beziehung“, sagte Leron schließlich. „Und es war mir noch nie ernster. Also lass mich gefälligst mit deinen bescheuerten Heiratsplänen in Ruhe!“ Damit legte Leron auf und der alte vertraute Signalton verkündete, dass die Verbindung unterbrochen war. Lionel steckte sein Handy wieder ein und wandte sich Abigale zu. „Das wäre es dann fürs Erste. Seien Sie bitte so freundlich und rufen Sie den Chauffeur her.“ „Sie haben einen Termin?“ „Ein kurzer Besuch. Sagen Sie meinem Sohn Jordan, er soll das Meeting verschieben. Mein ältester Sohn soll zuallererst seine Untersuchung machen lassen, danach kann er immer noch kommen.“ „Wird sofort erledigt, Mr. Evans.“ Damit machte Abigale kehrt und verließ das Büro. Lionel sah ihr schweigend nach und erhob sich aus seinem Stuhl, merkte aber im selben Moment den Schmerz in seinem Knie. Als Katherine ihn mal mit ihrem Auto von der Straße abgedrängt hatte, weil er ohne ihr Wissen zum Golfen fahren wollte, war er gegen einen Baum gefahren und dabei hatte es ihm die Kniescheibe zertrümmert. Zwar war alles wieder verheilt, aber an manchen Tagen schmerzte es dennoch. Vor allem an diesem Tag. Er konnte sich gut vorstellen, dass seine Söhne heute das Grab ihrer Mutter besuchen würden. Zumindest vermutete er das bei Michael und Leron, bei Jordan war er sich da nicht allzu sicher. Er war nicht der Typ Mensch, der den Toten noch Jahre später nachtrauerte. Und was machte er? Nun, er würde an Lucys Grab fahren. Allerdings nicht auf dem Friedhof, sondern fernab in einem Wald, wo er und Katherine ihre Leiche vergraben hatten, um den Mord zu vertuschen. Er fragte sich, ob man wohl noch nach ihr suchen würde, oder ob sie schon für tot erklärt worden war. Es schmerzte ihn zu wissen, dass die Frau, die da seit langer Zeit im Wald verscharrt worden war und die er so sehr geliebt hatte, niemals angemessen bestattet werden konnte. Auch jetzt konnte er unmöglich etwas dazu sagen. Obwohl das Ganze inzwischen verjährt war und er nicht mehr wegen Beihilfe zur Vertuschung einer Straftat belangt werden konnte, sein Ruf wäre dennoch ruiniert und alles würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen. Nein, er würde Lucys Tod mit ins Grab nehmen, genauso wie er Katherines Geheimnis um ihr wahres Ich mit ins Grab nehmen würde. Manchmal hatte er schon daran gedacht, ob er nicht vielleicht noch mal neu anfangen könnte… eine neue Frau suchen und sie heiraten und mit ihr normale Kinder in die Welt setzen. Aber er hatte es nie wirklich in die Tat umgesetzt. Selbst nachdem seine Frau eingeäschert und beerdigt worden war, so war ihm immer noch, als wäre sie immer noch präsent. Ja, sie war es auch auf eine gewisse Art und Weise. Sie war durch ihre Kinder präsent und Lionel hatte gewusst, dass Michael nie im Leben zugelassen hätte, dass jemand für ihn die Stiefmutter spielen würde. Es hätte nur wieder böses Blut oder sogar Blutvergießen gegeben, wenn er es getan hätte. Und nachdem er nach Lucys grausamem Tod eh den größten Teil seiner Leidenschaft verloren hatte, kam für ihn auch so etwas ohnehin nicht mehr infrage. Und inzwischen war er sowieso zu alt für eine neue Frau geworden. Kapitel 19: Rückkehr zum Alltag ------------------------------- Nachdem das Wochenende vorbei war, hatte Leron sich bei seinen Prokuristen gemeldet und ihnen gesagt, dass er aus gesundheitlichen Gründen für eine gewisse Zeit nicht mehr kommen konnte. Gleich daraufhin hatte er seinen Hausarzt angerufen und einen Termin ausgemacht, um mit ihm zu reden. Simon begleitete ihn, um ihm beizustehen, denn er konnte sich gut vorstellen, dass es für Leron nicht leicht war, sich mit seiner Krankheit auseinanderzusetzen und offen zuzugeben, dass er ein Problem hatte. Dr. Morris, den Simon schon zu seinem Umzug kennen gelernt hatte, grüßte sie beide mit einem festen Händedruck und bat sie, Platz zu nehmen. „Was kann ich für Sie beide denn tun?“ fragte er und sah sie abwechselnd an. Simon winkte ab und erklärte „Ich glaube Leron ist eher derjenige, der Ihre Hilfe braucht, Doc.“ „Oh, was fehlt Ihnen denn, Mr. Evans?“ Leron atmete tief durch und musste sich erst sammeln, denn es fiel ihm nicht gerade leicht und war ihm auch ein Stück weit unangenehm. Dann aber begann er zu erzählen, dass er Stimmen in seinem Kopf höre und manchmal sogar Halluzination hatte. Und auch Simon schilderte seinerseits, wie er gesehen hatte, dass Leron mit sich selbst geredet hatte, dass er in einem Wutanfall auch einen Spiegel zerschlagen hatte und sehr darunter litt, dass diese Stimmen ihn terrorisierten. Dr. Morris hörte sich den Bericht an, stellte zwischendurch ein paar Fragen, um sich ein genaueres Bild zu machen und begann dann Lerons Augen zu untersuchen. Er brauchte nicht lange, um zu dem Schluss zu kommen, dass Leron höchstwahrscheinlich unter Schizophrenie litt. „Schizophrenie?“ fragte Simon zögerlich. „Ist das so eine permanente Sache?“ „Das kommt ganz auf den Grad und die Art der Schizophrenie an. Es gibt unbestimmte Formen, aber auch spezielle Arten. Um das genau festzustellen, müsste man einen Psychologen zu Rate ziehen. Aber so wie Sie den Sachverhalt schildern, ist der Fall eigentlich so gut wie klar.“ „Und wozu das mit den Augen?“ „Schizophreniekranke haben für gewöhnlich Schwierigkeiten, sich länger auf einen bestimmten Punkt zu konzentrieren. Ich werde Ihnen eine Überweisung ausstellen, da ich sehe, dass eine Behandlung bei Ihnen notwendig ist. Ich kann Ihnen Dr. Hemmingway empfehlen. Ich habe einige meiner Patienten an ihn überwiesen und habe bisher nur Gutes über ihn gehört.“ Damit schrieb Dr. Morris die Überweisung fertig und notierte auch die Telefonnummer und Adresse des Psychologen auf einen Zettel und gab ihn Leron. Gemeinsam verließen Leron und Simon nach einem recht kurzen Gespräch die Praxis und atmeten beide durch. Aber dann hakte sich Simon mit einem zufriedenen Lächeln bei ihm ein. „Siehst du?“ fragte er ihn. „War doch gar nicht so schlimm und du hast jetzt die Überweisung für den Psychologen. Jetzt musst du nur noch einen Termin bei ihm kriegen und dann hast du schon mal den nächsten Schritt geschafft.“ Leron lächelte und war froh, dass Simon ihn begleitet hatte. Alleine wäre es ihm wesentlich schwerer gefallen, diesen Schritt zu wagen, vor allem weil er Angst davor hatte, dass Dr. Morris vielleicht sagen könnte, dass man da nichts tun könne. Schizophrenie war es also. Er hatte immer gedacht, dass das diese Leute mit Verfolgungswahn wären, die sich ständig einbildeten, verfolgt oder beobachtet zu werden und dass überall Verschwörungen im Gange sein. Paranoide Schizophrenie war die einzige Form, die er bis dahin gekannt hatte. Aber nun stellte sich heraus, dass es auch Arten der Schizophrenie gab, wo man Stimmen hörte. Seine Krankheit hatte einen Namen und das machte es irgendwie auch leichter, es zu verstehen und zu akzeptieren. Er wusste jetzt zumindest, was ihm fehlte. Trotzdem klang es irgendwie beunruhigend. Was, wenn man ihn in eine psychiatrische Anstalt einwies? Was sollte dann aus seinem Unternehmen werden? Nein, das war doch völliger Schwachsinn. Er war durchaus imstande, seinen Alltag normal zu gestalten, er war ja nicht komplett geistesgestört und es würde sich schon eine ideale Lösung finden. Wichtig war nur, dass er jetzt endlich etwas gegen sein Problem tat und Hilfe zuließ. Nur so konnte er auch mit Simon auf die Dauer eine vernünftige Beziehung führen. „Ach echt? Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass man dich noch frei rumlaufen lässt, wenn erst mal rauskommt, wie deine Familie wirklich gestrickt ist. Die werden dich dann erst mal in die Anstalt einweisen und dann landet dein süßer kleiner Simon wieder auf dem Straßenstrich, wenn ich ihn mir nicht vorher wieder zurückhole.“ „Das hättest du wohl gerne, aber das wird nicht passieren!“ „Hörst du wieder deinen Bruder?“ fragte Simon und sah zu ihm auf. Leron seufzte und nickte. „Das war natürlich ein gefundenes Fressen für ihn und nun versucht er mir natürlich einzureden, dass sie mich einweisen werden.“ „Ach ignorier ihn einfach“, meinte der 21-jährige bestimmt und ging zusammen mit ihm zurück zur Limousine. „Als ob man dich wegen so etwas direkt einweisen wird. Ich glaube das würden die nur machen, wenn du eine ernste Gefahr für dich selbst und andere darstellst. Aber bisher hast du noch niemandem etwas getan. Nein, der Psychologe wird mit Sicherheit regelmäßig Termine mit dir vereinbaren und dir vielleicht irgendwelche Medikamente verschreiben, wenn sie notwendig sind. Du machst dir zu viele Sorgen.“ Gemeinsam stiegen sie in den Wagen und nachdem sie Platz genommen hatten, entspannte sich der Unternehmer ein wenig. Nachdem er Simon seine ganze Geschichte offenbart hatte, wirkte er immer noch ein wenig neben der Spur, aber wahrscheinlich lag es nur daran, weil er nicht wusste, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Das war natürlich nicht einfach für ihn und der Junge war bereit, ihm beizustehen und ihn mental zu unterstützen. Er konnte sich gut vorstellen, dass es für Leron unglaublich schwer war, diesen Schritt zu gehen und sich mit seinem Problem auseinanderzusetzen, vor allem weil er sich eh davor fürchtete, dass man ihm diagnostizierte, dass er genauso gefährlich und verrückt war wie sein Bruder Michael. „Bevor wir zurückkehren, fahren wir eben zum Friedhof“, erklärte Leron schließlich. „Heute ist der Todestag meiner Mutter und da will ich ihr Grab besuchen.“ „Wirst du da nicht auch deinen Brüdern über den Weg laufen?“ „Michael kommt immer am späten Nachmittag, weil er davor immer ein wichtiges Meeting hat. Deshalb gehe ich immer morgens, damit wir uns nicht über den Weg laufen. Und Jordan kommt nie zum Friedhof, er ist dafür nicht der Typ.“ „Und dein Vater?“ „Er war höchstens dabei, als unsere Mutter eingeäschert wurde und selbst da hatte es ihn völlig kalt gelassen.“ Es war deutlich herauszuhören, dass Leron ihm wohl schwere Vorwürfe machte. Simon hatte ja schon von ihm gehört, dass Lionel Evans sich nie um die Familie gekümmert hatte und nicht einmal dabei war, als seine Frau im Sterben lag. Da fragte er sich schon, warum die beiden dann überhaupt verheiratet gewesen waren, wenn der Ehemann nicht einmal die Miene verzog, wenn seine Frau sterbenskrank war. Aber Inzwischen wusste er ja, dass in der Familie Evans ziemlich viel schief lief. Bevor sie den Friedhof ansteuerten, hielten sie vor einem Blumenladen, wo Leron einen Strauß weißer Lilien kaufte, bevor sie dann weiterfuhren. Am Friedhof schließlich angekommen, stiegen sie gemeinsam aus und Simon folgte Leron den Weg entlang. Schon immer fand er die Atmosphäre auf Friedhöfen irgendwie unheimlich und er fühlte sich auch nicht sonderlich wohl dort. Trotzdem ging er weiter mit ihm und schließlich erreichten sie nach einer Weile ein Grab. Der Name „Katherine Evans“ war auf dem Grabstein zu lesen und das Grab selbst war schlicht gehalten, Leron legte den Strauß ans Grab und ging einen Schritt zurück. Schweigend stand er da und betrachtete den Grabstein. Simon nahm seine Hand und hielt sie fest. „Alles in Ordnung?“ fragte er vorsichtig. Leron nickte und drückte Simons Hand fester. „Ich brauche nur eine Weile, um mich an all das zu gewöhnen. Alles in Ordnung…“ Doch Simon spürte, dass der Unternehmer immer noch unruhig war und ihn diese ganzen Dinge nach wie vor beschäftigten. Die Frage war nur, was er tun konnte, um ihm diese ganzen Sorgen zu nehmen. Es musste doch irgendwie möglich sein, ihn aufzumuntern und ihm zu helfen. „Hey, wollen wir uns nachher noch einen schönen Tag machen? Irgendwie herrscht die ganze Zeit so eine bedrückte Stimmung, obwohl es doch keinen Grund gibt. Eigentlich sollten wir uns doch freuen, weil es dir bald besser gehen wird, oder nicht?“ Nun, eigentlich hat er ja Recht, dachte sich Leron. Er verhielt sich, als hätte Dr. Morris ihm gesagt, dass er nur noch wenige Monate zu leben hatte, dabei hatte er doch jetzt etwas Handfestes, wo er anfangen konnte und die Chance, seine Krankheit wirklich in den Griff zu bekommen. Es gab also keinen Grund, so ein Gesicht zu ziehen. „Klingt verlockend. Ich glaube, die letzte Lektion ist auch schon eine Weile her, nicht wahr? Na gut, dann lass uns wieder zurückfahren.“ Damit legte Leron einen Arm um Simons Schultern und ging mit ihm wieder zurück und gemeinsam verließen sie den Friedhof und fuhren zurück zur Villa. Der Gedanke an romantische und vor allem erotische Stunden mit Simon hatte seine Stimmung deutlich gebessert und er hatte auch schon erste Ideen, was er mit ihm anstellen könnte. Glücklicherweise war Anthony noch im Urlaub, so waren sie vollkommen ungestört. Vor allem würde er den Jungen dafür belohnen, dass er ihm beigestanden und ihn bestärkt hatte, sich Hilfe zu suchen. Inzwischen kannte er dessen Fetisch, auch wenn dieser wahrscheinlich noch nicht so wirklich registriert hatte, dass er einen hatte. Leron bemerkte erst einen Moment später, dass Simon ihn beobachtete und dann fragte dieser auch mit einem amüsierten Lächeln „Du hast schon irgendetwas im Hinterkopf, oder?“ „Natürlich. So schnell gehen mir die Ideen ja nicht aus. Vor allem nicht mit dir.“ „Jetzt frage ich mich gerade ernsthaft, ob ich mich geschmeichelt oder beschämt fühlen soll…“ Leron lachte und tätschelte seinen Kopf. Nachdem sie endlich wieder zurück waren und das Haus betraten, wies der Unternehmer ihn an, dass er in einer Viertelstunde in die Küche kommen sollte und nichts außer seinem Halsband tragen sollte. Als er den skeptischen Blick sah, beruhigte er ihn indem er erklärte „Anthony ist bis zum Ende der Woche noch im Urlaub, wir sind also ganz alleine in dem Haus. Und da das Gelände sehr groß ist, wird sowieso niemand zum Fenster reinschauen.“ Doch Simons skeptischer Blick blieb. Offenbar war es etwas anderes, was ihm zu denken gab. „Du stehst auf Sex in der Küche?“ „Warum nicht?“ fragte der Angesprochene. „Es ist ja mein Haus und da kann ich tun und lassen, was ich will. Und wenn ich Sex mit dir auf dem Sofa haben will, dann werde ich Sex auf dem Sofa mit dir haben. So einfach ist die Sache.“ Tja, dagegen konnte Simon nicht viel sagen. Und so ging er rauf, um schnell duschen zu gehen. Auch wenn ihr letzter Sex knapp zwei Tage zurücklag, kam es ihm wie eine gefühlte Ewigkeit vor, dass sie zuletzt intim waren. Es war ja danach auch viel passiert. Zuerst Lerons Geständnis über seine Krankheit und die Geschichte mit dem Loft und danach war die Stimmung erst mal so tief unten gewesen, dass keinem wirklich nach Zärtlichkeiten zumute war. Die Zeit hatten sie meistens mit Reden verbracht, aber nun war es Zeit, dass sie wieder zu ihrem Alltag zurückkehrten und versuchten, diese ganzen Dinge hinter sich zu lassen und das Beste aus der Situation zu machen. Nachdem er seine Haare getrocknet hatte, verließ er die Dusche und ging sein Halsband holen und legte es sich um, bevor er hinunter ging. Normalerweise war er ja nicht so verklemmt, aber nackt durch das ganze Haus zu laufen, war für ihn doch etwas seltsam. Naja, Leron hatte ihm genaue Anweisungen gegeben und er würde sie befolgen. So einfach war die Sache. Und solange sie alleine im Haus waren, war das auch kein Problem. Es wäre für ihn schon sehr befremdlich gewesen, wenn Anthony ihn so gesehen hätte. Der nette Butler aus England kam ihm schon fast wie eine Art Großvaterfigur vor und da wollte er es möglichst vermeiden, dass dieser unbedingt mitbekam, was er und Leron so trieben. Nackt und mit nichts außer dem Lederhalsband ging Simon in die Küche, wo Leron schon auf ihn wartete. Dieser Blick, der ihn musterte, verursachte bei ihm eine Gänsehaut und er war voller Erwartung, was für ihn nun geplant war und was ihm bevorstand. Dann aber warf Leron ihm etwas zu und als er es sich genauer ansah, erkannte er, dass es eine Schürze war. Sollte das jetzt etwa eine Art Rollenspiel werden? Mit einem skeptischen Blick schaute er zu dem Unternehmer hoch, doch der wies ihn nur an, die Schürze anzuziehen. Also gehorchte Simon und legte sie sich um. Und zu seinem inneren Entsetzen war es eine dieser kitschigen Hausfrauenschürzen mit Rüschen. Gott, der Kerl hatte wirklich eine perverse Fantasie. Aber das war es irgendwie auch, das sein Herz noch höher schlagen ließ: zu wissen, dass Leron auf der einen Seite liebevoll, einfühlsam und fürsorglich und dann auf der anderen Seite tabulos, dominant und kreativ im erotischen Bereich sein konnte. Er hatte viele verschiedene Seiten und es wurde somit nie langweilig. „Hattest du keine… passenderen Schürzen?“ fragte er trotzdem nach, doch insgeheim ahnte er schon die Antwort. „Wieso? Sie passt doch zu dir.“ War ja klar. Nun stand Simon mit einer recht femininen Kochschürze da und fragte sich, was jetzt folgen würde. Und Leron ließ nicht lange mit einer Erklärung auf sich warten. Und sein Lächeln ließ erahnen, dass er sich so einiges ausgedacht hatte. „Wir hatten noch kein Mittagessen, nicht wahr? Da du die letzten Jahre alleine gewohnt hast, kann ich ja davon ausgehen, dass du kochen kannst, oder?“ Etwas zögerlich bejahte er die Frage, allerdings begann er sich nun doch zu wundern. Sollte er Leron jetzt bekochen oder wollten sie nicht miteinander in der Küche Sex haben? Entweder war er gerade ziemlich schwer von Begriff oder der Unternehmer hatte sich etwas recht ausgefallenes für heute ausgedacht. Nun wies Leron auf die Arbeitsplatte der Küchenzeile, wo Gemüse lag. „Du wirst das Essen heute vorbereiten.“ Immer noch verwirrt und ratlos stand Simon da, aber dann folgte er der Anweisung und schnappte sich die Paprika und begann sie nun unter dem aufgedrehten Wasserhahn abzubrausen. Nachdem er auch die Tomaten mit klarem Wasser abgespült hatte, begann er die Karotten zu schälen und ihm entging nicht, dass Leron dabei die ganze Zeit neben ihm stand und ihn beobachtete. Was zum Henker hatte dieser nur wieder vor? Gerade als er damit anfangen wollte, die Karotten klein zu schneiden, spürte er plötzlich Lerons Hand an seinem Hintern und hielt inne, doch da hörte er auch schon seine Stimme dicht an seinem Ohr, die ihn aufforderte „Mach weiter.“ Also versuchte sich Simon wieder auf das Schneiden zu konzentrieren, doch so einfach war das nicht, denn Lerons Hand ließ nicht von ihm ab und brachte ihn vollkommen durcheinander. Verdammt, wie sollte er sich denn bei so etwas konzentrieren? Simon biss sich auf die Lippe und versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Aber dieser Mistkerl ließ ihm gar nicht die Chance. Unaufhörlich streichelte und knetete diese Hand sein Gesäß und das Schlimmste war, dass sein Körper so stark darauf reagierte. Es erregte ihn und er wusste nicht, wie er seine Aufgabe denn meistern sollte, wenn Leron die ganze Zeit an seinem Arsch herumfummelte. Das Blöde an dieser dämlichen Schürze war ja, dass sie zwar vorne alles abdeckte, aber von hinten hatte Leron den besten Blick und darauf hatte dieser Teufel wahrscheinlich abgezielt. Als die Karotten geschnitten waren, wollte Simon als nächstes die Paprika entkernen, doch als er spürte, wie sich Lerons Finger durch seinen Schließmuskelring schoben, da rutschte ihm das Messer ab und er verschnitt versehentlich das Gemüse. Leron verpasste ihm daraufhin einen Klaps auf den Hintern als kleine Strafe dafür. „Hat dir niemand beigebracht, dass man verantwortungsvoll mit Lebensmitteln umgehen soll?“ „Wie soll ich denn vernünftig arbeiten, wenn du so etwas mit mir machst?“ protestierte er, doch Leron blieb unnachgiebig. „So läuft dieses Spiel nun mal.“ „Das zahl ich dir zurück“, knurrte der 21-jährige gespielt beleidigt. „Pass bloß auf. Ich weiß nämlich, wo dein Bett schläft!“ „Bist ja oft genug schon drin gewesen. Und jetzt mach mit deiner Aufgabe weiter. Ich habe nämlich Hunger.“ Mit Sicherheit ist er nicht nur hungrig auf ein Mittagessen, dachte er sich und versuchte sein Missgeschick irgendwie zu retten und tatsächlich gelang es ihm halbwegs, doch da spürte er auch schon wieder, wie Lerons Finger tief in ihn eindrangen und sich zu bewegen begannen. Verdammt, dieser Mistkerl wusste doch, dass er davon ganz wild wurde. Nur allzu deutlich spürte er, wie er hart wurde und diese Stimulation brachte ihn immer wieder aus dem Konzept. Immer wieder jagten heiße Schauer der Lust durch seinen Körper und er war nicht imstande, seine Bewegungen vernünftig zu koordinieren. Sein Atem wurde geräuschvoller und er spürte, dass sein Penis inzwischen steinhart sein musste. Wie zum Teufel sollte er sich denn da auf das Kochen konzentrieren, wenn sein Körper danach verlangte, hier und jetzt durchgenommen zu werden. Das Schlimmste war, dass er sich nicht einmal dagegen wehren konnte. Leron wusste genau, wie er es am liebsten hatte und wie er ihn allein auf diese Weise zu seinem Höhepunkt treiben konnte. Schließlich entfernten sich Lerons Finger, doch dafür spürte er, wie etwas Hartes gegen sein Gesäß drückte. Und das sagte deutlich mehr als tausend Worte und vielleicht konnte er das ja für sich nutzen. Deshalb wagte er den Versuch und schlug vor: „Warum verschieben wir das Essen nicht noch ein wenig?“ Daraufhin hörte er ein amüsiertes Schnauben und zur Antwort kam die Bemerkung: „Du meinst also: erst das Dessert und dann der Hauptgang? Das ist aber nicht sonderlich gesund.“ „Scheiß drauf.“ „Na gut, dann beug dich noch etwas vor und spreiz deine Beine.“ Simon folgte seiner Aufforderung und stützte seine Arme auf der Arbeitsfläche ab und keuchte auf, als Leron in ihn eindrang. Für einen Moment hatte er das Gefühl, er würde schon allein davon kommen, doch er konnte sich noch zusammenreißen. Er wollte noch nicht so schnell zum Höhepunkt kommen. Er wollte es genießen und den Moment voll und ganz auskosten. Auch wenn eine Küche nicht gerade vergleichbar mit einem Schlafzimmer war, hatte es irgendwie etwas. Es fühlte sich unanständig und gleichzeitig verboten heiß an. Eine Hand drückte seinen Oberkörper auf die Arbeitsfläche und hielt ihn mit unwiderstehlicher Kraft dort. Wie ein Raubtier, das seine Beute auf dem Boden festnagelte, bevor es sie verschlang. Simon ließ sich bereitwillig niederdrücken und dominieren. Es war auch eine der Seiten, die er an Leron liebte. Diese starke und unwiderstehliche Dominanz, gepaart mit einer unbeschreiblichen Leidenschaft. Nun verlor er endgültig das letzte bisschen Willenskraft. Er schaffte es nicht, seinen Orgasmus zurückzuhalten und keuchte laut auf, als ein heftiger Stromstoß durch seinen Körper ging. Leron stieß hart und tief in ihn hinein und an seinem Atem war auch deutlich zu hören, dass er sich seinem Limit näherte. Eine heiße Flut durchströmte Simons Innerstes, als Leron zu seinem Orgasmus kam und selbst als sich dieser aus ihm entfernte, verharrte Simon noch einen Moment lang in dieser Position, während das Nachbeben der Lust langsam abebbte. Simon hatte die Küchenschürze ausgezogen, die er vollkommen eingesaut hatte und säuberte sich oberflächlich mit ein paar Papiertüchern. Leron seinerseits betrachtete das geschnittene Gemüse und nahm dabei ein Karottenstück unter die Lupe welches sehr unglücklich geschnitten war. „Also das Schneiden musst du wirklich noch üben. Das kriege selbst ich besser hin.“ „Du bist doch Schuld daran, dass ich nicht vernünftig arbeiten konnte!“ kam es frech zurück, doch Leron lächelte nur und hob Simons Kinn, um ihn zu küssen. „Als ob du keinen Spaß dabei gehabt hättest. Du kannst dir ruhig etwas anziehen gehen. Ich mache mit dem Essen weiter.“ Erstaunt hob Simon die Augenbrauen. Er hatte nicht gedacht, dass Leron wirklich kochen konnte. Naja, es konnte ihm auch ganz recht sein, denn komplett nackt zu kochen oder die eingesaute Schürze zu tragen, erschien ihm nicht sonderlich hygienisch. Also ging er zurück in sein Zimmer und zog sich an. Dabei musste er sich den Anblick vorstellen, wie Leron am Herd stand und kochte. Irgendwie passte das Bild nicht und tatsächlich bestätigte sich dies auch, als er fertig angezogen in die Küche kam und sah, wie Leron mehr schlecht als recht das Essen zubereitete. Tja, ein reicher Unternehmer konnte nicht unbedingt alles. Also übernahm Simon das Kochen und wies den ungeübten Koch an, sich zu setzen. „Du hast fast alles anbrennen lassen“, kommentierte er kopfschüttelnd. „Hast du überhaupt Ahnung vom Kochen?“ „Ich kann Nudeln kochen“, antwortete Leron und sie mussten beide darüber lachen. „Bis jetzt hatte Anthony sich um den Haushalt gekümmert, da hatte ich das nicht lernen müssen.“ „Dann werde ich dir mal ein paar Kochstunden geben!“ beschloss der Brünette spontan und setzte nun das Wasser für die Nudeln auf. „Schaden kann es ja nicht und wenn du sowieso fürs erste krankgeschrieben bist, kann ich dir mal zur Abwechslung etwas beibringen.“ „Meinetwegen“, meinte der 31-jährige mit einem lässigen Schulterzucken und man sah ihm an, dass er etwas ganz anderes im Kopf hatte. Nun, solange sie beide ihren Spaß dabei hatten, war es auch egal. Kapitel 20: Der Termin ---------------------- Simon hatte die Nacht kein Auge zugemacht und war am nächsten Morgen dementsprechend übernächtigt und nicht ganz bei der Sache. Kein Wunder, immerhin war heute der Gesprächstermin mit dem Augenarzt Dr. Dawson, der eventuell der Einzige war, der ihm helfen konnte. Nachdem er sich geduscht und angezogen hatte, ging er hinunter in die Küche und hörte schon im Flur Leron reden. Zuerst fürchtete er, er würde wieder mit der Stimme in seinem Kopf reden, doch zu seiner Erleichterung handelte es sich um ein Telefonat. Da der Unternehmer ruhig sprach und ziemlich ernst klang, schien es wohl kein Geschäftstelefonat zu sein. Um ihn nicht weiter zu stören, setzte sich Simon und machte sich sein Frühstück. Dann schließlich war Leron fertig mit seinem Telefonat und steckte sein Handy in die Hosentasche. Er grüßte Simon und merkte an: „Du siehst ziemlich müde aus. Schlecht geschlafen?“ Ein Nicken kam zur Antwort und der Gefragte gestand, dass er fürchterlich nervös wegen dem bevorstehenden Termin war. Leron tätschelte mit einem verständnisvollen Lächeln seinen Kopf. „Kann ich gut verstehen. Aber mach dich nicht verrückt. Es ist erst mal nur ein Beratungsgespräch und da ich schon die Forschung für deine Augenoperation finanzieren werde, will ich eben auch, dass er mir ausführliche Informationen dazu erteilt und das wird er in diesem Beratungsgespräch tun. Hauptsächlich darum wird es gehen. Überlass die Details ruhig mir.“ „Okay…“, murmelte er und aß sein Brötchen. „Mit wem hast du gerade eben eigentlich telefoniert?“ „Mit dem Psychologen, der mir empfohlen wurde. Übernächste Woche habe ich meinen Termin für das Aufnahmegespräch. Und dann wird er mir hoffentlich auch sagen können, wie ich dieses lästige Problem in den Griff kriegen kann.“ „Mit Sicherheit. Hörst du eigentlich immer noch die Stimme in deinem Kopf?“ „Ab und zu. Ich höre sie nicht rund um die Uhr, aber abstellen kann ich sie bedauerlicherweise auch kaum.“ Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie es wohl war, ständig Stimmen im Kopf zu hören und dann auch noch nicht einmal zu erkennen, dass sie nicht existierten. Aber andererseits hatte Leron ihm auch erklärt, dass er nicht in der Lage war, so etwas zu differenzieren, weil sie für ihn real waren. Als sie sich näher darüber unterhalten hatten, da hatte er es ihm ziemlich überzeugend geschildert gehabt, wie leicht man sich täuschen ließ. Und da das Gehirn ja sehr beeinflussbar war und nicht zwischen Realität und Illusion unterscheiden konnte, merkte man meist gar nicht, dass man ein ernstes Problem hatte. Für die Menschen, die Halluzinationen hatten, war es so real, als würde es wirklich passieren, weil ihr eigener Verstand ihnen etwas vorgaukelte. Und ein wenig musste sich Simon an eine Serie erinnern, die er sich letztens erst angeschaut hatte und wo es um einen Menschen ging, der selber schizophren war. Dieser hatte gesagt, dass die Realität nichts weiter als ein Produkt der eigenen Fantasie sei. Denn das Gehirn machte keinen Unterschied, woher also sollte man also wissen, was Halluzination und was Realität war? Und diese Ansicht könnte man so weit führen, dass man sich genauso gut fragen konnte, ob es überhaupt mental gesunde Menschen gab, oder ob nicht jeder Mensch auf der Welt verrückt war und es einfach nur nicht erkannte. Die Theorie war interessant, aber auch beängstigend. Knapp eine Stunde später fuhren sie zur Praxis von Dr. Dawson. Im Wartezimmer war nicht viel los, lediglich ein junger Mann, knapp ein paar Jahre älter als Simon. Er hatte mehrere Piercings und seine Handrücken und Arme waren tätowiert. Sein Haar war schwarz und die Spitzen rot gefärbt. In einer etwas seltsamen Haltung saß er auf dem Stuhl, kaute einen Kaugummi und hatte die Kapuze seiner roten Jacke hochgezogen. Unter der Jacke trug er einen schwarzweiß gestreiften Pullover und eine zerschlissene schwarze Hose, dazu passende schwarze Stiefel mit Nieten. Er wirkte nicht gerade vertrauenswürdig, insbesondere nicht mit den vielen Totenkopfringen und als Simon ihn sah, blieb er abrupt stehen und schien dem Typ, der knapp 25 Jahre alt sein könnte, nicht zu trauen. Leron machte den Anfang und ging zu dem Kerl und fragte ihn ganz unverbindlich „Wollen Sie auch zu Dr. Dawson?“ „Yupp“, bestätigte der Kaugummi Kauende und grinste. „Er meinte, es gäbe da jemanden, der dasselbe Problem hat wie ich.“ Langsam sah er auf und erschrocken hielt Simon den Atem an und konnte nicht glauben, was er da sah. Die Augen seines Gegenübers waren genauso wie seine. Eine blassgraue fast weiße Iris und nicht erkennbare Pupillen, weshalb die Augen aus der Entfernung vollkommen weiß aussahen. Für einen Moment er sich, als wäre er in einen verrückten Traum geraten. Seit wann gab es denn noch jemanden, der dieselbe Augenmutation hatte wie er? Er hatte immer angenommen, dass er der einzige Mensch auf der gesamten Welt wäre. Auch Leron sah geschockt aus und starrte den jungen Mann ungläubig an, der sich nun von seinem Stuhl erhob und ihnen die Hand reichte. „Mein Name ist Cypher Grant, freut mich.“ „S-Simon Cavanaugh…“, murmelte der 21-jährige verdattert und erwiderte den Händedruck. Immer noch war er vollkommen perplex und verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Warum tauchte auf einmal ein Typ auf, der dieselben Augen hatte wie er? Konnte das ein Zufall sein? „Ich… ich verstehe nicht ganz…“ „Ist auch für mich eine Überraschung“, gestand Cypher und setzte sich wieder. Allerdings wirkte er nicht so perplex und überrascht wie sein Gegenüber. „Immerhin dachte ich, ich wäre der Einzige mit diesem Problem. Aber wie es aussieht, scheinen wir beide genau dasselbe zu haben. Und wer ist das? Dein großer Bruder?“ „Sein Freund“, korrigierte Leron mit etwas Nachdruck, doch Cypher reagierte mit einem Lächeln und entschuldigte sich knapp, doch sein Tonfall klang nicht danach, als wäre es ihm sonderlich ernst. Er machte einen etwas zwielichtigen Eindruck, aber es konnte auch ein wenig an seinem Aussehen liegen. Nun setzten sich auch die beiden und zögerlich fragte der 21-jährige: „Wie alt sind Sie eigentlich?“ „25 Jahre“, antwortete Cypher. „Und du kannst mich ruhig duzen. So alt bin ich ja noch auch wieder nicht.“ „Und haben andere in deiner Familie auch solche Augen?“ „Kein Plan, hab meine Familie nie kennen gelernt. Genauer gesagt bin ich in einem Kloster aufgewachsen. Sieht man mir nicht an, oder?“ Er ist vier Jahre älter, hat dieselben Augen und ist ebenfalls ohne Familie aufgewachsen, dachte sich Simon. Es konnte ein merkwürdiger Zufall sein, aber wäre es nicht vollkommen verrückt, wenn da vielleicht eine Verbindung existieren könnte? Unsicher schwieg er, doch Cypher seinerseits erzählte seelenruhig weiter. „Eigentlich haben mich diese Gottesanbeter auf Bartholomew Jacobus Grant getauft, aber der Name war so mies, dass ich ihn habe umändern lassen. Und Cypher klingt meiner Meinung nach wesentlich besser. Ich bin frei schaffender Künstler und als ich meine Augen mal untersuchen ließ, hieß es, dass es noch jemanden gäbe und dass die Möglichkeit besteht, dass es bald eine Behandlungsmethode geben könnte.“ Simon wandte sich mit einem fragenden Blick an Leron, doch dieser hatte nur seine Miene verfinstert und schien diesem Kerl wohl nicht ganz zu trauen. Und wahrscheinlich wunderte er sich auch, was Cypher hier zu suchen hatte, denn eigentlich sollte es ein Beratungsgespräch zwischen ihm und Dr. Dawson werden. Für ihn stand fest, dass er auf jeden Fall mit dem Doktor ein paar Takte reden würde. Kurze Zeit später wurden sie von der Sprechstundenhilfe abgeholt und in das Untersuchungszimmer des Augenarztes geführt. Auch Cypher folgte ihnen und als er sich zu seiner ganzen Größe aufrichtete, stellte sich heraus, dass er fast so groß war wie Leron. Er folgte ihnen, während er die Hände in den Jackentaschen vergraben hatte und schien sich nicht sonderlich an Lerons kaltem Blick zu stören. Als sie das Zimmer betraten, brachte die Sprechstundenhilfe ihnen einen weiteren Stuhl für Cypher und Dr. Dawson begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck. Nachdem sie sich setzten, kam Leron direkt zum Punkt und fragte „Wieso ist er hier? Es war vereinbart worden, dass es ein Beratungsgespräch sein wird und Sie haben mich nicht über weitere Teilnehmer informiert.“ Leron klang ziemlich ungehalten und mit einem strengen Blick sah er Dr. Dawson an, der sich sofort entschuldigte und erklärte „Mr. Grant ist erst seit kurzem mein Patient und ich konnte Sie bedauerlicherweise nicht erreichen. Die Untersuchungen haben ergeben, dass Mr. Grant über exakt die gleiche Anomalie aufweist wie Mr. Cavanaugh und dank einiger Tests habe ich auch neue Erkenntnisse über diese außergewöhnliche Anomalie gewinnen können, um eine genauere Diagnose zu erstellen als vor vier Jahren. Diese ungewöhnliche Augenfarbe ist entweder durch einen genetischen Defekt, oder durch eine zufällig auftretende Mutation verursacht worden. Diese Anomalie liegt in den Stromata, einer dünnen Schicht auf der Iris, die auch als Regenbogenhaut bezeichnet wird. Dort liegen die Pigmentzellen. Es gibt ein Verfahren, welches durch einen Lasereingriff möglich macht, die Iris aufzuhellen, indem die Stroma entfernt wird.“ „Und was heißt das jetzt?“ wollte Leron wissen. Dr. Dawson räusperte sich kurz und erklärte „Bei Säuglingen kann das Phänomen auftreten, dass sie mit blauen Augen zur Welt kommen, sich die Farbe aber ändern kann. Der Grund dafür ist, dass diese Regenbogenhaut noch nicht ausgereift ist und sich erst im späteren Verlauf verdichtet und das entsprechende Melanin produziert wird, sodass die Augen braun werden. Die Grundbasis ist aber immer blau. Dass Mr. Cavanaugh und Mr. Grant problemlos sehen können, obwohl selbst die Pupillen augenscheinlich über keine Pigmentierung verfügen, liegt darin, dass streng genommen eine Melaninanomalie vorliegt. Vereinfacht ausgedrückt heißt das: normalerweise ist der Melaninfarbton in den Augen beispielsweise braun oder blau. Im Fall von Mr. Cavanaugh und Mr. Grant ist der produzierte Farbton weiß. Darum wirken auch die Iris und die Pupille weiß: weil die richtige Farbe durch den weißen Schleier in der Stroma verdeckt wird. Es gibt eine Laserbehandlung, durch welche das Stroma abgelöst wird, sodass die Augenfarbe verändert werden kann. Allerdings liegt das Problem in diesem Fall in der Pupille: das Risiko liegt darin, dass durch die Laserbehandlung der Sehnerv geschädigt wird, da der Laser direkt den visuellen Bereich behandeln würde. Eine alternative Vorgehensweise war die Herstellung eines Medikaments, wodurch das Stroma vollständig abgelöst wird. Allerdings war das Testmedikament sehr aggressiv und es bestand ein hohes Erblindungsrisiko dar. Vor vier Jahren stellten diese beiden Verfahren noch die einzig denkbaren Behandlungsmethoden dar, weil diese Krankheit bis dato einzigartig war und die finanziellen Mittel für nähere Forschungen und Tests fehlten. Nachdem vor ein paar Wochen Mr. Grant zu mir kam, konnte ich neue Erkenntnisse über dieses Krankheitsbild gewinnen und da die medizinische Forschung in den letzten vier Jahren auch im Bereich der Augenbehandlung große Fortschritte gemacht hat, kann ich nun eine Behandlungsmethode in Erwägung ziehen, die wesentlich erfolgreicher wäre. Meine Idee besteht darin, ein Medikament zu entwickeln, welches ich in die Stromata injizieren werde, um das Melanin abzubauen. So blieben die Stromata intakt, allerdings würde der weiße Farbstoff vollständig abgebaut werden, sodass die Grundaugenfarbe zum Vorschein kommt.“ Simon versuchte das Ganze nachzuvollziehen und sich das alles vorzustellen. Doch bevor er weiter nachhaken konnte, kam Leron zuvor: „Und wie hoch ist das Erblindungsrisiko bei dieser Behandlung?“ „Bei weniger als 10%“, antwortete Dr. Dawson mit überzeugender Selbstsicherheit. „Die Stromata bleiben vollkommen intakt, lediglich der weiße Farbstoff wird vollständig abgetragen, sodass kein Farbstoff mehr zurückbleibt. Somit würde auch der Sehnerv nicht angegriffen werden.“ „Dann heißt das, sie wird vollkommen durchsichtig“, schlussfolgerte Cypher und grinste breit. Er schien sich ziemlich darüber zu freuen, dass tatsächlich eine risikofreie Behandlung möglich war, die alternativ zur Laserbehandlung durchgeführt werden konnte, ohne den Sehnerv zu schädigen. Auch das bestätigte Dr. Dawson und dann wandte er sich an Leron. „Da das Mittel nach der Fertigstellung noch getestet werden muss, werden einige Versuchsreihen durchgeführt werden müssen. Mr. Grant hat sich hierzu als Testperson angeboten, bevor ich Mr. Cavanaugh auf die gleiche Weise behandle. Somit kann ich die Rate des Erfolges genau bestimmen und möglicherweise verbessern, wenn ich die Ergebnisse bei Mr. Grant ausgewertet habe.“ Bedächtig nickte der Unternehmer und begann nachzuvollziehen, was es mit den hohen Kosten auf sich hatte: zum einen für die Forschung für die Entwicklung dieses Mittels und zum anderen, um die Tests zu finanzieren. Sein Blick wanderte zu Cypher, der immer noch seinen Kaugummi kaute und der Gedanke kam ihm, dass dieser zwielichtige Kerl sich tatsächlich bereit erklärte, das Versuchskaninchen zu spielen und sogar Risiken in Kauf zu nehmen. Ob Cypher auch so viele Probleme mit seinen Augen hatte wie Simon? Warum hatten beide überhaupt dieselbe Anomalie? Das waren doch merkwürdige Zufälle und so wie er Simon inzwischen kannte, war ihm dies auch schon längst aufgefallen. „Und du willst dich wirklich als Testperson zur Verfügung stellen?“ „Warum nicht?“ erwiderte Cypher mit einem Schulterzucken. „Ist vielleicht meine einzige Chance und ich hab nicht genug Kohle, um das alles aus eigener Tasche zu bezahlen. Und wenn ich mir die Kosten sparen kann, indem ich das Versuchskaninchen spiele, warum sollte ich nein sagen?“ Nun, das war auch ein Argument und Leron konnte das nachvollziehen. Aber eines beschäftigte ihn noch und das wollte er von Dr. Dawson erfahren. „Wie kann es sein, dass es zwei Menschen gibt, die exakt das gleiche genetisch bedingte Augenproblem aufweisen?“ „Tja, das ist nicht einfach festzustellen“, gestand der Augenarzt. „Es kann eine erblich bedingte Mutation sein, oder sie wurde durch Medikamente oder Schadstoffe ausgelöst.“ Nachdem das Gespräch mit Dr. Dawson, der nun mit der Forschung nach dem Mittel beginnen wollte, vorbei war, fasste sich Simon ein Herz und fragte Cypher, ob er nicht vielleicht Zeit für ein Gespräch hätte. Der 25-jährige zuckte mit den Schultern und antwortete „Klar, gerne!“, woraufhin sie in ein Café gingen. Sie setzten sich in eine hintere Ecke, wo sie in Ruhe miteinander reden konnten. Während Leron sich einen Kaffee bestellte, entschied sich Simon für eine Cola und Cypher für einen Pfefferminztee. Lässig lehnte sich der Gepiercte zurück und fragte schließlich „Also, was kann ich für euch tun?“ Doch Simon zögerte noch ein wenig mit seinen Fragen und schien sich nicht ganz sicher zu sein, was er fragen sollte. Es war immerhin nur ein schwacher Verdacht, auch wenn er wusste, dass es vielleicht nur ein Zufall sein konnte. Aber ein kleiner Funken Hoffnung bestand ja doch und um mehr Gewissheit zu bekommen, sollte er einfach mal nachfragen. „Wie kommt es eigentlich, dass du in einem Kloster aufgewachsen bist?“ „Bin kurz nach meiner Geburt ausgesetzt worden“, erklärte Cypher. „Über meine Familie habe ich nie etwas erfahren und die Mönche dort wussten auch rein gar nichts. Dementsprechend gab es keinerlei Informationen über meine Herkunft“ „Und was hast du danach gemacht?“ „Ich bin an die Uni gegangen und hab studiert. Seitdem bin ich Künstler“, erklärte der 25-jährige und begann einem Unterlippenpiercing zu spielen. Von der Aufmachung her sah er fast wie ein Punk aus und durch diesen außergewöhnlichen Look entstand bei längerer Betrachtung der Eindruck, als wären die Augen ein Teil davon. Cypher hatte auf seine Weise sein Aussehen an seine Augen angepasst. Nun beugte er sich vor und schaute Simon prüfend an. „Und was ist mit dir?“ „Bin im Heim aufgewachsen“, gestand der Angesprochene. „Ich ging schon während der High School jobben, um Geld für den Eingriff zu verdienen. Leron ist seinerseits Unternehmer und mein Freund. Er hat angeboten, mich zu unterstützen, um die Behandlung zu bezahlen.“ „Schon merkwürdig, was?“ stellte Cypher fest und hob die Augenbrauen. „Wir sind beide ausgesetzt worden und haben dieselbe Krankheit. Wäre ja noch verrückter, wenn wir am Ende noch irgendwie verwandt wären, was?“ Ja, das war auch Simons Gedanke und auch wenn dieser Cypher irgendwie ein schräger Vogel war und einen etwas unheimlichen Eindruck machte, hoffte etwas in ihm, dass er vielleicht ein Verwandter sein könnte. Sein ganzes Leben hatte sich Simon gefragt, woher er kam, wer er wirklich war und ob er irgendwo eine Familie hatte. Aber es hatte nie einen Hinweis gegeben und eventuell war Cypher seine einzige Chance. Wenn ihre Augenanomalie tatsächlich erblich bedingt war, dann wäre es doch wahrscheinlich, dass sie eventuell miteinander verwandt waren. Zumindest war es doch auffällig, dass sie beide in einem Heim aufgewachsen waren. „Meinst du, man könnte herausfinden, ob wir irgendwie verwandt sind?“ „Mit Sicherheit“, meinte Cypher und trank seinen Tee aus. „Wenn es schon diese Vaterschaftstests gibt, dann muss es doch eine Möglichkeit geben, unsere DNA miteinander zu vergleichen und zu prüfen, ob es irgendwo Übereinstimmungen gibt.“ „Und wo kann man so etwas machen?“ „Kein Plan, aber normalerweise findet man ja im Internet die nötigen Antworten. Ich schau mal kurz nach…“ Cypher holte aus seiner Hosentasche ein Handy hervor und begann nun nachzusuchen. Er brauchte aber nicht lange, um die Adresse eines Instituts zu finden, das solche Tests durchführte und wo man kostenlos Sets beantragen konnte, mit der die DNA-Proben sichergestellt werden konnten. Sie vereinbarten, die Kosten dieser Untersuchung zu teilen und Cypher beantragte direkt ein solches Set und gab seine Anschrift an. „Wenn das Paket angekommen ist, ruf ich dich einfach an. Wäre cool, wenn du mir deine Nummer geben könntest.“ Sie tauschten daraufhin die Nummern aus und unterhielten sich ein wenig. Simon wollte unbedingt mehr über Cypher herausfinden, der möglicherweise die einzige Spur zu seiner Familie sein konnte. Trotzdem war er anfangs noch recht überrumpelt, dass jemand, den er im Grunde gar nicht kannte und dieser ihn genauso wenig, so plötzlich mit dem Vorschlag eines DNA-Testes ankam. Aber so wie dieser Kerl wirkte, schien er relativ entspannt und offen zu sein. Leron hielt sich die ganze Zeit über sehr zurück und sein Blick, den er Cypher zuwarf, war alles andere als freundlich. Er konnte nicht genau sagen, ob es Eifersucht war, oder vielleicht einfach nur Misstrauen, weil dieser Typ so zwielichtig aussah. Ihm war es lieber, wenn Simon sich von diesem Kerl fernhielt, denn so wie der sich gab, war er verdächtig. Er wirkte wie jemand, der garantiert etwas auf dem Kerbholz hatte. „Gut beobachtet, Ronnie. Du hast ja am eigenen Leib erfahren, wie große Brüder so sind. Willst du deinem kleinen Liebling das Gleiche zumuten? Dieser Cypher ist nicht ganz koscher und garantiert hat er ein paar Leichen im Keller. Du wirst schon sehen!“ Aber war es wirklich richtig, sich da einzumischen? Der Junge war sein ganzes Leben allein gewesen und er hatte nicht einmal Verwandte oder Familie. Es war nur verständlich, wenn er diesen Strohhalm ergriff, um etwas über seine Herkunft zu erfahren. Da war es doch nur richtig, wenn er ihn unterstützte. Aber trotzdem traute er diesem Cypher nicht. Allein wie er aussah und sich verhielt, war er einfach nur seltsam und deshalb wollte er Simon lieber nicht alleine lassen. Wer weiß ob dieser Typ nicht vielleicht irgendwelche Vorstrafen hatte oder gefährlich war. Wenn Cypher sich als Testperson für Simons Behandlung zur Verfügung stellte, dann war das schön und gut, das rechnete er ihm auch an. Allerdings missfiel es ihm einfach, wie angeregt sich die beiden gerade miteinander unterhielten. „Warum lässt du das zu, hm? Er ist immerhin dein Freund und er gehört dir und niemandem sonst. Und wenn dieser Cypher das nicht kapiert, dann musst du ihn spüren lassen, dass Simon dein Besitz ist.“ Ein eisiger Schauer durchfuhr Leron, als er das hörte. Es war nicht Michaels Stimme, die er da hörte und das war ihm schon seit vielen Jahren nicht mehr passiert. Es war eine vollkommen andere Stimme und sie machte ihm Angst, denn sie klang eiskalt und absolut bösartig. Eine Weile saß er da und starrte ins Leere, bis er dann aus seiner Starre herauskam, als Cypher plötzlich mit einer Hand vor seinem Gesicht herumwedelte. „Ey Mann, alles klar bei dir oder ist dir nicht gut?“ „Leron?“ fragte Simon besorgt. „Hast du wieder dieses Problem?“ „Schon gut“, murmelte der Unternehmer und schüttelte den Kopf. „Ich habe nur gerade ein wenig nachgedacht.“ „Geht’s deinem Freund nicht gut?“ hakte der 25-jährige etwas irritiert bei Simon nach. Doch dieser gab nur eine ausweichende Antwort, da er aus Rücksicht auf Leron nichts über dessen Krankheit sagen wollte. Mit einem Schulterzucken gab sich der ominöse Künstler zufrieden und bot ihm an, bei ihm mal vorbeizuschauen und erklärte „Wenn wir tatsächlich eventuell Brüder sind, können wir uns doch besser kennen lernen. Außerdem sitzen wir mit unseren Augen ja eh im selben Boot.“ „Gerne“, rief Simon begeistert und wieder hörte Leron diese fremde Stimme in seinem Kopf, die nicht Michael war. Und dass er sie nicht zuordnen konnte und sie völlig fremd war, war für ihn noch schlimmer. „Und schon geht es los. Er wird dir deinen geliebten Simon wegnehmen. Willst du das wirklich zulassen? Er gehört dir und niemand anderem sonst. Und wenn er das nicht kapiert, musst du es ihm mit Gewalt zeigen!“ Nein, das würde er nicht tun. Stattdessen hatte er eine andere Idee und bestand darauf, mitzukommen. Wenn Cypher ihm den Jungen wirklich wegnehmen wollte, dann würde dieser nicht zulassen, dass er mitkam. Doch überraschenderweise hatte der 25-jährige Künstler nichts dagegen und sagte „Klaro, kein Problem“, wobei sein Grinsen aber wieder so zwielichtig wirkte, dass Lerons Vermutung stärker wurde, dass dieser Kerl ein paar Leichen im Keller hatte. Zu trauen war ihm auf keinen Fall, aber er würde erst den Kontakt zwischen Cypher und Simon verbieten, wenn er konkrete Indizien hatte, dass dieser Typ gefährlich für den Jungen sein könnte. Vorher würde er erst mal nur dabei sein und sichergehen, dass ihm nichts passierte. Auf keinen Fall würde unüberlegt handeln, nur weil ihm seine Krankheit einredete, es drohe Gefahr. Trotzdem machte ihm diese andere Stimme in seinem Kopf zu schaffen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er sie irgendwann schon mal gehört hatte und kannte. Aber warum redete nicht Michael zu ihm? Jahrelang hatte er immer nur seine Stimme gehört. Konnte es sein, dass sich seine Krankheit verschlimmerte und wenn ja, warum? Was war der Auslöser dafür? „Okay“, sagte Cypher nun und klatschte einmal kurz in die Hände. Dabei fiel dem Unternehmer auf, dass er schwarz lackierte Fingernägel hatte. „Wenn ihr Zeit habt, könnt ihr gerne zu mir kommen. Dann kann ich euch auch mal meine Kunstwerke zeigen, falls Interesse besteht.“ Leron sagte nichts dazu, doch Simon schien regelrecht begeistert zu sein. Der Gedanke daran, dass er einen großen Bruder haben könnte, schien ihn jegliche Vorsicht vergessen zu lassen, was diesen mehr als merkwürdigen Typen anging. Oder aber es war wie Leron befürchtete: durch seine Krankheit wurde er einfach nur paranoid und sah Gefahren, wo keine waren. Und da er selbst nicht gerade die besten Erfahrungen mit großen Brüdern hatte, projizierte er all dies auf Cypher, der eventuell tatsächlich mit Simon verwandt sein könnte, auch wenn die Wahrscheinlichkeit eventuell gering sein könnte. Er musste wirklich aufpassen, dass seine Krankheit ihn nicht zu beherrschen begann, andernfalls würde er definitiv dieselben Fehler machen wie Michael. Und dass er Simon begleitete, war ja nicht falsch. Er ließ einfach Vorsicht walten und passte auf ihn auf, was nichts mit seiner Krankheit zu tun hatte. Er passte einfach nur auf ihn auf, weil er nicht wusste, ob man Cypher wirklich trauen konnte. Trotzdem blieb das ungute Gefühl zurück, dass sich seine Krankheit langsam schleichend zu verschlimmern begann, oder er vielleicht sogar wieder eine heftige Attacke erleiden könnte. Das war ihm schon vor Jahren passiert, als er ausgerastet und gewalttätig geworden war. Zwar hatte er gelernt, sich unter Kontrolle zu halten, aber wenn seine Episoden heftiger wurden, musste er sich überlegen, was er bis zum Beginn der Therapie tun konnte. Seine Sorge war einfach zu groß, dass er bei solch einem schizophrenen Anfall nicht mehr in der Lage sein würde, klar zu denken und dass er in diesem Zustand Simon etwas antun könnte. Kapitel 21: Cypher und Hunter ----------------------------- Wie sich herausstellte, wohnte Cypher in einer alten Fabrik, die zu einem bewohnbaren Heim umgebaut worden war, welches gleichzeitig ein Atelier enthielt. Wie Leron und Simon von ihm erfuhren, hatte er zusammen mit ein paar Freunden aus der Kunstszene fast alles selber eingerichtet und umgebaut, um auf diese Weise Kosten zu sparen. Von außen sah das Gebäude eher unscheinbar aus und wirkte nicht sonderlich einladend, doch als sie hineingingen, stellten sie fest, dass es sehr modern und gemütlich eingerichtet war. Fasziniert sah sich Simon um und entdeckte überall Figuren, die aus Stein, Holz oder Metall gefertigt worden waren. An den Wänden hingen Bilder, die nicht wie irgendwelche Kunstdrucke aussahen, sondern wie selbstgemalt. Sie stellten Landschaften oder Personen, aber auch sehr surreale und abstrakte Szenerien dar. Was Leron aber persönlich nicht behagte, waren mehrere Gläser in einem Regal in einer Ecke des großen Lofts, in denen sich menschliche Augen und scheinbar auch Organe befanden. Doch Simon schien das nicht zu bemerken und beachtete nicht einmal eines der Gläser, obwohl diese aussahen, als wären sie die düsteren Trophäen eines Serienkillers. Nun breitete Cypher die Arme aus und verkündete stolz „Das ist meine Bleibe. Alles selbst eingerichtet zusammen mit ein paar Freunden. Hier bewahre ich auch ein paar meiner Kunstwerke auf.“ Sie folgten ihm weiter und traten durch eine Tür hindurch, die in eine riesige Halle führte. Hier waren überall Skulpturen aufgereiht, Regale und Schränke mit Werkzeug, Staffeleien und Leinwände. Das Geräusch einer Schleifmaschine war zu hören und etwas weiter weg sahen sie einen schwarzhaarigen jungen Mann in Cyphers Alter, der eine Schutzbrille und eine Maske trug, während er gerade dabei war, die Oberfläche einer Marmorskulptur glatt zu schleifen. Laut dröhnte Musik aus einer Soundanlage, die aggressive Heavy Metal Musik spielte. Cypher ging zu der Anlage hin und schaltete die Musik aus, woraufhin der Maskierte seine Werkzeuge sinken ließ und die Schutzmaske und die Schutzbrille abnahm. Und mit einem eisigen Schreck erkannte Leron, dass der Kerl dieselben goldgelben Augen hatte wie Michael. Es war ein Mitglied der Cohan-Familie. „Hey Hunter!“ rief Cypher und winkte ihm zu. „Ich hab Gäste mitgebracht.“ „Interessiert mich nicht“, kam es zurück. „Ich bin gerade beschäftigt!“ Daraufhin wandte sich der 25-jährige an seine Gäste und erklärte „Das ist mein Freund Hunter Cohan. Ich hab ihn vor ein paar Jahren in der Klinik kennen gelernt und seitdem sind wir zusammen. Eigentlich ist er ganz in Ordnung, aber er kann halt nicht gut mit Menschen, die er nicht kennt.“ „In einer Klinik habt ihr euch kennen gelernt?“ fragte Leron nach und sah dabei wieder zu Hunter, der sich wieder seiner Arbeit zuwandte und ihnen nicht die geringste Beachtung schenkte. Cypher nickte und erklärte, dass er mal wegen ein paar Problemen in einer psychiatrischen Klinik gewesen war, um sich helfen zu lassen. Zu dem Zeitpunkt war Hunter stationär dort gewesen, da er aufgrund traumatischer Erlebnisse in seiner Kindheit große Probleme gehabt hatte. „Kann ich mir gut vorstellen“, murmelte der Unternehmer und folgte dem Gastgeber zurück in den Wohnbereich, wo sie in Ruhe miteinander reden konnten. „Meine Mutter war ebenfalls eine geborene Cohan und hatte es nicht leicht mit ihrer Familie. Die meisten Familienmitglieder sind sehr auffällig…“ „Jep, Hunter auch. Er war auch schon mal in der Klinik gewesen, weil er seine Krankheit nicht alleine in den Griff bekam. Aber dank der Medikamente und der Therapie geht es ihm wesentlich besser. Trotzdem hat er manchmal seine schlechteren Tage und er braucht halt seine Zeit, um sich an neue Menschen zu gewöhnen. Also nicht persönlich nehmen, dass er so unhöflich war. Ich denke mal, er wird später noch mal herkommen, um euch kennen zu lernen.“ Nachdem sie Platz genommen hatten, verschwand ihr Gastgeber in die Küche und kam kurz darauf mit frisch aufgebrühtem Tee zurück. Simon war immer noch fasziniert von all dem hier und staunte nicht schlecht, dass man aus einer alten Fabrik ein bewohnbares Heim machen konnte. Und von den ganzen außergewöhnlichen Kunstobjekten war er auch tief beeindruckt und wollte natürlich wissen, wie sie das geschafft hatten. „Ein paar Leute aus der Klinik haben geholfen und auch ein paar Freunde von außerhalb. Am Anfang haben wir hier alles sauber gemacht, die Wände verputzt und gestrichen und vieles kam erst später dazu. Wenn wir mal ein paar Kunstwerke verkaufen konnten, haben wir es hierfür investiert. Die Fabrik haben wir auch ziemlich günstig bekommen, weil sie schon seit Jahren leer stand. Hunter hat eine Weile auf dem Bau gejobbt, wenn das Geld knapp war. So ganz sind wir aber noch nicht fertig, im Grunde ist unser Zuhause schon ein großes Kunstprojekt.“ „Und wieso eine alte Fabrik?“ wollte Simon sofort wissen, der vollkommen gebannt von dieser Geschichte war. Kein Wunder, immerhin kam es ja nicht alle Tage vor, dass man jemanden kennen lernte, der in einer stillgelegten Fabrik lebte. „Wir brauchen viel Platz und die Mieten sind extrem teuer. Also kamen wir auf die Idee, uns diese ehemalige Knopffabrik zu kaufen. Und da Hunter sehr handwerklich geschickt ist, hat er die wichtigsten Arbeiten hier erledigt.“ „Und was hat es damit auf sich?“ fragte nun Leron, der auf das Regal mit den Schädeln, Augen und Gehirnen hinwies. Es sah für ihn einfach nur befremdlich aus und der Gedanke behagte ihm nicht ganz, dass diese Organe oder Schädel tatsächlich echt sein könnten. Cypher ging zu dem Regal hin und holte das Glas mit den Augen und kam damit wieder zurück. Er schraubte den Deckel auf, fischte aus der Flüssigkeit eines heraus und hielt es ihnen in seiner Handfläche hin. „Das ist meine Art der Kunst“, erklärte er mit einem breiten Grinsen. „Ich hatte schon immer eine gewisse Schwäche für den menschlichen Körper, vor allem für das, was unter der Haut liegt. Für mich sind Organe die wahre Kunst der Natur, weil sie im Grunde das sind, was uns am Leben hält. Keine Bange, die sind nicht echt.“ Nach einigem Zögern sah sich Leron das Auge genauer an und stellte fest, dass es tatsächlich nicht echt war, aber trotzdem sehr detailliert nachgearbeitet war. Trotzdem war es sehr befremdlich, dass ein Mensch Organe als Kunst ansah und sich Nachbildungen davon ins Regal stellte. Und dann war auch noch der Freund ein Cohan. „Und du bist hauptberuflich Künstler?“ fragte Simon neugierig. „Oder ist das ein Hobby?“ „Ich bin Künstler durch und durch“, versicherte Cypher und steckte das Auge wieder zurück ins Glas. „Ich bekomme meistens Engagements. Beispielsweise für Masken und Spezialeffekte für TV-Serien oder fürs Theater. Und wenn ich mal keines habe, nehme ich regelmäßig an Ausstellungen teil. Ob ihr’s glaubt oder nicht, aber solch eine Form der Kunst hat ziemlich viele begeisterte Anhänger. Vor allem Horrorfans. Derzeit arbeite ich an den Spezialeffekten für einen Gorefilm.“ „Gore?“ „Die brutalste Form eines Horrorfilms, wo man halt das ganze Gemetzel schön detailliert sieht. Ich war schon immer ein großer Fan solcher Filme gewesen.“ „Und wie bist du mit deinen Augen zurechtgekommen?“ fragte Simon, der ja aus eigener Erfahrung wusste, wie sein Umfeld reagierte, wenn man ihn sah. Und wie sich herausstellte, hatte auch Cypher nicht die besten Erfahrungen gemacht. Auch er war als Freak beschimpft und häufig ausgegrenzt worden. Seine ersten Freunde hatte er erst mit 18 Jahren gefunden, als er sich aufgrund seiner Depressionen, die auch mit Alkoholmissbrauch verbunden war, freiwillig in eine psychiatrische Klinik begab und dort zum ersten Mal so akzeptiert wurde wie er war. Mit seinen Freunden aus der Klinik stand er selbst nach Jahren noch in Kontakt. Während er erzählte, geschah es, dass plötzlich die Tür aufging und Hunter auftauchte. Er hatte seine Schutzkleidung abgelegt und nun sah man auch, dass er ebenfalls Piercings trug. Einen an der rechten Braue, mehrere an den Ohren und einen am linken Nasenflügel. Sein dunkelbraunes fast schwarzes Haar war ein wenig länger gewachsen und reichte fast bis zur Schulter und sein Blick war alles andere als freundlich. Sein Shirt besaß schwarzweiß gestreifte Ärmel und auf den Rücken stand in weißen Buchstaben „If You Can Read This, You Are Not Dead Yet!“ Er blieb im Abseits und hatte die Arme verschränkt, wobei er nicht eine Sekunde lang Leron und Simon aus den Augen ließ. „Ah, da bist du ja!“ rief Cypher, ging zu ihm hin und klopfte auf seine Schulter. „Das sind Leron und Simon. Leron sagte, seine Mutter ist ebenfalls eine Cohan und Simon könnte eventuell mein kleiner Bruder oder mein Cousin sein. Cool, was?“ „Wie heißt deine Mutter?“ fragte Hunter, ohne die Miene zu verziehen. Selbst sein Tonfall klang ziemlich kalt und abweisend. „Katherine“, antwortete Leron. „Sie ist aber schon vor knapp 25 Jahren verstorben.“ „Ach so“, kam es zur Antwort. „Ist dann wahrscheinlich eine entferntere Verwandte. Jedenfalls sagt mir der Name nichts.“ Simon bemerkte, dass Hunter genau gleich groß war wie Leron. Und wie er schließlich erfuhr, war Hunter knapp ein Jahr jünger als Cypher und ebenfalls Künstler, nachdem er sich vorher eher mit Nebenjobs über Wasser gehalten hatte. Inzwischen waren sie seit knapp sechs Jahren zusammen, wie Cypher stolz verkündete. „Sechs Jahre?“ rief Simon erstaunt und konnte es kaum glauben. Denn so wie sich Hunter verhielt, war es eher schwer vorstellbar, dass die beiden so gut miteinander auskamen. Doch andererseits kannte er auch Leron gut genug um zu wissen, dass auch dieser sich sehr kaltherzig gegenüber anderen Leuten gab und in Wahrheit ein gutherziger Mensch war. Und wenn er so darüber nachdachte, wie cool Cyphers Leben war, da begann er sich ziemlich für sein eigenes Leben zu schämen. „Und du bist sein Bruder?“ fragte Hunter und wandte sich an Simon. Dieser zuckte etwas unsicher mit den Schultern und gestand „Wir wissen es noch nicht. Möglich wäre es vielleicht, weil wir beide ohne Familie aufgewachsen sind und dieselbe Augenanomalie haben. Um sicherzugehen, werden wir deshalb einen DNA-Test machen und auf diese Weise können wir feststellen, in welcher Art und Weise wir miteinander verwandt sind.“ „Stell dir mal vor, ich bekomme einen kleinen Bruder!“ verkündete Cypher breit grinsend und schien sich mit dem Gedanken schon sehr gut angefreundet zu haben. Doch sein Freund schien diese Ansicht nicht sonderlich zu teilen und sagte auch mit abschätzigem Ton „Als ob man eine Familie braucht“, wobei er so finster drein blickte, als wolle er jemandem den Hals umdrehen. Dann drehte er sich wieder um und ging. Doch der der weißäugige Künstler nahm das Ganze eher locker und erklärte Simon „Er hatte halt kein Glück mit seiner Familie und denkt deshalb anders.“ „Es ist wohl nicht immer einfach mit ihm, oder?“ „Ach, er ist eigentlich ganz liebenswert, wenn man hinter diese raue Schale schaut. Eigentlich ist er sehr sensibel und treuherzig und er liebt Tiere über alles. Letzten Herbst hat er ein paar Katzenbabys von der Straße gerettet und sie aufgepäppelt, bis sie wieder bei Kräften waren und hat dann ein Zuhause für sie gesucht. Aber wie er es gemacht hat, war unbezahlbar: er hat die Leute gefragt, während er diesen Mörderblick drauf gehabt hatte, ob sie ein Katzenbaby adoptieren wollen. Die meisten hatten sich so vor Angst in die Hose gemacht, dass sie fast die Polizei gerufen hätten. Aber zum Glück haben wir dann doch Erfolg gehabt.“ Simon runzelte die Stirn und versuchte sich das selber vorzustellen. Und ein wenig musste er dabei schmunzeln. In seinen Augen schienen diese beiden Künstler schon etwas unheimliche und vor allem seltsame Leute sein, aber sie waren trotzdem ganz in Ordnung. Und auch wenn er nicht dieselbe Leidenschaft teilte wie Cypher, musste er doch zugeben, dass er ihn ein wenig beneidete, dass er es geschafft hatte, ein Künstler zu werden. Wenig später kam Hunter wieder zurück und bot ein paar Snacks an. Zwar war er nach wie vor sehr wortkarg und hielt einen deutlichen Abstand, aber anscheinend hatte Cypher Recht als er sagte, dass sein Freund eher langsam auf Tuchfühlung ging und seine Zeit brauchte. Offenbar war er sehr menschenscheu. Und als der 21-jährige einen der Snacks probierte und diese lobte, da schwand ein wenig von Hunters Kälte und er schien sich ein klein wenig zu entspannen. Vorher hatte er eher gewirkt, als wolle er gleich ein Blutbad anrichten. „Sag mal Leron, was genau machst du denn eigentlich?“ wollte Cypher wissen. „Was ist das denn für ein Unternehmen, was du leitest?“ „Ich bin Inhaber und Vorstand der Evans Hybrid Technologies“, erklärte der 31-jährige knapp, doch auch wenn er keine große Sache daraus machte, fielen Cypher fast die Augen aus dem Kopf. „Alter Schwede!“ rief dieser und wandte sich an Simon. „Dann ist dein Freund also der Sohn von dem Typen, der den Energiekonzern leitet? Meine Fresse, wo lernst du denn so jemanden kennen?“ „Er hat eher mich gefunden“, gestand der Angesprochene. „Ich bin an seinen Bruder geraten und er hatte mich ins Krankenhaus gebracht. Zwar hatten wir uns aus den Augen verloren, aber dann hat er mich wiedergefunden und seitdem lebe ich bei ihm. Wir sind aber noch nicht lange zusammen.“ „Ist aber schon gewisser Altersunterschied zwischen euch beiden. Ich meine… gut zehn Jahre dürften es wohl ungefähr sein, oder?“ bemerkte Cypher mit hochgezogenen Augenbrauen, hob dann aber sofort die Hände und machte abwehrende Gesten. „Soll jetzt aber nicht heißen, dass ich was dagegen hätte, oder so. Ich meine… man liebt, wen man liebt. Ist mir nur halt so aufgefallen.“ „Ja und?“ fragte Leron etwas schroff und sein Blick verfinsterte sich und hatte fast den gleichen abweisenden Gesichtsausdruck wie Hunter. Simon bemerkte diese Reaktion, verstand aber nicht, was das sollte und warum der Unternehmer plötzlich so reagierte. Was er aber registrierte war, dass Hunter nun vortrat und sich direkt neben Cypher stellte. Obwohl der 24-jährige nichts sagte, war dennoch deutlich erkennbar, was er Leron durch bloße Körpersprache mitteilen wollte: lass die Finger von ihm, ansonsten kriegst du echt Probleme mit mir! Und daran sah Simon auch, wie die beiden zueinander standen, oder zumindest konnte er es sich erschließen: Cypher war für Hunter da und konnte zwischen ihm und ihrem Umfeld vermitteln und ihm somit helfen und Stabilität geben. Und Hunter seinerseits beschützte seinen Freund und unterstützte ihn in anderen Situationen. So ergänzten sie sich und schafften eine funktionierende Balance, trotz ihrer sehr eigenwilligen Persönlichkeiten. Und ähnlich verhielt es sich auch mit ihm und Leron: er gab Leron die Nähe und den Halt, den er brauchte und Leron seinerseits kümmerte sich um ihn und ermöglichte ihm ein anständiges Leben. Nachdem sie noch eine Weile miteinander geredet hatten, wurde es langsam spät und Leron und Simon verabschiedeten sich. Cypher versprach, sich zu melden, sobald das Set vom Institut da wäre und bot an, dass sie jederzeit zu Besuch kommen könnten. Als sie die ehemalige Fabrik verlassen hatten und zurück zur Villa fuhren, herrschte eine merkwürdige Stimmung zwischen ihnen. Simon merkte deutlich, dass sein Begleiter angespannt war, aber er verstand den Grund einfach nicht. Und da dieser von sich aus nichts sagte, sprach er ihn deswegen darauf an. „Warum hast du dich so gegenüber Cypher verhalten? Er war doch ganz nett.“ „Mag sein, aber ich trau dem Kerl nicht über den Weg und ich will nur, dass du vorsichtig bist, wenn du zu ihm gehst.“ „Was soll das denn heißen?“ rief er und konnte nicht glauben, was Leron da erzählte. „Er ist womöglich mein älterer Bruder und nur weil er anders aussieht und etwas speziellere Hobbys hat, ist er doch kein Monster. Und nur weil du selber Probleme mit deinen Brüdern hast, heißt das doch lange nicht, dass Cypher genauso ist.“ Natürlich hatte er Verständnis dafür, dass Leron besorgt war, aber trotzdem musste er ihm auch mal ganz klar seine eigene Meinung deutlich machen. Sein ganzes Leben war er alleine gewesen und jetzt hatte er erfahren, dass es noch jemanden gab, der dasselbe Problem hatte wie er und der eventuell sogar sein Bruder sein könnte. Und selbst wenn er sich nur in eine Idee verrannt hatte und Cypher am Ende gar nicht mit ihm verwandt war, so wollte er doch wenigstens einen einzigen Freund haben, der ihn verstand und der ihn nicht wegen seiner Augen verurteilte. Und da Cypher schon angeboten hatte, dass er jederzeit zu Besuch kommen konnte, wollte er dann zumindest die Chance ergreifen und ihn besser kennen lernen. Doch dann kam ihm plötzlich ein neuer Gedanke, was das Verhalten von Leron zu bedeuten hatte. „Bist du vielleicht eifersüchtig auf Cypher? Oder hat dir die Stimme in deinem Kopf wieder irgendetwas einreden wollen?“ „Was tut das zur Sache?“ erwiderte Leron ein wenig gereizt. „Es ändert doch so oder so nichts daran, dass mir dieser Typ nicht ganz geheuer ist.“ „Also doch, die Stimme deines Bruders hat dir irgendetwas eingeredet und macht dich ganz paranoid.“ „Es war nicht mein Bruder.“ Simon hielt inne und verstand erst nicht, worauf Leron hinaus wollte, bemerkte dann aber, dass ihn etwas sehr beschäftigte. Und als der Unternehmer sagte „Ich höre jetzt auch andere Stimmen“, war er wirklich beunruhigt. Zwar war er kein Psychologe und konnte nicht einschätzen, was das bedeutete, aber für ihn klang es danach, als würde sich Lerons Zustand verschlimmern. Fraglich war nur, was der Auslöser dafür war, oder ob es überhaupt einen gab. Nun rutschte er näher zu ihm heran und nahm seine Hand. „Wir schaffen das schon, okay? Übernächste Woche hast du sowieso deinen Termin beim Psychologen und der wird dir helfen. Aber lass dir von denen nichts einreden, okay? Diese Stimmen in deinem Kopf sind nicht real und sie können auch niemandem etwas anhaben, weil sie nicht existieren. Wenn du sie hörst und sie dir irgendetwas einreden, dann musst du darüber sprechen.“ Leron nickte und senkte den Blick. Trotzdem blieb die Angst, dass sich seine Schizophrenie noch weiter verschlimmern könnte und er nicht mehr länger in der Lage war, diese imaginären Stimmen zu ignorieren. Er wusste, dass Michaels Stimme sich immer gegen ihn direkt richtete. Sie erniedrigte ihn, bedrohte ihn und machte sich über ihn lustig. Aber diese zweite Stimme war anders. Sie schien nicht feindselig gegen ihn zu sein, sondern hatte ihm helfen wollen, damit er Simon nicht verlor. Nein, sie hatte ihm nicht helfen wollen. Zumindest nicht in der Art und Weise, wie Dr. Morris oder Simon ihm helfen würden. Sie hatte versucht, ihn zu überreden, diesem Cypher Gewalt anzutun um ihn davon abzuhalten, ihm den Jungen wegzunehmen. Es war eine besitzergreifende und manipulierende Stimme. Im ersten Moment vertrauenswürdig und freundlich, aber in Wahrheit grausam und hinterhältig wie eine Schlange. Irgendwo her kannte er diese Stimme, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Was er aber wusste war, dass er sie gehört hatte, als sie ihm befohlen hatte, seinen Klassenkameraden zusammenzuschlagen. „Zeig ihm, dass er dich nicht einfach so herumschubsen darf und dass er dich mit Respekt zu behandeln hat. Und wenn er es nicht kapiert, dann prügle es ihm ein und das so lange, bis er vor deinen Füßen liegt und um Gnade winselt wie ein Hund!“ Das waren die Worte gewesen, die die Stimme ihm gesagt hatte und er hatte auf sie gehört und jedes einzelne Wort geglaubt. Auch nach diesem Vorfall hatte er auf diese Stimme gehört und ihr gehorcht, wenn sie ihn zu Gewalttaten aufgefordert hatte. Der Grund dafür war einfach, weil diese eine Stimme einen ganz anderen Einfluss auf ihn hatte als Michaels Stimme. Sie klang überzeugender, dominanter und verlockender. Und vor allem klang sie so vertrauensvoll, als würde eine sehr enge Vertraute zu ihm sprechen und ihn mit ihrem Charme einwickeln. Es war so schwer gewesen, dieser Stimme zu widerstehen und nicht auf sie zu hören. Viel schwerer als bei Michael. Und das verunsicherte ihn nun einmal sehr. „Und? Was wollen wir heute noch machen?“ fragte Simon, um ein anderes Thema zu beginnen. „Hättest du nachher Lust, mit mir in die Sauna zu gehen?“ schlug Leron vor. „Danach können wir uns ja noch einen gemütlichen Abend machen.“ „Klingt gut. Auf jeden Fall müssen wir das unbedingt feiern, dass Dr. Dawson eine Behandlungsmethode gefunden hat, die fast hundertprozentig risikofrei ist.“ Doch Leron hatte einen besseren Vorschlag: „Wir feiern, wenn die Behandlung ein voller Erfolg war.“ „Und natürlich auch, wenn Cypher und ich tatsächlich eine Familie sind.“ Simon lehnte sich an Lerons Schulter und hielt immer noch seine Hand fest. Dieser Gedanke, dass er vielleicht einen Verwandten haben könnte, ließ ihn einfach nicht los. Wenn er und Cypher tatsächlich Brüder sein könnten, dann stellte sich für ihn die Frage, warum ihre Mutter sie beide nicht behalten wollte. Zu wissen, dass da jemand war, der genau das Gleiche erlebt hatte wie er und mit denselben Augen lebte, hatte ihm klar gemacht, dass er nicht allein war und dass es jemanden gab, der ihn verstand. Er war kein einzigartiges Phänomen, kein Freak und auch kein Monster. War einfach nur ein Mensch mit einer Melaninanomalie in der Regenbogenhaut und es hatte nicht nur ihn alleine getroffen. Er war froh, nicht ganz so alleine mit seinem Problem zu sein und sich deshalb einsam zu fühlen. Und dann hatte dieser Mensch, der mit derselben Krankheit auf die Welt gekommen war, ihm sogar die Freundschaft angeboten und würde ihn als kleinen Bruder akzeptieren, sollte sich tatsächlich herausstellen, dass sie dieselbe Abstammung hatten. Und vielleicht bestand ja sogar die Möglichkeit, herauszufinden, wer ihre Mutter war. Simon wollte natürlich gerne wissen, warum er damals einfach ausgesetzt worden mit diesen Augen geboren worden war. Hatte seine Mutter vielleicht Probleme gehabt oder war sie einfach nur komplett überfordert gewesen? Was war sie überhaupt für ein Mensch und wo war sie? Irgendwann hatte er aufgegeben, sich das immer und immer wieder zu fragen, weil er einfach resigniert hatte. Aber seitdem zumindest die Möglichkeit bestand, dass er einen älteren Bruder hatte, kehrte natürlich auch der Wunsch zurück, mehr über seine Herkunft und seine Familie zu erfahren. Und er war auch bereit, sich der Wahrheit zu stellen, auch wenn es vielleicht darauf hinauslaufen könnte, dass seine Mutter eine verantwortungslose Frau war, die kein Interesse an einer Familie hatte. Es würde zwar hart werden, aber wenigstens hatte er dann Gewissheit und wusste zumindest, woher er kam und wer seine Familie war. „Ich werde den Gentest bezahlen“, sagte Leron schließlich. „Wenn es dir so am Herzen liegt, deine Familie zu finden, dann will ich dir helfen. Zwar weiß ich nicht, ob man diesem Cypher wirklich so vertrauen kann, aber wenn er dein Bruder sein sollte, dann will ich dir auch nicht im Weg stehen. Vielleicht hast du Glück und du findest deine Familie und bekommst ein paar Antworten.“ „Leron, das musst du nicht tun!“ versicherte Simon, doch der 31-jährige schüttelte den Kopf und blieb dabei. „Lass mich das tun, um dir zu helfen, okay?“ Mit einem Lächeln legte Simon einen Arm um ihn und drückte sich fest an ihn. Nachdem er heute Morgen so nervös gewesen war, fühlte er sich inzwischen befreit und glücklich. Es würde bald eine sichere Behandlung gegen seine Augenanomalie geben und wahrscheinlich würde er bald eine Familie haben. Und das alles hätte er wahrscheinlich nicht ohne Lerons Hilfe. Dafür würde er sich definitiv noch revanchieren. „Ich liebe dich, Leron!“ Kapitel 22: Ein gut gemeinter Rat --------------------------------- Das Erste, was Simon am nächsten Morgen spürte, waren Kopfschmerzen. Er fühlte sich ausgelaugt und sein Schädel dröhnte heftig. So schlimm hatte er sich zuletzt gefühlt, als er sich seinen Sonnenstich eingefangen hatte. Nur mit dem Unterschied, dass er dieses Mal nicht zu lange in der Sonne gelegen hatte, sondern weil er sich schlicht und einfach übernommen hatte. Gestern Abend hatte Leron ihn eingeladen, zusammen mit ihm in die Sauna zu gehen. Für ihn selbst war es das erste Mal gewesen und er wollte auch nicht vor dem Unternehmer als Weichei erscheinen und war bis zum Ende zusammen mit ihm drin gewesen. Aber wer hätte ahnen können, dass dieser die vorherrschende monströse Hitze so locker wegstecken konnte, als wäre es eine leichte Sommerbrise? Er selbst war sich eher vorgekommen wie ein Grillhähnchen, aber er wollte ja unbedingt drinbleiben und sich einen schönen Abend mit ihm machen. Aber es war natürlich nicht bloß alleine bei ein bisschen Chillen in der Sauna geblieben. Wie denn auch, wenn sie beide splitterfasernackt und schweißgebadet da saßen? Natürlich war es darauf hinausgelaufen, dass sie schließlich Sex dort hatten und das war wahrscheinlich eine sehr schlechte Idee gewesen. Die extreme Hitze war eh schon sehr anstrengend für ihn und dann der Sex noch obendrauf war wohl wirklich zu viel des Guten gewesen. Und danach war er so erschöpft gewesen, dass Leron ihn in sein Zimmer tragen musste. Das war ohnehin schon ziemlich peinlich für ihn gewesen, denn er hatte eigentlich zeigen wollen, dass er so etwas aushalten konnte und nicht so schwach war, wie er sonst wirkte. Tja und da hatte er sich ordentlich verzettelt und musste das jetzt wohl oder übel ausbaden. Nämlich indem er sich fühlte, als hätte er den größten Marathon seines Lebens hinter sich gebracht und sich danach komplett die Kante gegeben. Stöhnend lag er im Bett und fühlte sich hundsmiserabel. Obwohl er knapp neun Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich eher danach, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugekriegt. Netterweise kam Leron mit einem Glas Wasser und zwei aufgelösten Aspirin darin zu ihm, um ihm bezüglich seiner Kopfschmerzen zu helfen. Dabei streichelte der Unternehmer ihm zärtlich den Kopf und fragte „Warum bist du nicht rausgegangen, um dich abzukühlen? Wenn man noch nie in einer Sauna war, sollte man langsam und in kleinen Schritten anfangen.“ „Hab ich ja jetzt auch gemerkt“, grummelte Simon und nahm das Glas dankend entgegen. Er trank den Inhalt in einem Zug aus und legte danach wieder den Kopf auf das Kissen zurück. „War eben halt eine blöde Idee gewesen und ich dachte, ich kriege das schon hin. Aber dem war offenbar nicht so. Ich glaube, ich gehe es heute mal ein klein wenig langsamer an.“ „Lass dir ruhig Zeit. Beim nächsten Mal achtest du vielleicht drauf, nicht allzu lange in der Sauna zu bleiben, okay?“ Simon nickte und zog die Decke wieder über den Kopf, während Leron zusätzlich noch die Rollläden ein wenig herunterließ bevor er ihn dann alleine ließ, damit er sich noch ein klein wenig ausruhen konnte. Dann ging es ihm auch hoffentlich bald besser. Es waren Momente wie diese, wo er nur allzu deutlich merkte, dass er nicht dieselbe Erfahrung besaß wie Leron und sich dann selbst ziemlich überschätzte. Und da merkte man auch, dass zehn Jahre Unterschied zwischen ihnen waren. Zehn Jahre… Es war ihm erst so wirklich bewusst geworden, als Cypher sie gestern darauf aufmerksam gemacht hatte. Ehrlich gesagt hatte er sich nie großartig Gedanken oder Sorgen darum gemacht, immerhin hatte er schon mit Kerlen geschlafen, die sogar schon 60 Jahre und älter waren. Er bewunderte Lerons Erfahrungsschatz und dass dieser immer alles im Blick hatte und genau wusste, was er wollte. Vielleicht hatte er halt eine Schwäche für etwas ältere Partner, weil diese dann seinen Mangel an Erfahrung gut ausgleichen konnten. Außerdem fühlte er sich geborgen und sicher bei ihm und das war doch das Wichtigste. Dass dieser nach dem gestrigen kurzen Streit im Auto jetzt sogar den Gentest bezahlen wollte, war wirklich eine großherzige Geste, nachdem er sein Misstrauen gegenüber Cypher mehr als deutlich gemacht hatte. Aber Simon sah es nicht als persönliche Feindseligkeit an. Womöglich sprach da einfach die negative Erfahrung aus dem Unternehmer heraus, weil er selbst sehr unter seinen Brüdern zu leiden hatte. Und womöglich war es auch ein Symptom seiner Schizophrenie gewesen. Simon war nämlich nicht faul gewesen und hatte ein paar Hausaufgaben gemacht, um ein wenig mehr über die Symptome von Schizophrenie herauszufinden. Halluzinationen waren nur eine Begleiterscheinung. Es konnte zum Verlust des Realitätsbezuges kommen, erhöhte Wachsamkeit, Unruhe, Schlafstörungen, Misstrauen und sogar zu Paranoia. Auch wenn Leron sich eisern im Griff hatte und versuchte, sich an existierende, klare Fakten zu halten, so hatte Simon durchaus ein paar Symptome bei ihm wiedererkennen können. Insbesondere wenn er wieder einen Schub hatte und Stimmen hörte, war er sehr unruhig und äußerst schnell gereizt. Er sah seine Brüder dann als die schlimmste Bedrohung an, die je über ihn hereinbrechen könnte und er steigerte sich in den Gedanken rein, dass Michael ihm den Menschen wegnehmen wollte, den er liebte. Und seine Abneigung gegen Cypher war sicherlich auch eine Begleiterscheinung seiner Schizophrenie. Menschen, die eventuell ein näheres Verhältnis zu seinem Liebsten haben könnten, waren in seinen Augen eine potentielle Bedrohung. Es galt deshalb, ihn auf dem Boden der Tatsachen zu halten und auch klare Worte zu sprechen, damit er sich nicht in diese Wahnidee hineinsteigerte. Aber zum Glück war der Therapietermin eh übernächste Woche und bis dahin dürfte es ja nicht allzu schwer sein, ein Auge auf ihn zu haben. Leron hatte sich mit einer Tasse Kaffee und einem Buch auf die Terrasse gesetzt, um Simon die Ruhe zu gönnen, die er brauchte und hatte es sich gerade gemütlich machen wollen, als es plötzlich an der Tür klingelte. Erschrocken fuhr er auf und sein erster Gedanke war, dass es vielleicht Michael sein könnte. In dem Fall musste er ihn irgendwie an der Tür abwimmeln und verhindern, dass er ins Haus kam. Wenn er Simon sah, könnte es sonst echt Probleme geben. Doch als er im Wohnzimmer auf den Monitor schaute, der die Kamerabilder auf dem Gelände und vor der Tür anzeigte, stellte er mit Erleichterung fest, dass es nicht Michael war. Aber der oder besser gesagt die Besucher waren auch nicht gerade das, was er als erfreulichen Besuch bezeichnen könnte. Es waren Cypher und Hunter. Während Hunter starr auf die Tür blickte und aussah, als wolle er gleich jemanden erschießen, widmete sich Cypher hingegen der Überwachungskamera und begann vor der Linse herumzufuchteln, als würde er irgendjemandem zuwinken wollen. Was zum Henker wollten die denn hier und woher wussten sie, wo er wohnte? Nun, das würde er definitiv noch herausfinden und so ging er zum Hauseingang und öffnete die Tür. Auch heute sahen die beiden genauso merkwürdig aus wie gestern. Cypher trug ein schwarzes T-Shirt mit Totenkopf, mehrere Ketten mit Kruzifixen und Nietenarmbänder. Hunter stand etwas hinter ihm und hatte ein T-Shirt an auf dem der Spruch „What Doesn’t Kill You… Disappoints Me!“ zu lesen war. „Tagchen“, grüßte Cypher. „Ich hoffe, wir stören nicht.“ „Woher wisst ihr, wo ich wohne?“ wollte Leron sofort wissen und hielt sich auch nicht wirklich mit Höflichkeitsfloskeln auf. Aber Cypher verzog keine Miene und nur Hunter schien noch finsterer dreinzublicken als sonst. „Wir hatten Dr. Dawson gefragt, weil es da noch etwas gibt, was Hunter auf dem Herzen liegt und worüber er mit dir sprechen wollte.“ „Mit mir?“ fragte Leron etwas verwundert, doch Hunter schwieg beharrlich und ließ nur ein leichtes Grummeln vernehmen, bevor er Lerons Blick auswich. Na den Kerl sollte mal einer verstehen. Schließlich ließ er sie dann rein und führte sie ins Wohnzimmer. Cypher ließ staunend den Blick umherschweifen und rief begeistert „Woah! Ist das eine Prachtbude. Hammerstark!“ Leron ignorierte dies, bot ihnen der Höflichkeit halber Getränke an, doch beide lehnten ab und so bat er sie, gleich zum Punkt zu kommen. Doch Hunter schwieg immer noch, weshalb Cypher für ihn das Reden übernahm, da er wohl merkte, dass sein Freund so schnell keinen Ton von sich geben würde. Aus welchen Gründen auch immer. „Als er hörte, dass du zur Cohan-Familie gehörst, hat er sich ein paar Gedanken gemacht. Vor allem weil er beobachtet hat, dass du Probleme hast. Sorry, dass wir das so direkt fragen, aber kann es sein, dass du Halluzinationen hast?“ Ein eisiger Schauer durchfuhr Leron, als ihm diese Frage gestellt wurde. Woher wussten die beiden das und warum fragten sie danach? Bevor er diese Frage stellen konnte, kam plötzlich Hunter zuvor, der nun endlich seinen Mund aufmachte und die Sache erklärte: „Ich habe beobachtet, dass du manchmal völlig neben der Spur warst und nichts mitbekommen hast“, erklärte er. „Du hast dann ins Leere gestarrt, als wärst du völlig abgetaucht. Und ich kenne diesen Blick. Du bist schizophren… genau wie ich.“ „Hunter litt unter Halluzinationen“, erklärte Cypher und legte dabei eine Hand auf Hunters. „Er hat Dinge gesehen, die nicht real waren und mit Personen gesprochen, die nicht existierten. Er litt außerdem unter Verfolgungswahn und hatte dann eine besonders heftige Attacke, als er sogar glaubte, seine eigenen Großeltern wären gar nicht echt, sondern durch außerirdische Gestaltwandler ausgetauscht worden. Die haben ihn daraufhin eingewiesen, um ihn auch vor sich selbst zu schützen. Eine Weile war er deshalb in der geschlossenen Klinik und nimmt seitdem Medikamente.“ „Und weshalb erzählt ihr mir das?“ wollte Leron wissen und fühlte sich ein wenig unwohl bei diesem Gespräch. „Ich bin bei einem Seelenklempner in Behandlung, der unsere Familie kennt“, erklärte Hunter und gab Leron eine etwas eingeknickte Visitenkarte. „Sein Vater war Psychotherapeut in Annatown und er kennt sich besser mit unserer Familiengeschichte aus. Ich würde dir raten, zu ihm zu gehen. Wenn du ihm sagst, du wärst einer von den Cohans, kriegst du meistens schon direkt am nächsten Tag einen Termin.“ „Das ist nett, aber ich habe schon…“ „Ich war auch schon bei mehreren gewesen“, unterbrach Hunter ihn. „Aber die konnten mir nicht weiterhelfen, weil sie mich nicht verstanden haben. Die kapieren nicht, dass wir das alles schon von Geburt an haben und die Medikamente, die sie verschreiben, wirken meistens auch nicht. Deswegen sag ich: geh zu Dr. Larson. Eigentlich macht er nur stationäre Behandlungen, aber er macht bei Ausnahmen auch einfache Sitzungen ohne stationären Aufenthalt.“ Leron nahm die Karte entgegen und betrachtete sie. Es war die Anschrift einer psychiatrischen Klinik, von der Leron schon mal gehört hatte. Sie war nicht sonderlich schwer zu erreichen und nur wenige Minuten vom Stadtzentrum entfernt. Der Name auf der Karte lautete „Dr. Yorick Larson, Neurologie und Psychiatrie“. Wieder sah er zu Hunter auf, der seinerseits zur Seite schaute und etwas unruhig an seinen Händen spielte. War der Kerl etwa nervös? „Und die Behandlung hat dir geholfen?“ Hunter nickte, hüllte sich aber wieder in Schweigen. Dafür übernahm nun Cypher wieder für ihn. „Ihm ist natürlich klar, dass es keine dauerhafte Heilung gibt. Er wird für den Rest seines Lebens auf Medikamente und Therapien und angewiesen sein, aber sein Wunsch ist es, ein normales Leben wie alle anderen zu führen. Dr. Larson hatte erkannt, dass Hunter sehr empfindlich auf Stress reagiert, vor allem weil er nicht mit spontanen Situationen umgehen kann. Er ist dann einfach überfordert und fühlt sich überfallen, was dann bei ihm zu Aggressionen führt. Deshalb hat er ihm angeraten, festen Strukturen zu folgen und somit eine eigene Ordnung zu haben, an der sich Hunter orientieren kann. Und ich unterstütze ihn dabei, indem wir immer feste Zeiten für Mahlzeiten haben oder nur an ganz bestimmten Tagen spezielle Aufgaben erledigen. Dr. Larsons Therapie besteht darin, eine Strategie zu entwickeln, wie ihr euer Leben so gestalten könnt, dass ihr besser mit gewissen Dingen umgehen könnt, die solche „Anfälle“ auslösen können. Da er weiß, wie die Cohans gestrickt sind, kann er auf jahrelange Erfahrung zurückgreifen und weiß dementsprechend, wie er mit solchen Leuten zu handhaben hat.“ „Allerdings wird er auch deinen Freund mit einbeziehen“, ergänzte nun Hunter. „Da er mit dir zusammenlebt, wird er auch einen Teil dazu beitragen müssen.“ „Das ist besser für alle Beteiligten und hilft auch Simon, es besser zu verstehen“, bestätigte Cypher nickend. „Ich zum Beispiel helfe Hunter, auf sein Umfeld zuzugehen und passe auf, dass er nicht den Bezug zur Realität verliert, wenn er mal keine Medikamente dabei haben sollte und wieder halluziniert. Dass man mal vergisst, sein Rezept einzulösen, kann ja schon mal passieren, aber wenn dann gleich ein heftiger Schub kommt, dann kann es unschön werden. Vor allem wenn du dann nicht mehr unterscheiden kannst, was du dir einbildest und was nicht. Deshalb bin auch ich für Hunter da. Ich bringe ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn er sich in seinen Verfolgungswahn und seine Halluzinationen verlieren sollte. Der Fakt ist, dass du auf jeden Fall jemanden brauchen wirst, der für dich da ist, wenn es zu solch einem Fall kommen sollte. Deshalb ist es sehr wichtig, dass du ehrlich zu Simon bist und ihn mit einbeziehst.“ „Ich möchte das lieber von ihm fernhalten“, erklärte der Unternehmer sofort und winkte ab. „Es ist mein Problem und ich muss damit alleine…“ „Das wird nicht funktionieren“, unterbrach Hunter ihn mit deutlicher Überzeugung. „Du wirst emotionalen Halt brauchen und das wird dir auch Dr. Larson sagen.“ „Du musst dir das vorstellen wie bei Sigmund Freuds Modell des Unterbewusstseins“, versuchte Cypher zu erklären, um es besser zu veranschaulichen. „Es gibt das Es, das Über-Ich und das Ich. Das Es verkörpert unsere Triebe und das Über-Ich unsere Moral, unsere Regeln und unsere Vernunft. Beide liegen im Dauerstreit und das Ich muss versuchen, einen Kompromiss für beide zu finden. Bei eurer Familie ist das irgendwie so, dass da keine vernünftige Balance herrscht und das Über-Ich sich kaum gegen das Es durchsetzen kann. Heißt also im Klartext: je stärker deine Gefühle für jemanden sind, desto größer ist das Risiko, dass du die Kontrolle verlierst. Hm, wie erkläre ich das am besten? Es ist so, als wären deine Emotionen wie Musik und dein Verstand wie ein Verstärker. Selbst die harmlosesten Gefühle werden unkontrollierbar. Und wenn du mit Simon zusammen bist, solltet du ihn unbedingt in deine Therapie mit einbeziehen, damit er dir auch emotionale Stabilität geben kann.“ „Und vor allem wird es ihn weniger belasten, wenn er weiß, was los ist“, schloss sich Hunter an. „Ich spreche aus Erfahrung.“ Schließlich erhoben sich die beiden, um sich zu verabschieden. Dabei fragte Cypher kurz nach Simon, erfuhr dann aber, dass es ihm nicht gut ging und drückte dem Unternehmer daraufhin einen Umschlag in die Hand. Verwundert schaute dieser hinein und bemerkte, dass sich darin zwei Plastikröhrchen befanden, wie man sie aus der Arztpraxis kannte. „Das Set für den DNA-Test ist vorhin angekommen“, erklärte Cypher. „Ich hab meine Probe schon fertig. Die ist auch schon beschriftet und ich habe da einen Sticker draufgeklebt, damit sie nicht verwechselt werden. Und ich wollte mich noch bedanken, dass du den Test bezahlen willst. Simon hatte es mir gestern Abend geschrieben gehabt, dass du die Kosten übernehmen willst. Du bist echt schwer in Ordnung.“ „Schon gut.“ Leron begleitete die beiden zur Tür und verabschiedete sich von ihnen. Danach ging er nach Simon sehen, um Ihm den Umschlag zu geben. Vorsichtig klopfte er an und öffnete langsam die Tür. Inzwischen hatte sich der Brünette angezogen und sah nun ein klein wenig besser aus, auch wenn er augenscheinlich immer noch Kopfschmerzen hatte. Leron setzte sich zu ihm und streichelte zärtlich seinen Kopf. Dieser lächelte müde und murmelte „Ich glaube, heute bleibe ich lieber auf Sparflamme.“ Doch Leron hatte Verständnis für ihn und sah auch selbst ein, dass es eine ziemlich dumme Idee war, in einer Sauna Sex zu haben, vor allem weil Simon doch nie zuvor in solch einer war und dementsprechend an so heiße Temperaturen nicht gewöhnt war. Ein bisschen Mitschuld trug er ja auch, denn er hätte besser auf ihn Acht geben sollen. „Cypher und Hunter waren gerade da gewesen. Das Set für den DNA-Test ist heute angekommen und deine DNA-Probe wird noch gebraucht. Cypher hat seine schon fertig und markiert, damit nichts verwechselt wird. Du musst einfach nur eine Speichelprobe abgeben.“ „Genau wie bei einem Vaterschaftstest“, stellte Simon schmunzelnd fest und nahm den Umschlag entgegen. Er holte die zwei Röhrchen heraus und bemerkte, dass eines davon einen Totenkopfaufkleber hatte. Wirklich passend für Cypher. Nun nahm er das andere Röhrchen, schraubte es auf und holte das Wattestäbchen heraus. Doch er zögerte noch, denn ihn überkam ein wenig Angst. Was war, wenn er sich in seine Idee vollkommen verrannt hatte und dann enttäuscht sein würde, wenn sich dann herausstellte, dass Cypher gar nicht sein Bruder passiert war? Er wünschte sich schon einen Bruder und die Enttäuschung wäre schon sehr groß, wenn sich herausstellte, dass sie nicht miteinander verwandt waren… „Was hast du?“ fragte Leron als er bemerkte, dass Simon ein wenig bedrückt wirkte. „Hast du Angst vor dem Ergebnis?“ Ein Nicken kam zur Antwort und er erkannte, dass der Junge jetzt ein paar aufbauende Worte brauchte und nahm ihn in den Arm, um ihn wieder aufzubauen. „Ich hätte so gerne eine Familie“, gestand Simon. „Als ich klein war, wollte ich schon immer adoptiert werden und habe die Kinder beneidet, die die Chance bekommen hatten. Aber irgendwann hatte ich es aufgegeben, weil es mir sonst nur weiterhin wehgetan hätte. Aber nun besteht eine Möglichkeit, dass ich eventuell einen Verwandten habe und wieder habe ich diesen starken Wunsch nach einer Familie. Doch was ist, wenn ich mich nur in irgendetwas hineinsteigere und dann am Ende wieder so enttäuscht werde? Davor habe ich am meisten Angst.“ „Du brauchst keine Angst zu haben. Selbst wenn er nicht dein Bruder sein sollte, bin ich doch für dich da und fange dich auf, wenn es mir schlecht geht. Du bist nicht mehr alleine wie damals.“ Damit hob er Simons Kinn und küsste ihn. Dankbar legte dieser seine Arme um ihn und erwiderte den Kuss, wobei er aber neckisch anmerkte: „Aber ohne Zunge. Nicht, dass sich deine DNA noch versehentlich noch mit meiner mischt und das Ergebnis verfälscht wird.“ „Na schön, dann muss der Kuss halt nach dem Test warten.“ Damit nahm Simon sein Stäbchen und nahm die Speichelprobe. Nachdem er fertig war und es zurück in das Röhrchen gelegt und es beschriftet hatte, schlang er seine Arme um Leron und küsste ihn. Dieses Mal wurde es ein wesentlich intensiverer Kuss als gerade eben und es fiel ihnen schwer, sich wieder voneinander zu lösen, aber Brünette merkte, dass ihm immer noch ziemlich viel an Energie fehlte. Warum nur musste er es auch so dermaßen übertreiben? Als ob es ihm nicht eh schon peinlich genug war, dass er vor Leron so eine schlechte Figur machen musste und sich so schlapp fühlte. Na hoffentlich hörte wenigstens sein Kopf nachher zu dröhnen auf, nachdem er das Aspirin hinuntergewürgt hatte. Schließlich packte Leron das Röhrchen wieder in den Umschlag und bot an, den Test nachher per Post zu verschicken, damit so schnell wie möglich das Ergebnis kam. Mit einer Umarmung bedankte sich Simon und versprach mit einem frechen Grinsen „Wenn ich morgen wieder fit bin, revanchiere ich mich dafür.“ Und da konnte der Unternehmer nicht anders, als zu schmunzeln, als er das hörte und erwiderte „Du hast dich schon gestern mehr als genug revanchiert. Mach dir heute einen ruhigen Tag, ich bin gleich zur Post und danach muss ich ohnehin noch ein paar Telefonate führen.“ „Telefonate?“ fragte Simon und schaute ihn irritiert an, denn eigentlich hatte er gedacht gehabt, dass Leron seinen Termin schon hatte und eine Weile Abstand zu seinem Job zu nehmen, um sich mal um sich selbst zu kümmern. Doch wie sich herausstellte, hatte Leron vor, sich eventuell einen anderen Psychologen zu suchen und erklärte, dass Hunter ihm angeraten hatte, sich an einen gewissen Dr. Larson zu wenden, der über das Cohan-Phänomen Bescheid wusste und offenbar eine spezielle Therapie entwickelt hatte. „Dieser Kerl meinte, dass ich auch kurzfristig einen Termin bekommen könnte. Darum will ich nachher mal anrufen. Aber erst schicke ich euren Test zur Post. Brauchst du irgendetwas, was ich dir vielleicht mitbringen kann?“ „Hm… wie wäre es mit was zu knabbern für heute Abend? Wir könnten uns mal die besten schlechtesten Filme reinziehen und uns über den Schwachsinn beömmeln, die allen Ernstes auf die Kinoleinwand gekommen sind. Zum Beispiel Birdemic oder Angriff der Killertomaten. Oder Troll 2. Dann können wir uns einen lustigen Abend machen!“ Ja, das klang sehr verlockend und so konnten sie auch mal einen ganz normalen und ruhigen Tag als Pärchen verbringen. Also verabschiedete er sich fürs Erste von Simon und drückte ihm noch einen Kuss auf die Wange bevor er ging. Da es draußen langsam deutlich bewölkter wurde, ging er noch einen Regenschirm und seine Jacke holen. Doch kaum, dass er gehen wollte, hörte er wieder diese fremde Stimme, die nicht zu Michael gehörte. Und sie klang nicht gerade erfreut. Nein, sie war wütend. „Sag mal wie dämlich bist du eigentlich? Ist dir eigentlich klar, was passieren wird, wenn du diesen Test abschickst? Er wird positiv ausfallen und wenn das geschieht, wird dieser hässliche Freak Simon wegnehmen. Willst du das wirklich zulassen? Simon gehört allein dir und du darfst nicht zulassen, dass ihn irgendjemand wegnimmt, okay? Vernichte einfach den Test und bring diesen Mistkerl um, damit er nie wieder in seine Nähe kommt.“ Diese Stimme klang so durchdringend, dass Leron erst im letzten Moment realisierte, dass er tatsächlich kurz davor stand, den Test im nächsten Mülleimer zu entsorgen. Erschrocken wich er zurück und steckte den Umschlag in seine Tasche. Nein, er durfte nicht auf diese Stimme hören. Wenn er den Test vernichtete, würde Simon ihm das nicht so schnell verzeihen. Er durfte sich nicht von seiner Eifersucht beherrschen lassen und kopflos handeln. Das war es auch, was Cypher und Hunter gesagt hatten: starke Gefühle waren gefährlich für ihn. Seine Familie war dafür besonders anfällig. Liebe konnte zur Besessenheit werden, Hass zu Mordlust und Eifersucht zu Kontrollwahn. Wenn er auf diese Stimme in seinem Kopf hörte, würde er alles kaputt machen und es würde schlimmstenfalls darauf hinauslaufen, dass er Simon verlieren könnte. Nein, sagte er sich und versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Ich werde stark bleiben und nicht zulassen, dass ich mich von meiner Krankheit beherrschen lasse! Mit diesem festen Entschluss wollte er sich nun auf den Weg machen, hörte dann aber ein Klingeln an der Haustür. In der Annahme, es könnten wieder diese beiden komischen Typen sein, die vielleicht versehentlich etwas vergessen hatten, ging er hin um zu öffnen. Doch da standen nicht Cypher und Hunter vor ihm, sondern Michael. In seinen goldgelben Augen spiegelten sich Hass und Wahnsinn wieder. „Hallo Ronnie!“ grüßte ihn dieser mit einem breiten Grinsen. „Du hast etwas, das mir gehört. Deshalb werde ich ein kleines Bestrafungsspiel spielen!“ Und bevor Leron reagieren konnte, holte Michael einen Elektroschocker hervor und verpasste seinem jüngsten Bruder eine volle Ladung. Ein schmerzhafter Stromstoß jagte durch Lerons Körper und er schrie auf, als ihn der brennende Schmerz überkam, dann brach er unter heftigen Zuckungen zusammen. Kapitel 23: Wahn ---------------- Es gelang Michael nur mit Mühe, Lerons regungslosen Körper durch das Haus zu schleifen. Nicht nur, dass sein jüngster Bruder fast so groß und so schwer war wie er selbst. Erschwerend hinzu kamen seine Kopfschmerzen, die ihn fast um den Verstand brachten. Sie trieben ihn noch in den Wahnsinn und schürten seine ohnehin schon äußerst gefährliche Wut und Aggression. Er hielt es nicht mehr aus. Er wollte einfach nur, dass sein verdammter Bruder endlich kapierte, wo sein Platz war und er würde sich endlich das zurückholen, was ihm zustand. Ja ganz genau, er würde seinen Besitz an dem Jungen deutlich machen, indem er seinen Körper vereinnahmen würde und das direkt vor Lerons Augen. Das würde endgültig seinen Willen brechen und ihn lehren, was es hieß, sich mit Michael Evans anzulegen. Nachdem Leron es schon gewagt hatte, ihm seine über alles geliebte Mutter wegzunehmen, würde er ihm nicht auch noch den Jungen überlassen. Und wenn er sich seinen Besitz zurückgeholt hatte, würden dann auch hoffentlich diese entsetzlichen Kopfschmerzen weggehen, die es ihm beinahe unmöglich machten, einen klaren Gedanken zu fassen. Teilweise waren sie so schlimm, dass er sogar das Gefühl hatte, als würden diese Kopfschmerzen manchmal sogar sein Sehvermögen beeinträchtigen. Wenn sie besonders schlimm waren, verschwamm seine Sicht und seine Ohren dröhnten. In den letzten Tagen war es besonders schlimm gewesen und sein Hausarzt war auch keine große Hilfe gewesen. Stattdessen hatte dieser ihn einfach an das Krankenhaus überstellt und gemeint, man könne nur dort eine genauere Diagnose stellen. So ein unfähiger Vollidiot. Wozu bezahlte er ihn eigentlich, wenn dieser Stümper nicht einmal fähig war, selber eine Diagnose zu stellen und ihm irgendetwas zu geben, damit diese verdammten Kopfschmerzen endlich aufhörten? Michael hatte sich das natürlich nicht gefallen lassen und diesem Hurensohn gleich die Nase gebrochen und ihm einen Zahn ausgeschlagen. Während er seinen Bruder zu seinem Zimmer schleifte, war ihm so, als würden die Kopfschmerzen zu einem heftigen Pulsieren werden. Vor seinen Augen begann es zu flimmern und ihm wurde schlecht. Doch er ignorierte diese Beschwerden, denn es gab weitaus Wichtigeres zu tun. Als er Leron zu seinem Schlafzimmer schleifen wollte, hörte er plötzlich Schritte näher kommen und eine Stimme rufen, die zaghaft nach seinem jüngeren Bruder rief. Diese Stimme gehörte ihm. Sofort ließ Michael von ihm ab und ging in Deckung und lauerte auf sein eigentliches Ziel. Langsam kamen die Schritte herunter und tatsächlich sah er, dass es der Junge von vor drei Jahren war, den er auf dem Straßenstrich aufgegabelt und zu seinem Loft gebracht hatte. Er hatte sich äußerlich seitdem kaum geändert und wirkte immer noch etwas zu jung und schmal für sein Alter. „Leron?“ hörte er ihn rufen. „Ist alles in Ordnung? Was war das für ein Schrei?“ Michael wartete, bis er die letzten Stufen hinuntergegangen war und schlich sich an ihn heran, den Elektroschocker bereithaltend. Eigentlich war er fast vollkommen lautlos, doch da drehte sich der Junge plötzlich um und sah ihn erschrocken mit seinen leeren weißen Augen an. Das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er erkannte, wen er vor sich hatte und er wollte schon die Flucht ergreifen, doch Michael bekam ihn am Kragen zu fassen, zerrte ihn zurück und verpasste ihm eine Ladung in den Nacken. Der Taser war wirklich eine hervorragende Idee von Jackson gewesen. So konnte er problemlos jeden ausschalten und dann alles vorbereiten. Aber nun galt es, das Spiel vorzubereiten. Immerhin wollte er doch, dass sein kleiner Bruder seine Lektion lernte, dass er die Finger vom Eigentum anderer Leute ließ. Und um sicher zu gehen, dass dieser Idiot es niemals vergessen würde, hatte er sich vorgenommen, es in seinem Schlafzimmer zu tun. Da, wo sein Bruder es gewagt hatte, mit seinem Jungen zu schlafen, würde er es nun selbst mit ihm tun und das noch vor Lerons Augen. Das würde ihm ein für alle Male eine Lehre sein. Da der Junge glücklicherweise nicht allzu schwer war, trug er ihn als erstes ins Schlafzimmer und kehrte dann zurück, um seinen Bruder zu holen. Als er bemerkte, dass sich dieser langsam wieder von dem Schlag erholte, jagte er ihm kurzerhand noch eine Ladung in den Körper um sicherzugehen, dass es keine Probleme geben würde. „Oh Mann, du machst auch mehr Ärger als du wert bist, Ronnie…“ Mit zusammengepressten Zähnen zerrte Michael ihn ins Schlafzimmer fixierte eine seiner Hände mit Handschellen an das Heizungsrohr. Perfekt, damit sollte es erst einmal gehen. Und von dort aus hatte er eine gute Sicht, um auch wirklich alles zu sehen. Das war schlichtweg perfekt. Das würde sein bisher größtes Bestrafungsspiel werden. Leron körperlich zu quälen machte ihm ohnehin keinen Spaß. Sein Bruder war dafür deutlich zu alt und wenn Michael sich ein männliches Spielzeug suchte, dann sollte dieses auch wesentlich jünger und zierlicher sein. Auch wenn der Junge, den er vor drei Jahren aufgegabelt hatte, schon längst erwachsen war, passte er rein äußerlich ausgezeichnet in sein Beuteschema. Er war perfekt! Mit einem zufriedenen Lächeln ging Michael zum Bett hin, wo er ihn erst mal hingelegt hatte. Er war immer noch bewusstlos und lag da, als würde er friedlich schlafen. Ihn allein schon in diesem Zustand zu sehen, erregte ihn. Er wollte nicht mehr länger warten. Nein, er hatte lange genug gewartet und er würde jetzt endlich das einfordern, was ihm zustand. Und er würde nicht zulassen, dass Leron ihm den Jungen für immer wegnahm. Ungeduldig und mit Händen, die vor Aufregung und überwallenden chaotischen Emotionen zitterten, begann er den Jungen auszuziehen, bis dieser fast vollkommen nackt vor ihm lag. Doch obwohl sein Verlangen, den Jungen vollständig zu vereinnahmen und ihn wieder zu seinem alleinigen Eigentum zu machen, überwältigend und kaum auszuhalten war, zwang er sich zur Geduld. Es wäre doch kein Bestrafungsspiel, wenn er jetzt schon anfangen würde, wenn keiner von beiden wirklich bei Bewusstsein war, um es zu genießen. Dennoch wollte er zumindest schon mal eine kleine Kostprobe haben. Langsam beugte er sich vor, und küsste diesen schlanken und zierlichen Hals und stellte mit Wut fest, dass Lerons Geruch an seinem Körper haftete. Für einen Moment vergaß sich Michael fast und hätte ihm dafür direkt ins Gesicht geschlagen, doch die rasenden Kopfschmerzen bremsten ihn kurz und löschten seine Gedanken und damit auch seinen Drang, den Jungen zu schlagen. Aber glücklicherweise öffnete dieser eh gerade die Augen. Leron kam langsam wieder zu sich und fühlte sich noch sehr benommen. Er brauchte einen kurzen Moment um zu realisieren, was passiert war. Michael hatte an seine Tür geklingelt und ihn daraufhin mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt. Und ein lauter Schrei von Simon bestätigte ihn in seiner schlimmsten Befürchtung. Als er den Blick hob und realisierte, dass er sich in seinem eigenen Schlafzimmer befand und an einem Heizungsrohr gefesselt war, sah er zum Bett. Michael war dort und hatte Simon niedergedrückt, der fast vollständig nackt war und sich nach Leibeskräften zu wehren versuchte und um Hilfe rief. Entsetzen ergriff Besitz von ihm als er realisierte, was das zu bedeuten hatte. Es war das Bestrafungsspiel… Michael wollte Simon etwas antun und ihn dazu zwingen, tatenlos dabei zuzusehen. Er versuchte aufzustehen, realisierte aber, dass er mit einer Hand an das Heizungsrohr gekettet war… mit einer Handschelle. Sofort versuchte er mit einem kräftigen Ruck, sich irgendwie zu befreien, doch die Kette hielt stand. „Mike!“ rief er und spürte, wie Zorn in ihm aufkochte. „Nimm deine dreckigen Hände von ihm oder ich bringe dich um! Fass ihn nicht an!“ „Leron!“ rief Simon verzweifelt und versuchte, Michael von sich zu drücken, allerdings kam er einfach nicht gegen ihn an. Dieser war ihm körperlich um Längen überlegen und schaffte es mit Leichtigkeit, ihn aufs Bett zu drücken. Ein breites und zugleich manisches Grinsen zog sich über seine Mundwinkel und man hätte ihn wirklich für einen Psychopathen aus einem Thriller halten können. „Ah wunderbar, jetzt sind alle wach“, stellte er zufrieden fest. „Dann können wir ja endlich mit dem Bestrafungsspiel beginnen. Du bist selbst schuld, Ronnie. Du hättest ihn mir nicht einfach so wegnehmen dürfen. Er gehört mir! Mir ganz alleine und ich überlasse ihn niemandem. Und wenn du es verdammt noch mal nicht kapierst, dann werde ich dir eben zeigen, wer hier das Sagen hat! Ich bin immer noch der Älteste, klar? Normalerweise würde ich dich das wieder am eigenen Leib spüren lassen, aber bedauerlicherweise kriege ich bei Männern deines Formats einfach keinen mehr hoch. Ich bevorzuge meine Jungs wesentlich jünger und zierlicher.“ Michael hatte Simon nun mit Gewalt auf den Bauch gedreht und hielt dessen Arme auf den Rücken gedrückt, damit er weniger Gegenwehr hatte. Leron sah mit Entsetzen, wie sein Bruder den vor Angst schreienden Jungen gewaltsam niederdrückte und nun versuchte, ihm auch noch die Pants herunter zu zerren, um sich dann an ihm zu vergehen. Nein, das durfte er nicht zulassen. Er hatte Simon versprochen, ihn zu beschützen und nicht zuzulassen, dass ihm etwas passierte. Michael würde ihn brechen, das war garantiert und danach würde Simon nie wieder er selbst sein. Schlimmstenfalls würde er das nicht überleben, nachdem er schon beim letzten Mal fast gestorben wäre. Etwas in Lerons Verstand setzte aus und er schaffte es nicht mehr, klar zu denken und sich zu beherrschen. Die Angst um den Jungen ließ ihn jegliche Disziplin und jeglichen Willen vergessen, diese Wut zu unterdrücken. Stattdessen übermannte ihn blanker Zorn und er spürte nur noch einen Wunsch: seinen Bruder umzubringen. Ja, er würde Michael töten und ihm den Schädel einschlagen. „Geh runter von ihm oder ich bring dich um, du Dreckskerl“, schrie er wutentbrannt und begann an der Handschelle zu zerren. Sie hielt stand und er hatte immer noch nicht genug Kraft, um sich mit Gewalt zu befreien. Doch es kam ihm einfach nicht in den Sinn. Das logische Denken hatte bei ihm vollständig ausgesetzt und in diesem Zustand hätte er sich sogar den Arm abgetrennt, nur um endlich freizukommen. Er war dem Zustand einer blinden Raserei nah und wieder war da diese Stimme in seinem Kopf, die ihm zusprach. Nicht die von Michael, sondern jene fremde Stimme, die ihm aber dennoch so bekannt vorkam, als hätte er sie vor vielen Jahren schon mal gehört. „Ja, so ist es richtig“, flüsterte sie ihm zu. „Gib dich deiner Wut und deinem Hass hin. Denn das ist es, was dich wirklich ausmacht: der Drang zur Zerstörung und zum Mord. Du weißt, was du zu tun hast. Du musst ihn töten, mein Schatz…“ Leron erstarrte, als er sah, wie jemand plötzlich direkt vor ihm kniete und ihm mit einem sanften Lächeln durchs Haar strich. Es war seine Mutter. Sie sah genauso aus wie früher, doch etwas an ihr war anders, als er in Erinnerung hatte. Ihre Augen waren nicht dunkelbraun, wie auf all seinen Fotos von ihr zu sehen war. Nein, sie waren goldgelb, genauso wie Michaels Augen. Und ihre weiße Bluse war besudelt von großen Blutflecken. Leron verstand nicht, was das bedeuten sollte und warum seine Mutter hier war. Vor allem aber verstand er nicht, wieso sie so aussah. „W-was…“ „Du brauchst keine Angst haben, mein Schatz“, versicherte sie ihm und streichelte liebevoll seine Wange. Ein Lächeln zierte ihre Lippen, doch es wirkte nicht mehr so warmherzig wie früher. Es hatte etwas Unheimliches und Falsches an sich. Eine Halluzination, schoss es ihm durch den Kopf. Ich halluziniere von meiner eigenen Mutter, die genauso verrückt aussieht wie Michael! „Es ist ganz leicht, Mommy hat es ja schließlich auch geschafft. Du brauchst nichts weiter zu tun, als dich diesem Drang hingeben und das zu tun, wozu du geboren wurdest. Willst du denn nicht beschützen, was du liebst und es mit allen Mitteln verteidigen? Na los doch, mein Liebling. Lass Mommy dir helfen, dich zu befreien und deinen Bruder zu töten…“ „Du… du bist nicht echt“, brachte er hervor und versuchte sie wegzudrücken. „Du bist nur eine Wahnvorstellung!“ „Machst du dir das nicht zu einfach?“ fragte sie und kam immer näher. „Egal wie oft du vor der Wahrheit davonläufst, deinem eigenen Blut wirst du niemals entkommen. Und dein Wille, standhaft zu bleiben, wird dir nicht helfen, Simon zu retten. Also mach es dir nicht schwerer als es schon ist und lass mich dir helfen. Lass es einfach zu und Mommy wird die Dinge regeln.“ Damit legte Katherine ihre Hände an Lerons Wangen und er erschauderte als er spürte, wie echt sich das anfühlte. Als wäre sie wirklich hier. Mit einem kalten Lächeln und einem beängstigenden Ausdruck in ihren goldgelben Augen hielt sie ihn unwiderstehlich in ihrer Macht und brach seinen allerletzten Widerstand, der ihn davor bewahrt hatte, sich selbst vollständig aufzugeben. Simon schrie sich fast die Seele aus dem Leib und versuchte mit all seiner Kraft, sich irgendwie aus Michaels Griff zu befreien. Er hatte Angst, panische Angst. Den Mann wiederzusehen, der ihn vor drei Jahren im Loft brutal vergewaltigt und fast erwürgt hätte, ließ für ihn den schlimmsten Alptraum wahr werden und er konnte nicht glauben, dass das hier gerade geschah. Er wollte nicht, dass dieser Kerl ihn anfasste und die einzige Möglichkeit, die ihm blieb war, Lerons Namen zu rufen, doch dieser war an einem Heizungsrohr gefesselt und konnte nichts tun. In seinen Augen sammelten sich Tränen. Warum nur musste das hier passieren, nachdem es die letzten Tage so gut lief? Und dann würde Leron auch noch zusehen müssen, wie sich Michael an ihm verging. Das war für ihn das allerschlimmste. Nicht nur, dass er selber mit diesen Bildern leben musste, Leron würde für immer vor Augen haben, wie sein ältester Bruder mit dem Menschen schlief, den er liebte. Nein… wenn er schon wirklich nichts dagegen tun konnte, dann wollte er wenigstens, dass Leron das nicht mit ansehen musste. „Nein bitte“, flehte er verzweifelt. „Lass ihn das nicht sehen. Bitte!!!“ „Er wird es mit ansehen!“ widersprach Michael mit Nachdruck in der Stimme. „Und er wird sich jede Sekunde schön einprägen, damit er auch in Zukunft weiß, dass du allein mir gehörst!“ „Bitte, ich tu auch alles, aber lass ihn das nicht sehen. Ich will das nicht!“ Doch Michael blieb unbarmherzig und riss ihm die Pants runter. Simons Herz schlug vor Angst wie verrückt und er begann am ganzen Körper zu zittern. Und als er eine Hand an seinem Hintern spürte und wie ein Finger seinen Schließmuskel zu umspielen begann, da verkrampfte sich alles in ihm. Er wollte das nicht. Dieser Kerl sollte gefälligst die Finger von ihm lassen. Verzweifelt und angsterfüllt sah er zu Leron herüber, erkannte aber mit Schrecken, dass dieser vollkommen weggetreten war. Er starrte ins Leere als würde er etwas sehen, was sonst kein anderer sehen konnte und etwas in seinen Augen begann sich zu ändern. Das wunderschöne haselnussbraun mit dem schwachen grün begann heller zu werden und ein goldgelb schien sich durch den Farbton zu ziehen und sich auszubreiten. Simon konnte deutlich sehen, wie Lerons Augen heller wurden und von einem schwachen goldgelb durchdrungen wurden, welches immer mehr das haselnussbraun seiner wahren Augen verdrängte. Und auch der Ausdruck in Lerons Augen schien sich zu verändern. Waren sie vorher von Angst und Fassungslosigkeit gezeichnet, spiegelte sich nun etwas darin, welches man nur noch als Wahnsinn beschreiben konnte. Simon sah nun zum zweiten Mal Lerons andere Seite, doch dieses Mal war es nicht so wie beim letzten Mal, als sie sich gestritten hatten. Es sah danach aus, als würde Leron in diesen Sekunden den Verstand verlieren. Bevor er so wirklich begriff, was da vor sich ging, geschah alles ganz schnell. Lerons Gesicht verwandelte sich in eine von Hass und blanker Mordlust verzerrte Fratze und er schien nicht mehr er selbst zu sein. Zum ersten Mal bekam er wirklich Angst vor ihm. Mit einem wutentbrannten Aufschrei richtete sich der Gefesselte auf und zerrte mit aller Kraft an den Handschellen. Simon sah entsetzt, wie die Handschelle sein Handgelenk aufschürfte und Blut aus der Wunde tropfte. Für einen Moment fürchtete er fast, dass Leron sich noch die Hand brechen würde, doch da riss auch schon die Kette, die die Handschellen zusammenhielt und kaum, dass er frei war, stürzte er sich auf Michael. Er schlug ihm direkt ins Gesicht und brach seinem ältesten Bruder die Nase, schlug wieder zu und zerrte ihn dann vom Bett herunter. „Ich bring dich um, du Bastard!“ schrie er mit einer Stimme, die so fremd für Simon klang, dass er sich nicht mehr sicher war, ob das wirklich noch Leron Evans war, den er sah. Nein.. war nicht mehr Leron Evans, sondern Leron Cohan. „Ich schlag dir den verfickten Schädel ein!!!“ Simon, der noch nicht einmal ganz den Schock der Beinahevergewaltigung verdaut hatte, sah mit Entsetzen, wie Leron seinen Bruder im Genick packte und seinen Kopf gegen die Wand stieß. Es gab einen dumpfen Knall und ein Blutfleck klebte an der Tapete. Wieder schlug er Michaels Kopf gegen die Wand und Simon wurde klar, dass er eingreifen musste. Leron war nicht mehr bei Verstand und wenn er nichts tat, würde er seinen Bruder umbringen. „Leron, hör auf!“ rief er und sprang aus dem Bett, wobei er aber ins Stolpern geriet und fast gestürzt wäre. „Hör auf! Du bringst ihn ja um!“ Auch wenn er Michael hasste und es ihm lieber wäre, ihn nie wieder zu sehen, konnte er einfach nicht zulassen, dass Leron ihn tötete. Man würde ihn wegen Mordes ins Gefängnis stecken oder ihn wegen Unzurechnungsfähigkeit in eine geschlossene Anstalt einweisen lassen. Doch vor allem hatte er Angst, dass Leron nie wieder zu Verstand kommen würde, wenn er ihn jetzt nicht aufhielt. Schlimmstenfalls würde er für immer in diesem Zustand bleiben und nie wieder der Mensch sein, den er liebte und der ihn gerettet hatte. Bevor Leron ein weiteres Mal Michaels Kopf gegen die Wand rammen konnte, warf sich Simon auf ihn und versuchte, Michael von ihm wegzuzerren. Doch der in Raserei verfallene Unternehmer registrierte gar nicht mehr, wer der Junge eigentlich war, der ihn aufzuhalten versuchte. Er konnte nicht mehr klar denken und bemerkte nur, dass da jemand war, der es wagte, ihn davon abzuhalten, es seinem Bruder heimzuzahlen. „Töte ihn“, flüsterte die Stimme seiner Mutter in seinem Kopf. „Töte sie beide. Töte jeden, der es wagt, sich mit dir anzulegen oder dich aufzuhalten. Sie sind alle deine Feinde. Sie alle verdienen es zu sterben!“ Wutentbrannt richteten sich seine Augen auf Simon, der ihn angsterfüllt und entsetzt ansah und Tränen in den Augen hatte. Um diesen Bengel würde er sich später kümmern, erst musste er seinen Bruder umbringen. Grob packte er den Jungen am Handgelenk und schleuderte ihn weg, doch bevor er sich wieder seinem bewusstlosen Bruder widmen konnte, dessen Stirn stark blutete, warf sich der Junge wieder auf ihn und klammerte sich verzweifelt an ihn fest. „Tu es… töte ihn endlich…“ „Leron, bitte hör auf!“ flehte Simon und hielt sich an seinem Arm fest. „Lass ihn los und komm wieder zu dir. Du bringst ihn noch um!“ „Verschwinde und lass mich in Ruhe!“ brüllte Leron und versuchte ihn abzuschütteln. „Oder ich bring dich auch um!“ Doch Simon ließ nicht von ihm ab und klammerte sich mit aller Kraft an ihm fest. „Bitte Leron, das bist doch nicht du. Du bist doch nicht so wie dein Bruder, oder? Bitte hör auf damit. Du machst mir Angst!“ Diese letzten Worte ließen Leron innehalten und erstickten für einen Augenblick seine unbändige Wut. Ihm war, als würde sich langsam ein dichter schwarzer Nebel in seinem Verstand lichten und ihn aus seiner Benommenheit herausholen. Was war passiert? Warum hatte sich Simon an ihn geklammert und zitterte am ganzen Körper? Als er auf Michael sah, den er immer noch am Kragen festhielt und der immer noch bewusstlos war, realisierte er, was gerade passiert war: er hatte die Kontrolle verloren. Er hatte sich völlig in seinem Wahnsinn verloren und von seiner Mutter einreden lassen, dass er Michael umbringen sollte… und dann Simon. Großer Gott, was hatte er da bloß getan? Hatte er sich denn nicht geschworen gehabt, dass er niemals die Kontrolle verlieren und nie wieder jemandem wehtun würde? Und dann passierte ihm so etwas und er bedrohte auch noch Simon. Was war er doch für ein Idiot. „Simon…“, sprach er mit kraftloser Stimme und ließ den bewusstlosen Michael zu Boden sinken. „Es… es tut mir leid. Ich wollte doch nur…“ Wortlos fiel Simon ihm in die Arme und drückte schluchzend sein Gesicht in Lerons Hemd. Er war vollkommen aufgewühlt und durcheinander. „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst!“, hörte er wieder die Stimme seiner Mutter sagen und mit Entsetzen sah er, dass sie direkt neben seinem bewusstlosen Bruder stand. Sie hielt ein blutiges Messer in der Hand und sie sah ihn streng an. „Er wird es wieder versuchen und das weißt du genau. Er wird nicht aufgeben und deshalb musst du ihn töten, hörst du? Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens weglaufen wie ein Feigling. Du musst dich endlich mal zur Wehr setzen! Du brauchst mich!“ „Was meinst du damit?“ fragte Leron und drückte Simon schützend an sich, denn ihm gefiel ganz und gar nicht, was er da sah. Seine Mutter war blutüberströmt und hatte ein ebenso blutverschmiertes Messer in der Hand. Ihre Augen leuchteten goldgelb und er verstand einfach nicht, wieso sie so aussah. Irgendetwas stimmte an dieser Szene nicht. Sie war immer ein sehr liebevoller Mensch gewesen und sie war die beste Mutter gewesen, die er sich hätte vorstellen können. Warum also sah sie so aus? Er verstand es einfach nicht. Lauernd wie ein Raubtier kam sie auf ihn zu, das Messer immer noch in ihrer Hand. Langsam drückte er den Jungen sich und stellte sich schützend vor ihm. Er wusste nicht, was seine Mutter vorhatte und warum sie überhaupt ein Messer in der Hand hielt, aber es konnte jedenfalls nichts Gutes bedeuten, wenn sie so aussah, als wäre sie gerade einem Killerroman entsprungen. „Du brauchst keine Angst zu haben, mein Schatz“, sprach sie mit zuckersüßer Stimme und strich zärtlich über seine Wange. „Mommy ist ja da, um dich zu beschützen. Du musst es nur zulassen und Mommy wird jeden bösen Menschen aus dem Weg räumen, der dir Schaden zufügt. Lass es zu, mein Liebling. Lass Mommy das für dich erledigen.“ „Leron?“ fragte Simon vorsichtig, doch es kam keine Reaktion. Denn als Leron sich zu ihm umdrehen wollte, legte seine Mutter ihre Hände auf seine Wangen und richtete seinen Blick wieder voll und ganz auf sich. „Du kannst nicht vor dem davonlaufen, wer du wirklich bist, mein Schatz. Es liegt in deinem Blut, Menschen zu verletzen und das ist nicht schlimm. Es ist ein Teil von dir und du musst ihn akzeptieren. Genauso wie ich und Michael es akzeptiert haben. Dann musst du nie wieder vor irgendetwas Angst haben oder davonlaufen. Mommy regelt das für dich. Das weißt du doch, oder?“ Diese letzten zwei Sätze jagten Leron einen eiskalten Schauer über den Rücken. Wo hatte er das denn schon mal gehört, als seine Mutter sagte, sie würde die „Dinge regeln“? War da nicht auch etwas mit einem Messer gewesen? „Warum sagst du mir das? Was hast du getan, Mum?“ „Ich sage dir das, weil ich dich liebe, mein Schatz. Und ich habe es für dich getan. Ich werde alles tun, um meine Lieblinge zu beschützen. Ganz egal, was ich dafür tun muss. Und ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand meinem kleinen Engel etwas antut.“ „Leron!“ rief Simon nun, als er bemerkte, dass der Unternehmer schon wieder halluzinierte. Doch so wie er gerade reagierte, schien es nicht mehr bloß eine Stimme im Kopf zu sein. Er schien jemanden ganz gezielt anzusehen, was bedeutete, dass er nicht nur eine akustische Halluzination hatte. Und obwohl das Goldgelb in seinen Augen fast wieder verschwunden war, blieb ein leichter Schimmer zurück. Irgendetwas musste er tun, denn wenn dieser sich wieder in seine Halluzinationen hineinsteigerte, konnte er wieder die Kontrolle verlieren. Simon rief ihn erneut und zog an seinem Arm, doch der Unternehmer bemerkte ihn gar nicht. Also blieb nur noch eine Möglichkeit. Auch wenn es ihm nicht gefiel, musste er es ihm zuliebe tun. Er stellte sich vor ihm hin, holte aus und verpasste ihm eine Ohrfeige. „Leron, wach endlich auf!“ Etwas verwirrt und orientierungslos blinzelte der 31-jährige und schien erst jetzt wieder klar zu sein. „Da ist niemand, verstehst du? Du halluzinierst gerade wieder. Außer uns dreien ist niemand hier und deine Mutter ist nicht da. Sie ist tot, weißt du denn nicht? Sie ist gestorben als du klein warst und sie kann deshalb nicht hier sein! Leron, bitte komm wieder runter!“ „Tut mir leid“, murmelte der Geohrfeigte und senkte den Blick. „Ich glaube… das war etwas zu viel für mich gewesen. Bist du irgendwie verletzt?“ „Nein, aber du. Deine Hand blutet!“ Erst jetzt registrierte Leron, dass er sich das Handgelenk aufgeschürft hatte, als er mit Gewalt die Kette der Handschelle zerrissen hatte. Dünne Blutrinnsale flossen hinunter und es schmerzte ziemlich. Das musste auf jeden Fall verarztet werden. Und was seinen Bruder anging, da hatte er auch so einiges angerichtet. Zur Polizei bringen konnte er ihn schlecht. Das, was er getan hatte, ging deutlich über Notwehr hinaus, immerhin hatte er ihn fast umgebracht, wenn Simon nicht dazwischen gegangen wäre. Schlimmstenfalls bedeutete das für ihn eine Anzeige wegen Körperverletzung und das würde erhebliche Probleme nach sich ziehen. Nein, eine Anzeige kam nicht infrage, so sehr ihn das auch ärgerte. Und er glaubte kaum, dass Michael selbst von sich aus zur Polizei gehen würde. Die heftige Abreibung würde ihm fürs Erste das Maul stopfen und er würde noch ein paar ernste Worte mit seinem Vater reden. Auch wenn Michael ein Psychopath war, so hörte er bis zu einem gewissen Grad noch auf seinen Vater und Leron würde auch deutlich machen, dass er seinen ältesten Bruder beim nächsten Mal höchstpersönlich zur Polizei bringen würde. Und da war es ihm egal, ob sie miteinander verwandt waren. Er würde ihn ins Auto verfrachten, vor dem Krankenhaus absetzen und wieder nach Hause fahren. Vor allem würde er schnellstmöglich Dr. Larson anrufen. Wenn er jetzt schon begann, von seiner Mutter zu halluzinieren und sie leibhaftig vor sich zu sehen, dann bedeutete es nur, dass sich sein Zustand drastisch verschlimmert hatte. Und er durfte auf keinen Fall zulassen, dass er wieder die Kontrolle verlor. Nicht auszudenken, wenn er in diesem Zustand Simon etwas antat. Das könnte er sich nie im Leben verzeihen. Kapitel 24: Zuflucht bei Cypher ------------------------------- Es war düster in dem Raum und eine seltsame Atmosphäre herrschte hier. Die Tapete war dunkelrot gestrichen und an den Wänden hingen Poster von Horrorfilmen wie „Hellraiser“, „Martyrs“, „Adam Chaplin“, „Guinea Pig“ oder „A Serbian Film“. In den Regalen waren Totenköpfe, Figuren von Monstern und Gläser mit täuschend echt wirkenden Kunstorganen aufgereiht und die meisten Besucher hätten sich bereits nach wenigen Augenblicken unbehaglich gefühlt und den Raum verlassen. Für Cypher jedoch war es das Paradies. Er liebte die düstere Umgebung, das Morbide und Makabere und vor allem das Blutige. Auch jetzt war er gerade dabei, sein nächstes Kunstwerk fertig zu stellen: ein Herz mit einem Auge in der Mitte. Nachdem er sich genug Bilder angesehen hatte und eine ideale Vorstellung hatte, wie er es gestalten wollte, hatte er sich ans Werk gemacht und in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, welches auch sein ganz persönliches Atelier war. Allerdings hätten andere es wahrscheinlich eher als Horrorkabinett bezeichnet. Das großräumige Atelier in der ehemaligen Werkhalle der alten Fabrik nutzte hauptsächlich Hunter, weil er meist an großen Skulpturen arbeitete und dementsprechend mehr Platz benötigte. Außerdem mochte er die Heavy Metal Musik nicht, die sein Freund zu hören pflegte. Sie klang ihm viel zu aggressiv und versetzte ihn nicht wirklich in die richtige Stimmung. Er bevorzugte für seine Arbeit die bestmögliche Atmosphäre und ließ zu diesem Zweck Songs aus bekannten Horrorfilmen spielen. Cypher liebte den Horror, das Gemetzel und den Anblick von Organen. Es hatte ihn schon immer fasziniert, aber die meisten seiner Mitmenschen fanden seine Hobbys eher abstoßend und nannten ihn einen Freak. Aber war das ein Grund, sich zu verändern und seine Leidenschaft zu verleugnen, nur um anderen Menschen zu gefallen? Die Antwort war für Cypher ganz klar „nein“. Wenn die Leute nicht mit seinen Hobbys leben konnten, dann war es ihr Problem. Wenn sein Aufenthalt in der Klinik ihn etwas gelehrt hatte, dann ganz klar, dass er zu dem stehen sollte, was ihn ausmachte. Und in Hunter hatte er jemanden gefunden, der ihn so akzeptierte wie er war, trotz seiner merkwürdigen Hobbys. Seine einzige Bedingung war lediglich, dass tägliche Aufgaben und Mahlzeiten auf ganz bestimmte Zeiten festgesetzt wurden, um einen strukturierten Tagesablauf gewährleisten zu können. Und bisher hatte es keine großen Probleme gegeben. Cypher hatte sogar schon mal über eine Heirat nachgedacht. Inzwischen war das ja kein großes Problem mehr, seit die gleichgeschlechtliche Ehe fast überall möglich war. Nur musste er das irgendwie Hunter schmackhaft machen. Da dieser aber Veranstaltungen mit vielen Leuten hasste, würde das noch ein wenig schwierig werden. Erst einmal war er auf das Testergebnis gespannt. So langsam hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, dass er eventuell einen kleinen Bruder haben könnt und Simon machte auch einen recht sympathischen Eindruck. Zwar wirkte der Kleine recht zurückhaltend, aber da sie ja beide das gleiche Augenproblem hatten, konnte er sich gut vorstellen, was er in seiner Jugend durchgemacht hatte. Als es klingelte, legte der in Gedanken versunkene Künstler vorsichtig seine Werkzeuge beiseite und wunderte sich, wer da wohl sein könnte. Vielleicht Mr. Nielson vom Studio? Aber der Termin zur Besprechung der Spezialeffekte war doch erst nächste Woche. Es klingelte erneut und er rief schon „Ja, ich komme gleich!“ Und als er die Haustür öffnete und Simon und Leron sah, war er erst mal ziemlich überrascht, denn mit diesem Besuch hätte er jetzt nicht gerechnet. Und als er auch noch bemerkte, wie fertig sie aussahen, ahnte er bereits, dass irgendetwas passiert war. „Hey Leute, kann ich euch irgendwie helfen?“ erkundigte er sich. „Entschuldige die Störung“, begann Leron und erklärte „Ich werde für voraussichtlich vier oder fünf Tage in die Klinik gehen müssen und ich möchte Simon nicht alleine lassen und er hat große Angst davor, alleine in der Villa zu bleiben. Da er sonst niemanden kennt, wollte er gerne bei euch bleiben. Für die Umstände würde ich eine Entschädigung zahlen.“ Damit reichte Leron ihm einen braunen Umschlag mit knapp 3.000$, doch kaum, dass Cypher sich den Inhalt des Umschlages angesehen hatte, verschloss er ihn wieder und gab ihn Leron zurück. „Für so was brauchst du doch keine Kohle zu zahlen. Wir haben eh genug Platz, da macht er schon keine Umstände. Geh du mal ruhig in die Klinik und sieh zu, dass es dir besser geht. Um ihn hier werden wir uns schon gut kümmern, keine Bange.“ Man sah deutlich, wie Leron ein Stein vom Herzen fiel, doch er bestand trotzdem darauf, dass Cypher das Geld annahm. Nach einer kurzen Diskussion gab der 25-jährige nach und nahm es letzten Endes doch an als er merkte, dass Leron nicht nachgeben würde. Schließlich holte Simon seine Tasche aus dem Kofferraum des Wagens und verabschiedete sich von Leron. So bedrückt, wie bei denen die Stimmung war, konnte sich Cypher denken, dass Schlimmes irgendetwas passiert war, aber er würde noch bei passender Gelegenheit nachfragen. Also ließ er den beiden genug Zeit, voneinander Abschied zu nehmen und nahm dann die Tasche entgegen. „Na dann komm mal rein in die gute Stube!“ Glücklicherweise hatten sie zwei Gästezimmer im Haus, da hin und wieder mal Freunde herkamen und auch mal hier bei ihnen übernachteten. Und da würde es auch kein Problem sein, den Jungen ein paar Tage hier unterzubringen, solange sein Milliardärsfreund in der Klinik war. Zum Glück war das erste Gästezimmer ordentlich aufgeräumt und auch gemütlich eingerichtet. Es hatte ein Einzelbett, zwei Schränke und einen Tisch mit Stuhl. Neben dem Bett gab es noch ein kleines Nachtschränkchen mit Wecker. Inzwischen war es 17 Uhr und in einer Stunde würde es Abendessen geben. Passte also ganz gut. Cypher stellte die Tasche auf dem Bett ab. „So, du kannst schon mal auspacken und wenn du irgendetwas brauchst, findest du mich und Hunter im Atelier. Ich muss ihn erst mal vorwarnen gehen, dass wir jetzt einen Gast haben, damit er sich schon mal drauf einstellen kann. Komm erst mal in Ruhe an.“ „Danke…“, murmelte Simon ein wenig niedergeschlagen und so ging Cypher erst mal rüber ins große Atelier, wo wie immer laute Heavy Metal Musik aus den Lautsprechern dröhnte, um den Lärm der Maschinen zu übertönen. Gerade war Hunter dabei, seine neueste Figur zu beginnen und die grobe Form auszuarbeiten. Er war vollkommen vertieft in seine Arbeit und diesen Anblick liebte Cypher einfach an ihn, wenn sein stets finster drein blickender Freund so hochkonzentriert war, wenn er künstlerisch tätig wurde. Für Hunter waren Kunst und Handwerk ein guter Ausgleich und wie eine Art Beschäftigungstherapie und er war auch sehr geschickt und talentiert. Für diese Dinge hatte er schon immer ein gutes Händchen und diese körperliche Arbeit zeichnete sich bei ihm auch ab. Allein seine durchtrainierten Arme und die angespannten Muskeln zu sehen, reichten aus um Cyphers Herz höher schlagen zu lassen. Nachdem er die Musik ausgeschaltet hatte, legte Hunter sein Werkzeug beiseite und nahm Schutzbrille und Maske ab, bevor er sich ihm zuwandte. Seine Miene war unbewegt, aber Cypher kannte ihn inzwischen lange genug um zu wissen, was in ihm vorging und dass er in diesem Moment verwundert war. Denn normalerweise unterbrach er ihn eher selten bei der Arbeit. „Ich wollte dich schon mal vorwarnen, dass wir Besuch haben“, erklärte er seinem jüngeren Freund. „Simon bleibt für ein paar Tage bei uns, weil Leron erst mal für eine Weile in die Klinik geht. Offenbar geht’s ihm wohl schlechter, aber genaueres weiß ich noch nicht.“ „Und wie lange?“ fragte Hunter tonlos. Etwas unsicher zuckte der Gefragte mit den Schultern und vermutete „Erst mal war von drei oder vier Tagen die Rede. Vielleicht wird es auch mehr, so genau weiß ich das nicht. Kommt ja auch ganz drauf an was der Doc sagt. Ich hab Simon im Gästezimmer einquartiert und er packt gerade seine Sachen aus.“ „Und warum hier? Er kennt uns doch kaum.“ „Er hat ja sonst niemanden und er hat offenbar Angst davor, alleine in der Villa zu bleiben. Ich schätze mal, dass da irgendwas passiert ist. Genaueres weiß ich erst, wenn er redet, aber ich wollte ihm erst mal Zeit zum Ankommen geben, weil er ziemlich fertig aussah. Leron hat uns übrigens drei Riesen als eine Art Aufwandsentschädigung da gelassen und ich konnte ihm den Blödsinn halt nicht ausreden. Naja, ich hätte echt Bock auf was Chinesisches heute Abend. Willst du auch?“ „Das Übliche“, sagte Hunter nur, was sowohl sein Einverständnis als auch sein Wunsch für sein Essen war. Zufrieden damit ging Cypher wieder zurück, ging noch seinen Gast nach seinem Wunsch fragen und bestellte dann telefonisch beim Lieferdienst. Als sie sich um Punkt 18 Uhr zum Essen trafen, wirkte Simon immer noch recht niedergeschlagen, versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen und Hunter seinerseits hüllte sich in tiefes Schweigen, nachdem dieser ihn mit einem kurzen „Hi“ begrüßt hatte. „Also erzähl mal“, sagte Cypher schließlich, während er damit beschäftigt war, seine gebratenen Nudeln mit Stäbchen zu essen. „Ist bei euch irgendetwas vorgefallen? Du musst natürlich nichts erzählen, wenn du nicht willst, aber so geknickt, wie du aussiehst, macht man sich ja halt schon irgendwie Sorgen um dich.“ Doch Simon zögerte erst, bevor er mit der Sprache rausrückte und den beiden von Michaels Überfall in der Villa erzählte und wie Leron durchgedreht war und beinahe seinen Bruder umgebracht hätte. Und als er mit seiner Erzählung geendet hatte, atmete Cypher geräuschvoll aus und schaute kurz zu Hunter, der seinerseits mit seinem Essen beschäftigt war und nichts sagte. „Na da kann ich gut verstehen, wenn er so durchgedreht ist“, sagte der 25-jährige schließlich. „Immerhin war das eine echt heftige Situation gewesen. Da hat er die einzig vernünftige Entscheidung getroffen, denn nach so einem Aussetzer besteht ziemlich leichtes Rückfallrisiko.“ „Ich hatte echt Angst vor ihm gehabt“, gestand Simon und senkte den Blick. „Und dabei liebe ich ihn doch eigentlich. Aber… das war einfach nicht mehr der Leron gewesen, den ich eigentlich kannte.“ „Natürlich, immerhin hast du bisher nur Leron Evans kennen gelernt“, erklärte Cypher und goss sich nun ein Glas Wasser ab. „Und diese dunkle Seite zu sehen, ist natürlich erst mal schockierend. Aber dass er sich wieder gefangen hat und Hilfe sucht, zeigt doch eigentlich, dass er diese Seite nicht an sich heranlassen will. Natürlich wird er sein ganzes Leben lang mit dieser anderen Seite leben müssen, aber dass er so durchgedreht ist, liegt nicht daran, dass er wirklich jemandem schaden wollte. Hunter und ich haben ihm auch schon erklärt, dass die Cohan-Familie sehr anfällig auf Emotionen reagiert. Die simpelsten Gefühle können zu Wahn werden, wenn sie sich von ihrer instabilen Psyche beherrschen lassen. Liebe wird zur krankhaften Obsession und Zorn zu Zerstörungswut und Mordlust. Und meist liegt ein tiefes Trauma zugrunde, warum die meisten Cohans den Verstand verlieren. Nicht alle kommen schon als Geisteskranke zur Welt, das ist nur bei wenigen der Fall. Meist verlieren sie die Kontrolle, wenn sie in eine Extremsituation geraten. Und die war leider der Fall, als dieser Typ dich vergewaltigen wollte. Leron hat sein anderes Ich akzeptiert, um dich beschützen zu können. Aber dass er danach wieder der alte geworden ist, das hat er dir zu verdanken, weil du der Grund für ihn bist, gegen dieses innere Monster anzukämpfen.“ „Und wie ist es bei Hunter gewesen?“ fragte Simon, merkte dann aber, dass seine Frage vielleicht etwas zu persönlich war und entschuldigte sich hastig. Cypher wandte sich an seinen Freund und fragte ihn, ob es okay sei, wenn er es erzählte, doch dieser sagte nur „Mir doch egal“, während er unbeirrt weiter aß. Also nahm er dies als ein ja und trank einen Schluck, bevor er zu erzählen begann. „Hunters Mutter Mary Lane war eine geborene Cohan und hatte schon recht früh einen Schatten weg. Soweit ich weiß, hatte sie wohl noch eine Schwester oder einen Bruder. Jedenfalls war Hunters Vater oft als LKW-Fahrer unterwegs und war selten zuhause. Mary Lane ihrerseits hatte ihren ganzen Frust an Hunter ausgelassen und ihn regelmäßig misshandelt oder ihn irgendwo eingesperrt. Beispielsweise zwang sie ihm, bis zu zwei Tage in der Ecke zu stehen und sich nicht zu bewegen. Und dabei ließ sie laute Musik laufen, damit er nicht einschlief. Sie drohte auch damit, seinen Vater umzubringen, wenn er etwas sagte. Als sein Vater Tom es dann doch bemerkte, trennte er sich von seiner Frau und kam mit seinem Sohn hierher und verließ Annatown. Mary Lane folgte ihnen und erschlug ihren Ehemann mit einer Axt und zerstückelte seine Leiche vor Hunters Augen. Die Polizei traf ein, als sie mit ihrem Sohn flüchten wollte und die Leiche im Kofferraum hatte. Mary drehte durch und attackierte die Polizisten und wurde dabei erschossen, daraufhin kam Hunter bei einer Pflegefamilie unter. Die behandelte ihn kaum besser als seine Mutter, weil er halt Vorbelastungen hatte und paranoid war. Er lief oft von zuhause weg und kam dann schließlich zu seinen Großeltern. Zwar kümmerten die sich gut um ihn, aber Hunters Zustand verschlimmerte sich trotzdem schleichend. Es ging so weit, dass er so paranoid wurde, dass er sogar dachte, dass seine Großeltern gegen Gestaltwandler ausgetauscht worden waren, die nur so taten, als seien sie seine Großeltern. Auch seine Halluzinationen wurden immer schlimmer, sodass er nicht mehr wusste, was real war und was nicht und daraufhin versuchte, seine Großeltern umzubringen. Diese wiesen ihn in die Klinik ein und dort haben wir uns dann kennen gelernt. Aber ob du es glaubst oder nicht: früher war Hunter wesentlich verschlossener gewesen. Er hat jeden abgewiesen, der ihm helfen wollte und nicht ein einziges Wort gesprochen. Seitdem hat er sich wirklich verändert. Nicht wahr?“ Damit wandte er sich an Hunter und zwinkerte ihm zu. Doch der Angesprochene erwiderte nur mit unbewegter Miene den Blick und hüllte sich in tiefstes Schweigen. Simon seinerseits konnte sich kaum vorstellen, dass es zu Hunters Verschlossenheit und Schweigsamkeit überhaupt noch eine Steigerung gab. Aber nachdem er sich angehört hatte, was dieser schon alles erlebt hatte, dann verstand er auch gut, warum er so war. Da konnte er sich eigentlich nicht wirklich über seine eigene Vergangenheit beschweren. „Das, was wirklich zählt, sind die Entscheidungen, die man trifft“, sagte der Schweigsame knapp und aß damit den letzten Bissen seines Essens. Da Simon nicht ganz verstand, was er jetzt damit meinte, erklärte Cypher „Was er damit meint ist: egal wie beschissen das Leben auch ist, man muss das Beste aus seinem Leben machen. Und selbst als Angehöriger der Cohan-Familie hat man immer noch die Freiheit zu entscheiden, welchen Weg man wählt. Hunter und Leron haben sich entschieden, sich helfen zu lassen, um ein normales Leben führen zu können. Also ist das ein Zeichen dafür, dass sie sich auch positiv ändern können. Besonders du, mein kleiner Brummbär.“ Hunters Miene verfinsterte sich so sehr, dass man hätte meinen können, dass er Cypher am liebsten umgebracht hätte. Doch dieser grinste nur amüsiert und erklärte „Er wird immer ganz verlegen, wenn ich ihm Kosenamen vor anderen Leuten gebe. Hey, ich hätte da eine Idee: wie wäre es, wenn wir nachher ein kleines Spiel spielen? Da wir zu dritt sind, können wir ja unser Lieblingsspiel Cards Against Humanity spielen. Wir haben uns unser eigenes Set gebastelt und spielen es, wenn wir Freunde zu Besuch haben.“ „Was ist das für ein Spiel?“ „Ist ganz easy. Es geht im Grunde darum, dass man Situationskarten hat, wo entweder ein kurzer Lückentext oder eine Frage ist, wie zum Beispiel Womit werden wir im dritten Weltkrieg kämpfen? Einer von uns deckt diese Situationskarte auf und die anderen haben Karten in der Hand mit verschiedenen Dingen, die sie als Antwort nehmen können. Das sind dann ziemlich makabere und nicht ganz jugendfreie Dinge, wie zum Beispiel Ein Schwarzer, der von einem weißen Polizisten erschossen wurde oder Hitlers trauriger einsamer Hoden. Derjenige, der die Situationskarte aufgedeckt und vorgelesen hat, sucht sich dann die beste Karte aus, die die anderen gelegt haben und derjenige, der die Karte gelegt hat, gewinnt die Runde. Dann geht das im Uhrzeigersinn weiter und der nächste deckt die Situationskarte auf. Unser Kumpel Marty hatte uns den Floh ins Ohr gesetzt mit seiner Idee und seitdem arbeiten wir an unserem Deck. Deshalb musst du dir schon klar sein, dass das Spiel politisch nicht ganz korrekt ist.“ Simon starrte ihn ungläubig an, als er von seinem Vorschlag hörte, musste dann aber doch schmunzeln und da er nach diesem heftigen Tag eine Ablenkung gut gebrauchen konnte, nahm er den Vorschlag gerne an. Es war zumindest besser, als einsam in seinem Zimmer zu sitzen und sich zu verbarrikadieren. Nach dem Essen ging Cypher das Spiel holen und wurde von Simon begleitet, der sich bei der Gelegenheit auch mal sein persönliches Atelier ansehen wollte. Zwar wurde er gewarnt, dass es etwas gruselig sein würde, aber er ließ sich nicht davon abbringen und betrat Cyphers „Horrorkabinett“. Aufmerksam, aber dennoch mit einem nicht sonderlich begeisterten Blick sah er sich die ganzen Kunstwerke an und konnte dem nicht ganz so viel abgewinnen. „Nicht ganz dein Geschmack, wie?“ fragte der 25-jährige, als er Simons eher skeptischen Gesichtsausdruck bemerkte und nickte verständnisvoll. „Das ist auch eher was für Leute, die halt diese Schwäche für blutigen Horror haben.“ „Naja, es ist dein Hobby und du verdienst dein Geld damit. Ich fände es eher befremdlich, wenn diese ganzen Sachen wirklich echt sind.“ Cypher lachte und ging zu einem Schrank hin, öffnete ihn und holte eine schwarze Box heraus, die mit kleinen Totenköpfen verziert war. „Ich glaube, ich würde echt Ärger mit den Bullen kriegen, wenn ich hier richtige Organe und Körperteile lagern würde. Aber ich hatte schon mal ein echtes Hirn in der Hand gehabt.“ Und auf Simons geschocktes Gesicht hin erklärte er „Ich hatte, bevor ich mit meinem Kunststudium angefangen habe, mit Medizin angefangen und da hatten wir auch einer Obduktion beigewohnt. Und als ich sah, wie sie dem Toten die Brust aufschnitten, da hatte ich die Erleuchtung, zu was ich wirklich bestimmt war. Das ist die ganze Geschichte. Du siehst also: der einzige Freak in diesem Haus ist immer noch ich. Aber ich bin auch stolz darauf ein Freak zu sein.“ Simon bewunderte ihn wirklich dafür, dass er so selbstbewusst hinter seiner Leidenschaft stand und sich nicht dafür schämte. Aber wahrscheinlich hatte er es auch Hunter und seiner Therapie in der Klinik zu verdanken, dass er stolz auf sein ziemlich düsteres und leicht verstörendes Hobby sein konnte. „Du hast schon echt schräge Hobbys“, gab er zu. „Aber du bist trotzdem echt in Ordnung. Und ich möchte mich dafür bedanken, dass ich bei euch bleiben kann.“ „Kein großes Ding“, versicherte der makabre Künstler, klopfte ihm auf die Schulter und verließ dann zusammen mit seinem den Raum, um ins Wohnzimmer zu gehen, wo Hunter bereits auf sie wartete. „Wenn ich helfen kann, dann tu ich es auch. Und weißt du was? Selbst wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass wir nicht miteinander verwandt sind, können wir ja trotzdem Brüder sein. Selbst Hunter mag dich und normalerweise entwickelt er erst nach Ewigkeiten Sympathien für jemanden. Vielleicht liegt es daran, weil Leron dasselbe Problem hat wie er und du trotzdem hinter ihm stehst.“ Hunter mochte ihn? Bisher hatte Simon eher den Eindruck gehabt, als könne dieser ihn entweder nicht leiden oder als würde er ihm nicht über den Weg trauen. Woran wollte Cypher denn bitteschön erkennen, was wirklich in ihm vorging? „Mal im Ernst: wie schaffst du das bloß zu erkennen, was in ihm vorgeht?“ „Das ist ganz einfach“, antwortete dieser und deutete auf seine Augen. „Ich habe eine sehr gute Beobachtungsgabe.“ Das kommt mir irgendwie bekannt vor, dachte sich Simon und realisierte, dass dies normalerweise sein Text war. Und war das nicht auch irgendwie ein deutliches Indiz dafür, dass sie vielleicht verwandt sein konnten? Simon konnte die Testergebnisse kaum abwarten, aber so wie es in dem Schreiben gestanden hatte, konnte es bis zu drei Wochen dauern, bis er das Ergebnis hatte. Und bis dahin würde er wohl oder übel warten müssen. Natürlich würde es enttäuschend werden, wenn sich herausstellen sollte, dass er sich geirrt hatte. Aber andererseits hatte Cypher angeboten, dass sie dennoch Brüder sein könnten, wenn auch nicht blutsverwandt. Und das bedeutete ihm auch schon sehr viel. Sie gingen zusammen ins Wohnzimmer, wo Hunter schon auf sie wartete und Getränke und kleine Snacks vorbereitet hatte. Nachdem Cypher die Regeln des Spiels noch mal genauer erklärt hatte, begannen sie das Spiel und schon in der ersten Runde, als Hunter auf die Frage, was er als Attraktion zum Kindergeburtstag mitbringen würde, die Karte Ein Käfig voller Pädophiler legte, verlor er haushoch gegen den finster drein blickenden Bildhauer. Es stellte sich heraus, dass dieser den schwärzesten Humor von allen hatte und er gewann fast jede Runde. Cypher und Simon kriegten sich kaum ein vor Lachen und nachdem die ersten Bierdosen geöffnet wurden, lockerte sich auch die Stimmung wesentlich mehr. Simon schaffte knapp drei Siege, konnte aber nicht wirklich mit den beiden mithalten, die vermutlich den schwärzesten Humor hatten, den er je erlebt hatte. Es überraschte ihn auch, dass jemand, der die ganze Zeit so finster dreinschaute wie ein unheimlicher Serienmörder, tatsächlich Sinn für Humor hatte. Doch Cypher versicherte, dass sein Freund eigentlich einen großen Sinn für Humor hatte und meinte „Hunters Humor ist so schwarz, dass er Baumwolle pflücken geht.“ Doch der Bildhauer selbst äußerte sich nicht wirklich dazu. Als es langsam spät wurde, schauten sie sich zusammen ein paar einfache Horrorfilme an, da Simon nicht wirklich etwas mit Cyphers Filmgeschmack anfangen konnte, weil sie ihm zu brutal und blutig waren. Nachdem sie mit „Shining“ fertig waren und sich dann „Insidious“ ansehen wollten, bemerkten die beiden Künstler, dass ihr Gast eingeschlafen war. Selbst als Cypher ihn vorsichtig an der Schulter rüttelte, ließ er sich nicht aufwecken und da konnte er nicht anders, als darüber zu schmunzeln. „Ich schätze mal, der hat ein bisschen zu viel Alkohol gehabt. So wie er aussieht, scheint er ja sowieso nicht viel zu vertragen.“ „Es ist eher der Stress“, vermutete Hunter und schaltete den Fernseher aus. „Es ist auch viel passiert. Ich bringe ihn ins Bett.“ „Oh, das ist echt süß von dir!“ Damit beugte sich Cypher zu ihm herüber und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Und es macht dir wirklich nichts aus, dass er für ein paar Tage bei uns bleibt?“ „Er ist ganz in Ordnung und er erinnert mich auch irgendwie an dich“, erklärte der mürrisch dreinblickende 24-Jährige. „Und er braucht jemanden, der für ihn da ist. Außerdem sehe ich doch deutlich, dass du ihn magst.“ Vorsichtig hob Hunter den Schlafenden hoch trug ihn ins Gästezimmer. Cypher begann währenddessen aufzuräumen und summte gut gelaunt vor sich hin. Er freute sich, dass sein „Brummbär“ sich so gut mit der Situation angefreundet und den Jungen akzeptiert hatte. Insgeheim hatte er sich schon Sorgen gemacht, weil dieser nur äußerst ungern fremde Menschen hier nächtigen ließ. Aber es war alles gut gegangen und er brachte Simon sogar ins Bett. Und das war für ihn der beste Beweis, dass er ihm vertraute und es war weiß Gott nicht einfach, Hunters Vertrauen zu gewinnen. Auf jeden Fall würden das sicherlich ein paar nette Tage mit Simon werden und währenddessen war Leron in der Klinik gut aufgehoben. Kapitel 25: Leron in der Klinik ------------------------------- Unruhig ging Leron durch sein Zimmer und wartete. Obwohl er nach einem ersten Eingangsgespräch Medikamente gegen die Halluzinationen bekommen hatte, nahm er sie nicht ein. Natürlich hatte er es vor, immerhin war er ja nicht grundlos hier. Aber bevor er diese Halluzinationen ein für alle Mal abstellte, wollte er vorher noch mit seiner Mutter reden. Natürlich wusste er, dass sie nicht wirklich echt war, aber trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie ihm ein paar wichtige Antworten geben konnte. Sie hatte ihm beim letzten Mal Dinge gesagt, die ihn sehr verunsichert hatten ihn quälte dieses verdammte Gefühl, als hätte er etwas vergessen oder verdrängt. Und es hatte damit zu tun, warum seine Mutter dieses blutverschmierte Messer in der Hand gehabt hatte. Als er seinen Vater angerufen hatte, um ihn über Michaels Überfall zu informieren, hatte er ihn gefragt gehabt, ob es in seiner Jugend irgendeinen Vorfall mit seiner Mutter gegeben hatte. Aber natürlich hatte sein Vater gesagt, er wüsste nichts dergleichen und hatte es auf die Krankheit seines Sohnes geschoben. Also blieb ihm deshalb nichts anderes übrig, als seine Mutter zu fragen. Und da er jetzt eh in der Klinik war, konnte er auch niemandem Schaden zufügen, wenn er wieder die Kontrolle verlieren sollte. Trotzdem war er unruhig und fürchtete sich auch ein Stück weit davor, was ihn erwarten könnte. Und aus irgendeinem Grund hatte er auch Angst davor, seine Mutter wiederzusehen. Vor allem wenn sie wieder diese goldgelben Augen hatte wie Michael. „Du brauchst doch keine Angst zu haben, mein Schatz. Du weißt doch, dass Mommy dich sehr lieb hat und dich beschützt.“ Plötzlich spürte er wie jemand ihn von hinten umarmte und ganz dicht hinter ihm stand. Ja er konnte sogar ihren Atem in seinem Genick spüren. Es war so beängstigend real für eine Halluzination. „Mein armer kleiner Liebling… eingesperrt an so einem furchtbaren Ort. Es bricht mir wirklich das Herz, dich so zu sehen. Na komm, lass uns gemeinsam von hier fortgehen. Du brauchst nur meine Hilfe anzunehmen und ich hole dich hier wieder raus.“ Doch auch wenn dieses Angebot verlockend klang, widerstand er der Versuchung und dachte daran, was ihn dazu bewogen hatte, sich bewusst auf diese ganze Sache einzulassen, obwohl klar war, dass das absolut verrückt war, was er da tat. Aber sie war der Schlüssel zum Ganzen. Vielleicht half sie ihm ja auch, sich wieder an etwas Wichtiges zu erinnern. „Ich bin hier sehr gut aufgehoben, Mum“, versicherte er und löste sich von ihr. „Und ich muss mit dir reden.“ „So? Du willst reden? Na gut, kein Problem. Dann erzähl Mommy ruhig, was du auf dem Herzen hast.“ Katherine durchschritt nun langsam das Zimmer, wobei Leron sogar das Geräusch ihrer Absätze hören konnte. Sie trug aber nicht mehr die blutverschmierte Kleidung wie gestern, sondern ein weißes Sommerkleid. Er erinnerte sich noch daran, dass sie es sehr geliebt und ziemlich oft getragen hatte. Ihre Augen leuchteten goldgelb und ihr Lächeln hatte etwas Unheimliches und Düsteres an sich und es behagte ihm einfach nicht, sie so zu sehen. Schließlich setzte sie sich aufs Bett und überkreuzte dabei die Beine. „Also was möchtest du denn gerne wissen?“ „Warum hast du mich überreden wollen, Michael umzubringen? Wieso ausgerechnet du?“ Ein amüsiertes Lächeln zog sich über ihre Mundwinkel und sie fuhr sich grazil durch ihr brünettes, langes Haar. „Die Antwort kennst du doch schon, mein Schatz. All das existiert nur in deinem Kopf. Die Stimmen die du hörst, sind nichts anderes als ein Teil von dir. Und da du Michael mit dem Hass verbindest, hat er schon die Rolle der Stimme, die sich immerzu gegen dich richtet. Er verkörpert deine Zweifel und deinen Hass auf dich selbst. Aber der Grund, warum ich diejenige bin, die dich dazu überredet, dich auf deine andere Seite einzulassen, mag einfacher sein als du glaubst: es liegt daran, weil ich eine geborene Cohan bin und diese dunkle Seite von meiner Familie herrührt. Deshalb verbindet dein Unterbewusstsein mich mit deinem anderen Ich, welches du mit aller Macht von dir fernzuhalten versuchst.“ „Und warum hast du dieses blutige Messer in der Hand gehabt?“ „Ach Schatz, warum willst du diese alten Geschichten überhaupt wissen? Glaubst du etwa, ich hätte dir oder deinen Brüdern etwas angetan? Du weißt doch, dass ihr drei alles für mich seid. Ich würde euch mit meinem Leben beschützen und nicht zulassen, dass euch irgendjemand etwas antut. Und du weißt doch: Mommy regelt die Dinge wenn jemand es wagt, meinem kleinen Engel wehzutun.“ Schon wieder diese merkwürdige Andeutung, die ihm so bekannt vorkam. Was meinte sie denn bitte damit, dass sie die „Dinge regeln“ werde? Irgendetwas war damals passiert, das spürte er insgeheim, doch er konnte sich einfach nicht erinnern, was passiert war. „Was meinst du damit, Mum?“ Ein wissendes und unheilvolles Lächeln lag auf Katherines Lippen und in ihren goldgelben Augen wirkten wie die eines Raubtieres, das sich gleich auf seine Beute stürzen und sie in Stücke reißen würde. War das überhaupt seine Mutter, so wie er sie eigentlich in Erinnerung hatte? Irgendwie kam sie ihm wie eine ganz andere Person vor. „Warum willst du all diese Dinge denn überhaupt wissen, mein Schatz? Was wird das schon großartig ändern? Du weißt doch, dass ich immer eine gute Mutter war und mich für dich aufgeopfert habe. Vor allem wie viele Opfer ich für dein Wohlergehen erbracht habe.“ „Hast du jemanden getötet?“ „So etwas traust du wirklich deiner eigenen Mutter zu? Hast du denn nicht immer deinen Vater dafür verurteilt, dass er so lieblos und kaltherzig zu mir war und nicht einmal für mich da war, als ich ins Hospiz kam? Warum bin ich hier auf einmal die Böse? Das ist nicht sehr fair von dir.“ „Ich weiß genau, dass du ein blutiges Messer in der Hand hattest! Und das nicht nur, als ich Michael krankenhausreif geprügelt hatte, sondern auch, als ich klein war. Ich weiß genau, dass du eines Nachts plötzlich ein Messer in der Hand hattest und voller Blut warst.“ „Und du meinst nicht, dass das vielleicht bloß eine weitere Halluzination von dir ist? Du weißt doch selbst, dass du krank bist. Immerhin hast du dich an diesen furchtbaren Ort begeben, weil du selbst gesagt hast, dass mit deinem Verstand etwas nicht stimmt. Also warum bohrst du da so herum? Wäre es denn nicht besser, wenn du mich weiterhin als die Mutter in Erinnerung behältst, die ich bin? Eine liebevolle und aufopfernde Mutter, die dich vor jenen Menschen beschützt, die dir Schaden zufügen wollen.“ Geschlagen seufzte Leon und setzte sich neben seine Mutter aufs Bett. Eigentlich hatte er ja gehofft gehabt, von ihr endlich Antworten zu bekommen, aber anscheinend war das nicht der Fall. Wahrscheinlich weil sich etwas in seinem Unterbewusstsein dagegen sträubte, sich zu erinnern. Zärtlich legte Katherine einen Arm um seine Schultern. „Ich mache mir doch nur Sorgen um dich, mein Schatz. Die ganzen Jahre über hast du immer nur gekämpft. Gegen deine Brüder, deinen Vater und gegen dich selbst. Das alles müsstest du nicht tun, wenn du endlich akzeptieren würdest, wer du wirklich bist. Du machst dir damit doch selbst nur das Leben schwer und ich sehe doch, dass du leidest. Warum nur willst du meine Hilfe nicht annehmen? Ich will doch nichts anderes, als dich zu beschützen.“ „Vor wem willst du mich denn beschützen?“ „Vor allen“, erklärte Katherine und ihr sanftmütiger und einlullender Ton wurde mit einem Male sehr ernst. „Die ganze Welt ist schlecht und das war dir doch schon immer klar. Glaubst du, mir wäre es entgangen, wie sehr dir das ganze Leben zu schaffen macht und wie deine Angestellten hinter deinem Rücken über dich lästern? Oder wie Konkurrenten nur darauf lauern, dich zu Fall zu bringen? Dein ganzes Leben lang schon bist du den Feindseligkeiten dieser Welt ausgesetzt gewesen. Die Menschen werden uns niemals verstehen, weil wir anders sind. Wir sind Außenseiter, Freaks, Sonderlinge. Diese Welt ist kalt und grausam und selbstsüchtig. Für uns gibt es da keinen Platz. Warum sollten wir da noch Rücksicht nehmen? Es wäre leichter, wenn du endlich aufhören würdest, dir noch weiter vorzumachen, dass es da irgendjemanden gäbe, der es gut mit dir meint. Selbst die Menschen, die dich lieben, werden dich eines Tages verlassen. Selbst Simon wird dich verlassen, wenn seine Gefühle für dich erloschen sind. Glaubst du wirklich, er würde an deiner Seite bleiben nachdem er erkannt hat, wer oder was du wirklich bist? Nein, er wird sich genauso von dir abwenden und dich alleine lassen. Genauso wie mich dein Vater alleine gelassen hat, als ich krank wurde und ihn brauchte.“ Die Worte seiner Mutter trafen ihn sehr und er geriet so langsam in ernste Zweifel, was er tun sollte. Auch wenn er es nicht gerne zugab, so hatte sie in einem gewissen Maße Recht, als sie sagte, dass er Schwierigkeiten mit anderen Menschen hatte und dass seine Mitmenschen kaum ein gutes Wort für ihn übrig hatten. Und nachdem er Simon eine solche Angst eingejagt und ihn sogar bedroht hatte, als er in Rage war, konnte er es ihm nicht verdenken, wenn er nichts mehr für ihn empfand. Was nützte es denn da überhaupt noch, weiterzukämpfen und vor allem gegen diese andere Seite anzukämpfen, wenn er doch eh alles verlieren würde, was ihm lieb war? Da konnte er doch eigentlich genauso gut aufgeben und sich die ganze Sache leichter machen. „Ja, so ist es richtig, mein Schatz“, sprach Katherine mit sanfter und mütterlicher Stimme. „Mach dir das Leben nicht so schwer und lass mich dir helfen. Gemeinsam schaffen wir das schon und ich werde mich um die Dinge kümmern. Genauso wie ich es immer getan habe, wenn du meine Hilfe gebraucht hast. Zusammen werden wir uns gegen diese ungerechte und kaltherzige Welt zur Wehr setzen und ihnen zeigen, dass wir uns nicht wie Dreck behandeln lassen.“ Doch bevor Leron eine Antwort darauf geben konnte, öffnete sich die Tür zu seinem Zimmer und Leron schaute auf. Vor ihm stand ein Mann von ungefähr 55 Jahren, dessen Haar kurz rasiert war und damit seine Geheimratsecken nicht sonderlich versteckte. Auch sonst schien sein Haar lichter zu werden und selbst an seinem Bart ließen sich erste graue Haare erkennen. Dennoch verlieh ihm die Brille und sein gesetztes Erscheinungsbild etwas Intelligentes und Ausgeglichenes. Das Interessanteste an ihm waren aber seine Augen: sie waren so grün wie Smaragde und ein besonderer Glanz schien darin zu liegen. Er wirkte wie ein Professor an einer Universität, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Mit einem freundlichen Lächeln und einem kräftigen Händedruck grüßte er Leron und erklärte „Ich bin Dr. Yorick Larson. Wir hatten miteinander telefoniert, Mr. Evans.“ Kaum, dass sein Name fiel, verfinsterte sich Katherines Miene und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Halte dich bloß von ihm fern, Leron. Leute wie der versuchen doch nur, uns irgendetwas einzureden. Dass wir krank sind und wir unnormal sind. Lass dir bloß nichts von ihm erzählen, hörst du? Er will dich nur manipulieren und dir weismachen, dass du verrückt bist!“ Leron schwieg und sah ihn skeptisch an. Er wusste nicht, ob er auf seine Mutter hören sollte oder nicht. Da er nicht reagierte, schnappte sich Dr. Larson kurzerhand einen Stuhl und setzte sich. „Ich kann gut verstehen, dass die derzeitige Situation nicht gerade einfach für Sie ist. Aber ich möchte, dass Sie wissen, dass Sie das Richtige getan haben und dass Sie meine Anerkennung dafür haben, dass Sie den Schritt gewagt haben, sich in Behandlung zu geben. Darf ich fragen, ob es für Sie einen bestimmten Anlass gab, sich in stationäre Behandlung zu geben?“ „Sei bloß still und antworte nicht auf seine Fragen!“ rief Katherine und wurde wütend. „Er wird dir noch die Worte im Mund verdrehen und dir irgendetwas einreden, damit du alles glaubst, was er dir eintrichtert. Lass Mommy die Dinge für dich regeln, mein Schatz. Lass mich dir helfen!“ Da Leron nicht antwortete und etwas abgelenkt wirkte, stellte der Psychologe nun eine etwas andere Frage an ihn. „Kann es sein, dass Sie Ihre Medikamente nicht eingenommen haben?“ Leron erstarrte und schwieg. Woher wusste der Kerl bitte, dass er seine Medikamente noch nicht genommen hatte? War es ihm so deutlich anzusehen? „Wo… woher wissen Sie…“ „Ich therapiere Menschen schon seit 22 Jahren und kenne gewisse Anzeichen dafür, wenn Personen halluzinieren. Außerdem habe ich schon mehrere Angehörige der Familie Cohan therapiert und kann auf einen gewissen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Mr. Evans, ich weiß, dass es nicht leicht ist, sich zu öffnen und auch über Dinge zu sprechen, über die man normalerweise nicht sprechen möchte. Aber in einer Therapie ist es unvermeidlich, sich auch mit unangenehmen Dingen auseinanderzusetzen. Doch Sie müssen sich im Klaren sein, dass ich hier bin, um Ihnen zu helfen und dass es mein Ziel ist, gemeinsam mit Ihnen eine Lösung zu erarbeiten, wie Sie mit Ihrer Krankheit umgehen können. Und wo wir schon beim Thema Halluzinationen sind, möchte ich gerne mehr darüber wissen. Erzählen Sie mir, welche Arten von Halluzinationen Sie haben, was diese tun und was sie sagen. Es ist dabei wichtig, dass Sie mir alle Details erzählen und offen zu mir sind.“ „Nein, tu es nicht!“ rief Katherine energisch. „Er wird dir nur wieder irgendetwas einreden, glaub mir! Schatz, komm endlich zur Vernunft und lass mich die Dinge für dich regeln! Leron!!!“ Doch dieses Mal hörte er nicht auf sie und begann stattdessen über seine Halluzinationen zu erzählen. Nachdem er fertig war, erzählte er auf Dr. Larsons Nachfrage hin, was passiert war und warum er sich in die stationäre Behandlung begeben hatte. Der Psychologe machte sich zwischendurch Notizen auf einem Klemmbrett und hörte aufmerksam zu. Zwar versuchte Katherine immer wieder dazwischenzufunken und wurde teilweise ziemlich aggressiv, doch Leron ließ sich nicht beirren. Schließlich nickte Dr. Larson und dachte nach, wobei er Leron aufmerksam musterte. „Also so wie Sie mir das alles schildern, scheint für mich die Sache recht klar zu sein. Sie müssen wissen, Mr. Evans, dass das Krankheitsbild Ihrer Familie auf eine relativ simple Basis beruht: eine genetische Vorgeschichte und ein Auslöser. Meist sind es ganz bestimmte negative Emotionen, die diese Psychosen auslösen. Neid, Eifersucht… In Ihrem Fall ist es die Angst.“ „Angst?“ fragte Leron ungläubig, denn er glaubte von sich selbst, dass er nicht unbedingt ein ängstlicher Zeitgenosse war. Aber Dr. Larson blieb bei seiner Meinung und erklärte es ihm genauer. „Der Grund, warum sich Ihr Bruder als Stimme manifestiert hat, ist auf Ihre Unsicherheit und Ihre Angst zurückzuführen, dass Sie eine Gefahr für die Menschen darstellen könnten, die Ihnen etwas bedeuten. Sie sind mit der Tatsache konfrontiert, dass Ihr Bruder ein sehr stark ausgebildetes Krankheitsbild aufweist und das weckt in Ihnen die Angst, dass Sie genauso werden könnten. Deshalb werfen Sie sich alles vor, was Sie Ihrem Bruder als schlechte Eigenschaften zuschreiben und setzen sich selbst stark unter Druck. Sie fürchten sich vor dem absoluten Kontrollverlust und dem Gefühl der Machtlosigkeit. Dieses Erlebnis in Ihrem Haus, als Ihr Partner beinahe vergewaltigt worden wäre, war für Sie in diesem Moment ein Trigger, der Sie an diesen Zustand erinnert hat, als Sie als Kind von Ihren Brüdern missbraucht worden waren. Dieses tief verwurzelte Trauma löste die Angst aus, die zur Verschlimmerung Ihres Zustandes führte.“ „Und warum tauchte auf einmal meine Mutter auf und sagte, ich solle Michael töten?“ „Ihre Mutter fungiert als eine Art Vermittlerin“, erklärte der Psychologe und nahm kurz seine Brille ab, um die Gläser zu putzen. „Sie sind ein sehr disziplinierter und gewissenhafter Mensch und Ihre Angst, genauso zu werden wie Ihr Bruder, hindert Sie daran, Ihre Veranlagung zu akzeptieren und sich auf Ihre – so wie Sie es nennen – dunkle Seite einzulassen. Das bedeutet einen Konflikt und diesen haben Sie gelöst, indem Sie sich unterbewusst ein Abbild Ihrer Mutter geschaffen haben. Warum es ausgerechnet Ihre Mutter ist, kann ich erst mal vermuten: Sie hatten ein sehr enges Verhältnis zu Ihr gehabt und wie ich herausgehört habe, war Ihre Mutter eine sehr liebevolle und fürsorgliche Person. Deshalb ist sie auch eine Beschützerin, die Ihnen hilft, diesen inneren Widerstand zu brechen und Ihre aufgestauten Emotionen zuzulassen.“ Bedächtig nickte Leron und konnte größtenteils nachvollziehen, was Dr. Larson erzählte. So wie er es erklärte, ergab es eigentlich Sinn, aber er verstand noch nicht so ganz, warum er so ausgerastet war und beinahe Michael umgebracht hätte. Doch auch dafür hatte Dr. Larson eine Antwort: „Angst ist eine der stärksten Emotionen, die ein Mensch fühlen kann. Es versetzt ihn in einen Zustand der Hilflosigkeit und Machtlosigkeit. In Ihrem Fall ist es die Angst vor der Angst und um das zu kompensieren, flüchten Sie in einen ähnlich starken emotionalen Zustand, in welchem Sie die Kontrolle wiedererlangen können. Und dieser andere Zustand ist die Wut. Und so wie Ihr mentaler Zustand sich zurzeit darstellt, war es die richtige Entscheidung gewesen, sich fürs Erste stationär behandeln zu lassen. Denn ansonsten hätte sich Ihr Zustand noch weiter verschlechtert.“ Leron hatte das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen werden und er spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Sein Zustand hatte sich also tatsächlich verschlimmert und er hatte es sich nicht bloß eingebildet. Aber warum? War Michaels Überfall etwa der Grund? Er musste es unbedingt wissen. „Warum verschlechtert sich mein Zustand?“ „Weil Sie nicht mehr in der Lage sind, Ihre Emotionen selbstständig in den Griff zu bekommen“, erklärte der Psychologe und setzte sich nun seine Brille wieder auf. „Ihre Mutter manifestierte sich als Halluzination, um als Vermittlerin zu fungieren, aber auch, weil sie eine Art Schutzmechanismus ist. Sie ist ein beschützender aber auch gleichzeitig sehr manipulierender Charakter, die Sie vor jedem Unheil bewahren will. Aber sie ist nicht in der Lage, zwischen tatsächlicher und nicht existenter Bedrohung zu differenzieren. Sie sieht alles und jeden als eine Bedrohung für Sie an. Sei es Ihr Bruder oder ich. Wahrscheinlich würde sie sogar Ihren Partner früher oder später als eine Bedrohung ansehen. Wie würden Sie solch ein Verhalten nennen?“ Leron brauchte nicht lange zu überlegen, um auf die Antwort zu kommen: „Paranoid.“ „Ganz recht. Ihre Mutter ist eine Beschützerin, die von Ihnen geschaffen wurde, um zu reagieren, wenn Sie Angst haben, damit Sie auf Gefahren reagiert. Normalerweise würde sie Ihren Bruder als Bedrohung ansehen, aber durch die Tatsache, dass sie selbst die Klinik und mich als akute Bedrohung ansieht, bedeutet es, dass auch Sie damit beginnen, überall Gefahr zu sehen, was sehr bedenklich ist. Das ist für mich ein deutliches Anzeichen einer beginnenden paranoiden Schizophrenie. Ich rate Ihnen also dringend an, sich auf die Behandlung einzulassen, um eine weitere Verschlechterung Ihres Krankheitsbildes zu vermeiden.“ Diese klare Ansage hatte gesessen und allein der Gedanke, dass er dabei war, sich in eine paranoide Schizophrenie reinzusteigern, entsetzte ihn auch ein Stück weit. Allein der Gedanke, dass er früher oder später als Verrückter enden würde, war für ihn kaum zu ertragen, vor allem weil er sich nicht mal vorstellen konnte, wie sehr das auch Simon belasten würde. „Aber wieso verschlechtert sich mein Zustand weiterhin?“ „Weil Sie durch die jüngsten Ereignisse emotional instabil sind und das ist absolutes Gift für Sie. Sie brauchen momentan Stabilität und Sicherheit, aber vor allem therapeutische Begleitung. Ich möchte Ihnen helfen, einen Weg zu finden, damit Sie in Zukunft mit Ihren Ängsten besser umgehen können und wie Sie besser entlastet werden können. Und nebenbei bekommen Sie auch eine medikamentöse Behandlung.“ „Können die Halluzinationen nicht auch ohne Medikamente verschwinden?“ „Das ist nur in den seltensten Fällen möglich. Ich kann verstehen, dass Sie gewisse Bedenken haben, aber ich kann Ihnen versichern, dass Psychopharmaka nicht grundlos verschrieben werden. Aus Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass die Medikamente in Verbindung mit einer therapeutischen Behandlung Ihnen mehr helfen werden, als nur eine Therapie. Ich schlage vor, dass wir heute mit der medikamentösen Behandlung beginnen. Da es bereits Nachmittag ist, können Sie den Tag nutzen, um sich mit den anderen Patienten vertraut zu machen und sich auszutauschen. Ab morgen werden wir mit der Therapie beginnen, um Sie zu stabilisieren und eine Lösung zu erarbeiten, wie Sie in Zukunft mit problematischen Situationen umgehen können.“ „Und was ist mit meiner Mutter? Ich wollte noch herausfinden, ob sie womöglich…“ „Alles zu seiner Zeit“, schnitt Dr. Larson ihm das Wort ab. „Natürlich werden wir zu gegebener Zeit Ihre Kindheit näher beleuchten, aber vorher muss eine gewisse emotionale Stabilität gewährleistet sein. Solange diese nicht gegeben ist, wäre es nur kontraproduktiv für Ihre derzeitige Verfassung, wenn Sie Erinnerungen ausgraben, die eventuell sogar ein tiefes Trauma darstellen können.“ Zwar passte es Leron nicht so ganz, dass sein Vorhaben erst mal auf die lange Bank geschoben wurde, aber wenn es wirklich so schlecht um ihn stand, dann musste er wohl oder übel klein bei geben. Also erklärte er sich einverstanden und bekam von Dr. Larson die Tabletten für den Rest des Tages gereicht. Dieses Mal nahm er sie auch und damit verabschiedete sich der Psychologe mit einem kräftigen Händedruck. Nachdem Leron wieder alleine war, atmete er auf und ließ sich nun aufs Bett niedersinken. Dass sich sein Zustand so verschlimmert hatte und er im Begriff war, eine paranoide Schizophrenie zu entwickeln, beschäftigte ihn sehr. Damit hatte sich seine schlimmste Befürchtung bestätigt. Aber andererseits war er ja auch deshalb in die Klinik gegangen, um sich behandeln zu lassen. Und so wie Dr. Larson erzählt hatte, schien es ja nicht ganz hoffnungslos zu sein. Und Simon war währenddessen auch gut bei Cypher und Hunter aufgehoben. Es war ihm ohnehin viel lieber, wenn der Junge während seines Klinikaufenthalts nicht in der Villa war. Niemand sonst wusste, dass Simon bei den beiden war und da war auch die Wahrscheinlichkeit gering, dass Michael ihn finden und ihm wieder etwas antun könnte. Kapitel 26: Im Auge des Sturms ------------------------------ Am nächsten Morgen erwachte Simon erst spät und verpasste damit das Frühstück. Doch netterweise hatte Cypher für ihn separates vorbereitet, welcher momentan mit Hausarbeit beschäftigt war. Es gab ein belegtes Brötchen, Spiegelei mit Speck und frisch gepressten Saft. Der 25-jährige Künstler summte gut gelaunt vor sich hin, während er ein wenig Ordnung machte. Ihn so zu sehen, ließ Simon schmunzeln und scherzhaft fragte er „Hattest du gestern guten Sex oder warum bist du so gut gelaunt?“ Cypher prustete vor Lachen, als er das hörte. „Oh Mann, der war gut! Nein, wir bekommen heute Besuch von Ezra. Er ist so etwas wie unser kleiner Schützling und er kommt ab und zu mal zu Besuch, wenn er Lust dazu hat. Er ist quasi so etwas wie Hunters Pflegebruder und bis jetzt seine engste Bezugsperson. Und da er ins gleiche Kloster kam wie ich, verbindet das halt irgendwie.“ Ein Pflegebruder also. Simon hörte interessiert zu und wollte natürlich mehr wissen. Wie er schließlich erfuhr, war dieser Ezra knapp 16 Jahre alt, aber aufgrund der Tatsache, dass er gerade mal 1,60m groß war, wirkte dieser noch wesentlich jünger. Simon stutzte, denn er selbst war ja nicht sonderlich groß, aber dieser Ezra sollte noch kleiner sein? Kaum vorstellbar. „Und wie ist er so vom Charakter her?“ „Sehr schwierig“, gestand der Künstler mit einem verlegenen Lächeln. „Er ist halt in der Pubertät und in einem schwierigen Alter. Er ist sehr dickköpfig und nicht gerade zugänglich. Außerdem hat er ein paar Angewohnheiten, die man ihm bis heute kaum abtrainieren konnte.“ „Angewohnheiten?“ „Als er ins Kloster kam, war er knapp zehn Jahre alt und ziemlich verwildert. Über seine Vergangenheit ist nicht viel bekannt, aber er hatte sich zu Anfang wie ein Tier verhalten. Deshalb vermuten die Mönche, dass er mit Tieren aufgewachsen ist und zu ihnen einen deutlich engeren Bezug hatte, als zu seinen Eltern. Falls die sich überhaupt um ihn gekümmert haben. Obwohl Bruder Benedict und die anderen sich sehr mit ihm bemühen, hat Ezra bis heute noch ein ziemlich gestörtes Verhältnis zu anderen Menschen und ist sehr antisozial. Lediglich zu Hunter hat er einen engen Bezug, weil sie beide Tierfreunde sind und er und Hunter eher der schweigsame Typ ist. Ezra kann halt nicht gut mit Menschen umgehen, die eine direkte oder temperamentvolle Art haben, da kriegt er schnell Angst und wird aggressiv. Auch Berührungen kann er ganz und gar nicht ab. Deshalb rate ich dir lieber, ihm nicht zu nahe zu kommen oder ihn anzufassen. Ezra beißt manchmal.“ Simon starrte ihn an und dachte zuerst, es sei ein Scherz gewesen. Doch offenbar meinte Cypher es wirklich ernst. Hunter hatte also eine Art Pflegebruder, der anscheinend von Tieren aufgezogen wurde wie Mogli aus dem Dschungelbuch und der selbst nach Jahren noch Menschen biss? Die beiden hatten wirklich komische Leute in ihrem Umfeld. „Und wieso ist er nicht in ein Waisenhaus gekommen?“ „Haben sie zunächst versucht, aber Ezra hat ständig die anderen Kinder gebissen und sich geprügelt. Man dachte, dass ihm die strenge Klostererziehung helfen würde, aber er hat selbst nach Jahren noch eine ziemlich stark ausgeprägte Sozialphobie. Hunter hat ihm schließlich ein Praktikum in einem Tierheim besorgt, damit er auf diese Weise etwas sozialer wird. Also wundere dich nicht allzu sehr, wenn er etwas schroff reagiert. Eigentlich ist er ganz süß, aber er hat nach wie vor Angst vor Menschen.“ „Oh, okay…“ Nachdem Simon sein Frühstück beendet hatte, bot Cypher ihm an, zusammen mit ihm ins Atelier zu gehen um ihm ein paar von Hunters Arbeiten zu zeigen. Und da der 21-jährige momentan ohnehin nichts anderes zu tun hatte, nahm er das Angebot gerne an. Zur Sicherheit fragte er aber „Ist es überhaupt in Ordnung, dass wir Hunter stören?“ „Ach, das ist halb so wild. Hunter ist eh nicht da. Er geht Ezra abholen und wollte ein wenig mit ihm reden. Der Bengel hat sich mal wieder Ärger eingefangen und Bruder Jonathan hatte mich gebeten, ob wir ihm nicht mal ein wenig gut zureden können. Auf Hunter hört er zumindest.“ Mit Sicherheit war es nicht sonderlich einfach mit so einem Jungen. Vor allem nicht wenn er die ersten zehn Jahre so verwahrlost gelebt hatte. Aber ob ausgerechnet Hunter ein guter Ansprechpartner war, da war sich Simon nicht so wirklich sicher, immerhin war dieser auch ziemlich antisozial eingestellt. Naja, es war auch nicht seine Angelegenheit und so wie er die beiden eigenwilligen Künstler bisher kennen gelernt hatte, schienen die beiden recht verantwortungsvolle Menschen zu sein. Als sie das riesige Atelier betraten, welches auch gleichzeitig als Werkstatt für Hunters Arbeiten fungierte, staunte Simon nicht schlecht, als er die kunstvollen Figuren sah, die entweder aus Marmor, oder aus Holz gefertigt waren. Eine Figur weckte sein Interesse ganz besonders. Sie stellte zwei Menschen dar, die einander im Arm hielten. Sie war wirklich schön und man sah auch deutlich, dass Hunter sehr viel Arbeit hineingesteckt hatte. Cypher gesellte sich zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Das war Hunters Geschenk zu unserem sechsten Jahrestag. Wir wollten sie in den Eingangsbereich stellen, aber bisher sind wir noch nicht dazu gekommen.“ „Dann soll die Figur euch beide darstellen?“ Ein Nicken kam zur Antwort Simon sah, wie sein Blick bekam etwas sehr Schwärmerische annahm. Man merkte ihm deutlich an wie vernarrt er eigentlich in Hunter war. Bei den beiden musste es damals ja richtig gefunkt haben, dass sie selbst nach sechs Jahren noch so verliebt ineinander waren. Ein leises verträumtes Seufzen folgte, bevor er schließlich im Vertrauen gestand „Ich hatte mir schon öfter mal überlegt, ob wir nicht irgendwann mal über was Ernsteres nachdenken sollten. So wie es aussieht, werden wir so schnell nicht auseinanderkommen und wenn wir erst mal verheiratet wären, dann wäre vieles wesentlich unkomplizierter.“ „Wie meinst du das?“ „Falls einem von uns etwas zustoßen sollte, kann der andere nichts machen“, erklärte der 25-jährige schulterzuckend. „Ich dürfte dann nicht mal zu ihm, wenn es ihm schlecht gehen sollte. Ganz zu schweigen davon, dass eine Ehe allgemein Sicherheit schafft. Außerdem habe ich sonst niemanden und Hunter hat höchstens seine Großeltern, aber die sind auch schon alt. Problem ist aber leider, dass Hunter absolut allergisch auf Veranstaltungen mit vielen Menschen reagiert. Er hasst es, im Mittelpunkt zu stehen oder wenn viele Menschen da sind. Das packt er ziemlich schlecht und deshalb habe ich dieses Thema bisher noch nicht angesprochen. Aber irgendwann will ich es tun und wenn wir halt eine ganz kleine Hochzeit haben, in der nur wir beide anwesend sind. Auf große Partys stehe ich ja auch nicht so wirklich.“ Heiraten… Simon hatte noch nie so wirklich über so etwas nachgedacht. Warum auch? Bis jetzt hatte er auch nicht die Perspektive gehabt, dass so etwas jemals infrage kommen würde. Vor allem weil er immer gedacht hatte, dass ihn sowieso niemand wegen seiner Augen lieben könnte. Es hatte ihm nie so wirklich eingeleuchtet, warum es Leuten so verdammt wichtig war, ihren Partner zu heiraten. Aber nachdem er Cyphers Argumente gehört hatte, glaubte er es langsam zu verstehen. Die Ehe war auch eine Art Absicherung. Wenn irgendetwas passieren sollte, konnte der Partner die nötigen Entscheidungen treffen. Außerdem gab es einem auch das Gefühl, dass man zueinander gehörte und damit den letzten und endgültigen Schritt gegangen war, um diese Bindung zu festigen. Es war sowohl eine sachliche als auch eine emotionale Entscheidung. „Darf ich dich mal was fragen, Cypher?“ „Klar doch, was willst du wissen?“ „Wie hast du es eigentlich geschafft, damit umzugehen, dass dich die Menschen aufgrund deiner Augen und deiner Hobbys meiden? Macht dir das nicht irgendwie zu schaffen?“ Nun löste sich Cyphers Blick von der Figur und stattdessen ruhten seine leer wirkenden Augen auf Simon. Zuerst schien er ein wenig nachdenklich zu wirken, aber dann zuckte er gelassen mit den Schultern und erklärte mit einem Lächeln „Es war früher tatsächlich nicht einfach für mich. Ich hab mich ständig verstellt, um anderen Leuten zu gefallen und versucht, mich den anderen so gut es geht anzupassen. Und ich hab ziemlich oft Sachen mitgemacht, die ich eigentlich gehasst habe und das führte irgendwann dazu, dass ich mich selbst ziemlich verachtet und als Freak betrachtet habe. Im Grunde habe ich es Hunter zu verdanken, dass ich mich selbst akzeptieren konnte. Er hat mich quasi aus meiner Depression geholt. Damals, als ich in die Klinik kam, hat er nicht ein Wort gesprochen, seit seine Großeltern ihn eingewiesen haben. Und als ich ihn zum allerersten Mal sah, hatte ich sogar Angst vor ihm und dachte, er würde mich hassen. Ausschlaggebend für unsere jetzige Beziehung war eine Szene, als wir am Abend in der Gruppe diskutiert hatten, was für einen Film wir gucken wollen. Ich habe mich erst mal zurückgehalten und als zwei von uns einen Actionfilm vorgeschlagen haben, stimmte ich automatisch mit ein, obwohl ich Actionfilme wie die Pest hasse. Insbesondere Filme von Michael Bay. Aber ich wollte halt dazugehören. Und als Hunter gefragt wurde, sagte er einfach „Nein“, wobei er mich angeschaut hatte, als wolle er mir die Augen auskratzen. Ich hatte im ersten Augenblick totalen Schiss vor ihm und dachte, ich hätte ihn irgendwie beleidigt. Und dann fragte er mich plötzlich, was ich wirklich gucken wollte und da habe ich verstanden, was los war. Er hatte mir angesehen, wie zuwider mir Actionfilme waren und wollte mir helfen. Das war sozusagen unser magischer Moment gewesen und bis heute schauen wir uns an jedem Jahrestag den Film an, der uns quasi zusammengebracht hat.“ „Und welcher war das?“ „I Spit On Your Grave.“ Sehr romantisch, dachte sich Simon kopfschüttelnd, musste aber doch schmunzeln, denn es passte ja irgendwie zu den beiden. Trotzdem war es ziemlich schräg, sich an so einem romantischen Tag einen Film über ein Vergewaltigungsopfer anzusehen, welches blutige Rache an seinen Peinigern nimmt. Schließlich aber kam Cypher wieder auf die letzte Frage zurück: „Ich habe gelernt, dass es absoluter Bullshit ist, sich für andere zu verbiegen und vorzugeben, jemand zu sein, der ich nicht bin. Damit wird niemand glücklich. Du musst einfach Leute finden, die dieselben Hobbys teilen oder die kein Problem damit haben. Vor allem musst du lernen, stolz darauf zu sein, so wie du bist. Wenn du dich selbst so akzeptieren kannst wie du bist und du auch dahinter stehst, dann gibst du auch nicht mehr so viel auf die Meinung anderer Leute. Hört sich einfach an, aber ich bin froh, dass ich damals in die Klinik gegangen bin. Sonst hätte ich Hunter nicht kennen gelernt und würde immer noch langweilige Bilder zur Postmoderne malen.“ Damit tätschelte Cypher Simons Kopf und wandte seinen Blick wieder zu der Figur zu. Eine Weile standen sie schweigend da, bis es plötzlich laut klingelte und sie daraufhin das Atelier verließen. Cypher ging zur Haustür und kaum, dass er geöffnet hatte, schob sich auch schon eine kleine Gestalt hindurch, die Simon im ersten Augenblick fast für ein Mädchen hielt. Doch beim genaueren Hinsehen erkannte er, dass es sich um einen Jungen handelte. Sein dunkelbraunes langes Haar war zu einem Zopf zusammengebunden und er trug einen hellblauen Kapuzenpullover. Er war ziemlich klein geraten und zudem sehr dünn, was den Anschein nur bestärkte, dass es vielleicht ein Mädchen sein konnte. An seiner Hand hielt er eine Leine und brav folgte ihm ein ausgewachsener Rottweiler. Kurz darauf kam auch Hunter durch die Tür und entschuldigte sich kurz bei seinem Freund, weil er seine Schlüssel vergessen habe. Er wurde mit einem kurzen Kuss auf die Wange begrüßt und daraufhin widmete sich Cypher auch schon seinem zweiten Gast. „Ezra, das ist Simon, unser zweiter Gast. Er wohnt für eine Weile bei uns und es wäre schön, wenn ihr euch vertragt.“ „Hallo“, grüßte Simon und trat näher, doch Ezra warf ihm einen derart feindseligen Blick zu, dass der 21-jährige abrupt stehen blieb. Und dann sah er auch, wie der Junge die Leine umklammert hielt. Der Kleine schien tatsächlich Angst vor ihm zu haben. Darum hob er auch sofort die Hände um zu zeigen, dass er keine bösen Absichten verfolgte. „Schon gut, ich mach schon nichts Schlimmes“, versicherte er deshalb. „Freut mich, dich kennenzulernen.“ „Du stinkst“, entfuhr es Ezra schließlich, ohne dass er auf Simons Worte einging. Cypher runzelte überrascht die Stirn und roch selber an seinen Klamotten. „Kann vielleicht von der Farbe in meinem Atelier herrühren“, vermutete er. „Aber willst du Simon nicht mal wenigstens Hallo sagen?“ „Wozu?“ entgegnete der Junge bockig. „Interessiert mich einen Scheiß, was du willst! Lass mich in Ruhe, verdammt.“ Damit verschwand er zusammen mit dem Hund und weder Cypher noch Hunter machten Anstalten, ihn aufzuhalten oder ihn wegen seinem Verhalten zurechtzuweisen. Stattdessen seufzte der ältere Künstler geschlagen und verschränkte die Arme, woraufhin er von Hunter wissen wollte, was vorgefallen war. Dessen Miene verdüsterte sich und erklärte in knappen Worten, dass Ezra wieder einmal weggelaufen sei, nachdem man versucht hatte, ihn an eine Pflegefamilie zu vermitteln. Und dabei solle er auch versucht haben, Passanten in der Fußgängerzone zu beklauen. Cypher schüttelte darüber nur den Kopf und fragte sich laut „Ich würde gerne wissen, was ihn bloß dazu veranlasst hat, wieder wegzulaufen. Im Kloster scheint er ja ganz gut auszukommen, aber jedes Mal, wenn das Jugendamt ihn in eine Pflegefamilie steckt, dreht er am Rad und greift entweder seinen Pflegevater an oder er haut ab. Wieso ist er denn nicht zu uns gekommen? Er weiß doch, dass er jederzeit bei uns unterkommen kann.“ „Hatte er versucht, aber es war keiner da.“ „Naja, ist jetzt auch nicht mehr zu ändern. Ich schlage vor, du beschäftigst ihn erst einmal eine Weile. Vielleicht taut er ja etwas auf, wenn er dir bei der Arbeit helfen kann.“ Hunter nickte stumm und ging Ezra hinterher. Besorgnis zeichnete sich auf Cyphers Gesicht ab und er sah Hunter nachdenklich hinterher, wobei er leise „Schöne Scheiße“ murmelte. „Kommt er nicht gut mit Pflegefamilien zurecht“, hakte Simon vorsichtig nach, doch auch sein Gastgeber schien ein wenig ratlos zu sein. „Nicht wirklich. Er hält es nicht in Familien aus und haut jedes Mal sofort ab, sobald das Jugendamt meint, ihn in eine reinstecken zu müssen. Das Problem ist, dass er nicht ewig im Kloster bleiben kann und lernen sollte, mit anderen Menschen zusammenzuleben. Ezra braucht eine Familie, aber er sieht das halt anders. Der einzige Grund, den ich mir für sein Verhalten erklären kann, ist, dass er Angst vor Familien hat. Blöd nur, dass er sich an seine Vergangenheit nicht erinnern kann.“ „Hat er eine Amnesie?“ „Nee nicht ganz. Die Ärzte sprechen von Verdrängung. Er hat seine Erinnerung nicht verloren, aber er verdrängt sie, sodass er sich nicht bewusst erinnern kann. Und bisher hat er auch jeden Versuch abgeblockt, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber wahrscheinlich war es ohnehin nichts Angenehmes, was ihm widerfahren ist.“ „Und warum holt ihr ihn nicht zu euch?“ „Geht halt nicht“, erklärte Cypher und man konnte heraushören, dass er sich selber ein Stück weit darüber ärgerte. „Das Jugendamt will ihn in eine richtige Familie vermitteln. Ein gewisser Altersunterschied muss gegeben sein, damit der erzieherische Effekt dabei ist. Ich bin gerade mal neun Jahre älter und könnte höchstens sein Bruder sein. Außerdem ist Hunter selbst nicht der sozialste Mensch und das ist für die auch ein Ausschlusskriterium, genauso wie die Tatsache, dass wir auch nicht liiert sind. Da spielt es keine Rolle, wenn Hunter einen guten Draht zu ihm hat. Wenn Ezra nie in eine Familie kommt, wird er vermutlich nie wirklich in der Lage sein, ein normales Verhältnis zu anderen Menschen zu entwickeln. Aber wenn es nach ihm ginge, würde er am liebsten ein Dasein als Einsiedler in den Wäldern fristen. Wahrscheinlich würde er dann zu einem dieser seltsamen Wolfmenschen werden, über die man Dokumentationsfilme drehen.“ Allein… kein Vertrauen in die Menschen… Simon kannte das selber nur allzu gut. Er hatte auch nie wirklich jemandem vertrauen können. Selbst mit Leron hatte das eine Weile gebraucht, bis er ihm so weit vertraut hatte, dass er sich auf diese Beziehung mit ihm einlassen konnte. Dennoch fühlte er sich oft genug fremd in dieser Welt. Und wahrscheinlich ging es Ezra nicht anders. Auch er fühlte sich fremd unter Menschen und nicht dazugehörig. „Soll ich mal mit ihm reden?“ fragte er schließlich. „Ich glaube, ich kann gut verstehen, was er durchmacht.“ „Weiß nicht…“, murmelte der Künstler zögerlich. „Es hat allein schon bei Hunter zwei Monate gebraucht, bis er sein Vertrauen gewonnen hat. Du kannst es gerne versuchen, aber ich glaube nicht, dass es etwas bringen wird. Wenn es nicht Hunter ist, hört er gar nicht erst zu.“ Trotzdem brachte dieser ihn nach hinten in den Hof, wo Hunter gerade damit beschäftigt war, an einem Motorrad zu schrauben. Ezra hockte neben ihm, schaute ihm zu und reichte ihm hin und wieder Werkzeug, aber trotzdem sprach keiner von ihnen ein einziges Wort. Der Rottweiler trottete ein wenig umher, schnüffelte hin und wieder kurz und jagte hier und da mal ein paar Vögel auf. Kaum, dass er das Geräusch von Schritten wahrnahm, fuhr Ezras Kopf ruckartig hoch und kurz darauf stand er kerzengerade da. Dieses Verhalten erinnerte Simon ein wenig an einen Hund, der Gefahr witterte und sich bereit machte. Um ihn nicht noch mehr aufzuregen, ergriff Cypher als erstes das Wort und erklärte ihm, dass Simon ein sehr guter Freund von ihm sei und sich große Sorgen mache und in Ruhe mit ihm reden wollte. Doch hierauf verfinsterte sich der Blick des Jungen nur und er sah fast so aus, als wolle er instinktiv die Zähne fletschen wie ein Raubtier. „Ich hab dir doch gesagt, lass mich in Ruhe. Verpiss dich!“ „Ich will nur kurz mit dir reden und danach lasse ich dich auch in Ruhe“, versicherte Simon und hob beschwichtigend die Hände. „Was willst du mit mir bereden, ich kenne dich nicht mal und du mich auch nicht. Also was willst du von mir?“ „Ich habe gehört, dass du Probleme mit Menschen hast“, versuchte Simon zu erklären. „Ich kenne das selber. Ich war auch ganz alleine und habe niemandem vertraut. Aber nicht alle Menschen auf dieser Welt sind schlecht. Es gibt auch Menschen, denen man vertrauen kann und die auch für einen da sind, wenn man sie braucht.“ Der Rottweiler kam wieder zurückgelaufen, nachdem er wohl mitbekommen hatte, wie laut sein Herrchen gewesen war und gesellte sich zu ihm. Ezra streichelte seinen Hals, ohne auch nur eine einzige Sekunde lang Cypher und Simon aus den Augen zu lassen. Er war übervorsichtig. „Und was willst du mir jetzt erzählen?“ fragte Ezra. „Du predigst doch den gleichen Müll wie alle anderen. Wieso wollen mir alle ständig einreden, was ich brauche und was nicht? Ich kann sehr gut für mich alleine sorgen.“ „Das kannst du eben nicht“, erwiderte Cypher, aber dieses Mal klang er wesentlich strenger als sonst. „Du bist erst 16 Jahre alt und bei deinem Betragen und deinen Noten wirst du nie ein anständiges Leben führen können.“ „Du hast doch keine Ahnung“, blaffte Ezra zurück. „Hört endlich auf so zu tun, als würdet ihr mich verstehen!“ „Wie sollen wir dich denn bitteschön verstehen, wenn du nicht redest?“ „Weil ich nicht reden will, verdammt. Wieso kapiert ihr das nicht endlich? Ich will keine Familie. Und ihr wollt mich doch auch nicht mal bei euch aufnehmen.“ Damit wandte sich der klein geratene Teenager um und rannte davon. Nun war auch Hunter aufgestanden und wischte sich mit einem Lappen seine Hände ab. Als er sah, dass der 16-jährige im Begriff war, wegzulaufen, rief er ihm nach und eilte ihm nach, doch Ezras Vorsprung war schon zu groß und obwohl er wesentlich kürzere Beine hatte, war er dennoch ziemlich schnell zu Fuß. „Na großes Kino“, seufzte Cypher. „So ein Sturkopf aber auch.“ „Tut mir leid, dass er wegen mir…“ „Schon gut, Simon. Er ist halt ein verdammt sturer Teenie, der sich rein gar nichts sagen lässt.“ „Sollte nicht einer von ihm hinterher?“ „Nein, der geht garantiert erst mal mit Archi in den Wald, um Ruhe zu haben. Wir gehen ihn dort nachher abholen und dann hat er sich auch wieder etwas beruhigt. Normalerweise keift er mich auch nicht so an, aber leider ist er jedes Mal so anstrengend, wenn er wieder eine neue Pflegefamilie hatte. Aus irgendeinem Grund ist er danach jedes Mal so sehr verschlossen, dass er niemanden mehr sehen will. Lediglich Hunter kann zu ihm durchdringen, weil er nicht diese aufdringliche und fordernde Art besitzt. Aber es war dennoch ganz lieb gemeint von dir, dass du mit ihm geredet hast. Hunter, wir gehen ihn gleich im Wald abholen.“ Stumm nickte der Angesprochene und begann nun sein Werkzeug wegzuräumen. Knapp eine halbe Stunde später waren sie mit Cyphers Wagen, einem blutroten aber dennoch in die Jahre gekommenen Chevrolet zum Wald gefahren. Da Simon Angst hatte, alleine im Haus zu bleiben, war er kurzerhand mitgekommen und zum Glück mussten sie auch nicht lange nach Ezra suchen. Dieser lief unruhig die Wege entlang und rief immer wieder nach Archi, der wohl sein Hund war. Als er die anderen bemerkte, lag Angst in seinem Blick und er eilte sofort zu Hunter. „Ich kann Archi nirgends finden!“ rief er panisch. „Er ist plötzlich losgelaufen und ich habe ihn aus den Augen verloren.“ Die Angst um seinen Hund stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben und beruhigend klopfte Hunter ihm auf die Schulter. „Wir finden Archi schon.“ „Wir sollten uns aufteilen und nach ihm suchen“, schlug Cypher vor. „Ich gehe mit Simon und du mit Hunter. Wenn einer von uns Archi finden sollte, klingelt er kurz übers Handy durch.“ Damit trennten sich ihre Wege und gemeinsam ging Simon mit Cypher den rechten Weg entlang und suchte alles nach dem entlaufenen Rottweiler ab. Zum Glück war der Wald nicht allzu groß, dass man schlimmstenfalls sogar Stunden damit zugebracht hätte, nach einem entflohenen Hund zu suchen. Immer wieder riefen sie Archis Namen, allerdings vergeblich. Von dem Hund fehlte jede Spur und es kam auch keine Reaktion auf ihre Rufe. Schließlich überquerten sie eine kleine Brücke, die über ein Bächlein führte und kamen an einer Art Kuhle vorbei, in der sich altes Laub angesammelt hatte. Ein Rascheln ließ Simon aufhorchen und er ging an den Rand der Kuhle und sah dort tatsächlich einen Rottweiler, der im Boden zu graben schien. Es konnte Archi sein. Zumindest schien kein Besitzer in der Nähe zu sein. Schnell rief er Cypher zu, der sofort herbeigeeilt kam und bestätigte, dass das Archi war. Wieder riefen sie nach dem Hund, doch der schenkte ihnen keinerlei Beachtung und schien gänzlich in seine Grabarbeiten vertieft zu sein. Also kletterten sie vorsichtig hinunter und Cypher schickte sich an, den Hund am Halsband zu packen und mit sich zu ziehen, wenn er schon nicht hören wollte. Simon blieb etwas weiter weg, denn Hunde waren nicht wirklich seine Lieblingstiere und er bewahrte da lieber sicherheitshalber Abstand. Dafür fiel ihm etwas anderes ins Auge, was ihn verwunderte: ein Blumenstrauß lag auf dem Boden. Er war schon verwelkt, schien aber noch nicht ganz so alt zu sein. Warum zum Teufel legte jemand hier einen Blumenstrauß ab? Bevor er sich näher damit beschäftigen konnte, hörte er Cypher leise „Shit“ zischen und sofort waren seine Gedanken wieder bei ihm. „Alles in Ordnung?“ erkundigte er sich sicherheitshalber, doch da kam Cypher auch schon mit Archi auf ihn zu und wies ihn mit ernster Miene an: „Nimm den Hund mal mit und sorg dafür, dass er wegbleibt. Halte ihn solange am Halsband fest, ich muss kurz die Polizei anrufen.“ „Wieso die Polizei?“ fragte Simon irritiert und verstand nicht, was los war. „Ist irgendwas?“ „Da sind Knochen“, erklärte Cypher und wurde blass im Gesicht. „Ich glaube, da ist eine Leiche im Boden verscharrt.“ Kapitel 27: Gefühlschaos ------------------------ Nachdem Cypher die Polizei angerufen hatte, kletterte er zusammen mit Simon, der den Rottweiler am Halsband festhielt, aus der Kuhle heraus und legte dabei einen Arm um seinen Begleiter, der ihn bei der Suche nach dem Hund unterstützt hatte. Zwar versuchte Brünette, einen Blick auf die Stelle zu erhaschen, ob es sich auch wirklich um eine Leiche handelte, aber er wurde mit den Worten „Lass es lieber. Wenn du nicht die Nerven dafür hast, kriegst du solche Bilder kaum wieder aus deinem Kopf raus!“ abgehalten. „Was sollen wir jetzt machen?“ fragte er unsicher. „Sollen wir hier bleiben oder zurück zur Straße und dort auf die Polizei warten?“ „Du gehst mit Archi zurück zur Straße“, wies Cypher an, der in dieser Situation der Einzige war, der genau zu wissen schien, was er zu tun hatte. „Ich bleibe hier und passe auf, dass keiner kommt und die Leiche wegschafft. Ist zwar unwahrscheinlich, aber sicher ist sicher. Ich habe Hunter geschrieben, dass er am Auto auf dich warten soll.“ „Okay…“, murmelte Simon und ihm wurde das Gefühl, als würde sich ihm der Magen umdrehen. Die Erinnerung kam zurück, als er an jenen Abend zu diesem Serienmörder in den Wagen gestiegen war und wie nur der Wink des Glücks ihn vor einem grausamen Tod gerettet hatte. Vor allem aber musste er an den Anblick der beiden blutüberströmten Jungs zurückdenken, die tot im Kofferraum gelegen hatten. Als er sie gesehen hatte, da waren sie ihm so unwirklich vorgekommen. Als wären es bloß ziemlich realistische Puppen aus einem Horrorfilm gewesen. Vielleicht war es aber auch der Schock gewesen, dass sein Verstand nicht in der Lage war, zu realisieren, dass das tatsächlich tote Menschen waren. Aber nun war sein Verstand nicht vom Schock benebelt und er fühlte sich sehr klar im Kopf. Er verstand sehr gut, was der Hund ausgegraben hatte und was der Blumenstrauß zu bedeuten hatte. Jemand war ermordet und im Wald verscharrt worden. Und dann hatte dieselbe Person einen Blumenstrauß vorbei gebracht. Angst überkam ihn und ihm wäre es wesentlich lieber gewesen, wenn Cypher bei ihm geblieben wäre, aber andererseits hatte dieser auch Recht: jemand musste am Fundort bleiben und aufpassen, dass niemand dort hinging und etwas verwüstete und dabei eventuell sogar Spuren vernichtete. Der Hund gab ein kurzes Winseln von sich, als wüsste er genau, wie es seinem menschlichen Begleiter gerade erging und als versuche er, dadurch sein Mitgefühl auszudrücken. Eine Weile hielt Simon ihn am Halsband fest, aber als er das Gefühl hatte, als würde Archi ihm bereitwillig folgen, ließ er ihn los und tatsächlich folgte der Hund ihm brav. Sie gingen den Weg wieder zurück und kamen Hunter und Ezra entgegen. Obwohl sich der Teenager bisher vollkommen distanziert und abweisend verhalten hatte, rannte er plötzlich auf sie zu und als hätte der Hund nur auf sein Herrchen gewartet, stürmte er ihm entgegen und es gab ein rührseliges Wiedersehen, als wären sie jahrelang voneinander getrennt gewesen. Überglücklich schloss Ezra seinen Hund in die Arme und hatte alles andere um sich herum vollkommen ausgeblendet. Hunter indessen betrachtete Simon mit seinen goldgelben Augen und bemerkte mit tiefer und ruhiger Stimme „Du bist ziemlich blass. Alles in Ordnung?“ „Da war eine Leiche“, murmelte der Angesprochene und das unwohle Gefühl wurde schlimmer. „Da hat jemand einen anderen umgebracht und im Wald ver…“ Den Rest schaffte er nicht mehr. Sein Magen rebellierte heftig und er flüchtete hinter einem Busch und übergab sich. Eine Hand legte sich auf seinen Rücken und er bemerkte, dass Hunter neben ihm stand. „Tut mir leid. Es sind nur ein paar Bilder wieder hochgekommen.“ „Also hast du schon mal eine Leiche gesehen?“ stellte der Bildhauer fest, ohne dabei sonderlich überrascht zu wirken. Simon nickte und wankte wieder zurück. Hunter gab ihm Halt, um ihn ein wenig zu stützen und um zu verhindern, dass sein Begleiter zusammenbrach. Er führte ihn zu einer Bank und ließ ihn Platz nehmen. Nun schaute Ezra zu ihnen herüber und sein Blick war schwer zu deuten. Es lag keine Besorgnis oder Mitgefühl in seinen Augen, aber etwas, das verriet, dass er Simons Zustand kannte und wusste, was dieser gerade durchlebte. Doch er sagte nichts und hielt weiterhin Archi im Arm. „Als ich noch auf dem Straßenstrich gearbeitet habe, bin ich an einen Serienmörder geraten“, berichtete der 21-jährige und bemerkte, wie heiser sich seine Stimme anhörte. „Ich hatte schon im Auto so ein merkwürdiges Gefühl gehabt, weil es so komisch im Wagen gerochen hat. Als ich aussteigen wollte, drückte er eine Pistole gegen meinen Kopf. Die Polizei tauchte schließlich auf und dann sah ich, wie sie den Kofferraum öffneten und zwei Leichen da drin waren. Zwei Jungs vom Strich, die ich kannte und die verschwunden waren.“ Hunters sonst so düsterer und bedrohlicher Blick hellte sich ein wenig auf, sodass man etwas in seiner Miene erkennen konnte, das an Mitgefühl erinnerte. Kein Wunder, immerhin hatte er als Kind mit ansehen müssen, wie seine Eltern starben und sein Vater war brutal ermordet worden. Er kannte dieses Gefühl, das Simon gerade durchlebte. Nun setzte er sich neben ihm hin, sagte aber nichts. Wahrscheinlich wusste er aber auch, dass es nichts geändert hätte, wenn er etwas zu sagen gehabt hätte. Dadurch würde sich niemand besser fühlen. Aber Simon war ihm schon dankbar genug, dass der sonst so schweigsame und furchteinflößende Hunter bei ihm war und ihm wenigstens auf diese Weise dieses entsetzliche Gefühl der Hilflosigkeit und Angst nahm. Doch insgeheim wäre es ihm lieber gewesen, wenn Leron da wäre und ihn in den Arm nahm, um ihn zu beruhigen. Er vermisste ihn. In dieser Situation sogar noch mehr als sonst. Als die Polizei eintraf, führte Simon sie zum Fundort, wo Cypher noch auf sie wartete und ihnen zuwinkte. Die beiden Polizisten nahmen die Aussagen der beiden auf, sahen sich den Fundort kurz an und kurz darauf begann auch schon ein Team der Spurensicherung den Fundort abzusperren. Nachdem die beiden unfreiwilligen Leichenfinder ihre Personalien angegeben hatten, kehrten sie zum Auto zurück und fuhren zusammen mit den anderen nach Hause. Auf dem Weg sprachen sie kein Wort und es herrschte ein bedrücktes Schweigen. Nicht einmal Cypher versuchte, die Stimmung zu lockern. Ezra seinerseits starrte beharrlich aus dem Fenster, während Simon sich in seinem Sitz zurückgelehnt hatte und die ganze Zeit an Leron dachte. Nachdem sie wieder zuhause waren, verkroch Simon sich auf sein Zimmer, während Ezra und Hunter wieder in den Hof verschwanden. Der 21-jährige blieb aber nicht lange alleine. Gerade, als er die Decke über seinen Kopf gezogen hatte, klopfte es vorsichtig an der Tür und Cypher kam herein. „Hey, darf ich stören?“ fragte dieser vorsichtshalber. „So wie du vorhin ausgesehen hast, könnest du sicher ein wenig Gesellschaft gebrauchen.“ Es folgte keine Antwort, aber es war auch nicht nötig, etwas zu sagen. Cyphers Schritte kamen näher und kurz darauf ging auch schon ein kurzer Ruck durch das Bett, als er sich auf die Matratze setzte. Trost spendend streichelte dieser seinen Kopf und seine schneeweiß wirkenden Augen zeigten ernste Besorgnis. „Willst du Leron anrufen?“ „Nein, ich will nicht, dass er sich Sorgen macht“, murmelte Simon leise. „Er hat selber genug Probleme.“ „Na gut, dann bin ich ja jetzt da.“ Ohne überhaupt um Erlaubnis zu fragen, legte sich der 25-jährige zu ihm aufs Bett, verzichtete aber darauf, unter die Decke zu kriechen. Er lag auf dem Rücken, hatte ein Bein angewinkelt und die Hände auf dem Bauch zusammengefaltet, was ein wenig den Eindruck eines Patienten erweckte, der beim Psychiater auf der Couch lag und über seine Probleme redete. „Ich kann zwar schlecht den Ersatzmann für ihn spielen, aber du kannst trotzdem reden, wenn es dir dadurch besser geht. Und wenn du nicht reden willst, können wir auch einfach schweigend nebeneinander im Bett liegen. Ist deine Entscheidung.“ Doch es verging eine Weile, bis Simon sich dazu durchrang, zu reden. Er begann Cypher von seiner Vergangenheit zu erzählen. Von seiner Zeit im Waisenhaus und auf dem Straßenstrich und was dann passiert war. Schließlich erzählte er ihm, wie er Leron kennen gelernt hatte und was es mit dem Petboy Vertrag auf sich hatte. Als er fertig erzählt hatte, kehrte wieder für eine Weile Stille ein und er wandte sich unsicher an Cypher. „Was denkst du eigentlich über mich?“ Nun drehte der Künstler seinen Kopf zu ihm zog die Augenbrauen zusammen. Aber dann streckte er seine Hand nach Simon aus und streichelte seinen Kopf. Fast genauso wie Leron es getan hatte, allerdings eher in einer brüderlichen Art und Weise. „Echt kein tolles Leben“, sagte er und sah seinen Gast mitfühlend an. „Da hast du ja echt Glück gehabt, dass sich alles zum Guten für dich gewendet hat und dass Leron dich von dort weggeholt hat. Es wird schon wieder werden, da bin ich mir sicher. Hey, wie wäre es, wenn wir uns nachher was Lustiges ansehen, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Ich habe ein paar Trashfilme, die ich von Freunden gekriegt habe. Ist zwar nichts Weltbewegendes, aber immer noch besser, als sich unter der Decke zu verkriechen und sich mit unangenehmen Erinnerungen zu quälen.“ Das Angebot klang verlockend, auch wenn Simon am liebsten im Bett liegen geblieben wäre. Andererseits würde es auch nichts bringen, sich zu verschanzen und alleine zu sein. So würden die Bilder auch nicht aus seinem Kopf verschwinden. In diesem Punkt hatte Cypher ja Recht. Und doch fühlte er sich einfach nur elend in diesem Moment. Mit einem Male überkamen ihn die Gefühle und er schluchzte heftig auf. Unkontrolliert flossen Tränen seine blassen Wangen hinab und sein Körper begann zu beben. Hieraufhin setzte sich Cypher auf und nahm ihn tröstend in den Arm und sprach dabei beruhigend „Hey, ist ja alles gut“, während er ihm tröstend über den Rücken streichelte. „Das alles ist Vergangenheit und kann dir nichts mehr anhaben. Du bist nicht mehr alleine und du kannst stolz auf das sein, was du bis jetzt geschafft hast und dass du das alles hinter dir lassen konntest. Du bist ein wirklich starker Mensch, viel stärker als du glaubst. Und es ist nicht schlimm, sich auch mal schwach und hilflos zu fühlen. Weine ruhig so viel wie du willst. Danach fühlst du dich besser.“ Schluchzend vergrub Simon sein Gesicht in Cyphers Schulter und weinte, wie er noch nie zuvor in seinem Leben geweint hatte. Emotional brach gerade alles über ihn herein. Das Leid der letzten Jahre, welches er stillschweigend erduldet hatte, der Schmerz über die Ablehnung seiner Mitmenschen, der Serienmörder, Michaels Übergriffe und Lerons Kontrollverlust. Er konnte es nicht mehr länger zurückhalten. Die Leiche im Wald war nicht einmal das, was diesen emotionalen Zusammenbruch bei ihm ausgelöst hatte. Es waren die Einsamkeit, die Hilflosigkeit und die Erkenntnis, dass der Mensch, den er liebte und der ihm so viel Halt gab, nicht da war um ihn aufzufangen, die ihn in diesen Zustand trieben. Er fühlte sich schwach und Leron war dieses Mal nicht hier und wahrscheinlich wäre dieser ohnehin nicht stark genug gewesen, um ihn aufzufangen. Aber dafür war es jetzt jemand anderes. Cypher war da. Er kannte sein Leid, wenn auch nicht im ganzen Ausmaß und auch er war lange einsam gewesen. Und nun war dieser nun an Lerons Stelle für ihn da, um ihn zu trösten. So war es also, einen Freund zu haben, der ihn auffangen konnte. Oder war es vielleicht sogar das Gefühl, eine Familie zu haben? „Ist alles scheiße“, bestätigte der Künstler, der sich gut vorstellen konnte, was gerade im Kopf des Jungen vor sich ging. Nämlich das totale Chaos. „Und du hast alles Recht der Welt zu weinen und dich schlecht zu fühlen. Du musst nicht immer den Starken spielen und immer nur alleine kämpfen. Jeder braucht mal seine schwache Phase.“ „Ich vermisse Leron“, schluchzte Simon in seine Schulter hinein. „Bei ihm habe ich mich so geborgen gefühlt und konnte bei ihm meine ganzen Probleme vergessen.“ „Und jetzt ist er nicht da und wäre auch nicht in der Lage, dir zu helfen“, ergänzte er. „Das kenne ich selbst ganz gut. Aber mit der Zeit findet ihr schon eine ausgleichende Basis. Das braucht halt seine Zeit. Das war bei mir und Hunter auch nicht anders. Und du bist erst 21 Jahre alt. Gerade erst alt genug, um legal Hochprozentiges zu trinken. Da ist es ja kein Wunder, dass dich das alles ziemlich überfordert. Aber sieh es auch mal so: du bist hier und wir können uns näher kennen lernen und uns eine nette Zeit machen. Leron ist ja nicht für immer weg und wenn er sich erholt hat, ist er auch wieder da und ihr seid wieder zusammen. Dann wird es für dich auch nicht mehr ganz so einsam sein.“ Natürlich war es Simon klar, dass es nur ein paar Tage sein würden, in denen er von Leron getrennt bleiben würde. Aber emotional kam es ihm dennoch wie eine unerträgliche Ewigkeit vor. Er hatte so etwas noch nie erlebt und war dementsprechend überfordert mit diesem Gefühl und wusste nicht damit umzugehen. Noch nie in seinem Leben hatte er jemanden vermisst und nun war dies der Auslöser für seinen emotionalen Zusammenbruch. Mit einem weiteren Schluchzer schaffte er es, ein paar Worte hervorzubringen: „Tut mir leid, dass ich solche Umstände mache.“ „Ach Quatsch mit Soße“, winkte Cypher lässig ab. „Dafür sind Freunde und große Brüder doch da, oder nicht? Als es mir nicht gut ging, hab ich mindestens genauso viel geheult wie du. Aber es hat echt gut getan und ich habe mich danach wesentlich befreiter gefühlt. Seinen Gefühlen auch mal freien Lauf zu lassen, hilft auch, den ganzen Ballast abzuschmeißen, den man mit sich herumträgt.“ Es klopfte plötzlich an der Tür und Simon löste sich von ihm um die Tür sehen zu können. Sie wurde vorsichtig geöffnet und zuerst erwartete er, dass es Hunter sein könnte, doch zu seiner Überraschung war es Ezra. Was machte der denn hier? Kurz sah er die beiden an und etwas wie Unsicherheit und Verwirrung war in seinem Gesicht zu sehen, dann aber schloss er die Tür wieder wortlos hinter sich und ließ sie wieder alleine. Einen kurzen Moment saßen die beiden überrascht und verwundert auf dem Bett, dann aber musste der 25-jährige Künstler amüsiert schmunzeln. „Ach sieh an. Scheint so als hätte sich Ezra Sorgen um dich gemacht.“ „Echt?“ fragte sein Gast überrascht und wischte sich die Tränen weg. Dieser plötzliche Überraschungsmoment hatte ihn völlig aus seinen chaotischen Gedanken gerissen, sodass er auch instinktiv zu weinen aufgehört hatte. Stattdessen war ihm so, als wäre eine große seelische Last von seinen Schultern genommen worden. Er fühlte sich befreiter, genauso wie Cypher gesagt hatte. „Ich dachte, er könnte mich nicht ausstehen.“ „Anscheinend hat er seine Angst vor dir verloren. Wahrscheinlich, weil du ihm Archi zurückgebracht hast. Der Hund ist quasi seine einzige Familie. Oder vielleicht war es auch deine Reaktion wegen der Leiche, die ihn zum Nachdenken gebracht hat. Und jetzt wollte er offenbar nach dem Rechten sehen. Respekt, damit hast du seine Sympathie schneller gewonnen als Hunter.“ „Dann hat der Ausflug in den Wald wohl doch etwas Positives gehabt.“ „Das mit Sicherheit. Die Gelegenheit sollten wir gleich nutzen und uns gemeinsam ins Wohnzimmer setzen und was gucken. Wir bestellen uns was beim Pizzaservice und haben dann wenigstens einen schönen Nachmittag.“ Simon nickte und kroch aus dem Bett. Cyphers Vorschlag war wesentlich besser, als die ganze Zeit nur herumzuliegen. Also gingen sie zurück ins Wohnzimmer, wo Ezra zusammen mit Archi auf der Couch saß und ihm den Hals kraulte. Hunter stand ihm gegenüber und redete mit ihm, allerdings sprach er recht leise, sodass Simon nichts verstehen konnte. Der 16-jährige hatte einen sehr nachdenklichen Blick und sah Hunter nicht an. Zwischendurch schien sein nachdenklicher Gesichtsausdruck kindlichem Trotz zu weichen und gereizt fragte er „Warum wollt ihr mich ständig in so eine blöde Pflegefamilie abschieben? Ich will lieber bei euch bleiben! Wieso geht das denn nicht?“ „Weil wir vom Jugendamt keine Erlaubnis bekommen.“ „Scheiß auf das verdammte Jugendamt!“ rief der Teenager wütend. „Die interessiert es doch eh nicht, wie es mir dabei geht. Ich will nicht, dass sie mich in irgendeine Familie reinstecken, wo ich eh nur ein Fremder bin.“ Einen Moment kehrte Ruhe ein und Ezra senkte seinen Blick so tief, dass man sein Gesicht nicht sehen konnte. Er zog die Beine an und verschränkte die Arme vor der Brust, woraufhin er sich so klein machte, dass er schon fast winzig wirkte. „Ich kann das einfach nicht“, sprach er mit trauriger Stimme. „Du weißt doch auch, wie es ist, wenn man Angst vor Menschen hat. Ich habe Angst vor Erwachsenen.“ „Cypher und ich sind auch Erwachsene.“ „Das ist nicht dasselbe. Ihr verhaltet euch nicht so wie die anderen Erwachsenen! Sag dem Jugendamt, dass ich für Familien nicht tauge, damit ich bei euch bleiben darf!“ Das Gespräch endete abrupt, als beide bemerkten, dass Simon und Cypher zu ihnen kamen. Der 25-jährige ging zu Ezra hin und streichelte ihm aufmunternd den Kopf. „Wir haben dich gerne bei uns und das weißt du auch“, versicherte er. „Aber die Sache ist halt nicht einfach. Du weißt, dass du jederzeit zu Besuch kommen kannst. Ich kann gerne noch mal mit dem Jugendamt reden, aber mach dir bitte keine falschen Hoffnungen, ja? Hunter und ich hätten dich gerne bei uns, aber wir müssen uns auch an Regeln halten.“ „Ihr versucht es doch nicht einmal, das Jugendamt zu überzeugen!“ erwiderte Ezra aufgebracht und warf eines der Sofakissen nach ihm. „Ihr versucht doch auch nur, mich loszuwerden.“ Damit sprang der klein geratene Teenager von der Couch auf und rannte weg. Kurz darauf hörte man auch schon laut eine der Türen zuknallen. Nach kurzem Zögern folgte Simon ihm und erreichte schließlich das andere Gästezimmer, in welches sich Ezra verkrochen hatte. Einen Augenblick zögerte er, dann klopfte er schließlich an die Tür. „Ezra? Darf ich kurz mit dir reden?“ „Geh weg!“ kam es zurück. „Lasst mich doch alle in Ruhe.“ Unsicher legte der 21-jährige ein Ohr an die Tür und hörte hinter der Tür etwas, das wie ein leises Schluchzen klang. Trotz der klaren Abfuhr öffnete er nach kurzem Überlegen die Tür und sah den klein geratenen Teenager in einer Ecke kauern wie ein verängstigtes Kind, das man ganz alleine gelassen hatte. Ein Anblick, den er von sich selbst nur allzu gut kannte. Langsam trat er näher, um Ezra nicht zu erschrecken und hockte sich vor ihm hin, um zumindest auf seiner Augenhöhe zu sein. Ohne von ihm aufzusehen, rief der aufgewühlte Teenager „Ich habe doch gesagt, ihr sollt mich in Ruhe lassen!“ „Hör mal, Hunter und Cypher mögen dich wirklich sehr“, begann er, ohne dabei auf Ezras Worte einzugehen. „Und sie machen sich auch große Sorgen um dich. Sie wünschen sich für dich, dass du ein ganz normales Leben führen kannst und eine liebevolle Familie findest. Warum wehrst du dich so sehr dagegen?“ „Ich will keine Familie“, erklärte der uneinsichtige Jugendliche und wischte sich die Tränen am Ärmel ab. „Warum kapiert das denn keiner? Die wollen mich doch sowieso alle nicht, weil ich ein Fremder für sie bin. Ich kenne diese Leute alle nicht und soll dann mit denen zusammenleben? Was denken die sich eigentlich dabei? Dass alle auf heile Welt machen und alles super läuft? Die denken doch eh, dass ich nicht normal bin.“ „Warum sollten die das denken?“ „Weil es immer gleich heißt, ich bin von Tieren aufgezogen worden und hätte deshalb keine Ahnung was es heißt, wie ein richtiger Mensch zu leben. Die behandeln mich alle wie einen Freak oder wie einen Zurückgebliebenen. Hunter und Cypher sind die Einzigen, die mich ganz normal behandeln.“ „Und deshalb willst du unbedingt bei ihnen bleiben, sehe ich das richtig?“ Ein Nicken kam zur Antwort und mit einem frustrierten und zugleich aufgewühlten Ausdruck in den Augen blickte Ezra zur Seite und sah nichts. Als er dann eine Haarsträhne zurückstrich, die sich von seinem Zopf gelöst hatte, bemerkte Simon beim näheren Hinsehen einen hellen Ansatz. „Hast du deine Haare gefärbt?“ fragte er überrascht, um ein wenig vom Thema abzulenken und Ezra somit fürs Erste auf andere Gedanken zu bringen. Doch dieser sah ihn immer noch nicht an. „Meine Haare sind irgendwann weiß geworden“, erklärte er. „Seitdem muss ich sie färben.“ „Wie können Haare plötzlich weiß werden?“ Ezra zuckte mit den Schultern und meinte „Der Arzt meinte, es ist irgendein Syndrom oder so. Kein Plan.“ „Hm…“ Simon überlegte, ob er den dickköpfigen Teenager vielleicht irgendwie dazu bewegen konnte, wieder ins Wohnzimmer zu kommen und sich zu beruhigen. Diskussionen hatten ja sowieso keinen Zweck und bei seiner Gemütsverfassung würde er ohnehin keine große Einsicht zeigen. „Wie wäre es, wenn ihr dieses Thema fürs Erste aufschiebt? Cypher hat ja angeboten, dass du erst mal eine Weile hier bleiben kannst und da wäre es doch schade, wenn ihr nur am Diskutieren seid, solange du da bist. Cypher will gleich Pizza bestellen und zusammen mit uns einen Film gucken. Und es wäre schön, wenn du auch dabei bist.“ „Warum bist du eigentlich hier?“ wollte Ezra plötzlich wissen und sah ihn nun direkt an. Es lag immer noch eine Spur Misstrauen, aber auch Eifersucht in seiner Miene. Er war wirklich ein bisschen wie ein unreifes Kind. „Ich habe dich noch nie hier gesehen. Woher kennst du Cypher und Hunter überhaupt?“ Da alles andere nur noch unnötig komplizierter geworden wäre, beschloss Simon, ihm gleich die Wahrheit zu erzählen. „Ich habe Cypher beim Augenarzt kennen gelernt, weil wir beide unter derselben Augenkrankheit leiden und wir vermuten, dass wir eventuell verwandt sein könnten, weil unsere Krankheit erblich bedingt ist und wir beide ohne Familie aufgewachsen sind. Ich bin mit einem Verwandten von Hunter in einer Partnerschaft, allerdings geht es ihm nicht gut und er ist in der Klinik. Ich hatte Angst davor, alleine im Haus zu bleiben und die beiden haben mich dann hier aufgenommen.“ „Das ist nicht fair“, sagte der Kleingeratene mit Verbitterung in der Stimme. „Dich nehmen sie einfach auf, obwohl sie dich nicht einmal kennen. Und mich wollen sie wieder loswerden.“ „Sie wollen dich nicht loswerden“, versicherte Simon. „Sie wünschen sich doch nur für dich, dass du eine richtige Familie findest. Ich denke sie tun es deshalb, weil sie selber keine richtige Familie hatten. Cypher ist im Kloster aufgewachsen und Hunter hat seine Eltern verloren. Sie hatten nie das Glück, unbeschwert aufzuwachsen und eine Familie zu haben, die andere Kinder vielleicht haben. Keine liebevollen Umarmungen, keine aufmunternden Gespräche oder Bestrafungen wenn man Mist gebaut hat, kein Vater der mit einem Baseball spielt oder eine Mutter, die einem bei den Hausaufgaben hilft. Ich musste auch ohne Familie auskommen und habe mir selbst immer eine gewünscht. Aber für mich ist der Zug abgefahren. Meine Kindheit ist vorbei und sie kommt auch nie wieder zurück. Für dich ist der größte Teil deiner Kindheit auch schon vorbei und du bist schon 16 Jahre alt. Aber du hast noch eine Chance, das zu haben, was wir nicht haben. Eine Familie ist keine Strafe. Und nur weil früher in deiner eigenen Familie viel Schlimmes passiert ist, bedeutet es nicht, dass alle Familien schrecklich sind. Versuch mal darüber nachzudenken. Hunter und Cypher tun das nicht, um dich zu bestrafen, sondern weil sie sich wirklich das Beste für dich wünschen und dass du nicht ganz so alleine bleibst.“ Ezras Wut und emotionale Verletzung wich allmählich aus seinem Gesicht und stattdessen schien er nachdenklich zu werden. Wahrscheinlich hatte er eine andere Sichtweise auch mal dringend gebraucht um zu verstehen, warum Hunter und Cypher ihn lieber in einer Pflegefamilie sehen wollten. „Natürlich bist du in einer Familie erst mal fremd“, fuhr Simon schließlich fort. „Aber solche Dinge brauchen einfach ihre Zeit. Man kann nicht alles von jetzt auf gleich erzwingen. Aber wenn diese Menschen bereit sind, dich aufzunehmen, muss ihnen doch etwas an dir liegen. Vielleicht solltest du ihnen mal eine Chance geben, dich besser kennen zu lernen und dich zu verstehen. Versuch es einfach mal. Was hast du denn schon zu verlieren? Eigentlich kannst du doch nur dazugewinnen.“ „Du bist echt wie Cypher“, seufzte Ezra und stand schließlich auf. Anscheinend hatte er es endlich aufgegeben, sich stur und uneinsichtig zu stellen und sich im Zimmer zu verschanzen. „Dieselbe Art zu reden, derselbe Blick und sogar der gleiche Geruch…“ Geruch? Simon roch irritiert an seinen Klamotten, konnte aber nichts dergleichen feststellen. Und soweit er sich richtig erinnerte, hatte er bei Cypher auch kein Parfum oder Aftershave oder sonst dergleichen wahrgenommen. Die einzige Erklärung, die er im Moment für Ezras Bemerkung hatte, war „Cypher war vorhin bei mir im Zimmer gewesen und hat mich kurz in den Arm genommen. Vielleicht…“ „Du hast schon so gerochen, als ich heute Morgen zu euch gekommen bin. Ich habe einen etwas anderen Geruchssinn als normale Menschen.“ Da sich Ezra wieder beruhigt hatte, gingen sie zusammen wieder zurück ins Wohnzimmer, wo Hunter und Cypher auf sie warteten. Nachdem sie ihre Wünsche für ihre Pizza an Cypher weitergegeben hatten, rief dieser bei einem Pizzaservice in der Nähe an und gemeinsam setzten sie sich schließlich auf die Couch und schauten sich eine Reihe von Trash-Horrorfilmen wie Sharknado und Jurassic Shark an. So endete der Tag zumindest nicht in einem kompletten Desaster und sie hatten wenigstens zwischendurch ein bisschen was zum Lachen. Kapitel 28: Wiedersehen ----------------------- Zwei Tage später erschien ein Zeitungsartikel, der Simon zutiefst schockierte und ihm dermaßen auf den Magen schlug, dass ihm der Appetit verging. Es ging um den Fundort der Leiche, die Archi ausgebuddelt hatte, nachdem sich dieser von Ezra losgerissen hatte. Wie sich herausstellte, war es nicht nur eine Leiche gewesen. Insgesamt hatte die Polizei während einer Suchaktion noch zehn weitere Leichen gefunden, die in der Nähe der ersten Leiche versteckt waren und man ging davon aus, dass vielleicht noch mehr Leichen dort verscharrt waren. Und nun stellte man sich natürlich die berechtigte Frage, ob es das Werk eines Serienmörders war. Alle Leichen, die man bisher gefunden hatte, waren zum Teil vollständig skelettiert, weshalb man davon ausging, dass die gefundenen Leichen bereits seit über 25 Jahren dort vergraben waren. Fassungslos starrte er auf den Artikel und hatte das Gefühl, als würde er sich gleich übergeben müssen. Besorgt legte Cypher, der gerade mit einer Tasse Kräutertee aus der Küche kam und Simons kreidebleiches Gesicht sah, eine Hand auf dessen Schulter und fragte „Geht es dir nicht gut?“ „Mir ist gerade nicht so gut…“ „Hm… möchtest du einen Magentee? Ich habe aber auch Beruhigungstees für die Nerven.“ „Komm jetzt nicht mit deinen Tees an“, ermahnte Hunter mit ungewohnt strenger Stimme, der sich seinerseits mit einer Tasse Kaffee zufrieden gab. „Es ist der Zeitungsartikel.“ „Ach so“, kam es zurück. „Ja das ist schon echt krass mit den Leichen. Aber mich wundert’s echt, dass die Leichen alle schon so alt sind. Das heißt doch, dass dieser Serienmörder inzwischen schon recht alt sein muss, wenn er noch lebt. Unglaublich, dass niemand sie bis heute bemerkt hat und nie eine Leiche gefunden wurde.“ Na der hat Nerven, dachte sich Simon und legte die Zeitung beiseite. Er machte sich Sorgen darum, dass ein Serienkiller in Ihrer Nähe sein könnte und Cypher wunderte sich, wieso man die Leichen bisher noch nicht entdeckt hatte. Verständnislos schüttelte er den Kopf und sagte nichts weiter dazu. Wenig später kam Ezra dazu, dessen Haar offen war und ihm teilweise ins Gesicht hing, dass er ein wenig aussah wie einer dieser weiblichen Geister aus den japanischen Horrorfilmen. Mit einem mürrischen Gesichtsausdruck setzte er sich zu Simon und schien ein ziemlicher Morgenmuffel zu sein. Cypher hingegen grinste nur amüsiert und bemerkte „Mit diesem grummeligen Gesicht sieht du aus wie Grumpy Cat.“ „Du kannst mich mal“, giftete der Teenager ihn an und warf ihm einen angriffslustigen Blick zu. Er zog die Beine an und starrte irgendwo hin. Wahrscheinlich war er einfach nur ein ziemlicher Morgenmuffel. Und um seine Stimmung noch weiter zu senken, hatte Cypher ihm eine wichtige Mitteilung zu machen: „Morgen musst du wieder ins Kloster zurück, Ezra. Bruder Benedict und die anderen haben angerufen und sie möchten, dass du zurückkommst.“ „Ich habe aber keine Lust auf diesen Kuttenverein!“ protestierte der 16-jährige sofort. „Kann ich nicht noch zwei oder drei Tage bei euch bleiben?“ „Wir haben diese Diskussion doch schon oft genug gehabt“, versuchte der weißäugige Künstler ihm ruhig zu erklären. „Du kannst uns gerne besuchen kommen, aber bleiben kannst du hier nicht. Wir bekommen sonst Ärger mit dem Jugendamt.“ Zuerst sah es danach aus, als würde Ezra es wieder auf eine Diskussion anlegen, aber er ließ es dann doch bleiben und schwieg. Stattdessen begann er sich nun Frühstück zu organisieren und konnte sich nicht den Kommentar verkneifen „Ihr wollt mich doch nur loswerden, weil eure Sexspielchen nicht jugendfrei sind. Bei Hunters Sadismus und deinem Masochismus ist es ja kein Wunder.“ Doch anstatt, dass sich Cypher darüber aufregte, zuckte er nur lässig mit den Schultern und meinte „Na und? Wir haben auf unsere eigene Weise unseren Spaß, daran ist ja auch nichts verboten.“ „Du bist einfach nur verrückt, das ist alles.“ „Bin ich nicht, ich hab mich vom Doc testen lassen. Ich bin höchstens semi-crazy.“ Nach dem Essen ging Simon ins Gästezimmer zurück und bemerkte, dass er eine SMS bekommen hatte. Sie stammte von Leron und das besserte seine Stimmung merklich. Er hatte schon eine Weile nichts mehr von ihm gehört und sich auch schon gefragt, ob er sich vielleicht mal bei ihm melden sollte. Doch da er sich nicht sicher war, wie es Leron momentan ging und ob sich sein Zustand gebessert hatte, hatte er lieber etwas abwarten wollen. Die Nachricht war recht kurz, klang aber trotzdem viel versprechend: „Hallo Simon. Komm um 13 Uhr zur Villa. Ich warte dort auf dich.“ Doch im gleichen Moment, wo er sich zu freuen begann, überkam ihn auch Verwunderung. Warum war Leron plötzlich wieder in der Villa? War er mit seinem Klinikaufenthalt etwa schon fertig? Auf der einen Seite freute er sich natürlich darüber, dass er endlich wieder bei Leron sein konnte, aber andererseits hatte er immer noch Angst davor, wieder zur Villa zurückzukehren. Er hatte sich in seinen eigenen vier Wänden immer am sichersten gefühlt. Dort war er geschützt und seine Kunden hatten nie gewusst, wo er wohnte. Aber dann war es plötzlich anders. Michael hatte es geschafft, ihn und Leron zu überwältigen und es wäre beinahe zu einer Vergewaltigung gekommen. Nun war er nicht mal in seinem Heim sicher. Diese Erkenntnis hatte ihn weitaus schlimmer traumatisiert als der eigentliche Angriff von Michael. Nach kurzem Überlegen schrieb er zurück „Bist du etwa schon entlassen worden?“ und erfuhr kurz darauf durch Lerons Antwort, dass er wohl noch ein paar Tage in der Klinik bleiben würde, allerdings hatte er heute kein Therapieprogramm und wollte deshalb die Gelegenheit nutzen, die verlorene Zeit nachzuholen. Nun, wenn er schon so sprach, dann konnte es doch eigentlich nur viel versprechend werden. Er versprach zu kommen und ging daraufhin ins Wohnzimmer, fand dort aber nur Hunter vor, der zwar mürrisch, aber auch ein wenig nachdenklich aussah. Als Simon näher trat, schaute der 24-jährige auf und fragte „Suchst du Cypher?“ „Äh, ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich weg bin. Leron hat heute kein Therapieprogramm und da wollten wir uns treffen.“ „Soll ich dich fahren?“ bot Hunter überraschend an. Zuerst wollte Simon bescheiden ablehnen, aber da die Villa ja nicht direkt in der Nähe lag, nahm er es dann doch an und so folgte er Hunter nach draußen, wo der Wagen geparkt war. „Wo musst du hin?“ „Zu Lerons Villa“. Sie stiegen in den Wagen ein und fuhren los. Während der Fahrt über sagte Hunter kein einziges Wort und Simon schaute hin und wieder unsicher zu ihm herüber. Eine Frage lag ihm auf den Lippen, doch er war sich nicht hundertprozentig sicher, ob er sie nicht vielleicht doch lieber Cypher stellen sollte. Aber andererseits würde Hunter so oder so davon hören und seine Meinung dazu haben. Also fasste er sich ein Herz und fragte „Ist es okay, wenn ich noch ein paar Tage bei euch bleibe? Leron wird wohl etwas länger in der Klinik bleiben und mir ist nicht ganz wohl, alleine in der Villa zu sein.“ „Wie lange?“ fragte Hunter nur und hielt seinen Blick starr auf die Straße gerichtet. Es war nicht festzustellen, ob er sich freute oder ärgerte. Es waren nie irgendwelche Gefühle bei ihm erkennbar und das machte es Simon umso schwerer festzustellen, wie er zu der ganzen Sache stand. Er wusste, dass dieser nicht mit Menschen umgehen konnte und schnell von spontanen Situationen überfordert wurde. Deshalb war es auch schwierig zu sagen, ob das jetzt so eine vernünftige Idee gewesen war. Andererseits kannte Hunter ihn inzwischen schon ein klein wenig und müsste sich ein wenig an ihn gewöhnt haben. „Keine Ahnung“, gestand er ehrlich. „Vielleicht kann mir Leron das ja gleich sagen. Ich denke mal er will noch so lange bleiben, bis er wieder stabil ist.“ „Okay…“ Das war alles, was der Bildhauer zur Antwort gab. Doch es klang irgendwie immer noch nicht wirklich eindeutig, weshalb Simon noch mal nachhakte, um sicherzugehen. „Ist das kein Problem für dich?“ „Wenn Leron Hilfe braucht, soll er sich Zeit lassen. Und wenn du Angst hast, alleine zu sein, ist es okay, wenn du noch bei uns bleibst. Cypher hängt an dir, weil er sich schon immer eine Familie gewünscht hat.“ Und diese Familie kann Hunter ihm beim besten Willen nicht geben, dachte sich Simon. Wahrscheinlich war sich dieser darüber im Klaren und arrangierte sich deshalb so souverän damit. „Dass selbst Ezra dich akzeptiert hat, zeigt eigentlich, dass du ganz in Ordnung bist. Er hat Angst vor Menschen.“ „Ja, da hat mir Cypher schon davon erzählt. Was ist das eigentlich für eine Krankheit, dass Ezras Haare weiß sind?“ „Marie-Antoinette-Syndrom. Die Haarwurzeln liegen eng an Nervensträngen und reagieren auf Stress. Durch einen schweren Schock sind Ezras Haare weiß geworden. Und bei Angstattacken fallen ihm auch mal Haare aus.“ „Klingt schlimm… Was ist ihm eigentlich zugestoßen?“ „Vieles und ich denke nicht, dass er möchte, dass irgendjemand davon erfährt.“ Aber so wie Hunters Miene aussah, schien Simon die Antwort zumindest grob zu haben. Es war mit Sicherheit vergleichbar mit den Zuständen in der Cohan-Familie. In dem Fall hatte Simon schon ein ungefähres Bild, was passiert sein könnte. Unter diesen Umständen war es vielleicht wirklich besser, wenn er nicht nachfragte. Mit dem Wagen brauchten sie nur knapp zwanzig Minuten und selbst dann waren sie immer noch etwas zu früh dran. Ob Leron schon da war? „Danke fürs Fahren.“ „Wenn du abgeholt werden musst, ruf an.“ Als er die Tür zur Villa öffnete, sah er sich unruhig um und zuckte erschrocken zusammen, als er Schritte nahe der Treppen hörte. Abrupt blieb er stehen, denn die Angst überkam ihn, dass es vielleicht Michael sein könnte. „Leron?“ rief er. „Bist du das?“ Die Schritte kamen näher und instinktiv wich Simon einen Schritt zurück, doch da hörte er zu seiner großen Erleichterung bereits eine vertraute Stimme. „Simon?“ Damit atmete der 21-jährige auf und eilte in Richtung der Schritte und als er tatsächlich Leron sah, schwand der letzte Rest seiner Angst und sie fielen sich in die Arme. Diese feste und dennoch gleichzeitig so liebevolle und zärtliche Umarmung zu spüren, hatte ihm so sehr gefehlt und eine unendliche Erleichterung überkam ihn, Leron zu sehen. Dabei waren es gerade mal drei Tage her, seit sie einander zuletzt gesehen hatten. „Hallo Simon“, grüßte Leron und streichelte ihm zärtlich den Kopf. „Wie geht es dir?“ „Ich habe dich vermisst“, antwortete Simon, ohne die Anstalten zu machen, ihn loszulassen. „Cypher und Hunter kümmern sich zwar gut um mich, aber es ist einfach nicht dasselbe, wenn du nicht bei mir bist.“ „Ich habe dich auch vermisst. Aber heute haben wir den ganzen Tag für uns und ich denke, das können wir auch gleich ausnutzen. Findest du nicht auch?“ Daraufhin löste sich der Unternehmer von ihm, hob sein Kinn und küsste ihn. Es war ein langer, leidenschaftlicher Kuss und er spürte, wie sich Lerons Hände auf seine Hüften legten und ihn näher zu sich heranzogen. Obwohl gerade erst drei Tage vergangen waren, seit sich Leron in die Klinik begeben hatte, fühlte es sich wie eine Ewigkeit an, in der sie voneinander getrennt waren. Und Simon spürte deutlich, wie sehr er ihn wirklich vermisst hatte. Er wollte alles für ihn tun und wieder in diese Zeit zurück, wo sie einfach zusammengelebt hatten und sich nicht um all diese anderen Dinge sorgen mussten. Aber vor allem fehlten ihn die Erziehungsmaßnahmen. „Ich habe viel nachgedacht. Auch über unsere Beziehung, Simon.“ Für einen Moment überkam ihn ein leiser Schreck, denn das klang irgendwie nach dieser üblichen Phrase, die dann zum Einsatz kam, wenn es ums Schlussmachen ging. Leron führte ihn ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Doch bevor Simon die Chance bekam, sich neben ihm zu setzen, kam der Unternehmer ihm zuvor und platzierte ihn auf seinen Schoß. Und diese direkte Nähe erregte Simon und ließ sein Herz höher schlagen. „Ich will unsere Beziehung in Zukunft weiter intensivieren. Und ich möchte, dass du mir offen und ehrlich antwortest: magst du es, wenn ich dich dominiere oder wünschst du dir eine Beziehung, bei der wir auf gleicher Stufe stehen?“ Ach darum ging es also? Leron wollte also nicht dieses Verhältnis zwischen ihnen aufheben und es ging nur um diese Sache? Und er hatte schon ernste Sorgen gehabt, dass es um ein unangenehmes Thema gehen könnte. „Ich finde beides gut“, erklärte er ihm. „Aber wenn ich mich einfach fallen lassen und dir das Kommando überlassen kann, fühle ich mich wesentlich wohler. Und ich finde es heiß, wenn du mir Befehle gibst.“ Ein amüsiertes Schnauben war zu hören und ein Lächeln zeichnete sich auf Lerons Lippen ab. „Sehr schön. Dann wird es in Zukunft auch so sein, dass du dich mir unterwirfst und meinen Anweisungen Folge leistest. Es wird in Zukunft strengere Regeln geben und natürlich auch Konsequenzen, wenn du gegen die Regeln verstößt.“ „Klingt vielversprechend. Aber sag mal, wie geht es dir denn eigentlich? Du siehst deutlich besser aus.“ „Ja, der Klinikaufenthalt ist gar nicht mal so schlecht und dank der Medikamente ist mit den Halluzinationen jetzt auch Schluss. Dr. Larson war allerdings der Meinung, dass ich noch um die zehn Tage bleiben sollte. Danach komme ich wieder zurück.“ „Und was ist mit Michael?“ „Der musste sich von seiner gebrochenen Nase, einer Gehirnerschütterung und einem angekratzten Ego erholen. So wie ich gehört habe, kümmert sich seine Freundin Judy um ihn. Und solange du bei Cypher bist, weiß er ja nicht, wo du bist. Ich denke nicht, dass er so schnell wieder auftauchen wird. Wir können uns heute also einen schönen Tag machen und unser Wiedersehen feiern.“ Und damit holte der Unternehmer etwas aus seiner Hosentasche. Simon erkannte es erst auf dem zweiten Blick als ein Lederhalsband. Es sah anders aus als sein altes. Dezenter und es besaß eine Schnalle, die vermutlich aus Titan war. Simon ließ es sich anlegen und sein Herz begann schneller zu schlagen. Wie sehr hatte er doch das Gefühl von Leder an seinem Hals vermisst. Er betastete es vorsichtig und Leron erklärte „Ich möchte, dass du es von nun an immer trägst. Ich habe ein wesentlich unauffälligeres ausgewählt, damit hauptsächlich wir beide die Bedeutung verstehen. Aber ich möchte, dass du es immer trägst, damit du dich daran erinnerst, wem du gehörst.“ Normalerweise hätte er längst Widerworte gegeben, weil er sich von niemandem als Eigentum bezeichnen lassen wollte. Er hatte immer auf seine Freiheit und Unabhängigkeit bestanden, weil er sich von niemandem beherrschen lassen wollte. Denn dazu gehörte auch Vertrauen. Doch bei Leron war das anders. Sie vertrauten einander und sie hatten aufrichtige Gefühle zueinander. Und dass dieser ihm dieses Halsband anlegte und damit auch Besitzansprüche deutlich machte, war ihm nicht einmal unangenehm. Im Gegenteil. Allein der Gedanke, dass Leron so deutlich zeigte, dass er nur ihm gehörte und niemandem sonst, zeigte ihm, wie wichtig er für ihn war. „Okay. Aber zum Schlafen oder Duschen darf ich es doch abnehmen, oder?“ „Na gut. Das sind aber auch die einzigen Ausnahmen. Ansonsten versohle ich dir den Hintern.“ Und damit zog Leron ihn wieder zu sich und küsste ihn. Simon legte seine Arme um ihn und erwiderte ergeben den Kuss. „Sonst noch irgendwelche Dinge, die ich beachten sollte?“ Seine Freude, Leron wiederzusehen und bei ihm zu sein, versetzte ihn in eine euphorische Stimmung, in der er alle Befehle und Regeländerungen angenommen hätte. Und dabei störte ihn auch nicht das leicht verschlagene Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers. „Bei Trainingsstunden wirst du mich in Zukunft immer um Erlaubnis fragen, ob du reden oder eine Frage stellen darfst. Widersprüche sind nicht erlaubt. Du bedankst dich für die Erziehungsrunden und Belohnungen und kommst nie ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Regelverstöße ziehen Konsequenzen nach sich. Um kleine Vergehen kümmere ich mich sofort, die großen hebe ich mir für später auf.“ Klang ganz vernünftig, aber wie sah es denn außerhalb der Trainingsstunden aus? Wie sollte er sich da verhalten? Aber da konnte Leron ihn beruhigen. „Im Alltag sind die Regeln nicht allzu streng, aber Frechheiten ziehen natürlich auch Erziehungsmaßnahmen nach sich. Ich war bisher noch sehr vorsichtig gewesen, aber ich denke, dass wir den nächsten Schritt gehen sollten, jetzt da unsere Vertrauensbasis weit genug gefestigt ist.“ „Hört sich gut an.“ Tatsächlich klang das Ganze sehr viel versprechend und Simon war auch gespannt darauf, wie Leron das Ganze umsetzen würde. „Und was für ein Training hast du für heute vorgesehen?“ „Ein kleines Rollenspiel.“ Rollenspiel? Bei diesem Wort musste sich Simon immer irgendwelche perversen Doktorspielchen vorstellen, aber das passte nicht so ganz zu Leron und wahrscheinlich musste man da auch die entsprechende Ausrüstung und eine gewisse Kenntnis dafür haben. Nein, wahrscheinlich würde dieser etwas anderes auswählen. „Was genau hast du dir so vorgestellt? Den Jungen, der mit seinem Körper seine Schulden abbezahlt, können wir ja wohl schlecht nehmen.“ „Ganz genau. Aber ich habe da schon etwas anderes: ein Gefängnisrollenspiel im Keller.“ Im Keller? Wenn er sich recht erinnerte, hatte es außer dem Raum mit dem Gynäkologiestuhl noch einige andere Zimmer gegeben, die er aber bisher noch nicht gesehen hatte. Und nun war er natürlich neugierig. War dieser Raum tatsächlich wie eine Zelle aufgebaut? Und was war in den ganzen anderen Räumen? „Muss ich für das Rollenspiel irgendetwas wissen?“ erkundigte er sich sicherheitshalber, denn die Art von Rollenspielen, die er bisher mit seinen Kunden gehabt hatte, war ziemlich simpel gewesen und konnten wahrscheinlich nicht mal direkt als Rollenspiele bezeichnet werden. Und er wusste ja auch nicht, inwieweit sich Lerons Art des Rollenspiels von der seiner Kunden unterschied. „Ich werde dir gleich entsprechende Kleidung geben. Die Story wird so aussehen: du bist ein rebellischer Draufgänger, der mit wiederholt Drogen gedealt hat und deswegen zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Du bist schwul, aber das kann dir im Gefängnis gefährlich werden. Denn die schwulen Jungs werden sehr schnell zu Zielscheiben der anderen Häftlinge. Wenn das auffliegt, bist du geliefert. Ich werde einen Gefängniswärter spielen, der dein Geheimnis kennt und das dann entsprechend ausnutzen wird.“ Sofort begannen sich Bilder in Simons Kopf abzuspielen. Wenn das wirklich so abspielen würde, wie er sich das vorstellte, dann würde es mit großer Sicherheit ein raues, aber auch heißes Spiel werden. Auf jeden Fall war er sehr gespannt darauf. Sie standen nun auf und während der Simon schon mal duschen ging, holte Leron seine Klamotten und verschwand dann schon mal in den Keller. Der 21-jährige spürte diese vertraute und angenehme Mischung aus Erregung und Erwartung, während er unter der Dusche stand. All die Sorgen und Ängste waren vergessen und er konnte sich endlich wieder einfach fallen lassen und Leron wieder die Kontrolle überlassen. Dieser sah auch wesentlich entspannter aus als in den letzten Tagen. Und vor allem eines erstaunte ihn: Leron hatte relativ locker reagiert, was die Erwähnung von Michael betraf. Dabei reagierte er sonst immer so übervorsichtig. Vielleicht weil dieses Paranoide ja auch zu seiner Krankheit gehörte und wegen der Medikamente verschwunden war? War dieser Leron, der wesentlich selbstsicherer und ausgeglichener wirkte als derjenige, den er vor wenigen Tagen verabschiedet hatte, so etwas wie der Leron, der er ohne diese Krankheit war? Innerlich hoffte er, dass dieser den momentanen Zustand beibehalten würde und nie wieder diese furchtbaren Halluzinationen haben würde. Nachdem er so viele Jahre damit leben musste, war es wirklich allmählich Zeit, dass er endlich ein normales Leben führen konnte, ohne diese Stimmen in seinem Kopf zu hören. Und dann konnten sie auch hoffentlich eine Beziehung führen, in der es keine solchen psychotischen Schübe mehr gab. Nun, natürlich wusste er, dass die Medikamente keine Wunder bewirken konnten. Sie unterdrückten die Symptome, aber Leron musste auch seine Vergangenheit aufarbeiten und dazu musste er weiterhin in Therapie bleiben. Wahrscheinlich für den Rest seines Lebens, genauso wie er immer auf Medikamente angewiesen sein würde. Aber so schlimm war das doch gar nicht. Man hatte ja schon bei Cypher und Hunter gesehen, dass es absolut unkompliziert zwischen ihnen ablief. Hunter ging in Therapie und Cypher hielt ein Auge darauf, dass dieser seine Medikamente einnahm und im Falle eines psychotischen Schubes in die Klinik ging. Und er selbst hatte dieselbe Verpflichtung Leron gegenüber. Zwar hatte dieser die dominante Rolle in ihrer Beziehung, doch er selbst war sein roter Faden, sein Spiegel und sein Halt. Ihre Beziehung war nicht direkt vergleichbar mit einem Sub und einem Dom, wie man es normalerweise aus der Szene kannte. Ein Sub ordnete sich gänzlich unter und überließ seinem Dom das Denken. Aber er und Cypher wirkten auch eine beschützende Funktion aus. Sie hatten eine genauso große Verantwortung für ihre Partner und schützten sie vor sich selbst, wenn es die Situation erforderte. In dieser Hinsicht hatte nicht nur er ein Halsband, allerdings war Lerons nur sinnbildlich vorhanden. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, zog er sich seine Verkleidung an und musste feststellen, dass sie wirklich wie Knastkleidung aussah und nicht diese plumpe gestreifte Kleidung, die man sich zum Fasching oder Halloween irgendwo in der Mall besorgen konnte. Nein, es war ein orangefarbener Sträflingsanzug, in welchem sogar eine Nummer eingenäht war. Das versprach wirklich heiß zu werden, wenn auch noch der Rest des Rollenspiels authentisch werden würde. Kapitel 29: Gefängnisrollenspiel -------------------------------- Etwas nervös, aber vor allem auch ungeduldig beeilte sich Simon, zum Keller zu gehen und dachte erst, dass Leron vielleicht vor der Tür auf ihn warten und ihm vielleicht noch ein paar Dinge zum Rollenspiel erklären würde. Doch kaum, dass er in den langen Gang mit den dunkelroten Tapeten und der dämmrigen Beleuchtung hereinkam, war Leron nicht da. Aber dafür war etwas weiter den Gang runter eine Tür weit geöffnet. Da es auf ihn wie eine stumme Aufforderung wirkte, ging er hinein und erwartete eine Art kleine Gefängniszelle, doch zu seiner Überraschung war es ein kurzer Gang mit insgesamt zwei Stahltüren und ein Raum besaß nur eine Art Gitter und sah tatsächlich wie eine Zelle aus. Sie hatte ein Bett mit Metallrahmen und es waren auch Haken an der Decke befestigt. Wie groß war der Keller denn eigentlich? Bevor sich Simon darüber Gedanken machen konnte, knallte plötzlich hinter ihm die Tür zu und erschrocken wandte er sich um. Es war Leron. Er hatte sein Haar etwas zurückgekämmt und trug eine täuschend echt wirkende Uniform und an seinem Gürtel entdeckte er sogar einen Schlagstock und einen großen Schlüsselbund für die Räume. Ja sogar Handschellen hatte er dabei. „Hier wird nicht herumgetrödelt und Besichtigung kannst du später noch machen. Abmarsch in deine Zelle, du Junkie!“ Lerons Ton war schroff und unnachgiebig. In seinem Tonfall lagen Härte und auch Kälte und für einen Moment war Simon vollkommen überrumpelt. Er hatte gar nicht gewusst, dass das Rollenspiel jetzt schon angefangen hatte und Leron schon in seiner Rolle war. Aber er machte das verdammt gut. Der Angesprochene brauchte kurz, um sich zu fangen und zu versuchen, sich in seine eigene Rolle einzufinden und entsprechend darauf zu reagieren. „Ist ja schon gut, verdammt“, blaffte er deshalb zurück. „Mann Alter, mach mich nicht so von der Seite an und ich bin kein Junkie. Ich hab den Scheiß nur vertickt, das ist alles!“ Es fiel ihm überraschenderweise sogar ziemlich leicht, einen Drogendealer zu spielen. Da er lange im Ghetto gelebt hatte, wusste er so ungefähr, wie die Leute in dieser Gegend redeten. Und es machte ihm sogar irgendwie Spaß bis jetzt. Fragte sich nur wie lange noch, denn Leron ließ sich das sicherlich nicht gefallen. Das bekam er auch zu spüren, als sein Arm auf den Rücken gedreht und er ziemlich unsanft in die Zelle mit den Gitterstäben gebracht wurde. „Willst wohl auch noch frech werden, was? Das heißt hier immer noch Sir und wenn du hier frech wirst, dann wirst du noch eine sehr unangenehme Zeit hier haben.“ „Ich scheiß drauf!“ Simon löste sich von ihm und ging auf Abstand. „Ich werde ja nicht ewig hier festsitzen. Und wenn ich draußen bin, könnt ihr mir gar nichts mehr!“ So, das sollte eigentlich eine sehr gute Überleitung zu Lerons Idee sein. Obwohl er eigentlich nicht so der vorlaute Typ war, der es unbedingt auf Ärger anlegen wollte, interessierte es ihn doch brennend, was der „Gefängniswärter“ für ihn geplant hatte und was ihm gleich blühen würde. Doch es war noch etwas anderes, was ihn so euphorisch machte. Die Art, wie Leron ihn behandelte… Dieses Forsche und Bestimmende… Es war wesentlich anders als die Male zuvor, wo sie Sex gehabt hatten. Das war leidenschaftlich und romantisch gewesen. Aber nun war es purer Nervenkitzel und verdammt erregend. Vor allem als sein Gegenüber ihn mit diesem kalten und überlegenen Grinsen musterte. Obwohl es gewissermaßen auch einschüchternd war, so sah Simon dennoch deutlich, dass es kontrolliert war. Leron hatte sich vollständig im Griff und es gab nichts Unsicheres oder Schwankendes mehr in seinem Blick. Selbst in seinen wunderschönen haselnussbraunen Augen konnte Simon keinen Goldschimmer mehr erkennen. Leron packte ihn und drückte ihn mit dem Gesicht zur Wand, wobei er ihm wieder einen Arm auf den Rücken drehte. Der Druck war stark und auch etwas schmerzhaft, ließ sich aber noch ganz gut ertragen. „Das mag sein, aber du bist noch für gut drei Jahre hier. Und das können noch sehr lange drei Jahre für dich werden“, raunte der hinterhältige Gefängniswärter in sein Ohr und Simon bekam eine Gänsehaut. Er spürte, wie es in seiner Hose langsam eng wurde und er begann sich selbst zu wundern, warum er so auf Lerons rücksichtslose Art reagierte. Normalerweise war so etwas überhaupt nicht sein Ding. Ob das mit dem Rollenspiel zusammenhing? Plötzlich spürte er eine Hand, die seinen Hintern zu streicheln begann. „Was, wenn die anderen herausfinden, dass du ein schwuler Drogendealer bist? Das wird sie sicherlich brennend interessieren. Hier ist Frischfleisch immer gerne gefragt.“ „Ich bin nicht schwul!“ protestierte Simon, doch nun wanderte die Hand, die sein Gesäß gestreichelt hatte, langsam zu seinem Schritt und ertastete seine Erektion. „Ach ja? Das fühlt sich hier drin aber nicht wirklich nach einer Waffe an. Und ich habe deine Akte gelesen. Vergangenheit auf dem Straßenstrich. Hast dich mit Sicherheit ordentlich von ihnen ficken lassen, um an Stoff zu kommen, nicht wahr?“ Ganz böses Foul… darauf konnte Simon nun nichts entgegensetzen. Und dann auch noch Aspekte aus seinem echten Leben dazu zu nehmen, war echt fies… aber es machte das Ganze auch wiederum überzeugender. Doch so leicht wollte er sich nicht unterbuttern lassen und merkte deshalb an „Ach ja? Und was ist mit dir? Wenn du eine Hete bist, dann bin ich der Papst.“ Nun packte Leron deutlich fester zu und Simon musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu stöhnen. Wenn das so weiterging, dann würde er kommen, bevor sie überhaupt richtig zur Sache gekommen waren. Wahrscheinlich verstärkte diese Sehnsucht nach körperlicher Nähe das Ganze noch mehr. „Was glaubst du wohl, wer hier das größere Problem von uns beiden hat? Im Gefängnis habe immer noch ich das Sagen und wenn du meinst, dass du dich mit mir anlegen kannst, dann wird das noch ein böses Ende für dich nehmen. Als Gefängniswärter hat man seine Augen und Ohren auch nicht überall. Gut möglich, dass ich gerade nicht hinsehe, wenn sie dich in der Dusche rannehmen. Einer nach dem anderen oder vielleicht sogar mehrere gleichzeitig. Es kann auch sein, dass irgendjemandem Ben Tyson einen kleinen Tipp gibt. Er hat eine große Schwäche für so vorlaute kleine Jungen wie dich. Und bei seiner Größe glaube ich kaum, dass dein kleiner Arsch da sonderlich viel aushalten würde. Vielleicht hast du ja Lust, seine kleine Schlampe zu werden.“ Verdammt war das erregend. Vor allem diese Ausdrücke, die Leron benutzte. Es hatte etwas so Verruchtes an sich. Dieses Rollenspiel wurde von Sekunde zu Sekunde besser und er spürte, wie das Verlangen nach wildem und leidenschaftlichem Sex mit Leron immer stärker wurde. Simon biss sich auf die Unterlippe und versuchte, bei der Sache zu bleiben, aber das war leichter gesagt als getan. „Was genau willst du eigentlich von mir?“ Nun schob sich die Hand in seine Hose und begann wieder seinen Schritt zu massieren und ihn dadurch noch weiter zu stimulieren. Inzwischen war sein Penis steinhart und er wollte mehr von dieser Berührung. Mehr von diesen Liebkosungen. Doch kaum, dass er sich dem voll und ganz hingeben konnte, hörte Leron auch schon wieder damit auf, woraufhin er einen enttäuschten Seufzer von sich gab. Stattdessen entfernte sich die Hand wieder aus seiner Hose und kurz darauf folgte ein kräftiger Klaps auf seinen Hintern, woraufhin er erschrocken aufkeuchte. Das hatte gesessen. „Das heißt immer noch Sir, Junge. Und wenn du willst, dass dein kleines Geheimnis bei mir bleibt, solltest du mich besser gnädig stimmen und mir mehr gefallen. Dann brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen.“ „Was soll ich tun… Sir?“ „Werde meine kleine Schlampe.“ Ein heißer Schauer durchfuhr Simons Körper, als er schon fast bettelnd mit „Ja Sir“, antwortete. Doch so leicht wollte Leron es ihm nun auch wieder nicht machen und verlangte „Sag es in ganzen Sätzen und zwar so, dass ich auch in Stimmung komme, dich auch wirklich zu nehmen.“ Scheiße. Wenn das so weiterging, dann würde ihm auch die Selbstbeherrschung nichts mehr bringen. Simon war kurz davor, selbst Hand anzulegen, um es auf den absoluten Höhepunkt zu treiben. Doch damit würde er gegen die Regeln verstoßen und das würde Leron sicherlich nicht gefallen. Und etwas in ihm wollte dieses Spiel noch länger spielen und es nicht einfach so enden lassen. Also antwortete er gehorsam: „Bitte machen Sie mich zu Ihrer kleinen, dreckigen Schlampe, Sir.“ „Sag, wem dein Arsch und dein Schwanz gehören. Und zwar so, dass ich es auch deutlich hören kann!“ „Mein Schwanz und mein Arsch gehören nur Ihnen, Sir. Bitte… ich kann nicht…“ „Scheint dich ja ziemlich aufzugeilen, dich selbst zu erniedrigen, was? Nur bedauerlicherweise kaufe ich dir deine Worte kein Stück ab. Du hast bisher nur große Töne gespuckt, aber vielleicht solltest du deinen Mund lieber für etwas anderes verwenden, als nur zum Reden.“ Leron ließ nun von ihm ab, sodass Simon sich wieder vernünftig bewegen konnte. Als er sich dann umdrehte, schaute der Gefängniswärter ihn auffordernd und streng an, wobei er ermahnend „Ich warte!“ sagte. Er brauchte nicht wirklich zu erklären, was er meinte. Simon ging gehorsam und unterwürfig vor ihm auf die Knie und begann eifrig damit, seine Hose zu öffnen. Lerons Erektion sprang ihm förmlich entgegen, als er sein Glied aus der beengenden Unterhose befreite. Erst da wurde ihm bewusst, wie sehr er auch diesen Anblick vermisst hatte. Zuerst begann er den Schaft und die Eichel nur leicht mit seiner Zunge zu umspielen, um Leron ein klein wenig zu necken. Aber als dieser langsam ein wenig ungeduldig wurde, nahm er ihn vollständig in den Mund. Dabei legte sich eine Hand auf seinen Hinterkopf und vergrub sich in seinem Haar. Diese bestimmende und besitzergreifende Geste machte ihn noch euphorischer. Er bemühte sich, Leron einen besonders guten Orgasmus anlässlich ihres Wiedersehens zu bescheren. Also begann er ihn noch intensiver mit seiner Zunge zu verwöhnen und spürte, wie Lerons Penis weiter anschwoll und leicht zu zucken begann. Und an der Atmung hörte er deutlich, dass es ihm gefiel. Dann aber drückte der 31-jährige ihn von sich und ergoss sich über sein Gesicht. Instinktiv schloss Simon die Augen, als Sperma in sein Gesicht spritzte und er wich zurück. „Sieht gut aus“, bemerkte der Gefängniswärter. „Passend zu einer kleinen schwanzlutschenden Schlampe.“ Und daraufhin holte er doch tatsächlich ein Handy hervor und schoss ein Bild. Ein bisschen ungläubig starrte Simon ihn an und konnte nicht wirklich fassen, dass sein Gegenüber davon wirklich ein Foto gemacht hatte. Und das passte ihm in seiner Rolle als verurteilter Drogendealer nun mal gar nicht. „Was soll das mit den Fotos?“ Ein hinterhältiges Lächeln spielte sich auf Lerons Lippen. „Ein kleines Andenken. Und wenn du dich artig verhältst, bleiben die Bilder auch bei mir.“ „Davon war aber nicht die Rede!“ „Ich denke nicht, dass du hier in der Position bist, Forderungen zu stellen“, wurde ihm nur knapp erklärt und dann steckte der Gefängniswärter auch schon sein Handy wieder ein. „Und jetzt zieh dich aus.“ „Und wenn jemand kommt?“ fragte er spitzfindig. Natürlich war das unmöglich, aber sie spielten ein Gefängnisrollenspiel und wenn sich Leron schon irgendwelche Fakten aus den Fingern saugen konnte, warum nicht dann auch er? Zwar wusste er, dass er sowieso in jedem Fall unterliegen würde, aber einen Versuch war es ja wert. „Darum brauchst du dir mal keine Gedanken zu machen. Es wird uns niemand stören. Und jetzt mach endlich, bevor ich ungemütlich werde.“ „Darf ich wenigstens mein Gesicht saubermachen?“ „Nein.“ War er eigentlich schon immer so pervers? Simon schnaubte kurz, schwieg aber und zog sich gehorsam aus, bis er vollkommen nackt vor Leron stand und nur noch sein Halsband trug. Er war immer noch erregt und ein seltsames Kribbeln ging durch seinen Körper, als er deutlich die Blicke seines Gegenübers spürte, die ihn aufmerksam musterten. Instinktiv wollte er die Arme vor der Brust verschränken, aber da kam auch schon der Befehl: „Gesicht zur Wand und nach vorne beugen.“ Damit holte Leron einen Einweghandschuh heraus und auf Simons verwirrten Blick erklärte er nur „Ich will sichergehen, dass du auch keine Drogen geschmuggelt hast.“ „Als ob ich Drogen im Arsch hätte.“ „Ich hab schon alles miterlebt und kenne inzwischen eure Methoden. Und ich wiederhole mich nur ungern: vorbeugen und die Beine auseinander.“ Mit einem gehorsamen „Ja Sir“ ging Simon zur Wand hin, um sich etwas abzustützen, als er sich vorbeugte und sich breitbeinig hinstellte. Er hörte Schritte näherkommen und wartete gespannt. Es dauerte auch nicht lange, als er Lerons behandschuhten Finger spürte, der etwas Gleitgel auf seinen Schließmuskel verteilte, bevor sich zwei Finger langsam hindurchschoben. Und in diesem schwachen Moment, wo er Leron wieder in sich spürte und wieder auf diese Weise berührt wurde, die ihn immer so verrückt machte, entwich ihm ein lustvolles Keuchen. Ein amüsiertes Schnauben seitens von Leron folgte, woraufhin seine Finger sich noch tiefer in sein Innerstes bahnten und dabei seine Prostata streiften. „Stehst wohl drauf, was in den Arsch zu kriegen, was? Perverses kleines Stück…“ Simon presste die Lippen zusammen und versuchte, still zu bleiben, doch das machte Leron ihm nicht sonderlich einfach. Inzwischen wusste dieser nämlich, wie er seinem Petboy ein lustvolles Stöhnen entlocken konnte. Und so gab es der 21-jährige nach einer Weile auf, sich noch weiter dagegen zu sträuben und gab sich einfach diesem unbeschreiblichen Gefühl hin. Und das entging auch Leron nicht, der ihm daraufhin einen Klaps auf den Hintern gab. „Du bist wirklich eine kleine Schlampe…“ Doch Simon erwiderte nichts darauf und streckte ihm sein Gesäß noch mehr entgegen. Dann war er jetzt halt seine „kleine Schlampe“. Dieser Gedanke hatte etwas so wunderbar Unanständiges an sich, dass er diese Rolle auch irgendwie genoss. Vielleicht war es ja tatsächlich eine masochistische Seite an ihm. Womöglich ließ er sich aber auch zu sehr von diesem Rollenspiel mitreißen. Er biss sich wieder auf die Unterlippe und keuchte laut auf. Seine Fingernägel kratzten über die graue Betonwand und er spannte sich etwas mehr an, um irgendwie einen Weg zu finden, seine Erregung unter Kontrolle zu bekommen. „Na?“ raunte eine Stimme an seinem Ohr. „Kommst du langsam an deine Grenzen?“ Er schwieg, doch das ließ Leron ihm nicht durchgehen. „Wenn du nicht antwortest, versohle ich dir nachher wirklich den Hintern. Ein Strich für jeden Regelverstoß. Das war dein erster fürs Nichtantworten.“ Oh fuck, das war schon sein erster Strich. Anscheinend machte dieser Sadist wirklich ernst. Um nicht noch Strich zu kassieren, antwortete er brav „Ja, Sir.“ „Und damit wäre es noch ein Strich, für das Nichtbefolgen meiner Anweisung, immer in ganzen Sätzen zu antworten.“ Verdammter Mistkerl. Simon presste vor Ärger die Lippen zusammen und um nicht noch einen Strich dazuzubekommen, antwortete er nun brav „Ich komme gleich, Sir.“ „So, so. Macht dich die Leibesvisitation etwa so dermaßen an? Du bist wirklich ein perverser kleiner Dealer. Scheint so, als hättest du nie eine ordentliche Erziehung genossen. Was soll ich nur mit dir machen?“ „Machen Sie aus mir eine Schlampe.“ Das war nicht mal provokant gemeint, um Leron dazu zu bringen, ihn zu bestrafen. Nein, er wollte dieses Spiel auf den absoluten Höhepunkt treiben und sehen, wie erotisch es eigentlich noch werden konnte. Doch so leicht ließ sich der sadistische Gefängniswärter nicht aus der Reserve locken. „Du bist eine Schlampe ohne Manieren“, erwiderte dieser kühl und zog seinen Finger wieder zurück. „Und das klang mir nicht wirklich nach einer Bitte, sondern nach einer Aufforderung.“ „Entschuldigung, Sir. Ich habe mich falsch ausgedrückt.“ „Und was wolltest du stattdessen sagen?“ „Bitte Sir, machen Sie aus mir eine Schlampe.“ „Klingt schon besser. Aber hast du dir das auch wirklich verdient?“ Am liebsten hätte Simon sofort Ja gesagt. Aber so wie er Leron kannte, würde das wahrscheinlich eine falsche Antwort sein. Also antwortete er brav „Ich weiß nicht. Was denken Sie, Sir?“ Ein gedehntes, nachdenkliches „Hm“ folgte, wobei eine Hand seinen Hintern zu kneten begann. „Du warst wirklich sehr ungezogen. Du hast es gewagt, frech mir gegenüber zu werden. Glaubst du wirklich, du bekommst meinen Schwanz zur Belohnung?“ „Es tut mir leid, Sir. Ich will es wieder gutmachen.“ „Na schön. Dann beweise es mir.“ Nun trat Leron von ihm weg und Simon drehte sich zu ihm um. Er war immer noch erregt und an der Spitze der Eichel glänzten bereits Lusttropfen. Der Anblick schien Leron deutlich zu gefallen, denn sein Grinsen sprach Bände. Doch es verriet ihm auch, dass er wohl noch etwas Geduld aufbringen musste, wenn er das bekommen wollte, was er sich vorstellte. Nein, die Frechheiten von gerade eben würden ihn mit Sicherheit teuer zu stehen kommen. Dieser verschränkte nun die Arme und baute sich vor ihm auf. „Wenn du wirklich eine Schlampe werden willst, dann wirst du dir jetzt einen runterholen. Und zwar so, dass ich eine gute Sicht habe.“ Das war jetzt wirklich gemein. Da spielte er jetzt den braven Sträfling und stattessen wurde er für seine anfänglichen Frechheiten bestraft. Leron kannte aber auch keine Nachsicht. Naja, dann blieb ihm halt nichts anderes übrig, als brav das zu tun, was ihm gesagt wurde. Vielleicht hatte er ja doch eine Chance und es würde dann vielleicht doch noch zum Sex kommen, wenn er seinen Job gut machte. Simon ging zum Bett hin, machte es sich darauf bequem und spreizte die Beine dabei so weit, dass Leron auch alles sehen konnte. Lauernd und erwartungsvoll ruhten die Augen des Gefängniswärters auf ihn und allein diesen Blick zu spüren, machte es nur noch besser. Während er sich selbst zu befriedigen begann, blieb Lerons Blick auf ihn geheftet und Simon konnte ziemlich gut erkennen, dass ihm die Show gefiel und er genauso erregt war. Ein gutes Zeichen. Als er dann aber spürte, wie er sich seinen Höhepunkt näherte, kam ihn gar nicht Lerons Regel in den Sinn, nicht ohne seine ausdrückliche Erlaubnis zu kommen. Warum sollte er auch fragen? Hatte Leron nicht gesagt, er solle es sich selbst besorgen? Beinhaltete das dann nicht auch irgendwie die Erlaubnis zum Orgasmus? Also ließ er es einfach geschehen und kurz darauf explodierten Sterne vor seinen Augen, als er zu seinem Höhepunkt kam. Sperma bedeckte seine Hand und seinen Bauch und teilweise auch die Decke. Schwer atmend brauchte er einen Moment, bis die letzte Nachwelle gewichen war, dann suchte er wieder Lerons Blick. Doch der sah ganz und gar nicht zufrieden aus und blickte ihn streng an. „Habe ich dir etwa die Erlaubnis zum Abspritzen gegeben?“ fragte er forsch und etwas verunsichert schaute Simon ihn an, der gar nicht so wirklich verstand, was das bedeuten sollte. „Häh? Aber ich dachte…“ „Und ich kann mich auch nicht entsinnen, dass ich dir den Befehl zum Denken erteilt habe. Ich bin hier der Einzige, der denkt, du hattest einen einfachen Job: alles auszuführen, was ich dir auftrage und mich um Erlaubnis zu bitten, wenn du kommst. Wenn du unsicher bist, dann hast du nachzufragen. Aber du sollst nicht nachdenken.“ Nach anfänglicher Verwirrung verstand er, was er falsch gemacht hatte und hätte sich am liebsten selbst dafür eine gescheuert. Oh Mann, natürlich hätte er auch nachfragen können. Stattdessen hatte er einen klaren Regelverstoß begangen und nun war Leron natürlich ungehalten deswegen. „Verzeihen Sie mir, Sir“, entschuldigte er sich und senkte reuevoll seinen Blick. Es war natürlich nicht seine Absicht gewesen, ihn zu verärgern, aber durch sein Verhalten hatte er sich natürlich den Regeln widersetzt und nur seine Interessen in diesem Moment verfolgt. Und das war natürlich nicht die Absicht, die Leron verfolgte. „Es wird nicht wieder vorkommen.“ „Du bekommst vier zusätzliche Striche und eine zusätzliche Erziehungsrunde. Wie viele Striche hast du inzwischen schon?“ Simon brauchte nicht lange nachzurechnen, um zu dem Ergebnis zu kommen: „Es sind insgesamt sechs Striche, Sir.“ „Na da warst du in dem kurzen Zeitraum ziemlich fleißig. Dafür, dass du vorhin noch geschnurrt hast wie ein Kätzchen, bist du ziemlich ungehorsam und eigenwillig. Aber den Unsinn treibe ich dir auch schon noch aus. Und jetzt steh auf, dreh dich um und beuge dich nach vorne.“ Gehorsam kam Simon der Aufforderung nach und stützte seine Hände auf den Knien ab, als er sich so weit wie möglich nach vorne beugte. Er fragte sich, was jetzt wohl kam und ahnte bereits, dass es nichts Gutes sein konnte. Kurz darauf spürte er wieder Lerons Hand, die über sein Gesäß streichelte und sanft zu kneten begann. Doch kaum, dass ein „Zähl mit!“ kam, gab es einen kräftigen Klaps, was Simon zuerst einen eher erschrockenen als einen schmerzerfüllten Schrei entlockte, ehe er mit „Eins!“ antwortete. Der zweite Schlag traf wieder seine linke Seite, genauso wie der dritte und dieser hatte es besonders in sich. Aber wahrscheinlich kam ihm das nur so vor, weil seine Haut an dieser Stelle schon so empfindlich geworden war. Die anderen drei Schläge waren dann glücklicherweise für seine rechte Seite vorgesehen und brav zählte er alle mit. Als alle sechs abgezählt waren, wies Leron ihn an, sich breitbeiniger hinzustellen. Der 21-jährige gehorchte und wunderte sich, was jetzt noch folgte. Die Antwort folgte eine kurze Wartezeit später, als er spürte, wie ein fremder Druck auf seinen Schließmuskel ausgeübt wurde und immer stärker wurde. Es fühlte sich wie ein Spielzeug an. Etwa ein Analplug? „Den wirst du erst mal schön drin behalten“, wies Leron ihn an und ging nun zu der Zellentür hin, um sie aufzuschließen. „Und jetzt gehst du erst mal duschen.“ Was für eine miese Strafe, dachte Simon sich. Der verlangt doch echt von mir, mit diesem Ding im Arsch herumzulaufen. Für einen Moment fragte er sich, ob das überhaupt mal so gut ging, aber eine andere Wahl blieb ihm wohl nicht. Wenn er sich widersetzte, würde er nur wieder den Hintern versohlt bekommen und so wie es sich anfühlte, war dieser schon rot. Doch der Gedanke, mal richtig übers Knie gelegt zu werden, war gar nicht mal so schlecht. Nein, allein das Bild in seinem Kopf, wie ein unartiger Junge über Lerons Knien zu liegen, hatte verrückterweise irgendwie etwas Erregendes an sich. Lag das etwa an der Wiedersehensfreude, dass sein Körper jetzt so reagierte, oder war es einfach die Tatsache, dass Leron auf einmal viel gefestigter und stärker wirkte als zuvor? Kapitel 30: Offene Aussprache ----------------------------- Nachdem Simon sich gründlich geduscht hatte, bekam er von Leron ein Handtuch gereicht und nachdem er sich abgetrocknet hatte, trat der Unternehmer näher, nahm ihn in den Arm und küsste ihn. „Das hast du sehr gut gemacht, Simon. Du darfst wieder frei reden.“ Glücklich lächelte der 21-jährige und ließ sich den Kopf streicheln. Er liebte diese Geste ganz besonders. Sie hatte etwas so zärtliches und gleichzeitig auch beruhigendes an sich. „Ich hatte ehrlich gesagt kurz gedacht gehabt, du würdest die Kontrolle verlieren, als du dich so verhalten hast. Und vor allem der Umgangston war neu für mich. Aber es war irgendwie… heiß!“ Da das Rollenspiel erst mal beendet war, verließen sie den Keller, allerdings musste er den Analplug drin behalten und bekam von Leron erklärt „Als Denkzettel für den Regelverstoß.“ Es fiel ihm wirklich nicht leicht, damit normal zu laufen, aber er akzeptierte diese Strafe kommentarlos, fragte dann aber „Darf ich wenigstens ein wenig neben dir im Bett liegen?“ Wenigstens das wurde ihm erlaubt und nachdem sich Leron etwas anderes angezogen hatte, machten sie es sich ein wenig auf dem Bett bequem, wobei er sich dicht an den Unternehmer herankuschelte und einen Arm um ihn legte. „Dass das Rollenspiel so ablaufen würde, kam für mich etwas unerwartet“, gestand er. „Vor allem war ich selbst überrascht, dass ich es irgendwie geil fand, von dir den Hintern versohlt zu bekommen. Normalerweise stehe ich nicht direkt auf Schläge. Aber andererseits war das auch nicht wirklich vergleichbar mit dem, was ich sonst erlebt habe. Es war… gut dosiert.“ Bei dieser Beschreibung musste Leron unwillkürlich schmunzeln. „Ich hatte schon länger so ein Rollenspiel vorgesehen, aber ich wollte es lieber dann tun, wenn eine größere Vertrauensbasis da ist. Ich habe in den drei Tagen wirklich viel Interessantes von Dr. Larson erzählt bekommen.“ „Ach ja? Wie war es denn so?“ Jetzt interessierte es Simon umso mehr, was in der Klinik besprochen wurde und zu welcher Erkenntnis er denn gekommen war, oder wie es denn jetzt weiterlaufen sollte. „Nun“, begann Leron und sah nachdenklich zur Zimmerdecke rauf. „Am ersten Tag hatte ich noch versucht gehabt, mit meiner Mutter oder besser gesagt mit meiner Halluzination zu reden, weil ich das Gefühl hatte, ich hätte als Kind irgendetwas Bestimmtes erlebt gehabt, was ich verdrängt habe. Aber letzten Endes hat Dr. Larson mir erklärt, dass es noch zu früh ist und ich habe dann also die Tabletten genommen. Es war wirklich eine Befreiung für mich gewesen, Michael nicht mehr hören zu müssen und gleichzeitig hatte ich dann auch noch meine Therapie begonnen. Ich habe erkannt, dass es im Grunde nicht schlimm ist, die Kontrolle haben zu wollen oder gewisse sadistische Tendenzen zu haben. Es kommt lediglich darauf an, damit auch umzugehen und sie in einem Rahmen auszuleben, der gesund für mich selbst und mein Umfeld ist. Vor allem aber auch für dich. Bei diesem Rollenspiel wollte ich den ersten Schritt wagen und meine Veranlagung kontrolliert auszuleben. Hätte ich gemerkt, dass es nach hinten losgeht oder es dir nicht gut dabei geht, dann hätte ich das Ganze sofort abgebrochen. Aber es war mir auch wichtig zu wissen, wie weit ich auch bei dir gehen kann. Vorher habe ich immer mit dieser Angst gelebt, du könntest weglaufen, weil ich dich zu grob behandle und wie Michael bin.“ Dann war das Ganze für ihn eine Art Test gewesen? Sowohl für sich selbst als auch für mich? Simon war ein wenig überrascht darüber, hatte sich das Ganze aber auch schon irgendwie denken können. Trotzdem fragte er: „Und warum hast du mich nicht vorher eingeweiht?“ „Weil du dir dann Sorgen gemacht hättest und dann hättest du dich nicht darauf einlassen können. Die letzten Tage waren für uns beide eine enorme Belastung gewesen und ich weiß, dass du dir viele Gedanken um mich machst. Aber ich will nicht, dass du unter meinen Problemen leidest und dich damit noch weiter belastest. Ich trage die Verantwortung und wenn ich sie nicht schultern kann, liegt es an mir, etwas dagegen zu tun. Ich muss lernen, mit meiner Veranlagung zu leben und nicht du. Ich bekomme begleitende Hilfe an die Hand und auch wenn ich noch nicht ganz gesund bin, so bin ich doch schon auf einem guten Weg dorthin. Aber ich möchte nicht, dass du hier die Verantwortung für mich übernimmst und diese ganzen Lasten schulterst. Das ist nicht deine Aufgabe.“ „Aber ich habe das getan, weil ich dich liebe!“ „Das weiß ich“, versicherte Leron ihm mit einem Kuss auf die Stirn. „Und ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich aufgefangen und mir beigestanden hast. Aber du bist noch sehr jung und ich sollte meine persönlichen Lasten selber tragen. Deshalb möchte ich dich bitten, genauso wie vorhin bei unserem Rollenspiel nicht an diese ganzen Dinge zu denken und mir einfach zu vertrauen. Ich bin auf einem ganz guten Weg und deshalb möchte ich, dass du die Verantwortung wieder abgibst und mich die Dinge regeln lässt.“ Simon schmunzelte und war wirklich überrascht, wie selbstsicher Leron auf einmal war und dass er so redete. Es beruhigte ihn sehr, ihn so zu erleben nach allem, was in der letzten Zeit passiert war. Aber dann kam ihm doch ein kleiner Verdacht und er verpasste ihm leichten Schlag gegen den Oberarm. „Sag bloß, du wolltest mich mit dem Rollenspiel überzeugen, damit ich dir nicht hinterher noch widerspreche?“ „Es war doch nicht böse gemeint“, versicherte Leron. „Mit Worten allein überzeugen reicht es bei dir ja nicht.“ „Das war aber trotzdem nicht die fein englische Art. Ich finde, dafür hättest du eigentlich auch eine Erziehungsstunde verdient.“ „Netter Versuch. Und pass bloß auf, sonst lege ich dich noch gleich übers Knie.“ Damit gab er ihm einen sanften Klaps auf den Hintern und zwinkerte ihm zu. „Hat mich übrigens selbst überrascht, dass du so rangegangen bist. Ich hatte eigentlich fast Sorge gehabt, du würdest einen Rückzieher machen.“ „Ich bin ehrlich gesagt selbst überrascht“, gestand Simon etwas verlegen. „Dieses Rollenspiel war einfach so überzeugend und als ich gesehen habe, wie selbstsicher und gefestigt du warst, hatte ich das Gefühl, ich könnte mich einfach fallen lassen und auch mal ein wenig über die Stränge schlagen. Aber vor allem finde ich es heiß, wenn du so vulgär redest. Das passt nicht zu dem erfolgreichen und kühlen Geschäftsmann, den ich ganz zu Anfang erlebt habe. Dabei habe ich schon genug Kunden gehabt, die so geredet haben, aber das fand ich immer ziemlich abstoßend. Bei denen war aber auch der Unterschied, dass sie unter Rollenspiel verstanden, dass ich sie Daddy nennen sollte. Und ich wusste auch nicht, dass ich es erregend finden würde, den Hintern versohlt zu bekommen.“ „Du wusstest gar nicht, dass du eine masochistische Seite hast?“ „Nicht ganz so extrem“, murmelte er und zuckte unsicher mit den Schultern. „Der Unterschied ist ja auch, dass ich bisher nur Sex zum Zweck hatte. Aber nie Sex aus Leidenschaft. Ich hab es immer nur einfach hinter mich gebracht. Und hätte ich dich nicht schon als liebevollen Menschen kennen gelernt, hätte ich wahrscheinlich auch keinen Gefallen daran gehabt.“ Daraufhin fanden sich ihre Lippen wieder zu einem Kuss zusammen. Es tat einfach nur gut, in Lerons Nähe zu sein und er fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr. „Ich habe auch gesehen, wie Cypher und Hunter zusammenleben und sich umeinander kümmern. Naja, wir können uns schlecht mit ihnen vergleichen, weil wir charakteristisch unterschiedlich sind, aber wenn die beiden glücklich zusammen sein können, dann sollte das auch für uns kein Problem sein, oder?“ Dem konnte Leron nur zustimmen. Schließlich aber wanderte seine Hand langsam Simons Körper hinunter, strich über sein Gesäß und begann ein wenig mit den Analplug zu spielen. „Und du mochtest es also, von mir den Hintern versohlt zu bekommen? Du hast wohl wirklich eine verdorbene Seite in dir.“ „Schon möglich“, gestand der Brünette grinsend. „Wobei ich aber nicht wirklich glaube, dass ich noch härtere Strafen sonderlich geil gefunden hätte. Den Hintern versohlt bekommen, ist eine Sache. Aber ich würde nicht wirklich auf Züchtigungen mit Peitschen oder Gerten stehen. Ich bin vielleicht ein wenig masochistisch, aber wenn es richtig wehtut, kann ich einfach kein Vergnügen daraus ziehen.“ „Keine Sorge. Ich will dich ja nicht mit Schmerzen quälen“, versicherte der Unternehmer und strich ihm zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht. „Dann wird es nur dabei bleiben, dass ich dich übers Knie lege, wenn du zu unartig wirst. Und dann darfst du den ganzen Tag nackt bleiben.“ „Aber doch nicht, wenn Anthony da ist, oder?“ „Keine Sorge. Anthony wird sowieso nur noch wenige Stunden in der Woche arbeiten. Er wird auch älter und bald in den Ruhestand gehen. Und dann kann ich dich auch den ganzen Tag nackt im Haus herumlaufen lassen.“ Bei dieser Vorstellung errötete Simon und schüttelte den Kopf. „Das könnte im Winter echt kalt werden.“ „Dafür hat der Mensch Heizungen erfunden.“ Offenbar ließ sich Leron nicht umstimmen und so gab er es auf, mit ihm diskutieren zu wollen. Danach war ihm gerade eh nicht zumute. Er wollte viel lieber die Nähe mit Leron genießen, solange er bei Leron war. Doch da war noch eine Frage, die ihn beschäftigte: „Wie genau wird es eigentlich weitergehen, wenn du aus der Klinik rauskommst?“ „Tja“, murmelte Leron nachdenklich und strich über seine schmale Hüfte. „Dr. Larson meinte, es wäre das Beste, wenn ich mich von meiner Familie loslöse, weil diese ein Trigger für meine Probleme ist. Das Problem ist vor allem, dass ich als Inhaber der Evans Hybrid Technologies immer noch mit meinem Vater in Verbindung gebracht werde. Und er versucht immer wieder, Einfluss auf mich auszuüben. Eine Idee wäre, das Unternehmen zu verkaufen und mir dann etwas Neues zu suchen.“ „Ist sicher keine einfache Entscheidung. Aber ich denke auch, dass es besser wäre, wenn du dich von deinen Brüdern und deinem Vater loseist. Ich habe ja schon im Restaurant gesehen, wie verstört du warst, als du Jordan getroffen hast. Aber ich bin mir ganz sicher, dass du das schon schaffst. Solange du hundertprozentig hinter deiner Entscheidung stehst, wird es schon gut gehen. Und wenn du Hilfe brauchst…“ „Werde ich mir Hilfe suchen“, fuhr Leron ihm sanft, aber auch mahnend dazwischen. „Es reicht mir schon, wenn du einfach da bist und ich mich um dich kümmern kann. Das ist ein guter Ausgleich zum stressigen Alltag und so kann ich auf die beste Art und Weise Dampf ablassen.“ Zwar war Simon noch nicht ganz so überzeugt, dass er ihm auf diese Weise helfen konnte, aber er sah ein, dass er ihn nicht überredet bekommen würde. Und wenn es Lerons Wunsch war, dass er sich in Zukunft zurückhielt und sich nicht zusätzlich mit seinen Problemen belastete, dann würde er das beherzigen. „Na schön“, seufzte er geschlagen. „Wenn dir das hilft, dann bin ich natürlich auf diese Weise für dich da. Aber sag mal: wie lange muss ich noch dieses Ding da tragen?“ Wieder schlich sich dieses verschlagene Lächeln auf Lerons Gesicht und die Hand, die vorher noch auf seine Hüfte gelegen hatte, strich nun über sein Gesäß. Die Haut war noch rot und sensibel, aber der Unternehmer hatte darauf geachtet, nicht allzu viel Kraft in seine Schläge hineinzulegen. Er wollte erst einmal austesten, ob Simon überhaupt für so etwas zu begeistern war und so wie es schien, hatte er alles richtig gemacht. Scherzhaft gab er dem Jungen noch mal einen leichten Klaps auf den Hintern und fragte „Hast du deine Lektion auch wirklich gelernt?“ Ein artiges Nicken kam zur Antwort. „Ich bin ab jetzt brav und ich habe meine Lektion gelernt, Sir.“ Daraufhin zog Leron ihn noch näher zu sich heran und küsste ihn. Simon blieb fast der Atem weg, als Leron ihn so intensiv küsste und er spürte, wie seine Erregung stärker wurde. Und das nur allein vom Küssen. Wie zum Teufel schaffte dieser Kerl das nur immer wieder? War das überhaupt normal? Begierig erwiderte er den Kuss und spürte, wie diese vertraute Hand wieder mit dem Analplug zu spielen begann. Leise keuchte er auf und wollte seine Arme um Leron legen, doch das ließ dieser nicht zu. „Offenbar hast du noch nicht ganz verstanden, dass du dich als mein Petboy brav zurückzuhalten hast.“ Simon beobachtete, wie der Unternehmer aus der Schublade seiner Kommode ein paar Handfesseln aus Leder hervorholte. Daraufhin wurde er auf den Bauch gedreht und seine Handgelenke auf den Rücken gefesselt. Als er dann aber sah, dass auch eine Augenbinde herausgeholt wurde, überkam ihn deutliche Nervosität. Er wusste, dass er sich das letzte Mal ziemlich unwohl gefühlt hatte, weil es ihn an dieses unangenehme Erlebnis mit Michael erinnert hatte. Zuerst glaubte er, dass Leron ihm die Augenbinde einfach so anlegen würde, doch stattdessen fragte dieser ihn: „Wollen wir es noch mal damit versuchen? Ich werde dich zu nichts zwingen und wenn du sagst, du möchtest es nicht, werde ich es lassen.“ Simon zögerte noch einen Moment. Er fühlte sich immer noch nicht wirklich wohl dabei, doch auf der anderen Seite fragte er sich, ob er nicht vielleicht diesen Schritt wagen sollte. Es wäre zumindest ein Beweis dafür, dass er Leron auch wirklich vertraute. Also atmete er einmal kurz durch und nickte. „Okay, ich versuche es.“ Daraufhin legte der 31-jährige ihm die Augenbinde um und küsste ihn. „Lass dich einfach fallen und entspann dich. Du weißt was du sagen musst, wenn es nicht mehr geht.“ Wieder atmete Simon tief durch und versuchte, ruhig zu bleiben. Er war immer noch ein wenig nervös, aber es war wesentlich erträglicher als beim letzten Mal, als er auf diesem komischen Stuhl gefesselt war, aber vielleicht auch deswegen, weil er nicht vollkommen bewegungsunfähig war. Trotzdem kostete es ihn etwas Überwindung, weil es ihm Angst machte, nicht sehen zu können, was Leron mit ihm tun würde. Diese Angst wich aber, als er spürte, wie zwei Hände zärtlich über seinen Körper strichen. Es fühlte sich so vertraut an. Nämlich nach jenen Händen, die ihn schon so oft auf diese Weise berührt, ihn schützend im Arm gehalten oder ihm liebevoll den Kopf getätschelt hatten. Er spürte, wie sich sein Körper merklich entspannte und seine Nervosität langsam wich. Ein leises Keuchen entwich ihm, als er spürte, wie eine warme feuchte Zunge seine rechte Brustwarze umspielte, während eine Hand seine Oberschenkel zu streicheln begann. „Du siehst verdammt heiß aus, wenn du gefesselt bist“, wurde ihm leise ins Ohr gehaucht, woraufhin er spürte, wie ihm leicht ins Ohrläppchen gebissen wurde. „Ich habe mir überlegt, ob ich nicht vielleicht eine kleine Fotosammlung anlegen sollte, mit mehr hübschen Bildern von dir.“ „Du bist echt ge… Ah!“ Simon schaffte es nicht mehr, den Satz zu beenden, denn Leron schien ihn wohl ein wenig mehr ärgern zu wollen und begann wieder mit dem Analplug zu spielen. „Was wolltest du gerade sagen?“ „Nichts, Sir“, antwortete er brav, doch es setzte einen Klaps auf den Oberschenkel und darauf entschuldigte er sich hastig. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dir die Erlaubnis zum Reden erteilt zu haben.“ Er spürte, wie Leron wieder mit dem Plug zu spielen begann. Mit Sicherheit eine Absicht von ihm, um ihn ein wenig zappeln zu lassen. Dann endlich folgte der Befehl „Dreh dich auf den Bauch, zieh die Beine an und streck deinen süßen Arsch heraus.“ Brav folgte Simon der Anweisung und versuchte so gut es ging, eine entsprechende Position einzunehmen. Wieder gab es einen leichten Klaps auf den Hintern, bevor er endlich von diesem Spielzeug befreit wurde. Zärtlich strich eine Hand über seinen Rücken und für einen kurzen Moment spürte er die Nervosität zurückkehren, woraufhin er noch mal tief durchatmete, um sich wieder zu beruhigen. Und als hätte Leron es bemerkt, strich wieder eine Hand sanft durch sein Haar, um ihm mit dieser Geste wieder die Angst zu nehmen. „Ich bin hier, Simon. Entspann dich und lass dich fallen. Es kann dir nichts Schlimmes passieren.“ Er nickte hastig und fragte, ob er sprechen dürfte. Nachdem ihm die Erlaubnis erteilt wurde, murmelte er etwas verlegen „Tut mir leid. Es fällt mir noch ein wenig schwer.“ „Wenn du tapfer bleibst, bekommst du eine Belohnung. Klingt doch nach einer guten Motivation, oder?“ Er nickte wieder und atmete noch einmal tief durch, um sich zu entspannen. Zärtlich streichelte Lerons Hand über seinen Rücken und half ihm, sich von seiner Nervosität abzulenken. Dann schließlich entfernte sich die Hand langsam und kurz darauf spürte er, wie Druck auf seinen Schließmuskel ausgeübt wurde. Zuerst fiel es ihm noch schwer, sich gänzlich zu entspannen, doch glücklicherweise nahm sich Leron etwas Zeit um ihm die Möglichkeit zu geben, sich daran zu gewöhnen. Simon keuchte auf, als diese vertraute Hitze seinen Körper durchströmte und der Druck in seinem Inneren immer stärker wurde. Zwei Hände packten seine Hüften und tief drang Leron in ihn ein, woraufhin sich der gefesselte 21-jährige ihm im Rausch der Lust noch weiter entgegenstreckte. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, seit sie das letzte Mal Sex gehabt haben und es mochte vielleicht daran liegen oder an der Tatsache, dass er nichts sehen konnte, dass es sich so intensiv anfühlte. Als Leron vollständig in ihn eingedrungen war, gab er ihm noch einen weiteren spielerischen Klaps und bemerkte „Du scheinst es ja richtig nötig zu haben. Dein süßer Arsch scheint mich ja richtig vermisst zu haben.“ Leron begann nun, seine Hüften zu bewegen und drückte dabei Simons Oberkörper aufs Bett. Der unten Liegende atmete schwer und ihm war, als würde jeglicher Gedanke aus deinem Kopf gelöscht werden. Und er vergaß auch seine Angst vor dem vollständigen Ausgeliefertsein. Er konnte sich einfach fallen lassen und Leron blind vertrauen. Lerons Stöße wurden kraftvoller und trafen ganz gezielt immer diesen einen besonders sensiblen Punkt, der ihn vollkommen in Ekstase versetzte. Elektrisierende Schauer der Lust durchfuhren seinen Körper und er spürte, wie er langsam aber sicher sein Limit erreichte. „Leron, ich… ich komme gleich.“ „Warte noch“, wies dieser ihn an. Simon nickte, doch es fiel ihm schwer, sich zurückzuhalten. Vor allem wenn sich alles noch viel intensiver als sonst anfühlte, wenn er nichts sehen konnte. Er presste die Zähne zusammen, doch es kostete ihn wirklich Anstrengung, dem Drang nicht einfach nachzugeben. „Leron, bitte…“ „Na gut. Du darfst.“ Ein heißer Strom schoss durch Simons Körper und er schien einen Moment lang weggetreten zu sein, denn als er wieder klar bei Bewusstsein war, hatte Leron ihm die Augenbinde und die Fesseln abgenommen und streichelte sanft seine Stirn. Er lag wieder auf dem Rücken und er spürte, wie sein Herz immer noch wie verrückt schlug. „Das hast du sehr gut gemacht, Simon“, lobte der Unternehmer ihn. „Ich bin sehr stolz auf dich.“ Glücklich lächelnd kuschelte der 21-jährige sich an ihn heran und spürte, wie sich ein Arm um ihn legte. „Es hat schon Überwindung gekostet, aber als ich dich gespürt habe, da ging es wieder.“ „Und du hast mir vertrauen können“, ergänzte Leron. „Genau das war es auch, was ich mir die ganze Zeit von dir gewünscht habe. Ich möchte das in Zukunft auch so beibehalten. Und ich habe auch über dein Anliegen bezüglich des Vertrages nachgedacht.“ „Ach echt?“ fragte Simon und sah ihn überrascht an. „Inwiefern denn?“ „Ich kann deine Ansichten verstehen, dass du eine Beziehung haben möchtest, die rein auf Vertrauen basiert. Allerdings sind in Kreisen, wo ähnliche Beziehungen geführt werden, Verträge durchaus üblich. Sie dienen in erster Linie der Sicherheit und der Übersicht der festgelegten Regeln beider Seiten und aus diesem Grund will ich auch den Vertrag weiterhin beibehalten. Ich werde allerdings ein paar Änderungen vornehmen, damit es nicht bloß ein reiner Arbeitsvertrag ist, bei dem du hauptsächlich des Geldes wegen mit mir schläfst.“ „Und was genau willst du ändern?“ „Ich werde dir das Geld für den Eingriff so oder so zahlen, deshalb möchte ich nicht, dass du nur für Geld mit mir schläfst. Du wirst während der Trainingssitzungen meinen Anweisungen Folge leisten, genauso wie ich dir vorhin gesagt habe und du wirst auch das Halsband von jetzt an immer tragen und mir treu und loyal bleiben. Im Gegenzug dafür werde ich mich um dich kümmern, stets auf deine Sicherheiten achten und auch deine finanzielle Sicherheit gewährleisten, solange du kein eigenes Einkommen hast. Der Vertrag dient zur Absicherung für uns beide, aber er wird nicht mehr länger dein „Arbeitsvertrag“ sein. Es wird ein rein privater Vertrag sein.“ Simon ließ sich das alles noch mal durch den Kopf gehen und stellte fest „Klingt mir fast nach einem SM-Vertrag…“ „So in der Art“, bestätigte Leron schmunzelnd. „Allerdings ziehe ich es lieber vor, es einen Petboy-Vertrag zu nennen.“ „Schon klar“, seufzte Simon. „Weil man Sklaven bestraft und Petboys erzieht.“ Ganz genau. Und wenn ich mit der stationären Therapie fertig bin, wird es noch einige Trainingsstunden geben, um dich zu einem guten Petboy zu erziehen.“ Hieraufhin lächelte der 21-jährige glücklich und versicherte „Für dich will ich liebend gerne der Petboy werden, den du haben willst.“ Und mit einem zärtlichen Kuss erwiderte Leron „Das wirst du auf jeden Fall. Da mache ich mir keine Gedanken drum.“ Kapitel 31: Michael dreht durch ------------------------------- Nachdem sie den ganzen Tag miteinander verbracht und ihn in vollen Zügen genossen hatten, kehrte Simon zu Cypher und Hunter zurück und fühlte sich so glücklich wie nie zuvor. Zu sehen, dass es Leron inzwischen deutlich besser ging und er auch sonst wesentlich entspannter als sonst wirkte, versetzte ihn in eine richtig euphorische Stimmung und er konnte es kaum erwarten, ihn bald wiederzusetzen. Mit einem glücklichen Lächeln klingelte er an der Tür und wurde auch schon von Cypher empfangen, der im ersten Moment eher weniger guter Laune war. Als er aber das überglückliche Strahlen des Ankömmlings sah, da musste er auch selbst schmunzeln. „Na da hat aber jemand einen wunderbaren Tag gehabt“, bemerkte er und ließ ihn herein. „Netter Halsschmuck übrigens. Wusste gar nicht, dass ihr zwei auf diese Art von Beziehung steht.“ Abrupt blieb Simon stehen und betastete instinktiv das Lederhalsband, welches er trug. Da es eigentlich sehr dezent und im ersten Moment wie Schmuck aussah, hätte er nicht gedacht, dass Cypher es sofort durchschauen würde und daraufhin lief er hochrot im Gesicht an und brachte nur eine ungeschickte Frage zustande: „Wie bitte?“ Doch Künstler grinste nur amüsiert und klopfte ihm auf die Schulter. „Ich kenne mich mit dem ganzen Kram ein wenig aus. Da wir es gerne härter mögen, kommt normaler Sex auch nicht wirklich infrage. Ich bin halt masochistisch und Hunter ist ein Sadist. Da ergänzen wir uns ganz gut.“ „Ach echt?“ fragte Simon ein wenig überrascht. „Ich hätte nicht erwartet, dass du masochistisch bist.“ Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer, wo Hunter auf dem Sofa saß und ein Bier trank. Von Ezra war keine Spur zu sehen und wie er erfuhr, hatten die beiden ihn zum Kloster zurückgebracht und es hatte dabei natürlich wieder ein großes Theater gegeben, weshalb Hunter und Cypher vorhin nicht gerade in guter Stimmung gewesen waren. „Nun, Hunter und ich stehen auf Rollenspiele“, gestand Cypher und man sah ihm an, dass ihm allein schon die Vorstellung großen Spaß bereitete. „Ich liebe es, wenn er den brutalen maskierten Einbrecher spielt, der mich überfällt und mir droht, mich umzubringen, wenn ich auch nur einen Mucks von mir gebe. Vor allem wenn er auch noch ein Messer dabei hat und mir die Atemwege mit seiner starken Hand zudrückt. Die grobe Behandlung, der harte Sex und dann noch die blauen Flecken wahrer Leidenschaft…“ Ein wenig entgeistert starrte Simon ihn an als er das hörte. Nun gut, das Gefängnisrollenspiel war ja auch nicht gerade zärtlich gewesen, aber dass die beiden hier allen Ernstes ein Rollenspiel spielten, bei dem Cypher gewürgt und mit einem Messer bedroht wurde, war nach seinem Geschmack ein wenig zu heftig. Naja…wer halt darauf stand… Jeder Mensch war da eben anders und solange die beiden ihren Spaß dabei hatten, war es doch in Ordnung. Als sein Blick zu Hunter wanderte, schaute dieser seinen Partner mit einem Blick an, den man leicht als tödlich bezeichnen konnte. „Wenn er doch maskiert ist, woher weißt du dann, dass es Hunter ist und nicht tatsächlich ein Einbrecher?“ wollte Simon wissen und mit Sicherheit war diese Frage auch berechtigt. Zwar war es unwahrscheinlich, dass so etwas passieren konnte, doch ausgeschlossen war es ja nicht. „Hunter trägt immer ein erkennbares Zeichen am Körper oder er sagt einen Satz zu mir, den wir vorher ausgemacht haben. Auf diese Weise habe ich klare Gewissheit und er kann mit mir machen, was er will. Er ist zwar Sadist, aber er hat sich unter Kontrolle und er weiß, was er mir alles antun darf. Und jemand, der sich mehrere Piercings und Tattoos hat stechen lassen, der kann so einiges aushalten.“ „Ihr seid wirklich ein schräges Paar“, murmelte Simon und schüttelte den Kopf. „Wir müssen wirklich Brüder sein.“ Michael Evans war zerknirscht und in einer äußerst explosiven Stimmung. Nicht nur, dass seine Kopfschmerzen ihn fast in den Wahnsinn trieben und sich anfühlten, als würde man ihm glühende Dolche in den Kopf stoßen. Nein, auch die Blamage nagte an ihm, dass sein jüngster Bruder es tatsächlich geschafft hatte, sich gegen ihn aufzulehnen und ihm eine schwere Gehirnerschütterung, eine Schädelfraktur und eine gebrochene Nase zu verpassen. Zudem hatte dieser Dreckskerl ihm auch noch zwei Zähne ausgeschlagen. So etwas hatte dieser Dreckskerl noch nie gewagt. Und als wäre das noch nicht die Krönung des Ganzen, hatte der Doktor ihm heute die Diagnose für die Ursachen seiner Kopfschmerzen genannt. Das Ergebnis hatte den 42-jährigen getroffen wie ein Schlag und es hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen: es war ein Hirntumor. Er war die Ursache seiner Kopfschmerzen, seiner zwischenzeitigen Halluzinationen und seiner motorischen Probleme, an denen er zusätzlich seit jüngster Zeit litt. Nach Prognose des Arztes blieben ihm nur noch knapp zwei Monate zu leben. Zwei lächerliche Monate wegen dieser verdammten Kopfschmerzen. Seine Freundin Judy, die trotz seiner Wutanfälle und seiner gelegentlichen Gewaltausbrüche bei ihm blieb, versuchte ihm so gut es ging beizustehen und ihm Trost zu spenden. Doch er wollte sie nicht sehen. Dieses dämliche Weibstück interessierte ihn sowieso nicht die Bohne. Sie war quasi seine „arrangierte Verlobte“, die sein Vater ihm angedreht hatte. Er hatte sich auf das Spielchen eingelassen, weil er gehofft hatte, dass er dadurch endlich zum Nachfolger ernannt werden würde. Und nun war das alles vorbei. Ein gottverdammter Tumor würde ihm in zwei Monaten den Rest geben. „Michael“, sprach Judy vorsichtig und trat näher. Sie war eine zart gebaute Person mit platinblondem Haar und einer etwas zu groß gewachsenen Nase. Auch wenn sie nur fünf Jahre jünger war, wirkte sie fast noch wie ein Kind und vielleicht hätte er Interesse an ihr gehabt, wenn sie sein Typ gewesen wäre. Doch nun war ihm das eh gleichgültig. Er würde bald sterben und der einzige Mensch, der ihm jetzt noch helfen und ihm beistehen konnte, war sein treuer Bruder Jordan, auf den er sich bisher immer verlassen konnte. Ja, Jordan würde ihm zuhören und ihm helfen, Leron ein für alle Male aus dem Weg zu räumen und den Jungen zurückzuholen, damit er ihn wenigstens noch für die letzten zwei Monate allein zu seiner Verfügung hatte. „Michael, wir werden das schon gemeinsam schaffen.“ „Halt die Schnauze und bring mir das Telefon“, grummelte dieser zerknirscht und schluckte die Tablette, die ihm als einzige wirklich Linderung verschaffte. Der Arzt sagte ihm, dass diese ihm helfen würde und das war zumindest ein kleiner Trost. Gerade, als er sie zusammen mit einem Glas Wasser einnahm, folgte ein zaghaftes „Aber Michael…“ von Judy, doch er ließ sie gar nicht erst weiter zu Wort kommen und brüllte wütend „Gib mir das verdammte Telefon, oder ich mache dir Beine!“ Erschrocken zuckte die 37-jährige zusammen und folgte schleunigst seinem Befehl. Sie wusste, dass es nicht ratsam war, ihn noch weiter zu reizen, wenn ihre Knochen heil bleiben sollten. Also holte sie hastig das schnurlose Telefon und reichte es ihm, bevor sie wieder sicherheitshalber auf Abstand ging. Michael schenkte ihr keinerlei Beachtung und wählte Jordans Nummer. Allerdings dauerte es eine längere Zeit, bevor sein Bruder endlich an den Apparat ging und sich meldete. Er klang so kühl und abweisend wie immer. „Michael, was gibt es? Ich habe momentan viel zu tun und es wäre freundlich, wenn du dich kurz fassen könntest.“ Der 42-jährige legte den Handrücken seiner freien Hand auf die Stirn in der Hoffnung, sich dadurch etwas Linderung zu verschaffen, bis die Tablette zu wirken beginnen würde. Doch das half leider nicht im Geringsten und es schmerzte ungeheuerlich. Sein Schädel fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Dieser verdammte Tumor, der ihm diese höllischen Kopfschmerzen bereitete und ihm sein Leben zerstört hatte. „Ich muss mit dir reden, Jordan. Ich habe einen Hirntumor.“ Eine kurze Pause trat ein, bevor sein Bruder sich eher unbeeindruckt erkundigte „Ein Hirntumor?“ „Ja verdammt“, knurrte Michael verärgert. „Die Prognosen sind auch echt beschissen. Der Arzt gibt mir nur noch zwei Monate, weil es zu spät ist, den Tumor zu entfernen.“ Wieder trat eine Pause ein, aber das war bei Jordan nichts Ungewöhnliches. Er wurde immer sehr still am Telefon, wenn er über irgendetwas nachdachte. Und das tat er ziemlich oft, wenn er seine nächsten Fragen oder Antworten genau bedachte. „Und warum rufst du mich an?“ „Warum?“ platzte es laut aus Michael wie ein Gewehrschuss heraus. „Na weil ich deine Hilfe brauche, verdammt. Als ich den Jungen holen wollte, ist Ronnie vollkommen ausgetickt und hat mir die Nase gebrochen und zwei Zähne rausgeschlagen. Ich brauche deine Hilfe, Jordan. Wenn ich schon bald sterben muss, dann nicht, bevor ich nicht den Jungen wieder habe!“ „Tut mir leid, Michael. Das geht nicht.“ Einen Moment lang war er vollkommen verwirrt und konnte nicht glauben, was er da gehört hatte. Er hatte fest damit gerechnet, dass Jordan ihm helfen würde. Sie beide bekamen doch immer alles geregelt. Sie hatten sich ja auch schon damals um Ronnie „gekümmert“, wenn er der Meinung war, dass sein jüngster Bruder eine Zurechtweisung brauchte. Und jetzt auf einmal zog Jordan den Schwanz ein und verwehrte seinem sterbenden Bruder diese einfache Bitte? Was erlaubte der sich eigentlich? „Das ist doch wohl jetzt ein Scherz, oder? Verdammt noch mal Jordan, ich sterbe in zwei Monaten. Willst du deinem älteren Bruder da nicht helfen?“ „Ich wüsste nicht wieso“, kam es kühl und abweisend vom anderen Ende der Leitung zurück. „Wie stellst du dir das überhaupt vor? Ich habe Frau und Kinder, ich kann es mir nicht erlauben, in deine kriminellen Machenschaften hineingezogen zu werden. Und da du sowieso bald sterben wirst und damit aus der Nachfolge ausgeschlossen wirst, habe ich mich um bessere Dinge zu kümmern, als um deine Vorlieben. Kriege deine Dinge alleine geregelt, aber ich werde nicht mehr bei deinen Spielchen mitmachen.“ Ein kurzes Klicken ertönte, gefolgt von einem monotonen rhythmischen Piepton, der signalisierte, dass das Gespräch abgebrochen wurde. Doch Michael reagierte nicht darauf. Immer noch hielt er den Hörer an sein Ohr gedrückt und starrte ins Leere. Fassungslosigkeit überkam ihn, als ihm dämmerte, dass sein Bruder ihn eiskalt im Stich gelassen hatte. Ausgerechnet Jordan ließ ihn nach all der Zeit im Stich und das auch noch dann, wenn er ihn am meisten brauchte. All die Jahre hatte er in dem Glauben gelebt, dass er sich immer auf seinen zweitjüngsten Bruder verlassen konnte, egal was auch war. Und stattdessen ließ dieser ihn einfach fallen, nachdem dieser von der Diagnose gehört hatte und die Nachfolge für den Konzern sicher in seinen Händen wusste. War das alles zwischen ihnen etwa die ganze Zeit nur vorgeheuchelt und vorgegaukelt? War er, Michael Evans, all die Jahre nur belogen und betrogen worden? Langsam schleichend wich die Fassungslosigkeit immer mehr blinder und rasender Wut. Unbändiger Zorn stieg in ihn auf und er schleuderte das Telefon mit aller Kraft durch den Raum, sodass es gegen die Wand schlug und in seine Einzelteile zerbrach. Das würde er sich nicht gefallen lassen. Michael Evans ließ sich von niemandem benutzen oder betrügen. Dieser treulose Verräter würde schon sehen, was es bedeutete, sich den Falschen zum Feind zu machen und dann würde er mit allen abrechnen, die ihn erst in diese Lage gebracht hatten. Sie alle würden dafür teuer bezahlen, das stand fest. Judy, die erst ziemlich erschrocken zusammenzuckte als das Telefon an der Wand zerschmetterte, registrierte nicht, welch mordlustige Gedanken ihr Liebster gerade hegte. Ihr Kopf war gerade von ganz anderen Dingen erfüllt und als sie sah, wie Michael das Wohnzimmer verließ, lief sie ihm nach und rief „Michael, was hat das zu bedeuten? Wer ist der Junge, von dem du da redest? Michael!“, ohne wirklich eine Antwort zu bekommen. Er schenkte ihr keinerlei Beachtung, doch das war ihr in dem Moment vollkommen egal. Dass Michael von einem Jungen sprach, den er unter allen Umständen zurückhaben wollte, konnte nur folgendes bedeuten: entweder hatte er mit einer anderen Frau ein Kind und hatte es ihr die ganze Zeit verschwiegen, der Junge hatte etwas mit seinen Geschäften zu tun oder aber, woran sie lieber nicht denken wollte: er hatte sexuelles Interesse an einem Kind. Um endgültig Gewissheit zu haben, musste sie ihn zur Rede stellen. „Michael, jetzt sag mir endlich was das für ein Junge ist, von dem du da redest. Betrügst du mich…“ Ohne Vorwarnung drehte Michael sich um und packte sie an den Haaren. Sein Gesicht war zu einer hässlichen, dämonischen Fratze verzerrt, in deren Augen blanker Hass und Zorn loderten. Ein Schrei des Schmerzes und Entsetzens entwich Judys Lippen, bevor ihr Kopf gegen die Wand geschlagen wurde. Immer und immer wieder hallte ein hässlicher dumpfer Knall durch das Haus, als Michael den Kopf seiner Freundin und geplanten Verlobten immer und immer wieder gegen die Wand schlug, an der sich bereits ein blutiger Fleck bildete. Er wiederholte es so oft, bis sein Arm lahm wurde und es ein leises Knirschen gab, als der Schädelknochen unter seiner Kraft nachgab und er Judy daraufhin zu Boden fallen ließ. Regungslos, mit blutüberströmtem und deformiertem Gesicht lag die 37-jährige auf dem Boden und ihre weit aufgerissenen toten Augen spiegelten Angst und Fassungslosigkeit wieder. Keuchend stand Michael über ihrer Leiche, während seine Kopfschmerzen schmerzhaft im selben Takt wie sein Herzschlag pulsierten und ihn fast ohnmächtig werden ließen. Als er sah, was er getan hatte, empfand er nicht eine Sekunde lang so etwas wie Reue oder Bedauern. Er registrierte nicht einmal wirklich, dass er gerade einen Menschen umgebracht hatte. Oder zumindest registrierte es der verkümmerte moralische Teil in seinem Kopf nicht, der ihm immer wieder einbläute, es nicht zu tun. Selbst sein Vater hatte ihm immer wieder eingetrichtert, es nie zu weit zu treiben, weil er ihm dann auch nicht mehr helfen konnte. Doch das interessierte ihn jetzt sowieso nicht mehr. Diese Frau war selbst schuld. Sie hätte ihn nicht stören dürfen. Judy hatte eigentlich gewusst, dass es gefährlich war, ihn zu stören, wenn er wütend war. Sie war ihm ohnehin ziemlich auf die Nerven gegangen und jetzt hatte sie bekommen, was sie verdient hatte. Eine gewisse Genugtuung überkam ihn und ohne dem Leichnam weiter Beachtung zu schenken, ging er in sein Arbeitszimmer. In einem Safe neben seinem Schreibtisch verwahrte er wichtige Wertpapiere, Bargeld, Schmuck seiner Mutter und die Pistole, die er sich zugelegt hatte. Er hatte sie nie benutzt und eigentlich nur für den Fall gekauft, dass er eines Tages von einem Einbrecher überrascht werden könnte. Aber nun hatten sich die Dinge geändert. Er würde bald sterben, also was kümmerten ihn dann noch die Verbote und Warnungen seines Vaters? Jetzt waren die letzten Ketten gesprengt und nun gab es keinen Rückhalt mehr. Keine Grenzen und keine Verbote. Dieser Gedanke vermischte sich mit dem infernalischen Schmerz in seinen Kopf und löschte alles andere in seinem Verstand. Nichts anderes war mehr von Bedeutung für ihn. Er konnte endlich der Mensch sein, der er eigentlich war. Mensch? Nun, andere würden es vielleicht als wahnsinniges Monster bezeichnen. Etwas, das man für immer wegsperren sollte… oder was nie hätte geboren werden dürfen. Der Wahnsinn ergriff nun vollständig Besitz von Michael Evans. Ein blutroter Schleier legte sich über seine Gedanken und er verfiel in einen Zustand, den man als eine Art der Obsession beschreiben konnte. Es gab nichts anderes mehr für ihn. Alles in ihm schrie nach Rache. Er war übervoll mit diesem Drang und hätte es so etwas wie eine Stimme in seinem Kopf gegeben, hätte sie die Stimme seiner Mutter angenommen, die ihn zuflüsterte „Tu es, töte sie alle“, ohne Pause und Unterlass. Michael öffnete den Safe und holte seine Pistole heraus. Es war eine SIG Sauer P226, eine wirklich hervorragende Waffe, die er von Jackson geschenkt bekommen hatte. Sie war sehr präzise und lag wunderbar in der Hand. Der kalte Stahl fühlte sich angenehm an und die Schwere war genau richtig. Damit konnte er locker seine Probleme lösen. Dann hatte alles wieder seine Ordnung und er konnte sich um die wichtigen Dinge kümmern. Als er die Pistole betrachtete, spielte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Und es war kein gutes Lächeln. Während er das Magazin durchlud, begann er eine Melodie zu summen. Ein Lied, welches seine Mutter immer zu singen pflegte. Es war London Bridge is Falling Down, allerdings hatte sie immer einen ganz anderen Text gesungen. Auch wenn sie es nur gesungen hatte, als er und Jordan Kinder gewesen waren, hatte er das Lied niemals vergessen und konnte es selbst nach all den Jahren perfekt nachsingen. Und nun, da er sowieso bald mit der Problembeseitigung anfangen würde, war ihm danach, ein wenig dieses alte Lied zu singen: “London Bridge is falling down, Falling down, falling down, London Bridge is falling down, My fair lady. Build it up with skulls and bones, Skulls and bones, skulls and bones, Build it up with skulls and bones, My fair lady. Skulls and bones will all fall down, All fall down, all fall down, Skulls and bones will all fall down, My fair lady. Build it up with blood and flesh Blood and flesh, blood and flesh Build it up with blood and flesh, My fair lady. Blood and flesh will wash away, Wash away, wash away, Blood it and flesh will wash away, My fair lady. Build it up with cadavers, Cadavers, cadavers, Build it up with cadavers, My fair lady. Cadavers will last for long, Last for long, last for long, Cadavers will last for long, My fair lady. London Bridge is falling down, Falling down, falling down, London Bridge is falling down, My fair lady.” Wunderbare Erinnerungen an seine Kindheit wurden wach, als er seine Mutter noch ganz für sich hatte, weil Jordan eher eine Bindung zum Vater hatte. Es waren herrliche Zeiten gewesen und er würde nie vergessen, als seine Mutter sich um diese Haushälterin gekümmert hatte. Abigale war ihr Name gewesen und sie war eine richtige Schreckschraube gewesen. Streng, unerbittlich und offensichtlich hatte sie etwas gegen Kinder gehabt. Als er eine Katze aus der Nachbarschaft verschleppt und für seine Spiele im Keller benutzt hatte, war Abigale just in dem Moment in den Keller gekommen, als er die Katze am Schwanz gepackt und mit einer Schere auf sie eingestochen hatte um zu sehen, wie viele Stiche es wohl brauchte, bis das Tier tot war. Abigale hatte geschrien, ihn von der Katze weggezerrt und ihn geohrfeigt, während sie ihn „Monster“ oder „Teufelsbalg“ nannte. Michael hatte sich das natürlich nicht gefallen lassen und seiner Mutter davon erzählt. Diese hatte ihn in den Arm genommen, ihm den Kopf gestreichelt und gesagt, dass sie dafür sorgen werde, dass diese abscheuliche Frau es nie wieder wagen würde, ihm etwas anzutun. Sie hatte ihm versprochen gehabt, dass diese Abigale nie wieder in seine Nähe kommen würde. Und tatsächlich war diese abscheuliche Frau nie wieder zurückgekehrt. Seine Mutter hatte gelächelt, ihm den Kopf gestreichelt und gesagt „Mach dir keine Sorgen mein Schatz. Mommy regelt die Dinge schon.“ Das hatte sie immer gesagt, wenn ihn irgendein Kindermädchen oder anderer Bediensteter schlecht behandelt hatte. Ja, seine Mutter hatte immer die Dinge geregelt, wenn jemand ihre Kinder nicht anständig behandelte oder es auch nur wagte, sie anzuschimpfen. Und nun war er an der Reihe, die Dinge zu regeln. Er war jetzt alt genug und seine Mutter war tot. Aber er wusste, dass sie mit Sicherheit stolz auf ihn sein würde, wenn sie wüsste, dass er nicht einfach nur so faul da saß und diesen Zustand bejammerte. Nein, er würde die Dinge regeln… Mit diesem guten Gefühl steckte er die Pistole und ein paar Patronen ein, als er zu seinem Wagen ging und in Richtung Jordans Haus fuhr. Er brauchte nur eine halbe Stunde, bis er die Villa erreichte, die Jordan zusammen mit seiner Frau Evelyn nach der Geburt ihrer Töchter bezogen hatten. Es war bereits Abend, da musste die Familie sicherlich zuhause sein. Langsam stieg Michael aus dem Wagen, nachdem er ihn in der Garageneinfahrt geparkt hatte und klingelte an der Eingangstür. Die Haushälterin Margarete öffnete die Tür und erkannte ihn sofort. „Oh Mr. Evans, einen schönen guten Abend. Sie kommen auf einen Besuch vorbei?“ „Ja“, antwortete er mit einem überzeugend gespielten freundlichen Lächeln. „Ich wollte meinem Bruder mal kurz hallo sagen. Ist er denn da?“ „Ihr Herr Bruder speist mit der Familie im Esszimmer.“ Margarete, die schon ein wenig älter war und gut und gerne eine Art Ersatzgroßmutter für die beiden Töchter von Jordan sein konnte, wandte sich um und ging in Richtung Esszimmer, Michael folgte ihr, während seine Hand in die Jackentasche wanderte, wo sie den kalten Griff der Pistole umklammerte und diese entsicherte. Im Esszimmer traf er tatsächlich auf Jordan und seine Familie. Seine beiden Töchter Kayleigh und Lily, die gerade erst zur Grundschule gingen, waren hübsche kleine und muntere Mädchen, die wie kleine Prinzessinnen gekleidet waren. Margarete räusperte sich und ging direkt zu Jordan. Dieser sah auf und bedachte seinen Bruder mit einem kühlen Blick, als er ihn fragte „Was willst du hier, Mike?“ „Onkel Mike!“ riefen die Mädchen aufgeregt und sprangen von ihren Plätzen auf, um zu ihn zu laufen. „Du kommst uns besuchen, Onkel Mike? Hast du eine Überraschung mitgebracht?“ fragten sie aufgeregt, denn Michael brachte den Mädchen immer etwas mit, wenn er mal zu Besuch kam. Immerhin hatte er ja so ein gutes Verhältnis zu Jordan gehabt. Doch dieses Mal würde es etwas anders laufen. Allein bei dem Gedanken konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Natürlich habe ich eine Überraschung mitgebracht. Sie wird euch wirklich umhauen!“ Und damit zog er die Pistole und bevor die beiden Mädchen realisierten, dass es kein Geschenk war, was er in der Hand hielt, fielen die ersten Schüsse und bohrten sich in den Kopf und in die Brust der beiden Mädchen. Als Evelyn entsetzt aufschrie und zusammen mit Jordan aufsprang, schoss Michael erneut und traf seine Schwägerin in den Hals, in die Brust und in den Unterleib. Margarete streckte er mit einem Kopfschuss nieder und als Jordan fliehen wollte, bremste er die Flucht mit zwei gezielten Schüssen in die Knie. Jordan schrie laut auf und stürzte zu Boden, während Blutpfützen sich auf dem Boden ausbreiteten. Langsam trat Michael näher. Seine Kopfschmerzen waren inzwischen verschwunden, doch ein lautes Pfeifen und Dröhnen in seinen Ohren blieb vom Lärm der Schüsse zurück. Dennoch hörte er die gequälten Schreie seines Bruders mehr als deutlich genug. „Hey Jordan, lass uns ein paar Dinge regeln. Genauso wie Mum es früher immer genannt hat, wenn jemand nicht nett zu uns war.“ Die nächsten Schüsse trafen Jordan in die Handflächen, einer erwischte seine Wirbelsäule und der letzte Schuss bohrte sich in seine Lunge. Wissend, dass es einen langsamen und qualvollen Erstickungstod nach sich ziehen würde wenn er nicht vorher verblutete, blieb Michael direkt vor ihm stehen und schaute auf ihn herab. Es war schon ironisch zu sehen, was für ein Häufchen Elend sein geschätzter Bruder geworden war, der sonst immer so kalt und emotionslos wirkte. „Du hast wohl geglaubt, du könntest mich als deine Spielfigur benutzen, um an Vaters Firma zu kommen, was? Und jetzt, da ich sterben werde, bin ich dir wohl nicht mehr von Nutzen. Na das hast du dir ja schlau eingefädelt, aber ich bin nicht dumm, Jordan. Und hast du wirklich geglaubt, ich lasse mir das gefallen?“ Er hockte sich nun hin, um seinen sterbenden Bruder besser ins Gesicht zu sehen, während dieser verzweifelt nach Luft rang, während seine Miene von entsetzlichen Schmerzen gezeichnet war. Es war wirklich eine Genugtuung, ihn jetzt so zu sehen, nachdem dieser ihn so schändlich verraten hatte. „Erinnerst du dich noch, als Mum sagte, sie würde die Dinge regeln? Sie hat sich nie von jemandem für dumm verkaufen lassen. Glaubst du echt, du kommst mit dieser Tour bei mir durch? Nein, ich werde jetzt die Dinge selber regeln. Seeya, Jordan.“ Damit richtete sich Michael auf und ließ seinen Bruder in seinem verzweifelten Todeskampf zurück. Mit ihm hatte er die Dinge geregelt, fehlten nur noch Leron. Kapitel 32: Zerstörung ---------------------- Mit unbewegter Miene saß Lionel Evans im Verhörraum auf dem Polizeipräsidium und hatte seinen Gehstock umklammert. Ihm gegenüber saß Inspector Foreman, ein etwas griesgrämig dreinblickender Mensch, der nicht aussah, als wäre ihm nach irgendwelchen Späßen zumute. Seit knapp zwei Stunden hielt dieser Mensch ihn im Verhörraum fest und hatte ihn zum Fund der insgesamt 33 Leichen befragt. Nachdem die meisten anhand von Gebissabdrücken identifiziert werden konnten, hatte sich relativ schnell ergeben, dass sie alle für ihn gearbeitet hatten und vor 25 bis 35 Jahren verschwunden waren. Und nachdem von einigen die Identität festgestellt werden konnte, war ein Streifenwagen zur Villa von Lionel Evans gefahren und er war hierher beordert worden. Kein Wunder, immerhin waren diese Toten all jene Angestellten, die Katherines Vergeltungsdrang zum Opfer gefallen waren. Sie alle hatten den Fehler gemacht, sich diese geltungssüchtige Frau zum Feind zu machen, indem sie ihre geliebten Kinder nicht angemessen behandelt hatten. Lionel wusste, dass sich die Polizei auf ihn einschießen würde. Aber er würde es nicht ohne Gegenwehr hinnehmen. Er hatte ein Recht darauf, sich zu verteidigen und er wollte vor allem seiner verhassten Frau diesen Triumpf nicht gönnen, dass sie ihm selbst nach ihrem Tod sein Leben weiterhin zerstörte. Irgendwann musste die Zerstörungswut dieser Verrückten ein Ende haben. „Wie oft wollen Sie noch den Ahnungslosen spielen?“ fragte Foreman und presste nun die Zähne zusammen. Seine Mundwinkel waren vor Ärger verzerrt und auf seiner Glatze hatten sich bereits Schweißperlen gebildet. „Alle bisher identifizierten Opfer waren bei Ihnen angestellt gewesen. Das können Sie doch wohl schwer einen Zufall nennen.“ „Ich habe Ihnen bereits alles gesagt“, entgegnete der Konzerninhaber kühl. „Ich habe mit dem Tod dieser Personen nichts zu schaffen und ich bezweifle, dass es da ein Motiv gäbe, das mich zu diesen Taten veranlasst haben könnte.“ „Spielen Sie hier nicht den Unschuldigen“, keifte der Inspector, der offenbar einen ziemlich schlechten Tag erwischt hatte. Oder aber es war seine Taktik, die Verhörten einzuschüchtern. „Wir haben alte Berichte vorliegen, die eindeutig belegen, dass es bei Ihnen zuhause häusliche Gewalt gab. Sie haben Ihre Frau geschlagen und ihr sogar schon den Arm gebrochen. Ganz zu schweigen davon, dass Sie sie sogar mit einem Messer verletzt hatten, als Sie betrunken gewesen waren.“ Nun war es Lionel, der jetzt verstimmt war. Natürlich hatte die Polizei diese alten Geschichten ausgegraben. Katherine hatte ja bestens vorgesorgt für den Fall, dass er sie verlassen oder sie bei der Polizei anzeigen würde. Und nun kamen all diese Dinge wieder auf ihn zurück. Aber das wollte er sich dieses Mal nicht gefallen lassen. „Ich habe meiner Familie niemals Gewalt angetan! Weder meiner Frau, noch meinen Söhnen.“ „So? Und warum waren die Toten allesamt Angestellte von Ihnen und wieso hatte Ihre Frau schwere Verletzungen gehabt?“ Lionel schwieg einen Moment bedächtig und faltete die Hände. Wenn er sich dazu entschloss, die Wahrheit zu erzählen, würde man ihm entweder nicht glauben, oder aber es würde einen großen Medienwirbel geben, wenn herauskäme, dass die Cohans allesamt Dreck am Stecken hatten. Vor allem weil er selbst mit einer aus dieser Psychopathenfamilie verheiratet gewesen war und all die Jahre Katherines Verbrechen geheim gehalten hatte. Zum einen weil sie ihn sonst ebenfalls getötet hätte und zum anderen weil er nicht in den Fokus der Öffentlichkeit geraten wollte. Nicht auf diese Art und Weise. Und wenn die Polizei Katherines wahres Ich aufdeckte, würden seine Söhne nicht nur erfahren, dass ihre Mutter eine mordlustige sadistische Psychopathin war, nein sie würden selbst ins Fadenkreuz geraten. Dann würden Michaels Vergehen ans Tageslicht kommen, die sein Vater all die Jahre erfolgreich mit genügend finanziellen Mitteln unter den Teppich kehren konnte. Und die Polizei würde nicht locker lassen, da war sich Lionel sicher. Zwar würden sie bei Leron und Jordan nichts finden, aber es würde sich herumsprechen und der Ruf der Familie Evans wäre für immer dahin. Alles, worauf er so hart hingearbeitet hätte, wäre mit einem Schlag dahin. Nein, es war vollkommen ausgeschlossen, dass er die Wahrheit über seine psychisch kranke Ehefrau erzählen konnte, vor allem weil er auch Mitschuld an der ganzen Sache trug. Die Polizei hatte keine stichfesten Beweise dafür, dass er diese Menschen umgebracht hatte. Es war lediglich erwiesen, dass alle für ihn gearbeitet hatten, aber das genügte noch nicht. Er hatte kein Motiv und selbst wenn sie mit der Masche ankamen, dass er angeblich seine Frau geschlagen hatte, war das noch lange kein Grund für knapp 33 Morde von denen er sicher war, dass es immer noch nicht alle gewesen waren. Also gab es nur eines, was er jetzt tun konnte: Schweigen und sein Wissen irgendwann mit ins Grab nehmen: „Ich sage Ihnen nichts mehr bevor mein Anwalt eingetroffen ist!“ Foreman atmete laut schnaubend durch die Nase aus und man sah ihm deutlich an, dass er genau wusste, dass Lionel Evans etwas zu verbergen hatte. Doch bevor er ihn weiter ins Kreuzverhör nehmen konnte, wurde die Tür zum Verhörraum geöffnet und ein hagerer Mann mit dunkelschwarzem Haar erschien in der Tür, der Foreman dringend zu sich bat. Lionel schenkte dem Ganzen keinerlei Beachtung, denn er konnte sich denken, dass die beiden mit Sicherheit ihre nächste Strategie planen würden, um ihn zu Fall zu bringen. Doch was er nicht wusste war, dass der Polizist seinen Kollegen aus einem sehr wichtigen Grund zu sich geholt hatte. Denn es war die Meldung eingetroffen, dass der Gärtner, der für Jordan Evans‘ Familie arbeitete, die Leichen seiner Arbeitgeber im Esszimmer gefunden hatte, nachdem er laute Schüsse gehört hatte. Und Lionel ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nichts von dem Amoklauf seines ältesten Sohnes. Da es Simon ein wenig langweilig geworden war, hatte er sich dazu entschlossen, sich ein wenig im Gebäude umzuschauen und zu gucken, was noch alles in der ehemaligen Fabrik zu entdecken gab. Immerhin waren die Besitzer Künstler, da bewahrten sie ihre ganzen Arbeiten garantiert irgendwo auf, wenn sie diese noch nicht verkauft hatten. Das war jedenfalls besser, als nur vor dem Fernseher zu lungern und Däumchen zu drehen, denn Hunter war mal wieder mit seinen Skulpturen beschäftigt und wollte mit Sicherheit nicht gestört werden und Cypher führte gerade ein wichtiges Telefonat in welchem es um einen Auftrag ging, den er für ein Filmstudio annehmen wollte. Gedankenverloren streifte er durch das weitläufige Gebäude und staunte nicht schlecht, wie viel Arbeit geleistet wurde, um aus einer alten, verlassenen Fabrik ein modernes Haus zu machen. Und dann war auch noch vieles selbst gemacht. Garantiert waren die vielen Dekorationen aus Metall, Spiegelglas, Holz, Marmor und anderen Materialien, die er hier fand, auch selbst angefertigt worden. Man sah aber auch deutlich, dass es hier viele Stilbrüche in diesem Haus gab. Die Bereiche, die für jeden Besucher sofort einsehbar waren, hatten schöne und ausgefallene Dekorationen und Figuren. Aber in den versteckten Bereichen konnte man die düstere und morbide Kunst von Cypher erkennen, die nicht unbedingt jedem Menschen zusagen mochte. Ob die beiden sich irgendwie abgesprochen hatten? Wäre jedenfalls mal interessant zu erfahren. Nachdem er etwas Durst verspürte, ging er in die Küche, die eher im Retrostil gehalten war, aber durchaus ihren Charme hatte. Alles war auf Hochglanz poliert und sauber gehalten. Da die Küche für gewöhnlich Cyphers Bereich war, schien er ein sehr reinlicher Mensch zu sein. Als er sich umsah, was es denn an Getränken gab, machte er schnell eine ziemlich krasse Entdeckung: überall wo er hinsah, gab es Tee. Erdbeertee, Zitronentee, Orangentee, Kräutertee, Kamillentee, Brennnesseltee, Weihnachtstee, Beruhigungstee, Eistee, Grüntee-Eiscreme, Schwarztee, sogar Teekuchen… Fast alle Schränke und der Kühlschrank waren mit allem vollgestopft, was es an Tee gab und für einen Moment wusste Simon nicht so wirklich, ob das noch zu einer Leidenschaft oder schon zu einer Besessenheit gehörte. Konnte so viel Tee überhaupt gesund sein? Nach kurzem Überlegen entschied er sich für Pfirsicheistee und trank ein Glas davon in der Küche, bevor er sich noch eines einschüttete und dann ins Wohnzimmer ging, wo er Cyphers Stimme hören konnte. Wahrscheinlich war dieser immer noch am Telefonieren. Dieses Mal schien es aber nicht mehr um den Auftrag zu gehen, sondern offenbar um ein paar Skulpturen von Hunter. Cypher war emsig am Verhandeln und auch wenn Simon nicht viel vom Kunstgewerbe verstand, ging es ganz offensichtlich um eine ziemlich große Summe Geld. Doch Cypher beharrte hartnäckig auf einen höheren Preis und konnte sich schließlich auf einen geringfügig kleineren Preis einigen, bevor er auflegte. Neugierig erkundigte sich Simon „Wichtige Geschäfte?“ „Jep“, antwortete der Künstler und legte das Telefon beiseite. „Da Hunter nicht gut mit Menschen reden kann, kümmere ich mich um die Verhandlungen mit den Kunden. Im Verhandeln war ich schon immer sehr gut.“ „Klingt nach sehr viel Geld.“ „Ja, aber man muss auch bedenken, dass die Werkzeuge und Materialien auch nicht gerade billig sind und den Rest des Geldes investieren wir in unser Haus. Wir sind noch lange nicht fertig und Hunter wollte noch einige Reparaturen erledigen. Naja, ich bin ja mal gespannt, wann…“ Er wurde von einem plötzlichen Klingeln an der Haustür unterbrochen und war erst mal verwundert. „Na so was. Ist Ezra schon wieder aus dem Kloster abgehauen? Den haben wir doch erst vorhin wieder zurückgebracht…“ „Und spät ist es auch schon“, stellte sein Gast fest. „Wir haben schon neun.“ „Komisch…“, murmelte Cypher und wirkte besorgt. „Ich hoffe doch, es ist nichts Schlimmes passiert.“ Damit stand er auf und ging in Richtung Haustür. Simon blieb auf der Couch sitzen und trank seinen Eistee leer. Vielleicht sollte er sich gleich besser schlafen legen. Nach dem Rollenspiel mit Leron war er ohnehin ein wenig erschöpft und da war Schlaf eine gute Idee. Als er dann aber plötzlich hörte, wie Schüsse ertönten und Cypher aufschrie, fuhr er entsetzt hoch und realisierte, dass da irgendetwas nicht stimmte. Er bekam Angst und wusste nicht, was er tun sollte. Nachsehen was es mit dem Schrei auf sich hatte? Fliehen? Sein erster Gedanke war, zu Hunter zu eilen. Schnell sprang er auf und rannte in Richtung Hunters Atelier, da folgte ein erneuter Schuss und streifte sein Bein. Ein brennender Schmerz raste durch sein linkes Bein, woraufhin er den Halt verlor und zu Boden stürzte. Ein Schrei entwich ihm und als er Schritte näher kommen hörte, wandte er sich um, damit er den Angreifer sehen konnte. Sein Magen verkrampfte sich und Panik machte sich in ihm breit, als er einen Mann mit blonden Haaren und goldgelben Augen sah, die von Wahnsinn und Mordlust erfüllt waren. Der Mann trug einen dunkelgrauen Anzug, an welchen allerdings kleine dunkelrote Flecken zu sehen waren. Simon erkannte dieses Gesicht. Nie hätte er es vergessen, denn es hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war jener Mensch, der ihn in diesen Loft gebracht, ihn brutal vergewaltigt, geschlagen und ihn fast umgebracht hatte: Michael Evans, Lerons ältester Bruder. Mit einem breiten wahnsinnigen Grinsen kam der 42-jährige näher, packte ihn grob an den Haaren und zerrte ihn zu sich. „Habe ich dich endlich! Hattest du geglaubt, du könntest dich verstecken, mein Junge?“ „Nein, lass mich!“ rief sein Opfer panisch und versuchte sich loszureißen, doch da schlug Michael ihm mit solcher Wucht die Pistole gegen die Schläfe, dass er fast das Bewusstsein verlor. „Hör auf zu schreien und dich zu wehren. Du machst es nur noch schlimmer“, zischte Michael und zerrte ihn hoch. „Du kommst mit mir mit, oder ich werde noch sehr böse werden.“ Da Simon immer noch benommen durch den Schlag war, fiel seine Gegenwehr weniger energisch aus als vorher. Er versuchte sich loszureißen und schrie um Hilfe, doch es kam niemand und als ihn ein erneuter Schlag ins Gesicht traf, wurde es für einen kurzen Moment schwarz vor seinen Augen und er stürzte zu Boden. „Na gut“, knurrte Michael wütend. „Wenn du nicht mitkommen willst, dann machen wir es eben hier. Ich habe schon zu lange auf dich gewartet…“ Simon spürte, wie Blut sein Gesicht hinunterfloss und wie ihm der Kopf schmerzte. Kaum, dass er wieder ein wenig klarer wurde, realisierte er auch schon, dass sein Angreifer ihm gerade die Hose auszog und im Begriff war, über ihn herzufallen. Panik überkam ihn und er wollte schon schreien, doch da wurde ihm der Lauf der Pistole in den Mund geschoben und als er in diese goldgelben dämonisch funkelnden Augen sah, realisierte er mit Entsetzen, dass dieser ihn ohne zu zögern erschießen würde. „Halt die Klappe und hör auf, dich zu wehren. Du bist doch ohnehin eine kleine dreckige Hure, die es mit jedem treibt. Oder bist du so süchtig nach Ronnies Schwanz, dass du dich jetzt nur noch von ihm ficken lassen willst? Glaub mir, ich kann es dir noch wesentlich härter besorgen, als dieses Muttersöhnchen. Und jetzt spreiz die Beine oder ich reiße dir deinen Arsch so weit auf, dass du nie wieder sitzen kannst. Oder ich knall dich ab und treibe es danach mit dir!“ Simon überkam entsetzliche Angst und wieder kam ihm der Gedanke an Flucht. Doch wenn er sich wehrte, würde dieser Irre ihn umbringen. Der meinte es todernst und er begann zu realisieren, dass er sich in einer absolut aussichtslosen Lage befand. Doch er wollte es nicht. Er wollte nicht, dass Michael sich an ihm verging. Nicht nur, weil er vor drei Jahren fast gestorben wäre, sondern weil er diesen Menschen einfach nur verachtete. Allein der Gedanke ekelte ihn an und er hätte es auch mit niemand anderem gewollt. „Versuche es auszublenden und lass es über dich ergehen. So wie all die anderen Male zuvor. Ansonsten knallt er dich genauso ab wie Cypher und dann treibt er es mit deiner Leiche. Der Typ ist total verrückt, das ist zu gefährlich!“ Zitternd kam er der Aufforderung nach, als er langsam seine Shorts ausgezogen hatte und sah mit Entsetzen, wie Michael nun seine eigene Hose öffnete. Etwas Gieriges und Lüsternes lag auf seinen Lippen und ihm schwante, dass das noch eine sehr schmerzhafte Erfahrung für ihn werden würde. Und sein einziger Gedanke in diesem Moment war Leron. Wie sehr wünschte er sich, dass er jetzt da wäre um ihn vor diesem Wahnsinnigen zu beschützen. Ohne ihn vorzubereiten und ohne Vorsicht walten zu lassen, drang Michael tief in ihn ein und ein entsetzlicher Schmerz jagte durch Simons Unterleib. Er schrie auf, als sich der 42-jährige unerbittlich und gewaltsam in ihn versenkte und sein eigener Körper unter diesen brennenden Schmerzen zu rebellieren begann. Es tat so entsetzlich weh und sein Unterleib schmerzte höllisch. „Scheiße ist das geil…“, murmelte Michael und war wie in einem Rausch gefangen. Er spürte das warme Blut des Jungen auf seiner Erektion und die qualvollen Schreie seines Opfers waren wie Drogen für ihn. Genau das war es, was er haben wollte: seinen Jungen, der ihm diese süßen Schreie und die Lust bescherte, die ihm all diese Frauen, die er vergewaltigt oder beim Sex verprügelt hatte, nicht einmal annähernd in diesem Maße bescheren konnten. Michael stieß härter zu und hielt Simon den Pistolenlauf weiterhin in den Mund gedrückt. Er würde ihn ohne zu zögern abknallen, wenn der es wagen sollte zu fliehen. Er brauchte ihn ja nicht unbedingt lebend sondern nur seinen Körper und mehr nicht. Dazu musste er ja noch nicht einmal am Leben sein. „Ja so ist es gut. Darauf stehst du doch, nicht wahr du kleine Drecksnutte? Oh Mann, dein kleiner Arsch verschlingt mich ja richtig, du musst mich ziemlich vermisst haben. Aber keine Sorge. Solange ich noch da bin, werde ich dir rund um die Uhr das Hirn rausficken und dich zum Schreien bringen. Ich werde es dir so lange besorgen, bis du an nichts anderes mehr denken kannst, als dich von mir ficken zu lassen!“ Simon hatte das Gefühl, jeden Augenblick das Bewusstsein oder den Verstand zu verlieren. Sein ganzer Unterleib bestand aus nichts anderem mehr als aus höllischen Schmerzen, doch anstatt, dass Michael langsamer wurde oder wenigstens auf eine Schreie reagierte, verfiel er in einem immer schlimmeren Blutrausch und begann wie ein Verrückter zu lachen. Ihm war, als wäre das kein Mensch, der sich gerade an ihm verging, sondern ein Monster. Schließlich aber nahm Michael die Pistole aus seinem Mund und Simon hoffte erst, dass dieser Wahnsinnige von ihm ablassen würde, doch stattdessen legten sich zwei Hände um seinen Hals und begannen ihn zu würgen. „Darauf stehst du ja ganz besonders, nicht wahr?“ fragte Michael und kicherte unheimlich. „Ich weiß noch genau, wie heftig dein Orgasmus war, als ich dich gewürgt habe.“ „N… nein… bitte…“, flehte der 21-jährige panisch und versuchte die Hände seines Vergewaltigers von seinem Hals zu entfernen, doch dieser war ihm körperlich überlegen und schaffte es mühelos, ihm die Luftzufuhr abzuschnüren. Verzweifelt rang ernach Luft und wehrte sich mit aller Kraft dagegen. Er versuchte nach Hilfe zu rufen, doch alles, was er hervorbrachte, war ein ersticktes Keuchen. Panik schoss durch seinen Körper als ihm klar wurde, dass er keine Luft mehr bekam und seine Lungen zu schmerzen begann. Wenn das nicht bald aufhörte und Michael von ihm abließ, dann würde er ersticken. Doch Michaels von Wahnsinn und Sadismus verzerrtes Gesicht, welches inzwischen hochrot angelaufen war, ließ ihn erkennen, dass dieser nicht daran dachte, damit jetzt aufzuhören. Er würde ihn so lange würgen, bis sein Opfer entweder ohnmächtig wurde oder starb. Umso krampfhafter versuchte Simon nun, sich irgendwie von Michaels Griff zu lösen und spürte, wie sein Sauerstoffmangel ernst wurde. Durch die Panik konnte er ohnehin nicht so lange durchhalten wie unter normalen Umständen. Sein Mund öffnete und schloss sich, als er wenigstens versuchte, ihn anzuflehen, damit aufzuhören, doch Michael schenkte dem keine Beachtung, beugte sich zu ihm und begann ihn gierig zu küssen. Langsam legte sich Dunkelheit über Simons Augen und er befürchtete schon, dass es gleich mit ihm zu Ende sei, als er glaubte, einen Schatten über ihn und Michael wahrzunehmen. In seiner Benommenheit glaubte er, dass es Leron war, der gekommen war um ihn zu retten. Der Schatten hatte etwas in der Hand und schlug dann damit auf Michael. Der 42-jährige fiel zu Boden wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte und das gesamte Gewicht drückte nun auf Simon nieder. Doch zum Glück hielt das nicht für lange an, als der Bewusstlose von ihm heruntergezerrt wurde und er endlich wieder Luft holen konnte. Keuchend wie ein Fisch auf dem Trockenen lag er auf dem Boden und hatte das Gefühl, als würden sich Messer in seine Brust und seinen Unterleib bohren. Noch nie war er so dankbar wie jetzt dafür, dass er endlich wieder atmen konnte. „Simon! Simon bleib wach!“ Diese Stimme gehörte nicht Leron. Nein, sie gehörte jemand anderem… Für einen kurzen Moment überkam ihn fast wieder die Ohnmacht, als eine leichte Ohrfeige ihn ins Gesicht traf und er wieder etwas klarer wurde. Er sah in zwei goldgelbe Augen, die Hunter gehörten. „Hey, jetzt werde hier nicht ohnmächtig! Was ist passiert und wo ist Cypher?“ „Michael…“, versuchte ihm irgendwie zu erklären, doch er brachte nur ein atemloses Keuchen zustande. „Er hat… er hat mich gefunden… Schüsse… Ich habe Schüsse…“ „Ich bin gleich wieder da.“ Kaum, dass Hunter das Wort „Schüsse“ gehört hatte, war er wieder aufgestanden und eilte zum Flur in Richtung Eingangsbereich. Simon konnte am Rande wahrnehmen, wie Hunter Cyphers Namen rief. Fassungslosigkeit und Angst waren herauszuhören. Dinge, die gar nicht zu ihm passen wollten. Noch nie hatte Simon jemals bei ihm Emotionen gesehen. Und nun… Langsam richtete er sich auf, bereute es aber gleich wieder weil sein Körper so entsetzlich schmerzte. Er spürte etwas Warmes und Klebriges an seinem Gesäß und wusste, dass es Blut sein musste. Sein Kopf dröhnte, seine Lungen taten weh und ihm war, als würde sich die ganze Welt um ihn herum drehen. Es war nicht das erste Mal, das ihm so etwas passiert war und er überfallen und vergewaltigt worden war. Doch jetzt fühlte es sich noch viel schlimmer an als zuvor. Er fühlte sich beschmutzt und abstoßend, genau wie damals, als er in diesem dreckigen Motel seinen ersten Kunden gehabt hatte und realisieren musste, wie tief er gesunken war, dass er seinen Körper für Sex verkaufte. Ein widerlicher metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus und ihm wurde übel. Ein Blutrinnsal floss ihm ins Auge und so wie es um ihn gerade bestellt war, hätte er eigentlich liegen bleiben sollen, doch er wollte einfach nur ins Bad und den Schmutz von seinem Körper abwaschen. Sein erster Versuch, auf die Beine zu kommen, scheiterte und als er es endlich schaffte, zitterten diese so heftig, dass er gewaltige Schwierigkeiten hatte, das Gleichgewicht zu wahren. Alles um ihn herum begann sich zu drehen und sein Magen schnürte sich zusammen. Er wankte ein paar Schritte, wurde dann aber von Übelkeit übermannt und erbrach sich, bevor er den Halt unter den Füßen verlor und stürzte. Der Schlag auf den Kopf und der kurzzeitige Sauerstoffmangel mussten ihm schlimmer zugesetzt haben als gedacht. Und warum kam Hunter nicht zurück? Simon versuchte wieder aufzustehen, als er am Fußknöchel gepackt wurde und sah, dass Michael wieder zu sich gekommen war. Blut lief seine Stirn hinunter, doch es schien ihm nicht einmal etwas auszumachen. Nein, er bemerkte diese Verletzung gar nicht einmal und grinste breit. „Wo willst du denn hin? Willst du etwa weglaufen, du kleines Flittchen? Du gehörst mir und niemand anderem sonst! Ich lasse nicht zu, dass du wieder zu Ronnie gehst oder dich von irgendjemand anderem ficken lässt. Dein Arsch gehört mir, hörst du? DU GEHÖRST MIR UND WENN ICH DICH UMBRINGEN MUSS, DAMIT DU BEI MIR BLEIBST!!!“ „Nein, lass mich. Hunter! Hunter!!!“ Das war das Einzige, was Simon in seiner Todesangst hervorbrachte und kurz darauf kam dieser auch wieder zurück. In seiner Hand hielt er immer noch den Gegenstand von vorhin, der sich als ein klobiger Hammer herausstellte, den er wahrscheinlich für seine Arbeit gebraucht hatte. Blut klebte noch daran und als er sah, dass Michael wieder wach war und versuchte, über den vor Angst schreienden Simon herzufallen, da flammte etwas in seinen Augen auf. Es war derselbe Ausdruck, den Leron gehabt hatte, als er Michael attackiert hatte: blinder Zorn und reine Zerstörungslust. Simon wusste in diesem Moment nicht, vor wem er mehr Angst haben sollte. Vor Michael, der ihn vergewaltigt hatte oder vor Hunter, der höchstwahrscheinlich ebenfalls gleich die Kontrolle verlieren und zu einem unkontrollierbaren Monster werden würde. Entsetzt wich er zurück und sah, wie Hunter den Hammer hob und ihn mit aller Kraft auf Michaels Schädel niedersausen ließ. Es gab einen dumpfen Knall und Blut spritzte, als der Hammer dem verletzten 42-jährigen den Hinterkopf zerschmetterte und ihm endgültig den Rest gab. Simon zuckte zusammen und sah, wie sein Vergewaltiger zusammenbrach und Blut aus der zertrümmerten Schädeldecke floss. Und sofort wanderte sein Blick wieder zu Hunter. Ängstlich zitternd wich er vor ihm zurück und fürchtete, dass dieser durchdrehen und auch ihn angreifen würde. Doch stattdessen verengten sich die goldgelb leuchtenden Augen des Bildhauers, der sich mit einer angestrengten Miene auf die Unterlippe biss, bis diese aufplatzte und ein dünnes Blutrinnsal hinabfloss. Der wahnsinnige und mordlustige Glanz in seinen Augen erlosch sofort und der blutverschmierte Hammer, an dem noch Knochen- und Gehirnreste klebten, fiel zu Boden, wo er mit einem dumpfen Knall aufschlug. Kapitel 33: Das Erwachen nach dem Sturm --------------------------------------- Das Erste, was Simon spürte als er wieder zu sich kam, war eine bleierne Schwere und Trägheit. Sein ganzer Körper fühlte sich so unsagbar schwer an, als wäre ihm jegliche Kraft ausgesaugt worden und er war einfach nur müde. Er brauchte eine Weile um zu registrieren, dass er sich nicht im Gästezimmer von Cypher und Hunter befand, aber auch nicht in der Villa von Leron. Wo war er denn eigentlich? Die Wände waren weiß gestrichen und der Raum wirkte eher steril als gemütlich. Auch das Bett war etwas eigentümlich. Offenbar war er im Krankenhaus. Wie war er denn eigentlich hierhergekommen? Das letzte, woran er sich erinnerte war, dass Hunter Michael den Schädel mit dem Hammer eingeschlagen hatte und danach wollte er ins Badezimmer um zu duschen. Hunter hatte versucht ihn festzuhalten und hatte ihm gesagt, er solle da bleiben, aber er hatte einfach nur den Schmutz von seinem Körper waschen wollen. Und dann wusste er nichts mehr. Danach fehlte irgendwie alles. „Simon!“ Erst jetzt registrierte er, dass jemand seine Hand hielt. Es war Leron, der entsetzlich blass im Gesicht war und tief besorgt aussah. Und kaum, dass sich ihre Blicke trafen, umarmte dieser ihn und bebte dabei am ganzen Körper, als ihn die Gefühle übermannten. „Gott sei Dank bist du wieder wach, Simon. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.“ „Warum bin ich im Krankenhaus?“ fragte der 21-jährige, obwohl das wahrscheinlich die dümmste Frage war, die er in so einer Situation überhaupt stellen konnte. Doch sein Verstand war sehr stark vernebelt, wahrscheinlich aufgrund irgendwelcher Schmerzmittel, die ihm verabreicht worden waren. „Du fragst warum?“ fragte Leron verständnislos. „Du hattest eine Platzwunde und eine schwere Gehirnerschütterung. Ganz zu schweigen davon von den anderen Verletzungen, die du erlitten hast, als Michael dir das angetan hat.“ „Und wieso kann ich mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin?“ fragte der Junge immer noch ein wenig orientierungslos und fragte sich, ob es an der Kopfverletzung lag, dass er sich nicht erinnern konnte. Oder aber vielleicht war er auch einfach nur ohnmächtig geworden. Das konnte auch gut möglich sein. „Hunter hat versucht, dich zu beruhigen, aber du hast unter Schock gestanden und wolltest trotz deiner Verletzungen weggehen, da hat er dir ein Schlafmittel verabreicht und sich dann um Cypher gekümmert, bis der Notarzt eingetroffen ist.“ Als er Simons erschrockenen Blick bemerkte, fügte er hinzu „Cypher hat zwei Schüsse abbekommen, aber zum Glück waren sie nicht allzu bedrohlich. Er hatte geistesgegenwärtig reagiert und seinen Oberkörper und seinen Kopf mit den Armen geschützt, außerdem hatte er obendrein noch wahnsinniges Glück gehabt. Ansonsten wäre er wahrscheinlich tot. Eine Kugel hat ihn in den Bauch getroffen, die andere seinen linken Arm. Er wird noch eine Weile im Krankenhaus bleiben müssen, aber er ist außer Gefahr. Was Hunter betrifft, der sitzt momentan auf der Polizeistation fest, weil geprüft werden muss, ob es Notwehr oder Totschlag gewesen war.“ Totschlag? Notwehr? Dann bedeutete das also, dass Michael tot war? Dann war es endlich vorbei und er musste nicht mehr in Angst leben und nicht mehr weglaufen? Simon spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte und Tränen sich in seinen Augen sammelten. Schluchzend klammerte er sich an den Unternehmer und vergrub sein Gesicht in dessen Schulter. Er war erleichtert, dass dieser Alptraum vorbei war und er ihn nie wieder erleben musste. Und vor allem war er froh, dass Leron jetzt bei ihm war um ihm beizustehen und ihm Halt zu geben. „Es tut mir leid, dass dir so etwas Furchtbares passieren musste. Aber es ist alles vorbei und Michael kann dir nie wieder etwas antun. Du brauchst ab jetzt keine Angst mehr haben.“ „Tut mir leid“, schluchzte Simon und vergrub seine Hände in das schwarze Jackett. „Ich bin… ich bin schmutzig…“ Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr beherrschen. Jetzt, nachdem er diesen Schreck überstanden und Leron endlich bei ihm war um ihn zu trösten, fühlte er sich einfach nur noch schwach und schaffte es nicht mehr, standhaft zu bleiben. Stattdessen wollte er einfach nur noch über das weinen, was passiert war. So wie er es getan hatte, als er das erste Mal seinen Körper verkauft hatte und sich danach so schäbig und benutzt vorkam. Doch jetzt war es anders. Er musste diese Dinge nicht mehr alleine durchstehen und „einfach darüber hinwegkommen und es akzeptieren“ so wie damals. Jetzt konnte er sich einfach fallen lassen und schwach sein, weil Leron da war, um ihn aufzufangen und ihm Halt zu geben. „Sag so etwas nicht“, sprach Leron beruhigend, auch wenn man ihm deutlich anmerken konnte, dass er selbst mit der Fassung rang, weil ihn diese Geschichte so sehr mitnahm. „Der Einzige, der schmutzig ist, das ist Michael und niemand anderes sonst. Er hat dir das angetan und er hat dir so viel Leid zugefügt.“ „Aber ich bin nur… eine Dreckshure und… ich…“ „Shhht“, flüsterte der Unternehmer beruhigend und streichelte zärtlich seinen Kopf. „Sprich nicht weiter. Was Michael gesagt hat, war nur sein abfälliges Gerede, um sich daran aufzugeilen, dich zu erniedrigen. Und was er sagt, ist nicht dasselbe, was ich über dich denke. Selbst wenn du auf dem Strich anschaffen gegangen bist, hatte er nicht das Recht, dir solch schlimme Dinge anzutun. Nichts rechtfertigt das und du bist ein Mensch wie jeder andere auch. Und nichts, was er mit dir gemacht hat, ändert etwas an der Tatsache, dass ich dich liebe. Also hab keine Angst, dass ich dich abwerte oder denke, dass du schmutzig bist. Sobald es dir wieder besser geht, werde ich dafür sorgen, dass du dich nie wieder beschmutzt fühlen musst.“ Leron hielt das kleine Häufchen Elend fest in seinen Armen und ließ ihn weinen. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie oft sich der Junge in den letzten Jahren so gefühlt hatte und sich jedes Mal verboten hatte, diese Gefühle zuzulassen, nur um nicht schwach zu sein. Immerzu hatte er ganz alleine gekämpft und nun, da er dies erleben musste, konnte er nicht mehr den Starken spielen. Vielleicht wollte er das ja auch gar nicht, weil er es leid war, immer alles alleine zu schultern, alleine zu leiden und alleine damit klar zu kommen. Und das konnte auch eine heilsame Erfahrung sein: zu wissen, dass er auch in solchen Situationen nicht alleine war und diese Last nun mit jemandem teilen konnte. „Hey, es wird alles gut“, tröstete er ihn. „Ich bin ja bei dir und Cypher hat überlebt. Und glücklicherweise war Hunter da, ansonsten wäre… Naja… Es ist noch sehr glimpflich ausgegangen.“ Ganz im Gegensatz zu Jordan und seiner Familie und ein paar anderen Menschen, die Michaels Amoklauf zum Opfer gefallen waren. Wie sich herausgestellt hatte, war sein ältester Bruder schlau genug gewesen, um einen Privatdetektiv anzuheuern, um Simon wiederzufinden, nachdem er festgestellt hatte, dass die Villa verlassen war. Und dieser hatte ihre Spur bis zu Cyphers Haus verfolgt und als Michael durchgedreht und seine Freundin und die Familie seines Bruders getötet hatte, war der Detektiv der nächste Tote gewesen, nachdem er Michael die Adresse genannt hatte. Und auf dem Weg zu der ehemaligen Fabrik hatte sein ältester Bruder noch einen Autofahrer und dessen Begleitung erschossen, nachdem sie ihn versehentlich mit dem Auto geschnitten hatten und dann waren ihm noch drei Passanten zum Opfer gefallen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Insgesamt waren elf Menschen zu Tode gekommen und lediglich ein Wunder und eine gute Reaktion hatten Cypher das Leben gerettet. Simon selbst war aufgrund der Tatsache, dass Hunter ihn vorsorglich außer Gefecht gesetzt hatte, nicht noch weiter zu Schaden gekommen. Sein Zustand war zwar nicht lebensbedrohlich, aber dennoch besorgniserregend gewesen. Der Schlag hatte es ziemlich in sich gehabt und die Wunde musste mit sieben Stichen genäht werden. Ganz zu schweigen von den Verletzungen, die er durch die Vergewaltigung erlitten hatte. Wahrscheinlich hätte er noch mehr Blut verloren oder hätte sich noch anderweitig verletzt, wenn er in diesem Zustand noch weiter herumgelaufen wäre. Nach Hunters Aussage hatte der Junge schwer unter Schock gestanden und hatte auf gar nichts mehr reagiert und auch nicht mit sich reden lassen. Immer wieder hatte er gesagt gehabt „Mir geht es gut, ich will nur duschen gehen. Ich fühle mich schmutzig…“ Und da er ohnehin schon genug am Kopf abgekriegt hatte, wollte sein Retter ihn lieber nicht bewusstlos schlagen, sondern hatte zwei von seinen Schlaftabletten in den Eistee gegeben und behauptet, es sei gegen Kopfschmerzen. Simon hatte es ohne zu zögern getrunken und war kurz darauf eingeschlafen. Danach war er knapp 18 Stunden bewusstlos gewesen. Leron erinnerte sich noch gut dass diese 18 Stunden die längsten seines ganzen Lebens gewesen waren. „Wie lange muss ich noch hier bleiben?“ fragte Simon, nachdem er sich einigermaßen wieder beruhigt hatte. „Die Ärzte wollen dich noch ein paar Tage hier behalten. Erst mal nur eine Woche, je nachdem wie gut alles verheilt. Außerdem kannst du dich hier von diesen schlimmen Dingen ausruhen. Aber keine Sorge, ich werde dich jeden Tag besuchen kommen und bei dir sein, wenn du es möchtest.“ Ein stummes Nicken kam zur Antwort, gefolgt von einem letzten leisen Schluchzer, bevor sich Simon wieder von ihm löste und sich die Tränen wegwischte. Er sah immer noch sehr erschöpft und müde aus und war sehr blass. Aber zumindest hatte er sich wieder etwas beruhigt und schien sich auch erst mal keine Gedanken mehr darum zu machen, dass er abstoßend oder beschmutzt war, nachdem Michael ihn vergewaltigt hatte. Zumindest fürs Erste und das war schon mal tröstlich. Schließlich suchten Simons schneeweiße Augen wieder sein Gesicht, als er wieder eine Frage stellte. Eine, die ihn jetzt ganz besonders quälte: „Was ist mit Hunter? Werden sie ihn jetzt etwa einsperren? Er hat Michael doch nur deshalb erschlagen, weil er mir wieder etwas antun wollte.“ Zwar hatte er dieses mordlustige Funkeln in Hunters Augen gesehen, welches er schon einmal bei Leron gesehen hatte, doch er weigerte sich zu glauben, dass Hunter Michael aus purer Bosheit und Sadismus erschlagen hatte, auch wenn es danach ausgesehen hatte. Als Leron diesen Blick gehabt hatte, wollte er die Person, die ihm am wichtigsten war, vor den Grausamkeiten seines Bruders beschützen. Und deshalb konnte es auch nicht anders bei Hunter sein. Dieser hatte Michael mit der Absicht getötet, jene Menschen zu beschützen, die ihm wichtig waren und nicht, weil er einfach nur den Drang verspürte, jemanden umzubringen. Immerhin hatte Hunter es geschafft, sich ganz von alleine wieder unter Kontrolle zu bringen. Wahrscheinlich, indem er sich selber Schmerzen zugefügt hatte, um wieder klar im Kopf zu werden. Somit hatte er erfolgreich verhindert, dass er durchdrehte und auf jemand anderen losging, so wie es Leron beinahe passiert wäre. „Keine Sorge“, beruhigte Leron ihn. „Ich habe ihm den besten Anwalt geholt, den ich kriegen konnte und der wird ihm helfen.“ „Ansonsten kann ich auch eine Aussage machen“, bot Simon sofort an. Den Gedanken, dass Hunter vielleicht ins Gefängnis musste oder in einen Prozess verwickelt werden könnte, nur weil dieser ihn vor diesem Verrückten retten wollte, konnte er nicht ertragen. „Michael hat gesagt gehabt, dass er mich umbringen wird, wenn ich nicht bei ihm bleibe und ich habe nach Hunter gerufen. Und als er sah, dass Michael…“ „Schon gut, ich glaube dir auch so. Die Polizei wird später kommen, um dich zu befragen. Aber mach dir keine allzu großen Sorgen um andere, kümmere dich erst einmal um dich. Das ist jetzt das einzig Wichtige, was zählt.“ Simon nickte lag noch eine Weile in Lerons Armen, bis er sich vollkommen entspannt hatte und dann wieder eingeschlafen war. Und das, obwohl er knapp 18 Stunden lang ohne Bewusstsein war. Aber andererseits war dieses Erlebnis für ihn sehr nervenaufreibend gewesen, da war es kein Wunder, wenn er immer noch so erschöpft war. Nachdem Simon wieder tief und fest schlief und Leron ihn vorsichtig hingelegt und zugedeckt hatte, verließ er das Krankenzimmer und stattete Cypher einen Besuch ab. Dieser lag immer noch auf der Intensivstation, aber sein Zustand war zumindest stabil und er würde sich von dieser Geschichte erholen. Leron hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, dass großes Glück und gute Reflexe Cypher das Leben gerettet hatten. Mehrere Schüsse aus nächster Nähe mit einer solchen Pistole hätten tödlich sein können, doch Cypher hatte geistesgegenwärtig genug reagiert, um seinen Kopf und seinen Oberkörper zumindest halbwegs mit den Armen zu schützen und sich zu ducken. Die Kugel, die eigentlich seinen Kopf hätte treffen müssen, hatte seinen Unterarm durchdrungen und seinen Kopf lediglich gestreift. Und so waren auch keine lebenswichtigen Organe verletzt worden. Nun gut, der Bauchschuss hatte es in sich gehabt und war auch gefährlich gewesen, doch sowohl er als auch Hunter hatten ihr Bestes gegeben, um die Blutung möglichst gering zu halten, bis der Notarzt eingetroffen war. Es war, als ob die beiden für solche Fälle tatsächlich vorbereitet gewesen waren. Als er das Zimmer erreichte, wo Cypher lag, fand er diesen an ein EKG angeschlossen vor. Er war längst wieder bei Bewusstsein, nachdem die Operation ein wenig länger gedauert hatte als erwartet. Sein Arm war bandagiert und er wirkte alles andere als gesund, aber zumindest wesentlich besser als gestern, als Leron ihn das erste Mal besucht hatte. „Hey, alles im grünen Bereich bei dir?“ grüßte er ihn und hob dabei seinen unversehrten Arm, der allerdings am Tropf hing. Auch wenn er ihn mit einem freundschaftlichen Lächeln begrüßte, sah man ihm an, dass er schon wesentlich bessere Tage gesehen hatte. „Ist Simon immer noch bewusstlos?“ „Nein, er ist vorhin aufgewacht und war erst mal ziemlich mit den Nerven durch, dann ist er wieder eingeschlafen. Ich glaube, der tut ihm auch ganz gut. Und wie geht es dir?“ „Den Umständen entsprechend“, antwortete der Künstler ehrlich. „Ich bin zwar auch die meiste Zeit nur am Pennen, aber wahrscheinlich liegt es auch an dem Morphium, das die mir gegen die Schmerzen verabreichen. Fit sieht zwar anders aus, aber das wird schon wieder. Ich hoffe nur, dass Hunter keinen Ärger mit der Polizei kriegt.“ „Keine Sorge, ich habe ihm einen Anwalt besorgt und der holt ihn schon wieder raus. Hey, ich wollte dir noch mal sagen, dass es mir wirklich leid tut, dass ihr in diese ganze Sache reingezogen wurdet und du hier liegst.“ Doch dieser winkte nur ab und schüttelte den Kopf. „Ist doch nicht deine Schuld, dass es passiert ist. Dein Psycho-Bruder ist durchgedreht und hat Leute abgeknallt und nicht du. Und mal ganz ehrlich: man kann sich die Familie halt nicht aussuchen. Bei so einem Bruder würde ich mich auch schämen. Wichtig ist doch, dass wir leben und die Verletzungen werden verheilen. Ein zerstörtes Leben kann man hingegen nicht wieder kitten.“ Ja, das stimmte wohl, aber trotzdem fühlte sich Leron verantwortlich dafür, dass alles so weit kommen musste. Wenn er geahnt hätte, dass Michael urplötzlich so durchdrehte dann hätte er Simon nicht länger bei den beiden gelassen und ihn stattdessen irgendwo anders in Sicherheit gebracht. Als könnte sein Gegenüber seine Gefühle erraten, streckte er seine Hand aus und schnippte ihm gegen die Stirn. „Mach dir keine Gedanken, was du hättest tun können. Der Typ hatte einen totalen Anfall gehabt und da hätte niemand ihn aufhalten können. Wenn einer aus der Cohan-Familie erst einmal die Kontrolle verliert, ist es fast unmöglich, ihn wieder aufzuhalten, ohne ihn umzubringen. Und ich glaube, du hattest es auch nicht gerade einfach mit ihm, oder? Also zerbrich dir mal nicht den Kopf darüber, was hätte besser laufen können sondern sei froh, dass Simon nichts Schlimmeres zugestoßen ist. Stell dir mal vor, Hunter wäre nicht da gewesen. Dann hätte dein Bruder Simon höchstwahrscheinlich entführt und irgendwo versteckt und das wäre wahrscheinlich nicht gut ausgegangen. Viel eher tut es mir für dich leid, weil du deine beiden Brüder und dann auch noch deine Schwägerin und deine Nichten verloren hast. Hast du schon mit deinem Vater gesprochen?“ Leron schüttelte den Kopf. Nein, er hatte es vermieden mit seinem Vater zu reden. Er wusste nämlich genau, was dann passieren würde. Dieser würde ihm den Konzern aufs Auge drücken und versuchen, wieder über sein Leben zu bestimmen. Und genau darauf hatte er jetzt keine Lust. Nicht wo er gerade dabei war, sein eigenes Leben wieder auf die Reihe zu bekommen und an sich selbst und seiner mentalen Gesundheit zu arbeiten. Dass seine Brüder tot waren, störte ihn nicht im Geringsten. Für ihn war es eher ein Segen gewesen, weil er zwei große Probleme weniger hatte. So konnte er endlich mit seiner Vergangenheit abschließen und er brauchte auch nicht mehr in der Sorge zu leben, dass seine Brüder ihm oder Simon etwas antun konnten. „Na dann“, sagte er schließlich. „Ich werde nachher mit dem Anwalt sprechen und hören, wie der Fall mit Hunter aussieht.“ „Ich hoffe es geht alles gut“, murmelte Cypher und man sah ihm deutlich die Besorgnis an. „Ich weiß ja, wie er auf andere wirkt und dass er sehr große Probleme mit fremden Menschen hat, macht es nicht leichter für ihn. Das führt oft dazu, dass die Menschen ihn schnell verurteilen und denken, er sei genauso wie der Rest seiner Familie. Als seine Großeltern ihn in die Klinik eingewiesen haben, hat er kein einziges Wort gesprochen, bis wir einander kennen gelernt haben. Bei Gesprächen habe ich ihn immer unterstützt und auch für ihn gesprochen, weil ich immer verstanden habe, was er wollte, ohne dass er mir je etwas sagen musste. Ich habe halt die große Sorge, dass er nun, da ich nicht bei ihm bin, nicht vernünftig mit den Polizisten reden kann und die dann glauben, er hätte diesen Kerl absichtlich getötet.“ „Hat er das?“ fragte Leron vorsichtig. „Simon hat zwar beteuert, dass Hunter es getan hat, um ihn zu beschützen, aber ich kenne Simon. Als ich seinen beunruhigten Gesichtsausdruck sah, konnte ich mir denken, dass er bei Hunter etwas Ähnliches gesehen hat wie bei mir, als ich Michael angegriffen habe. Nicht, dass ich Hunter irgendetwas unterstellen will. Aber… er ist ein Cohan, genauso wie ich.“ Cypher nickte und verstand, was sein Gegenüber sagen wollte. Und er musste zugeben, dass auch er ähnliche Sorgen gehabt hat. „Hunter hat sich immer unter Kontrolle, auch wenn wir beide wissen, dass seine sadistische Veranlagung und sein Drang nach Gewalt stärker ausgeprägt sind als beispielsweise bei dir. Deshalb lässt er starke Emotionen nicht zu. Aber als er mich sah, hatte er es nicht geschafft, seine Gefühle zu unterdrücken und ich hatte versuchen wollen, ihn zu beruhigen, aber da hörten wir auch schon Simon schreien. Ehrlich gesagt hatte ich selbst Angst, dass Hunter sich nicht mehr im Griff hat. Aber letzten Endes hat er es geschafft, sich selbst wieder zu beruhigen, indem er sich selbst Schmerzen zugefügt hat, um wieder klar zu werden. Ich denke zwar, dass er eine rasende Wut auf deinen Bruder gehabt hat und ihn wirklich töten wollte, weil ich und Simon verletzt waren. Aber ich denke nicht, dass er total kopflos war und in blinde Raserei verfallen ist. Ansonsten hätte er mehr als nur einmal zugeschlagen.“ Das war ein gutes Argument. Wenn er in dieser Lage gewesen wäre, dann hätte er so oft mit dem Hammer auf Michaels Kopf eingeschlagen, bis nichts mehr davon übrig gewesen wäre. Und letzten Endes hatte das ihn wahrscheinlich vor einer Gefängnisstrafe bewahrt. Leron kannte sich nicht so gut mit den Gesetzen aus, aber selbst er wusste, dass es nicht mehr als Notwehr zählte, wenn man mehr als einmal auf jemanden einschlug. Das wäre definitiv Totschlag gewesen und hätte Hunter mit Sicherheit ins Gefängnis gebracht. Trotzdem wunderte es ihn, dass dieser immer noch bei der Polizei war. „Ich glaube auch, dass Hunter sich trotz allem noch unter Kontrolle gehabt hat. Und wegen seiner Probleme solltest du dir keine Sorgen machen. Mein Anwalt ist bei ihm und ich werde selbst noch mal nach dem Rechten sehen. Wenn ich etwas Neues weiß, wirst du der Erste sein, der es erfährt. Sieh nur zu, dass du dich erholst.“ „Danke!“ Da Cypher nach der gestrigen Operation noch viel Ruhe brauchte, verabschiedete sich Leron fürs Erste und machte sich auf dem Weg zum Polizeipräsidium in der Hoffnung, dass Hunter bald wieder gehen durfte. Was Leron zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnte war, dass in diesem Moment, wo er auf dem Weg zu Hunter war, jemand Simons Zimmer betrat, um ihm einen Besuch abzustatten. Der 21-jährige wachte schlagartig auf, als er hörte, wie sich die Tür schloss und ruckartig setzte er sich auf. Der Mann, der hereinkam, war ein untersetzter Mann von knapp 70 Jahren, dessen Haar zurückgekämmt war. Er trug einen maßgeschneiderten teuren Anzug und seine Miene war von Ernst und Unnachgiebigkeit gezeichnet. Verwirrt sah Simon ihn an und verstand nicht so wirklich, wer dieser Mann war und was dieser von ihm wollte. In Begleitung hatte er noch einen etwas jünger wirkenden Mann, ebenfalls im Anzug, der zudem Brillenträger war und kurzes blondes Haar hatte. Simon hatte diese beiden Leute noch nie gesehen und wusste nicht, was sie von ihm wollten. Polizisten waren es jedenfalls nicht. „Schönen guten Tag, sind Sie Simon Cavanaugh?“ grüßte ihn der ältere Mann, reichte ihm aber nicht die Hand, sondern gedachte ihn mit einem Blick, den Simon nur zu gut kannte. Es war ein herabwürdigender und verächtlicher Blick, den er von so vielen Menschen wegen seiner Augen bekam. Und auch sie hatten es vermieden, ihm die Hand zu geben, weil sie wohl dachten, er hätte irgendeine ansteckende Krankheit. Der alte Mann nahm auf dem Stuhl Platz, wo zuvor Leron gesessen hatte und faltete die Hände, als wolle er ein sehr wichtiges Gespräch beginnen. Der blonde Brillenträger blieb neben ihm stehen, sagte aber kein einziges Wort. Dafür aber stellte der alte Mann sich und seinen Begleiter vor. „Mein Name ist Lionel Evans und das ist mein Anwalt Mr. Fincher.“ Lionel Evans? Simon brauchte nicht lange nachzudenken, bis es bei ihm klingelte. „Sie sind der Vater von Leron?“ „Ganz recht. Und bedauerlicherweise ist auch Michael mein Sohn. Ich möchte mein Beileid aussprechen für das, was Sie durchmachen mussten.“ Soso, er wollte sein Beileid ausdrücken? Irgendwie hatte er seine Zweifel, ansonsten hätte der Kerl sicherlich keinen Anwalt mitgebracht. Also fragte er auch direkt „Warum sind Sie wirklich hier?“ Lionel räusperte sich und umfasste seinen Gehstock. „Nachdem zwei meiner Söhne ums Leben kamen, wird mein jüngster Sohn Leron zum Nachfolger und alleinigen Erben des Evans Konzerns werden. Da er erwähnte, dass er in einer speziellen Beziehung sei und Michael ein besonderes Interesse an Ihnen zeigte, gehe ich wohl recht in der Annahme, dass Sie mit meinem jüngsten Sohn in einer Beziehung sind.“ Zögernd nickte er und ihm gefiel irgendwie nicht, wie sich das Gespräch langsam aufbaute. So wie er diesen Lionel einschätzte, war dieser jedenfalls nicht hier, um ihn als Teil der Familie willkommen zu heißen. Doch er wartete ab um zu sehen, was dieser Kerl von ihm wollte. Der Geschäftsmann ließ auch nicht lange auf eine Antwort warten und erklärte „Wie Sie sicherlich verstehen werden, ist die Zukunft unseres Familienunternehmens entscheidend von Leron. Als letzter lebender Sohn ist er in der Verpflichtung, die Leitung des Konzerns zu übernehmen und diese eines Tages an seine eigenen Nachkommen weiterzuvererben. Und Sie können sich sicherlich vorstellen, dass sich dieser letzte Punkt sehr schwer realisieren lässt, wenn keine Nachkommen folgen. Nicht nur das. Mein Sohn hat ein Image zu bewahren und es kann sich als überaus problematisch erweisen, wenn die Öffentlichkeit erfährt, dass er in einer Beziehung mit einem so jungen Burschen ist wie Ihnen. Wie alt sind Sie eigentlich?“ „21 Jahre.“ „Und als was arbeiten Sie?“ „Ich arbeite für Leron.“ „Das ist keine genaue Antwort auf meine Frage.“ „Wird das etwa ein Verhör?“ fragte Simon misstrauisch und spürte, dass dieser Mann ihm noch gefährlich werden könnte. Denn er war nicht blöd und wusste genau, dass Lionel ihn gerade aushorchte und nach einem genauen Grund suchte, um sich in die Beziehung zwischen ihm und Leron einzumischen. „Dann gehe ich also davon aus, dass Sie entweder keiner Arbeit, oder aber einer unlauteren Beschäftigung nachgehen, die Sie nicht zu nennen gedenken“, schlussfolgerte Lionel trocken und nickte seinem Anwalt zu. Dieser kam zu Simon und hob einen Aktenkoffer hoch. Als er diesen öffnete, fand er haufenweise Geldbündel vor. Es musste ein Vermögen sein. „Sie werden sicherlich verstehen, dass Leron es sich in seiner jetzigen Situation nicht erlauben kann, sich irgendwelche Fehltritte zu erlauben, die einen Skandal bedeuten können. Denn das könnte nicht nur seinem Ruf, sondern auch dem der Firma schaden und sein gesamtes Leben zerstören. Wollen Sie das verantworten, Mr. Cavanaugh? Sie mögen mich für herzlos halten, aber ich will sicherstellen, dass der Ruf meines Sohnes nicht durch irgendjemanden gefährdet wird, der irgendeiner äußerst fragwürdigen Tätigkeit nachgeht und eine Gefahr für unsere Familie darstellt.“ „Ist das nicht eigentlich Lerons Entscheidung?“ fragte Simon nun und setzte sich ganz auf. „Er ist alt genug, um selbst zu entscheiden, was er will und was nicht.“ „Leron denkt nicht an die Konsequenzen seines Handelns und die Sicherheit der Firma steht auf dem Spiel. Hunderte von Menschen können ihre Arbeitsplätze verlieren, wenn der Ruf des Konzerns zerstört wird. Auf ihn lastet nun eine viel größere Verantwortung als zuvor und darum muss auch er lernen, entsprechend Opfer zu bringen. Sie sind noch zu jung, um das zu verstehen, Mr. Cavanaugh. Wie viel hat mein Sohn Ihnen an Geld geboten?“ „Wie bitte?“ fragte er fassungslos und konnte nicht glauben, was er da hörte. Er kam sich irgendwie ziemlich erbärmlich vor, insbesondere weil er diesem Lionel nicht einmal deutliche Widerworte geben konnte. Es stimmte ja, Leron hatte ihm Geld geboten und er war anschaffen gegangen. Aber wenn er das erzählte, würde das nur noch mehr Öl ins Feuer gießen und er konnte diesem Kerl nichts mehr entgegensetzen. „Wollen Sie mich etwa auszahlen, damit ich mich von Leron fernhalte?“ „Sie täten gut daran“, mahnte Lionel ihn. „100.000$ sind nicht sonderlich wenig. Sie werden diese Beziehung auf der Stelle beenden und sich von meinem Sohn fernhalten. Oder aber es könnte noch sehr unangenehm für Sie werden, Mr. Cavanaugh. Ich weiß nicht, wie Leron darauf gekommen ist, sich mit einem Jungen wie Ihnen abzugeben, aber ich lasse nicht zu, dass Sie das Lebenswerk unserer Familie zerstören. Ansonsten werde ich Sie zerstören.“ Das war doch glatte Erpressung. Wut stieg in Simon auf und am liebsten hätte er den Koffer gepackt und ihn vor Lionels Füße geworfen. Aber aufgrund seiner derzeitigen Verfassung kam das nicht infrage und so entschied er sich für einen Gegenangriff. Was hatte er denn zu verlieren? Leron hatte doch sowieso gesagt, dass er daran dachte, die Firma zu verkaufen um sich von seiner Familie endgültig loszulösen. Und er wollte sich auch nicht mehr wie jemand behandeln lassen, der käuflich war. „Lebenswerk Ihrer Familie? Wohl eher Ihr persönliches Lebenswerk. Sie interessieren sich doch nur für Ihre Geschäfte, aber Ihre eigene Familie ist Ihnen scheißegal. Sie haben zugelassen, dass Ihr ältester Sohn solche Dinge tut und haben alles vertuscht, nur um einen Skandal zu vermeiden. Und anstatt, dass Sie ihn in die Klapse gesteckt haben, haben Sie ihn immer weitermachen lassen, bis er durchgedreht ist und elf Menschen umgebracht, mich zum zweiten Mal vergewaltigt und dann noch Cypher schwer verletzt hat. Und Leron wurde als Kind von diesem Psychopathen missbraucht und leidet unter Schizophrenie. Wann waren Sie denn mal ein Vater für ihn? Da brauchen Sie sich jetzt auch nicht damit aufspielen, dass sie jetzt einer sind. Sie interessiert doch nur das Geld und mehr nicht. Ist doch kein Wunder, dass Ihr ältester Sohn so geworden ist und warum Leron schizophren wurde. Was kommt denn als nächstes? Dass seine Mutter in Wahrheit eine Verrückte war? Leron quält sich die ganze Zeit damit herum, dass er plötzlich anfing, von seiner Mutter zu halluzinieren, die ihn aufgefordert hat, seinen Bruder umzubringen. Die ganze Familie hat doch einen Knall!“ Hier auf einmal veränderte sich Lionels Gesichtsausdruck plötzlich und nahm etwas an, das man fast als Schock deuten konnte. Die Fassade des kaltherzigen Geschäftsmannes war augenblicklich zusammengestürzt, als Simon das mit den Halluzinationen erzählte und da der 21-jährige bezweifelte, dass sich die Reaktion auf Lerons Krankheit bezog, vermutete er, dass sie der Tatsache galt, dass die Halluzination Lerons tote Mutter war. Irgendwie schien er in einen wunden Punkt bei Lionel getroffen zu haben und so fragte er nach „Kann es sein, dass Lerons Mutter nicht die liebevolle Person war, als die er sie eigentlich in Erinnerung hat?“ Der alte Mann schwieg und verengte dabei die Stirn. Etwas Ernstes und Mahnendes lag in seinem Blick. „Sie sollten aufpassen, was Sie sagen. Seine Mutter war die einzige Bezugsperson für ihn. Wollen Sie ihm das wirklich nehmen und seine Illusion zerstören, indem Sie erzählen, dass seine geliebte Mutter eine sadistische Mörderin war so wie sein ältester Bruder? Wollen Sie ihm wirklich diesen Schmerz zumuten? Ich warne Sie noch mal ausdrücklich, Mr. Cavanaugh. Treiben Sie es nicht zu weit oder Sie werden in dieser Stadt keinen Fuß mehr fassen können. Ich habe meine Mittel und ich werde mir das, was von meiner Familie übrig geblieben ist, nicht durch einen dahergelaufenen Rotzbengel wie Ihnen kaputt machen lassen! Denken Sie noch mal sehr genau über mein Angebot nach. Ansonsten wird es Sie teuer zu stehen bekommen.“ Damit klappte der Anwalt den Koffer wieder zu und so verließen Lionel Evans und Mr. Fincher das Krankenzimmer. Zurück blieb allein Simon, der sich nun völlig verunsichert und hilflos vorkam und nicht wusste, was er jetzt tun sollte. Kapitel 34: Lerons Stellungnahme -------------------------------- Es vergingen knapp zehn Tage, bis Simon endlich das Krankenhaus verlassen durfte. Zwar hatte er sich schon nach knapp fünf Tagen besser gefühlt, aber der Arzt wollte ihn noch ein paar Tage dabehalten und als er sich immer noch weigerte, sprach Leron noch mal ein ernstes Wort mit ihm und so blieb ihm nichts anderes übrig, als nachzugeben. Dafür nutzte er die Zeit, um Cypher zu besuchen, der leider etwas länger im Krankenhaus bleiben musste. Inzwischen war er auf die reguläre Station verlegt worden und auch Hunter kam ihn täglich besuchen. Was diesen betraf, so hatte die Polizei endlich ein Einsehen gehabt, dass er Michael Evans in Notwehr erschlagen hatte und damit konnten alle endlich aufatmen. Es hatte sich nur deshalb so lange hingezogen, weil er kein Wort mit den Polizisten gesprochen und hartnäckig geschwiegen hatte, weil diese ihn wie einen Schwerverbrecher behandelt hatten. Und weil er komplett dichtgemacht hatte, waren die Polizisten natürlich nicht weitergekommen und da der 24-jährige eh sehr zwielichtig auf sie gewirkt hatte, waren sie auch nicht gerade zimperlich mit ihm umgegangen, vor allem aufgrund der Tatsache, weil er vor Jahren im Wahn versucht hatte, seine Großeltern umzubringen. Als der Anwalt eingetroffen war, hatte dieser sein Bestes gegeben um Hunters Unschuld zu beweisen, doch selbst mit dem Anwalt hatte er kaum ein Wort gesprochen. Erst als Leron nach dem Krankenhausbesuch vorbeigekommen war und dem schweigsamen Bildhauer zugeredet hatte, erklärte dieser sich bereit, zu kooperieren. Danach war alles zum Glück sehr schnell gegangen und er konnte das Polizeirevier als freier Mann wieder verlassen. Vor allem Cypher war ein Stein vom Herzen gefallen. Am Tag seiner Entlassung wurde Simon von Leron abgeholt und erleichtert schlossen sie sich in die Arme. Aufgrund dringender Geschäftsangelegenheiten hatte der Unternehmer in den letzten Tagen unter enormem Stress gestanden und viel um die Ohren gehabt. Immerhin ging es in der Firma derzeit drunter und drüber nachdem Michael und Jordan tot waren und da hatte er sich unmöglich vor seiner Aufgabe und vor allem seiner Verantwortung drücken können. Trotzdem hatte er es geschafft, den Jungen jeden Tag zu besuchen und zumindest ein oder zwei Stunden mit ihm zu verbringen. Obwohl er versucht hatte, sich nichts anmerken zu lassen, hatte Simon deutlich gesehen, wie groß der Stress momentan für ihn sein musste und hatte nicht selten ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt. Doch als dieser endlich das Krankenhaus verlassen durfte, war er einfach nur froh, dass er Leron wieder in die Arme schließen und mit ihm nach Hause zurückkehren konnte. Gemeinsam stiegen sie in die Limousine und fuhren zur Villa zurück. „Und? Wie geht es dir?“ fragte der Unternehmer und strich dabei ein paar von Simons dunkelbraunen Locken beiseite, um die Naht an seiner Schläfe zu sehen. Die Fäden waren inzwischen gezogen worden und die Wunde war gut verheilt. Dennoch sah „schön“ ganz anders aus. „Alles in Ordnung“, versicherte der 21-jährige ihm. „Der Arzt sagte, dass alles sehr gut verheilt sei. Er hat mir allerdings abgeraten, es in den nächsten Tagen körperlich allzu sehr zu übertreiben. Hört sich also irgendwie danach an, als würden die Sessions leider noch warten müssen.“ Leron musste schmunzeln, als er die leichte Enttäuschung bei Simon sah. Er schien den Vorfall mit Michael ganz gut verkraftet zu haben und zeigte auch kein auffälliges Verhalten. Zumindest war ihm nie etwas aufgefallen und auch der Arzt hatte nichts dergleichen angemerkt. Dennoch war ihm aufgefallen, dass der Junge irgendwie geistesabwesend und bedrückt wirkte. Als er ihn gefragt hatte, bekam er nur die Antwort, dass es wegen dem Vorfall war und er hatte sich damit auch zufrieden gegeben. Allerdings beschlich ihn auch langsam das Gefühl, als würde der Junge ihm irgendetwas verschweigen. Dabei konnte er sich noch gut an die Bedingungen erinnern, die er ihm gestellt hatte: absolute Ehrlichkeit und Offenheit. Eigentlich hätte er unter normalen Umständen eine Erziehungsstunde verhängt und ihn auf diese Weise zu der Wahrheit genötigt, aber das kam jetzt nicht infrage. Der Arzt hatte deutlich gesagt, dass er sich nicht überanstrengen durfte und die Gesundheit hatte erst mal absoluten Vorrang. Also sah sein alternativer Plan aus, dass er ihn noch mal fragen würde und wenn Simon nicht mit der Sprache rausrückte, würde er es eben anders angehen. Aber Fakt war, dass er die Wahrheit schon noch herausfinden würde. Als er spürte, wie sich Simons Kopf auf seine Schulter legte, lächelte er zufrieden und legte einen Arm um ihn. Es war ja nicht so, dass er böse auf ihn war, weil dieser ihm irgendetwas verschwieg. Er wusste, dass Simon es vielleicht aus Rücksicht auf ihn tat, aber das wollte er nicht. Der Junge sollte sich nicht mehr mit irgendwelchen Sorgen oder Problemen belasten und alles mit sich alleine ausmachen. Er wollte ihm all diese Dinge abnehmen und ihm helfen. „Bist du müde?“ „Ich habe nicht gut geschlafen“, gestand dieser. „Irgendwie macht es mir Angst, ganz alleine zu schlafen. Außerdem fühle ich mich in Krankenhäusern überhaupt nicht wohl.“ „Kann ich gut nachvollziehen. Aber jetzt ist es ja zum Glück überstanden und ich habe nichts dagegen, wenn du bei mir im Bett schläfst, wenn du dich dann sicherer fühlst.“ Mit einem leisen „Danke“ rückte Simon näher an ihn heran und wirkte wie ein hilfloses kleines Kätzchen, das nach Wärme und Geborgenheit suchte. Und dennoch hatte er gleichzeitig einen unglücklich und melancholisch anmutenden Gesichtsausdruck. Den Rest der Fahrt über schwieg er. Als sie die Villa erreicht hatten, brachte der Chauffeur Simons Tasche hinauf zum Zimmer, während die beiden in die Küche ging, wo der Butler Anthony mit dem Mittagessen beschäftigt war. Ihm war die Freude über Simons Rückkehr anzusehen und auch Simons Miene hellte sich wieder etwas auf. Beim Mittagessen langte der Junge ordentlich zu und wirkte, als hätte er seit Tagen keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen. Der Unternehmer aß eher weniger und nahm dabei auch gleich seine Medikamente ein, was er am Morgen leider vergessen hatte. Neugierig sah Simon sich die Verpackung an und las Risperdal Filmtabletten 4 mg, wobei er sich erkundigte „Sind die gegen deine Halluzinationen?“ Leron nickte und nahm die Tablette zusammen mit einem Glas Wasser ein. „Ja, sie helfen bei chronischer Schizophrenie und lindern zudem Aggressionen. Sie helfen wirklich gut.“ „Das freut mich. Und wie oft musst du die nehmen?“ „Einmal am Tag. Die Dosis ist momentan noch sehr hoch, aber Dr. Larson meinte, dass sie nach einer gewissen Zeit langsam herabgesetzt wird, wenn die Therapie anschlägt. Ehrlich gesagt bin ich selbst erstaunt wie gut sie wirken.“ „Man merkt auch, dass du ausgeglichener wirkst, trotz des Arbeitsstresses“, merkte Simon zustimmend an und fragte sogleich nach einer zweiten Portion. Trotzdem schien ihm irgendetwas schwer auf der Seele zu lasten. Deshalb entschloss er sich dazu, Anthony zu bitten, die Küche für einen Moment zu verlassen, damit sie ungestört waren. Der Brünette schien zu merken, dass jetzt gleich ein etwas ernsteres Gespräch folgen würde und skeptisch schaute er ihn an. „Also Simon“, begann der Unternehmer langsam. „Ich habe schon in den letzten Tagen gemerkt, dass du sehr bedrückt bist und mir irgendetwas verschweigst. Ich möchte, dass du offen mit mir darüber redest.“ Der 21-jährige presste die Lippen zusammen und ließ die Gabel sinken. Es war allzu offensichtlich, dass er Geheimnisse hatte und nicht darüber reden wollte. Doch das war genau das, was Leron nicht wollte und anscheinend musste er ihn nochmals daran erinnern. „Simon, wir hatten doch bezüglich unseres Vertrages gesprochen und ich hatte dir auch die Regeln genannt. Du hast keine Geheimnisse vor mir und du wirst mir alles anvertrauen, was dich betrifft. Und wenn ich dir sage, du sollst mir sagen, was dich bedrückt, dann erwarte ich auch, dass du das tust. Ich mache das nicht, weil ich dich kontrollieren oder ärgern will. Ich möchte nur nicht, dass du irgendetwas mit dir herumschleppst und versuchst, deine Probleme alleine zu lösen.“ „Mir geht es gut“, versicherte Simon, klang aber nicht sehr überzeugend. „Es ist nur halt viel passiert in der letzten Zeit.“ „Na schön“, murmelte der 31-jährige und faltete die Hände. „Wenn du es mir nicht sagen willst, wird es entsprechende Konsequenzen geben.“ „Leron…“, kam es von dem Jungen und er wirkte erst erschrocken, da er sich wohl wer weiß was vorstellte. „Da du körperlich noch nicht ganz fit bist, sind Erziehungsmaßnahmen fürs Erste nicht möglich. Stattdessen wirst du heute alleine schlafen müssen, wenn du weiterhin schweigen willst.“ „Aber…“ „Keine Widerworte“, ermahnte der Unternehmer ihn. „Ich hatte dich über die Regeln aufgeklärt und eines sollte dir klar sein: die Regeln und die Erziehungsstunden gibt es nicht, weil ich dich quälen will, sondern weil sie zu deinem Wohl dienen. Ich gebe dir die Möglichkeit, mir noch heute die Wahrheit zu sagen. Aber wenn du lieber schweigen willst, wirst du die Nacht alleine in deinem Zimmer verbringen müssen. Und Umarmungen und dergleichen wird es dann auch nicht mehr geben.“ Mit einem enttäuschten Blick sah der 21-jährige ihn an und erinnerte fast an einen bettelnden Hund. Auch Leron fiel es nicht gerade einfach, konsequent zu bleiben, denn auch er hätte die Nacht am liebsten mit ihm verbracht, aber Regeln waren nun mal Regeln und wenn er sich weichkochen ließ, würde der Junge seine Lektion nicht lernen. Er war sich sicher, dass dies das Beste für ihn war. Sein Petboy musste lernen, dass er von jetzt an die Verantwortung abgeben musste und sich auch unterordnen musste. Zwar hatte er nicht vor, sein ganzes Leben zu kontrollieren und zu bestimmen, aber er wollte, dass Simon begriff, dass er sich an die Regeln zu halten hatte. Und er selbst würde sie konsequent durchsetzen. Nach dem Essen erhob sich der Unternehmer und verließ die Küche. Simon sah ihm noch mit einem Bettelblick nach, doch diesem schenkte er bewusst keine Beachtung. Stattdessen zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück und erledigte ein paar Telefonate mit seinem Sekretär. Er wunderte sich, was den Jungen davon abhielt, ihm die Wahrheit zu erzählen. Entweder war es ihm zu peinlich oder aber… Es klingelte an der Haustür und verwundert ging Leron nachsehen, denn es kam für gewöhnlich niemand hierher um ihn zu besuchen. Außerdem wusste außer seiner Familie sowieso niemand, dass er hier wohnte, weil er nicht gestört werden wollte. Auch Simon lugte um die Ecke und wirkte sehr beunruhigt. Anthony öffnete gerade die Tür und wie sich herausstellte, war es sein Vater Lionel. Er wirkte nicht gerade danach, als hätte er gute Laune und nachdem er dem Butler seinen Mantel gereicht hatte, drängte er sich auch schon an ihnen vorbei. „Was machst du denn hier?“ fragte Leron verwundert und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Simon mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck schnell um die Ecke verschwand, so als wollte er nicht gesehen werden. Ein merkwürdiger Verdacht stieg in ihm auf, doch er kam nicht dazu, ihn weiterzuführen, denn da erwiderte Lionel auch schon „Dasselbe könnte ich eigentlich dich fragen. Du wusstest, dass heute ein Meeting war und du hältst es nicht einmal für notwendig, anwesend zu sein. Als zukünftiger Nachfolger des Konzerns hätte ich etwas mehr Engagement deinerseits erwartet. Oder ist es die Art und Weise, wie du dein eigenes Unternehmen leitest?“ „Wie ich mein Unternehmen leite, lass du mal meine Sorge sein“, erwiderte Leron etwas ungehalten, denn es passte ihn gar nicht, dass das Erste, was sein Vater von sich gab, nur die üblichen Zurechtweisungen waren, die ihm ohnehin schon gehörig auf den Senkel gingen. „Und außerdem habe ich dir gesagt gehabt, dass ich Simon vom Krankenhaus abhole, weil er heute entlassen wurde.“ „So, so. Dann ist dieser Junge also immer noch bei dir?“ stellte sein Vater in einem etwas merkwürdigen Ton fest und das gefiel ihm umso weniger. Um aber in Ruhe mit ihm zu reden, gingen sie ins Wohnzimmer und Leron wies Anthony an, ihnen einen Kaffee zu bringen. Nachdem sie auf den schwarzen Ledersofas Platz genommen und den Kaffee serviert bekommen hatten, gab Lionel etwas Zucker und Milch in seinen Kaffee und kam gleich zum Punkt: „Wie du ja weißt, hat unser Konzern Einbußen verzeichnen müssen, nachdem die Sache mit deinem ältesten Bruder an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Und die Presse sucht jetzt auch schon nach allen möglichen Schandflecken, um uns bloßzustellen. Deshalb dürfen wir uns keine Fehler erlauben, insbesondere du nicht, da du nach dem Tod deiner Brüder der einzige verbliebene Nachfolger bist. Als solcher ist es wichtig, dass du ein Image bewahrst und dir keine Blöße vor den Medien gibst.“ „Das Thema hatten wir schon“, gab Leron relativ unbeeindruckt zurück. „Entweder kommst du gleich zum Punkt oder wir beenden das Gespräch hier auf der Stelle.“ „Es geht um diesen Jungen, der bei dir wohnt“, erklärte Lionel und trank einen Schluck. „Als du sagtest, du seiest in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung, hatte ich erst meine Zweifel, weil ich dachte, du wolltest dich nur herausreden. Aber als ich dieses Kind da sah, war ich gewissermaßen schockiert. Du kannst mir nicht allen Ernstes erzählen, dass du wegen ihm deine ganze Zukunft verbauen willst. Mit einem Knaben, der noch ein halbes Kind ist und… So wie er aussieht, kannst du ihn doch unmöglich der Öffentlichkeit präsentieren. Ich bitte dich!“ Ach darum ging es also. Nun begann Leron zu verstehen, was das alles zu bedeuten hatte. Doch das sorgte nicht gerade dafür, dass seine Verärgerung dadurch abkühlte. Nein, eher das Gegenteil war der Fall. Er atmete tief durch und normalerweise hätte er seinen Vater am Kragen gepackt und ihn angeschrien oder irgendetwas durchs Zimmer geworfen. Aber glücklicherweise hatte er seine Medikamente eingenommen, wodurch sich seine Wut noch in einem recht gesunden Maße hielt. „Mit wem ich ein Verhältnis habe und mit wem nicht, das lass allein meine Sorge sein. Das sind meine privaten Angelegenheiten und sie gehen niemanden etwas an. Weder dich, noch die Öffentlichkeit oder irgendjemand anderes sonst. Und es interessiert mich einen feuchten Kehricht, wie er aussieht.“ „Dem würde ich eventuell zustimmen, wäre da nicht die Tatsache, dass wir momentan im Fokus der Öffentlichkeit stehen, weil Michael die Nerven verlor und Amok gelaufen ist. Und nun suchen sie natürlich nach weiteren Schandflecken, um uns endgültig bloßzustellen und in dieser Situation können wir uns keine Skandale leisten, Leron. Der Junge sieht aus, als wäre er nicht einmal volljährig und ich habe einige Nachforschungen angestellt.“ „Du hast was?“ platzte es aus dem 31-jährigen heraus und er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wer hat dir das Recht gegeben, herumzuschnüffeln?“ „Ich musste es ja wohl, weil du wegen diesem Bengel deine Pflichten vernachlässigst!“ antwortete Lionel und schien sich vollkommen im Recht zu sehen. „Und bei dem, was ich herausgefunden habe, war es das einzig Vernünftige gewesen. Ich hatte ja schon ein seltsames Gefühl gehabt und letzten Endes wurde mein Verdacht nur bestätigt: der Junge ist nichts anderes als ein Stricher, der für Geld seinen Körper verkauft. Komm zur Vernunft und wach endlich auf: der Junge passt nicht in diese Familie und ich glaube auch nicht wirklich, dass er nur mit dir zusammen ist, weil er dich liebt. Der ist doch nur auf das Geld unserer Familie aus!“ Leron atmete sehr tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Es brachte überhaupt nichts, die Beherrschung zu verlieren und sich noch weiter in seine Wut hineinzusteigern. „Ich wusste von Anfang an, dass Simon auf dem Straßenstrich arbeitet“, erklärte er ruhig, aber mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme. „Michael hatte ihn vor drei Jahren fast umgebracht und ich hatte ihn im Loft gefunden und reanimiert. Ich bin über seine Herkunft sehr wohl im Bilde und weiß auch, warum er das tut.“ „Und dann lässt du dich noch von ihm ausnutzen?“ fragte Lionel, der nun vollkommen aus allen Wolken gefallen war als er hörte, dass Leron schon längst darüber Bescheid wusste und den Jungen trotzdem noch bei sich im Hause tolerierte. „Von Ausnutzen kann keine Rede sein, wenn es meine Idee war, ihn zu mir zu holen, damit er vom Straßenstrich wegkommt und nicht wieder an irgendwelche gemeingefährlichen Psychopathen gerät. Aber so langsam verstehe ich auch, warum er sich so merkwürdig verhält… Simon!“ Es dauerte ein paar Momente, bis Herbeigerufener das Wohnzimmer betrat und unschlüssig stehen blieb. Sein Blick huschte kurz zu Lionel und sein Gesichtsausdruck schien noch nervöser zu werden. Leron winkte ihn zu sich und als Simon neben ihm stand, sah der Unternehmer ihm tief in diese schneeweißen und leer wirkenden Augen und sagte „Ich hatte gerade ein Gespräch mit meinem Vater. Ich möchte dir hier die letzte Chance geben, mir zu sagen, was dich beschäftigt und worüber du nicht mit mir sprechen wolltest. Du brauchst dir keine Gedanken über irgendwelche Konsequenzen zu machen.“ Simon sah wieder zu Lionel und schien immer noch zu zögern. Dann aber nickte er und erklärte „Dein Vater hat mir gesagt, ich solle mich von dir fernhalten und er bot mir 100.00$ an. Er drohte mir außerdem damit, dass er mein Leben ruinieren wird, wenn ich es wage, die Familie zu ruinieren. Wenn der Ruf des Konzerns wegen mir zerstört wird, werden hunderte von Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren und du wärst dir nicht über die Konsequenzen deines Handelns bewusst. Außerdem wollte er wissen, wie viel du mir geboten hättest, dass ich bei dir bin. Er sagte mir deutlich, dass ich gut daran täte, das Geld anzunehmen und die Beziehung zu beenden, ansonsten würde ich noch große Probleme kriegen.“ Da der Brünette sehr unsicher wirkte und dieses Erlebnis ihn wohl eingeschüchtert hatte, stand Leron auf und legte einen Arm um ihn. Dass der Junge ihm die Wahrheit in Anwesenheit seines Vaters gesagt hatte, wollte er auf jeden Fall belohnen und ihm vor allem deutlich machen, auf wessen Seite er stand. „Du wagst es allen Ernstes, Simon einzuschüchtern und ihm Geld zu bieten, damit er die Beziehung beendet? Wer gibt dir das Recht dazu, hier über mein Leben oder über seines zu entscheiden? Was ich aus meinem Leben mache, das ist allein meine Angelegenheit und ich lasse mir nicht das, was ich aus eigener Kraft aufgebaut habe, von dir kaputt machen. Simon und ich sind zusammen und mir ist es egal, womit er vorher sein Geld verdient hat. Ich werde ihn nicht fallen lassen und solltest du es wagen, unsere Beziehung zu sabotieren, dann werde ich meine Drohung wahrmachen und den Medien erzählen, dass du alle Verbrechen von Michael vertuscht hast, indem du seine Opfer mit Geld mundtot gemacht hast, oder dass du nicht einmal etwas gegen seine Anfälle unternommen hast, als er jung war. Ich denke, das wird ein wesentlich größerer Skandal werden, als wenn der jüngste Sohn eines Konzerninhabers eine Beziehung zu einem jungen Mann hat, der schlichtweg einfach Pech in der Vergangenheit hatte.“ „Der Bengel hat dir allem Anschein nach völlig das Hirn vernebelt!“ entgegnete Lionel empört. „Ich habe große Opfer für diese Familie gebracht und…“ „Welche Opfer hast du denn bitteschön jemals gebracht?“ unterbrach Leron genervt. „Alles, was dich je interessiert hat, war nur deine Firma und mehr nicht. Und nur weil Michael und Jordan tot sind, heißt das noch lange nicht, dass ich jetzt brav nach deiner Pfeife tanze und den perfekten Vorzeigesohn spiele. Ich habe mein eigenes Leben und ich bin weder auf dich, noch auf dein Erbe angewiesen. Und wage es bloß nicht, Simon noch mal in irgendeiner Art und Weise noch mal zu belästigen oder ich werde dafür sorgen, dass all deine Schmutzwäsche zutage gefördert wird. Und da ist es mir vollkommen gleich, was für Konsequenzen das für deinen Konzern haben wird. Ich bin fein raus mit meinem Unternehmen und selbst wenn alles schlecht geht, kann immer noch verkauft werden. Und jetzt verschwinde und lass dich nicht mehr in meinem Haus blicken!“ Damit rief er den Butler Anthony herbei und wies ihn an, seinen Vater zur Tür zu bringen. Damit war die Diskussion beendet und Leron setzte sich mit einem leisen Seufzer hin und zog Simon zu sich, sodass sich dieser auf seinen Schoß setzte. „So, so…“, begann der Unternehmer schließlich und wurde wieder deutlich ruhiger und entspannter. „Du hast mir also nichts sagen wollen, weil mein Vater dich bedroht hat?“ „Tut mir leid“, entschuldigte sich Simon ein wenig kleinlaut. „Ich wollte die Dinge halt nicht noch komplizierter machen. Nachdem deine Brüder tot sind, hast du jetzt so viel um die Ohren und ich wollte nicht, dass du dir auch noch wegen mir Stress machst.“ „Und genau das wollte ich nicht: dass du so schwer wiegende Probleme vor mir geheim hältst, nur weil du glaubst, ich hätte zu viel Stress. Was hättest du denn gemacht, wenn du mir nichts gesagt hättest, hm?“ Ein unsicheres Schulterzucken war die Antwort und genau das hatte Leron auch erwartet. „Siehst du? Du weißt es selber nicht. Du bist noch jung, Simon und das hier hättest du schwer alleine regeln können. Ich hoffe, du hast gelernt, dass du mir in Zukunft auch solche Dinge sagst. Selbst wenn sie meinen Vater oder irgendeinen anderen Menschen betreffen.“ Nachdem Simon ihm versichert hatte, dass er es verstanden hatte und so etwas in Zukunft nicht wieder vorkommen würde, küsste Leron ihn. „Sehr gut. Und da du wenn auch mit leichter Verspätung meiner Aufforderung nachgekommen bist, darfst du heute Abend bei mir im Bett schlafen.“ Und man sah Simon an, dass ihm ein Stein vom Herzen fiel. Dafür, dass er zu Anfang ihres Zusammenlebens versucht hatte, Distanz zu wahren und Leron nur als Freier anzusehen und jegliche Sympathien zu vermeiden, war er erstaunlich anhänglich geworden. Fast so wie ein Haustier, dessen bedingungsloses Vertrauen man gewonnen hatte. Die Geduld und die Arbeit hatten sich definitiv ausgezahlt. Er hatte Simons Loyalität, seine Liebe und sein Vertrauen. Die gröbste Arbeit war getan, jetzt fehlte nur noch der letzte Feinschliff, um aus ihm den Petboy zu machen, den er sich wünschte. Das sollte eigentlich kein Problem darstellen, denn sie waren beide auf einem sehr guten Weg und jetzt, da er auch seinem Vater ein paar deutliche Worte gesagt hatte, sollte es auch keine weiteren Störenfriede mehr in ihrer Beziehung geben. Kapitel 35: Der neue Petboy-Vertrag ----------------------------------- Obwohl Simon wieder zuhause war, verdonnerte Leron ihn trotzdem zu einer weiteren viertägigen Schonfrist um auch ganz sicherzugehen, dass er wirklich fit war, wenn die Trainingsstunden weitergingen. Doch das bedeutete nicht, dass sie die Zeit nicht trotzdem sinnvoll nutzten. Sie beschäftigten sich vor allem damit, wie sie den neuen Vertrag zusammenstellen sollten. Dass der alte geändert werden sollte, stand für sie beide fest, doch es galt gut zu überlegen, welche Inhalte im Vertrag aufgelistet werden sollten. Doch es lief sogar noch besser als gedacht, denn da sie einander schon sehr gut kannten und einzuschätzen wussten, hatte jeder von ihnen konkrete Vorstellungen. Und wenn sie mal nicht einer Meinung waren (was aber selten der Fall war), dann schlossen sie einfach einen Kompromiss. Das war nicht sonderlich schwierig und da Simon aufgrund der bisherigen Trainingsstunden einiges an Erfahrung sammeln konnte, hatte er auch ungefähre Vorstellungen davon was er wollte und was nicht. Schließlich saßen sie gemeinsam im Wohnzimmer und klärten die einzelnen Vertragspunkte ab, um sie schriftlich festzuhalten. Im Grunde bestand der Vertrag hauptsächlich aus den Pflichten der jeweiligen Vertragspartner, die vereinbarten Codewörter und festgelegte Tabus. Simons Pflichten bestanden darin, dass er Leron gegenüber bedingungslos treu, offen und ehrlich, loyal, devot und gehorsam war. Sein Halsband durfte er nur mit Erlaubnis oder bei festgelegten Ausnahmen ablegen. Allen Anweisungen war ohne Widerworte Folge zu leisten und während der Sessions durfte er nur sprechen, um notwendige Fragen zu stellen, wenn er kurz vor einem Orgasmus stand oder wenn er dazu aufgefordert wurde. Strafen hatte er genauso dankbar anzunehmen wie Belohnungen, da sie vor allem seine Erziehung förderten und seinem Wohl dienten. Es war ihm allerdings nicht gestattet, den aktiven Part zu übernehmen und auf eigene Faust die Initiative zu ergreifen. Während der Sessions hatte er sich unterwürfig und gehorsam zu verhalten und durfte nichts ohne Lerons ausdrückliche Erlaubnis tun. Hier aber kam Simon direkt mit der ersten Frage, die ihn unter den Nägeln brannte: „Wenn nichts ohne deine Erlaubnis tun darf, gibt es da keine Ausnahmen?“ „Zum Beispiel?“ wollte der Unternehmer natürlich wissen. „Wenn ich dir beispielsweise einen blasen will?“ Ein amüsiertes Schnauben entwich seinem Gegenüber, gefolgt von einem zärtlichen Kuss. „Wenn du mir auf diese Weise eine Freude bereiten willst, werde ich dich ganz sicher nicht aufhalten. Immerhin beweist das ja auch deine Ergebenheit mir gegenüber und zeigt auch, dass das Training Fortschritte macht.“ Also wurde diese Ausnahmeklausel noch eingefügt. Zusätzlich wurde auch festgelegt, dass Leron darüber bestimmen konnte, wann er seine freie Zeit hatte und welche Kleidung er trug. Eigentlich hätte sich Simon so etwas nicht wirklich gefallen lassen, aber andererseits konnte er sich auch nicht darüber beklagen, dass er übermäßig von ihm in Anspruch genommen oder in irgendeiner Art und Weise eingeengt wurde. Also akzeptierte er auch diese Punkte. Schließlich kamen sie zu anderen intimen Details, nämlich dass es ihm nicht erlaubt war, ohne Lerons ausdrückliche Erlaubnis zum Orgasmus zu kommen, geschweige denn selbst Hand anzulegen. Und im Zweifelsfall hatte der Unternehmer sogar das Recht darauf, ihm einen Cock Cage anzulegen. Hier stutzte der 21-jährige, denn er hatte von so etwas noch nie gehört und musste nachhaken. Zur besseren Veranschaulichung gab Leron den Begriff in die Suchmaschine ein und zeigte ihm einige Bilder, wobei er erklärte „Da du mein Petboy bist, habe ich alleine die Kontrolle darüber, wann du zum Höhepunkt kommst und wann nicht. Und damit hier kann ich sicherstellen, dass du nicht auf dumme Gedanken kommst. Erinnerst du dich noch, was du mir bei unserem Rollenspiel gesagt hast?“ Natürlich konnte Simon das. Er hatte es noch so deutlich in Erinnerung, als wäre es erst gestern gewesen. Und brav antwortete er „Klar. Mein Arsch und mein Schwanz gehören einzig und allein dir.“ „Ganz genau. Und damit du das nicht vergisst, wirst du das tragen, wenn ich nicht im Haus bin.“ Hieraufhin musste er sich vorstellen, dass er tatsächlich den ganzen Tag mit so einem Ding herumlaufen musste. Dass sein Vertragspartner schon solche Forderungen stellte, war erst ein wenig gewöhnungsbedürftig. Doch dann stellte er sich vor, was es damit auf sich hatte. Es zeigte deutlich, dass nur Leron ihn dort berühren durfte und niemand anderes sonst, nicht einmal er selbst. Damit erhob er Anspruch auf seinen Körper. Und mit diesem Gedanken konnte er diese Tatsache wesentlich besser akzeptieren, wobei er aber zu bedenken gab „Und es ist auch nicht gefährlich, so etwas über eine längere Zeit zu tragen?“ „Höchstens, wenn du eine Dauererektion hättest“, erklärte der Unternehmer gelassen. „Nein, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich werde schon einen passenden für dich aussuchen.“ Nun, da sah Simon keinen weiteren Grund mehr zur Skepsis und so kamen sie zu seinen letzten Verpflichtungen. Diese besagten, dass er sein Bestes gab, um möglichst große Trainingserfolge zu erzielen und dafür zu sorgen, dass er zu einem guten Petboy wurde. Damit waren die wichtigsten Dinge abgeklärt und da die Codewörter dieselben blieben, gingen sie nun zu Lerons Verpflichtungen über. Diese waren vergleichsweise weit weniger umfangreich, dennoch waren sie äußerst wichtige Regeln. Zu diesen gehörten die Gewährleistung der geistigen und körperlichen Gesundheit seines Petboys und dessen finanzielle Sicherheit, solange dieser kein eigenes Geld verdiente. Des Weiteren verpflichtete sich Leron, sich an die vereinbarten Codewörter zu halten, niemals eines der festgelegten Tabus zu verletzen und stets gemäß der drei Grundregeln zu handeln: sane, safe, consensual. Strafen oder - wie er es nannte - Erziehungsstunden würde es niemals ohne Grund geben und die Konsequenzen würden fair sein und nie im Affekt ausgeführt werden. Da er während der Sessions die volle Verantwortung hatte, lag es auch an ihm, sich dementsprechend verantwortungsvoll zu verhalten und die Kontrolle zu bewahren. Sowohl über die Situation als auch über Simon und sich selbst. Und es war seine Pflicht, Simon zu einem guten Petboy zu erziehen und ihn für gutes Verhalten zu belohnen und für sein Fehlverhalten dementsprechend zu erziehen. Zu guter Letzt wurden die Tabus aufgelistet, die unter keinen Umständen verletzt werden durften, solange Simon es nicht wollte. Hier ließ Leron ihm freie Hand in dem festen Bewusstsein, dass dieser seine Tabus nicht leichtsinnig wählen würde. Und was er auswählte, war auch tatsächlich nachvollziehbar und im Rahmen des akzeptierbaren: Atemkontrolle, Zufügen von Wunden, schwere körperliche Züchtigung oder Zufügen starker Schmerzen mittels Peitschen oder Gerten und ähnlichen Werkzeugen, Natursektspiele und ähnliches und zu guter Letzt Schläge mit der Faust. Da er keine so stark ausgeprägte masochistische Ader besaß, konnte er kein allzu großes Vergnügen aus Schmerzen ziehen. Darum würde es auch hauptsächlich beim Hinternversohlen bleiben, wenn er zu unartig wurde. Und damit konnten sie beide gut leben, denn auch Leron zog sein sadistisches Vergnügen eher daraus, seinen Petboy zu beherrschen und nicht, indem er ihm Schmerzen zufügte. Und obwohl sie bei den Tabus beide einer Meinung waren, dass das nie und nimmer infrage käme, bestand der Unternehmer trotzdem darauf, es schriftlich festzuhalten, damit alles seine Richtigkeit hatte. Nachdem er noch mal alle Punkte laut vorgelesen hatte und es seitens Simon keine Einwände gab, wurde der Vertrag doppelt ausgedruckt, von beiden unterschrieben und jeder bekam eine Ausfertigung. Zwar war es immer noch ein Vertrag, der zwischen ihnen stand, doch es war vor allem für Simon trotzdem ein gewaltiger Unterschied. Denn nun war es kein Arbeitsvertrag mehr, der ihn an Leron band, sondern ein rein privater Vertrag, der auch wirklich nur als Absicherung beider Seiten galt und vor allem für seine persönliche Sicherheit sorgte. Und nachdem sie diese Formalität erledigt hatten, holte Leron den alten Vertrag und jagte ihn durch den Reißwolf in seinem Arbeitszimmer. Damit war das reine Arbeitsverhältnis zwischen ihnen offiziell aufgehoben. Zufrieden lächelnd brachte Simon seinen Vertrag aufs Zimmer und legte ihn in die Schublade seines Schreibtisches. Als er gerade wieder zurückgehen wollte, stand Leron auch schon im Türrahmen und sein Blick sagte deutlich, dass er etwas geplant hatte. In seiner Hand hielt er eine Tasche, in der er offenbar ein paar Utensilien dabei hatte. „Willst du wissen, wie es sich anfühlt, ein richtiger Petboy zu sein?“ Was für eine dumme Frage. Na klar wollte Simon das. Jetzt, wo seine Stimmung momentan schon so gut war aufgrund des neuen Vertrages, wünschte er sich ja sowieso, dass sie endlich mit dem Training fortsetzen würden. Immerhin war jetzt auch die Schonfrist abgelaufen und da gab es eigentlich keinen Grund mehr, sich zurückzuhalten. Also bejahte er die Frage sofort und wurde dann auch schon angewiesen, sich auszuziehen. Gehorsam kam er der Aufforderung nach und stand kurz darauf nackt vor Leron, mit nichts weiterem als seinem Halsband am Körper. Der Unternehmer reichte ihm nun Lederbänder, jeweils für die Hand- und Fußgelenke. Ihm fiel auf, dass daran Ringe befestigt waren. Vielleicht für Fesselspiele. Dabei wurde ihm erklärt „Die wirst du jetzt auch jeden Tag tragen. Die einzigen Ausnahmen sind Schlafen, Baden, Duschen, Sauna und Schwimmen.“ Simon nickte und begann nun, die Lederbänder anzulegen und musste als nächstes so etwas wie Knieschoner anziehen. Sie sahen nicht gerade ästhetisch aus, aber Leron bestand darauf, weil es damit wesentlich schonender für seine Kniegelenke sei, wenn er auf allen Vieren laufen musste. Als auch das erledigt war, begann Leron ihm so etwas wie Lederfäustlinge anzuziehen. Allerdings hatten diese superengen Fäustlinge keine Daumen, sodass der 21-jährige seine Hände wohl eher schlecht nutzen konnte. Als nächstes holte Leron etwas hervor, das Simon noch nie gesehen hatte und zuerst mit großer Skepsis betrachtete, weil es ihm nicht ganz geheuer aussah. Es bestand aus Lederriemen, an denen auch so etwas wie Katzenohren befestigt waren. Es sah aus, als würde es um seinen Kopf befestigt werden, doch was ihn abschreckte, war ein etwas breiterer Lederriemen mit Nieten und einem kreisrunden Loch, welches sich mit einer Art Stöpsel verschließen ließ. Dieser sah aus wie jene, die man für Abflüsse verwendete. Mit etwas weniger Begeisterung betrachtete er es und wagte dann die Frage „Was genau ist das?“ „Das ist ein verschließbarer Mundspreizer mit Harness. Anders als bei einem Knebel, der dir den Mund verschließt, hält er diesen geöffnet. Mit diesem Stöpsel hier kann ich dann die Öffnung geschlossen lassen oder öffnen, wenn mir zum Beispiel nach einem Blowjob zumute ist. Außerdem dachte ich mir, dass es auch für den Fall praktisch wäre, wenn du aus irgendeinem Grund Atemprobleme bekommen solltest. Damit geht es wesentlich besser als wenn ich dir einen Knebel verpasse, den ich dir dann komplett abnehmen müsste.“ Nun, diese Erklärung klang schlüssig und da Simon aufgrund dieser merkwürdigen Lederhandschuhe eh nichts machen konnte, ließ er sich brav den Harness anlegen. Mit dem Mundspreizer klappte es auch ohne Schwierigkeiten und Leron ging auch behutsam vor, da dieser wusste, dass er nicht gerade geübt mit solchen Dingen war. Nun wurde alles noch verschlossen und so war auch das Sprechen nicht mehr möglich. Eigentlich er sich, dass damit jetzt alles erledigt wäre, doch Leron war noch nicht fertig. Er holte ein rotes Band hervor, an welchem ein kleines Glöckchen befestigt war und schnürte es um Simons halb erigierten Penis. Zu guter Letzt musste der Petboy auf alle Viere und spürte, wie Leron über sein Gesäß streichelte und etwas Gleitgel auf seinen Schließmuskelring strich. Kurz darauf spürte der 21-jährige auch, wie etwas Hartes und Lebloses langsam in seine Öffnung geschoben wurde und tief eindrang. Ein leises Keuchen entwich ihm, als Leron auch schon fertig war und ihm daraufhin eine Leine am Halsband befestigte. Er schaute zu ihm auf und sah sein zufriedenes Lächeln. „Du siehst wirklich niedlich aus. Wie ein richtiges Haustier. Na komm, du darfst dich jetzt selber im Spiegel bewundern gehen.“ Damit zog der Unternehmer leicht an der Leine und Simon folgte ihm auf allen Vieren. Dabei spürte er etwas Flauschiges an seinem Gesäß und zwischen seinen Beinen, was leicht hin und her schwang. Was war das bloß? Als sie den Spiegel erreichten, sah sich Simon in ganzer Montur und war auf der einen Seite erst einmal sprachlos (obwohl er es mit dem Mundspreizer ohnehin schon war) und zuerst abgeschreckt von sich selbst, aber nach näherem Hinschauen auch irgendwie fasziniert. Und nun konnte er endlich sehen, was das merkwürdige flauschige Ding war, welches er gespürt hatte: es war eine Art Katzenschwanz, der an dem Analplug befestigt war. Er sah jetzt wirklich wie eine Art menschliches Haustier aus. Und so gefiel er Leron also? Der Unternehmer beugte sich zu ihm herunter und begann nun zärtlich seinen Hals zu kraulen. Instinktiv schmiegte sich Simon an sie und genoss diese kleine Streicheleinheit. „Und? Gefällst du dir als süßes Kätzchen?“ Da er keine andere Möglichkeit zum Antworten hatte, nickte Simon und wurde fast schon euphorisch als er sah, wie zufrieden der 31-jährige wirkte. Zugegeben, er selbst wäre niemals auf die Idee gekommen, so etwas zu tragen, aber wenn Leron glücklich darüber war, dann war er es auch. Nun zog der Unternehmer wieder sanft an der Leine und wandte sich in Richtung Tür. „Na dann sei ein braves Haustier und komm mit. Es wird Zeit, dass wir mit deiner Dressur fortfahren.“ So gut es ihm möglich war, folgte sein Petboy ihm auf allen Vieren, wobei das Glöckchen zwischendurch leise klimperte. Zuerst ging er davon aus, dass es ins Schlafzimmer ging, doch stattdessen ging es die Treppen hinunter. Da es sich als höchst schwierig gestaltete, auf allen Vieren die Treppen hinunterzugehen, wollte Simon schon aufstehen, doch da kam Leron ihn zuvor und trug ihn stattdessen die Treppe hinunter, wobei er anmerkte „Keine Sorge, ich helfe dir.“ Eigentlich wäre es praktischer, wenn ich selber die Stufen runtergehe, dachte sich der Brünette, doch in seiner jetzigen Situation kam Reden ohnehin nicht infrage und wahrscheinlich widersprach es Lerons Vorstellung von einem menschlichen Haustier, wenn er auf zwei Beinen lief. Also musste er wohl damit leben, dass er in solchen Situationen die Stufen hinuntergetragen wurde. Da sie kurz darauf noch mal ein paar Treppen hinunter mussten, trug Leron ihn den Weg bis sie den Keller erreichten und vor der Tür standen, die in Lerons „Pornokeller“ führte, so wie Simon es nannte. Ach hier will er also die Session abhalten, dachte er sich und folgte Leron brav. Der Weg führte durch den langen Flur an den Türen vorbei, die Simon schon kannte und sie betraten nun den allerletzten Raum am Ende des Ganges. Leron öffnete die Tür und als sein Begleiter nun auch den Raum betrat, erwartete ihn ein fensterloses Zimmer, deren Wände mit dunkelrotem Stoff verdeckt waren. An der Decke gab es einige Haken und etwas weiter in der Ecke hing etwas herab, das auf den Ahnungslosen im ersten Moment wie eine Art Schaukel aussah, aber wahrscheinlich war sie eher zu etwas anderem gedacht. Es gab ein Bett mit einem Metallgestell, welches breit genug für zwei Personen war. Neben dem Bett stand ein großer Spiegel und auch über dem Bett hing einer. Wozu die beiden da waren, konnte er sich aber auch so denken. Ansonsten gab es noch Regale in welchen mehrere Sexspielzeuge ordentlich nebeneinander aufgereiht waren wie eine Art seltsame Dekoration. Und davon gab es einige in verschiedenen Formen, Farben und Größen. „Das ist das Spielzimmer“, wurde ihm erklärt. „Wenn du dich brav verhältst, dann gehen wir hierhin. Und wenn du unartig warst, habe ich auch einen Trainingsraum. In anderen Kreisen werden solche Räume für gewöhnlich Strafzimmer genannt, aber du weißt ja, dass ich dich niemals bestrafen will. Den Trainingsraum wirst du aber noch sehen, wenn der passende Augenblick dafür da ist. Aber die Frage stellt sich mir, ob du auch wirklich ein braves und gehorsames Haustier bist und du es verdient hast, dass ich dich ins Spielzimmer gebracht habe. Hundertprozentig überzeugt bin ich noch nicht.“ Simon schaute zu ihm auf und konnte sich ungefähr denken, was sein Gegenüber damit meinte. Nur blöderweise hatte er in seiner jetzigen Situation kaum Möglichkeiten. Seine Hände konnte er ja gerade schlecht benutzen und so wusste er nicht genau, wie er das Ganze anstellen sollte. Er warf Leron einen fragenden Blick zu, doch dieser schien bereits genaue Vorstellungen zu haben, wie das Ganze ablaufen sollte. „Willst du auch alles tun, um mir zu gefallen und mir deine Treue und Unterwürfigkeit zu beweisen?“ Ein deutliches Nicken kam zur Antwort und daraufhin entfernte dieser den Stöpsel von Simons Mundspreizer und öffnete dann seine Hose. „Also gut. Dann beweise mir, dass du auch ein gehorsames und loyales Haustier bist.“ Das ließ sich Simon nicht lange sagen. Gehorsam richtete er sich auf und spürte, wie sich eine Hand auf seinen Hinterkopf legte und ihn langsam dirigierte. Er beugte sich noch etwas vor und schloss die Augen, als er Lerons Penis in seinen Mund gleiten ließ. Durch den Mundspreizer klappte es erstaunlich einfach und mit leichtem Nachdruck wurde sein Kopf etwas weiter nach vorne gedrückt, bis sich der Unternehmer vollständig in seinen Mund versenkt hatte. Glücklicherweise hatte er schon genug Übung beim Deep Throat, dass er keine Probleme mit eventuellen Würgereizen bekam. Berauscht von diesem Moment begann er sein „Herrchen“ mit seiner Zunge zu verwöhnen, während dieser immer wieder tief in seinen Mundraum vordrang und ihn am Hinterkopf festhielt, sodass sein Petboy gar nicht die Chance hatte, einen Rückzieher zu machen. Doch das war ohnehin nicht nötig. Simon genoss es, Leron auf diese Art und Weise zu verwöhnen, wenn dieser dadurch zufrieden mit ihm war. „Du machst das sehr gut.“ Angespornt durch dieses Lob legte Simon einen Zahn zu und spürte, wie Lerons Glied in seinem Mund weiter anschwoll und leicht zuckte. Ein lustvolles und genüssliches Keuchen verriet ihm, dass er gleich soweit war und spürte, wie seine eigene Erregung stärker wurde. Dann schließlich zog Leron plötzlich seinen Kopf zurück, als er zu seinem Orgasmus kam. Ein heißerer, bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus und er musste die Augen schließen, als Lerons Sperma über sein Gesicht spritzte. Keuchend stützte Simon seine Hände auf dem Boden ab und er bekam einen kurzen Augenblick, um Luft zu holen, als auch schon der Verschluss wieder an seinem Platz angebracht wurde und er somit genötigt war, Lerons Erguss hinunterzuschlucken. „Simon, sieh mich an.“ Nach einem etwas benommenen Blinzeln hob der Angesprochene den Blick und schaute auf. Er sah, dass der Unternehmer eine Fotokamera dabei hatte und ein leises Klicken verriet ihm, dass er soeben auf einem Foto verewigt worden war. Auf dem fragenden Blick des 21-jährigen erklärte er „Ich denke, dass wir solche Erinnerungen mit ein paar Bildern festhalten sollten, findest du nicht auch? Vor allem als Haustier gefällst du mir ganz besonders und das ist doch ein Erinnerungsstück wert. So und jetzt kommen wir zur nächsten Lektion. Wenn du mich entsprechend in Stimmung gebracht hast, wirst mir deinen süßen kleinen Arsch entgegenstrecken und dich mir anbieten. Das machst du auch in Zukunft. Hast du verstanden?“ Simon nickte und befolgte direkt die Anweisung. Er drehte sich um und senkte seinen Oberkörper ein wenig, während er versuchte, seine Hüften mehr emporzustrecken, um Leron eine gute Sicht zu bieten. Ein klein wenig wurde seine Haltung noch korrigiert, damit der Rücken auch gerade blieb und zusätzlich folgte das Kommando „Die Beine weiter auseinander.“ Als Simon die richtige Haltung angenommen hatte, machte der Unternehmer noch ein paar Fotos, um diesen Augenblick festzuhalten. „Sehr schön. Genauso will ich es haben. Mit den Ohren, dem Katzenschwanz und dem roten Schleifchen siehst du wirklich aus wie ein süßes Kätzchen.“ Auf der einen Seite fühlte sich der Angesprochene durch dieses Lob natürlich geschmeichelt, andererseits kam ihm kurzzeitig wieder derselbe Gedanke, den er ganz zu Anfang hatte, als er von Lerons Vorlieben erfuhr: Wenn der darauf steht, ein menschliches Haustier zu halten, ist das irgendwie nicht schon grenzwertig an Sodomie? Doch den Gedanken verwarf er auch schnell wieder, denn das passte nicht zu dem Unternehmer. Nein, dieser hatte so einen Fetisch eher deshalb, weil er jemanden dominieren und erziehen, aber auch mit Zuneigung überhäufen konnte. Leron stand nicht wirklich darauf, einen Sexsklaven zu haben, den er erniedrigen und mit Schmerzen bestrafen konnte. Das löste nur negative Erinnerungen aus. Und zu Haustieren konnte er einen besseren Bezug aufbauen, als zu einem Sexsklaven. Es war seine ganz eigene Art, seine Zuneigung und seine Liebe zum Ausdruck zu bringen. Das wusste Simon mit Gewissheit. Und wenn er mal ganz ehrlich war, genoss er es auch irgendwie, in dieser Rolle zu sein und von Leron Lob und Zuspruch zu bekommen, wenn er seine Sache gut machte. Zärtlich streichelte eine Hand über seinen Po und Simon versuchte, sich ihm noch ein wenig mehr entgegenzustrecken. Er war ohnehin schon ziemlich erregt und erste Lusttropfen sammelten sich an der Spitze. Ein leichter Klaps auf sein Gesäß folgte, als Leron dies bemerkte. „Was für ein unanständiges kleines Haustier du bist. Wie es aussieht, begnügst du dich nicht mit ein paar Streicheleinheiten, nicht wahr?“ Da es wie ein leichter Vorwurf klang und nicht wie eine einfache Feststellung, senkte er reuevoll den Blick. War das jetzt eigentlich ein Strich auf der Liste? Aber er hatte doch nichts Falsches getan und gegen keine Regel verstoßen. Wie sollte er denn jetzt reagieren? Ein leises Seufzen seitens des Unternehmers folgte, woraufhin dessen Hand über seinen Rücken streichelte, als wolle er ein Tier besänftigen. „Tja, als dein Herrchen ist es meine höchste Priorität, für dein Wohl zu sorgen. Die Frage stellt sich mir nur, womit du dich begnügen wirst… Mit mir oder doch lieber mit einem Spielzeug?“ Da Simon nicht in der Lage war zu reden, musste er sich anders mitteilen. Um irgendwie eine Antwort auf die Frage geben zu können, drehte er seinen Kopf zu ihm und schaute ihn mit einem bettelnden Blick an, wobei er seinen Körper Lerons Hand entgegenstreckte. Er hoffte, dass vielleicht Körpersprache ausreichte um zu zeigen, was er wirklich wollte. Und tatsächlich schlussfolgerte der Unternehmer „Wie es aussieht, muss ich mich wohl ganz persönlich um dein Problem kümmern, um dir dadurch Linderung zu schaffen. Ich will ja nicht, dass sich mein süßer kleiner Petboy quälen muss. Na komm!“ Damit zog der Unternehmer wieder an der Leine und Simon drehte sich zu ihm um und erwartete zuerst, dass Leron nun entschied, was jetzt geschehen würde. Doch stattdessen sagte dieser „Du darfst dir aussuchen, was du lieber haben willst: das Bett mit den Spiegeln oder den Sling da drüben.“ Kapitel 36: Spiegelbilder ------------------------- Simon war überrascht, dass Leron ihm die Wahl ließ, denn eigentlich ging er davon aus, dass für ihn entschieden werden würde. Doch stattdessen wurde ihm die Entscheidung gelassen, was er wollte. Doch was sollte er nehmen? Das Bett hatte zwar etwas Verlockendes, aber andererseits musste er sich vorstellen, dass er sich selbst beim Sex mit Leron sehen würde und das war schon seltsam genug. Und was war mit diesem Sling? Er hatte so etwas noch nie gesehen und wusste dementsprechend nicht, wie es denn genau zum Einsatz kam. Dann blieb sein Blick auf dem Bett haften. Ehrlich gesagt war ihm im Moment das Bett lieber. Es sah wesentlich bequemer aus und da wusste er zumindest ungefähr, was ihn erwarten würde. Als Leron bemerkte, welchem der beiden Objekte sein Interesse mehr galt, tätschelte er ihm den Kopf und stellte fest „So, du willst also das Bett? Na gut, dann sei ein braves Haustier und komm mit.“ Ein leichtes Ziehen an der Leine folgte und gehorsam folgte Simon ihm. Er kletterte aufs Bett und sein Blick wanderte zu dem Spiegel, der direkt neben dem Bett stand. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich selbst im Spiegel zu sehen und auf der einen Seite hatte dieser Anblick etwas Faszinierendes, aber auf der anderen Seite auch etwas Seltsames an sich. „Du scheinst ja ziemlich auf dein eigenes Spiegelbild zu stehen“, stellte der Unternehmer fest und begann nun die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen, wobei er seinen Petboy belustigt beobachtete. „Gefällst du dir so sehr in deiner Rolle, oder ist es nur die Neugier?“ Als er sein Hemd abgelegt hatte, kam er nun zu ihm, drückte ihn rücklings aufs Bett und fixierte seine Handgelenke an die beiden Bettpfosten, an denen so etwas wie Karabiner angebracht waren. Damit ließen sich die Ringe an den Armbändern sehr gut fixieren und ein Entkommen war da nicht möglich. In dieser Position war Simon gezwungen, nach oben zu sehen und schaute damit direkt in die Augen seines Spiegelbildes. Als er diese leblos wirkenden schneeweißen Augen sah, wandte er den Blick ab und Leron entging diese Reaktion durchaus nicht. Leichte Besorgnis zeichnete sich auf seinen Zügen ab. „Warum wendest du den Blick ab? Etwa wegen deiner Augen?“ Ein Nicken kam zur Antwort und kurz darauf strich eine Hand zärtlich über seinen Hals und seine Brust. „Warum verdirbst du dir selbst die Stimmung nur wegen deiner Augen? Erinnere dich doch daran, dass wir beim Augenarzt waren und du bald behandelt werden kannst. Und mich haben deine Augen nie wirklich gestört, also sollte es keinen Grund geben, dich von deinem Spiegelbild abzuwenden.“ Ja, wahrscheinlich hatte er nicht ganz Unrecht. Trotzdem mochte er es nicht, seine eigenen Augen zu sehen. Vielleicht war es besser, wenn er sich stattdessen auf etwas anderes konzentrierte. Das sollte sich als einfacher herausstellen als erwartet, denn Leron begann nun seine Beine anzuwinkeln und holte eine Art Ledergurt hervor und lenkte damit seine gesamte Aufmerksamkeit auf ihn. Das eine Ende des Gurtes wurde an einem Ring befestigt, der an dem Knieschoner eingearbeitet war, dann wurde der Gurt hinter seinen Nacken zu seinem anderen Bein geführt, wo das andere Ende des Gurtes, an dem ebenfalls ein Verschlusshaken war und hakte diesen an den Ring des anderen Knieschoners ein. Auf diese Weise blieben Simons Beine angewinkelt und er war Leron völlig ausgeliefert. Als er aufsah, erkannte er ein zufriedenes und leicht sadistisch angehauchtes Lächeln. Der 31-jährige konnte es sich nicht verkneifen, auch diesen Anblick auf einem Foto zu verewigen, ehe er meinte „So gerne ich dich auch mit diesem niedlichen Katzenschwanz sehe, muss ich ihn dir doch leider abnehmen.“ Zuerst wollte Simon den Kopf heben um zu sehen, was sein Gegenüber als nächstes vorhatte, stellte aber schnell fest, dass die einzige Möglichkeit, auch wirklich alles zu sehen, der Spiegel an der Decke war. Langsam und vorsichtig entfernte Leron den Analplug mit dem Schweif und legte ihn beiseite. Dafür holte er nun eine Tube hervor und gab etwas Gel auf seine Hand. Zuerst dachte der Gefesselte, es wäre noch mal etwas Gleitgel, um ihn vorzubereiten, doch stattdessen verteilte sein „Herrchen“ es auf seinem Penis, an welchem immer noch die rote Schleife mit dem Glöckchen befestigt war, massierte ein wenig spielerisch seine Hoden, bevor er noch etwas Gel auf seine Hand gab und zwei Finger durch seinen Schließmuskel drückte und tief eindrang. Simon keuchte laut auf und hatte irgendwie das Gefühl, als würde das Gel ziemlich schnell warm werden. Was zum Teufel war das bloß für ein Zeug? „So, damit wirst du dich gleich noch viel besser fühlen“ hörte er ihn murmeln. „Es wird sich gleich wesentlich wärmer anfühlen, weil es die Durchblutung fördert. Also kein Grund, sich zu erschrecken.“ Na der hat ja Ideen, schoss es dem Gefesselten durch den Kopf. Woher kennt er denn bitteschön all diese Dinge? Ist er vielleicht mal hobbymäßig in der BDSM-Szene gewesen oder wie? Er schien zumindest ziemlich geübt in all diesen Dingen zu sein und er hatte selbst gesagt gehabt, dass er Erfahrung damit hatte. Nun, diese Fragen konnte er ihm ja stellen, wenn er wieder in der Lage war, überhaupt ein Wort zu sagen. „Aber ich denke, dass ich noch ein kleines bisschen mit meinem Haustier spielen werde, bevor ich anfange. Es wäre doch langweilig, wenn alles zu schnell geht und wir es noch nicht einmal richtig ausgekostet haben.“ Spielen? Irgendwie hatte er eine ungute Vorstellung, dass sein Herrchen mal wieder ganz besondere Hintergedanken hatte. Um zu sehen, was ihm bevorstand, hielt er den Blick auf den Spiegel an der Decke gerichtet. Und was er sah, bestätigte seine Annahme: Leron hatte etwas bei sich, das verdächtig nach einer Analkette aussah. „Da dies eine Belohnung für dein gutes Benehmen ist, darfst du ruhig kommen, wenn du willst“, erklärte Leron ihm. „Aber wenn du dich trotzdem zurückhalten willst, dann fühlt es sich nachher umso besser an und du kannst dieses Spiel hier auch wesentlich länger genießen.“ Simon nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Er spürte, wie die es langsam immer heißer an den Stellen wurde, auf denen Leron dieses merkwürdige Gel verteilt hatte. Ein merkwürdiges Kribbeln ging durch seinen Penis und seine Hoden und seine Erregung wurde umso stärker. Es wurde immer wärmer, bis es zu einem leichten, angenehmen Brennen wurde. Selbst in seinem After breitete sich diese Hitze immer weiter aus und wurde langsam stärker. Und schlimmer noch: gleichermaßen wuchs auch das Verlangen danach, dort berührt und verwöhnt zu werden. Als wären seine Gedanken gelesen worden, führte Leron nun langsam die Analkette ein. Simon sah jedes einzelne Detail im Spiegel und es dann auch noch gleichzeitig zu spüren, wie die Kugeln sich nach und nach durch seinen Schließmuskelring schoben und ihn durch die Reibung in seinem Innersten nur noch stärker stimulierten. Es war wirklich ein seltsames Gefühl, sich selbst im Spiegel zu sehen, während Leron ihn gerade mit einer Analkette bearbeitete. Als würde er sich gerade in einem Film sehen, nur mit dem Unterschied, dass das hier zur selben Zeit wirklich mit ihm passierte. Nun zog Leron die Kette Stück für Stück wieder raus, nur um sie wieder aufs Neue tief in seinen After zu versenken. Das Brennen wurde immer stärker und Simon hatte das Gefühl, jeden Augenblick zu seinem Orgasmus zu kommen. Doch er hielt sich noch zurück. Auch wenn die Verlockung groß war, wollte er es noch ein wenig hinauszögern. Leron hatte Recht, dass es eine Verschwendung wäre, zu schnell zum Schuss zu kommen, wenn er jetzt die Chance hatte, es auszukosten und zu genießen. „Du hast offenbar Gefallen daran gefunden, dich selbst zu sehen, während ich mit dir spiele, was?“ fragte der Unternehmer spitzfündig. „Und? Genießt du unser kleines Spiel?“ Simon nickte und hatte das Gefühl, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Nicht nur, dass Leron ihn mit der Analkette stimulierte, das heiße Kribbeln, welches durch das verdammte Gel verursacht wurde, schien immer intensiver zu werden und er bezweifelte, dass er noch lange durchhalten würde. Er versuchte wirklich, sich zurückzuhalten, doch das gestaltete sich von Sekunde zu Sekunde schwieriger. Natürlich konnte er dem Drang einfach nachgeben, doch vielleicht wäre Leron ja auch enttäuscht von ihm, weil er nicht den Willen zeigte, das Ganze auch wirklich zu genießen. Also sammelte er noch mal seine ganze Willenskraft, um dem Drang nicht nachzugeben. Ein elektrisierender Schauer jagte durch seinen Körper und für einen Moment war ihm, als explodierten Sterne vor seinen Augen, als mit einem Male alle Widerstände brachen und er zu seinem Orgasmus kam. Einen Moment lag Simon auf dem Bett und musste sich sammeln. Sein Herz hämmerte wie verrückt und er hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Obwohl er versuchte, wieder runterzukommen, als das Nachbeben der Lust in seinem Körper abebbte, hatte er dennoch das Gefühl, als bliebe ihm jeden Moment die Luft weg. Es gelang ihm, zwei Male gegen den Bettpfosten zu klopfen, um auf sich aufmerksam zu machen. Leron reagierte sofort und fragte „Atemprobleme?“ Nachdem die Frage mit einem Nicken beantwortet worden war, entfernte der Unternehmer den Stöpsel, sodass Simon vernünftig Luft holen konnte. Zärtlich strich dessen Hand eine Haarsträhne aus seinem Gesicht, bevor der 21-jährige von seinen Fesseln befreit wurde, sodass er seine Bewegungsfreiheit wiedererlangt hatte. Immer noch schwer atmend lag er auf dem Bett und registrierte zu seinem Erstaunen, dass er immer noch erregt war, obwohl er kurz zuvor einen Orgasmus gehabt hatte. Das entging auch Leron nicht, der neben ihm saß und ihn zärtlich streichelte wie ein Haustier, welches sich zum Ausruhen hingelegt hatte. „Offenbar war ein bisschen Spielen wohl noch nicht gut genug für dich. Was bist du doch für ein gieriges Haustier. Tja, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Wenn es deinem Wohl dient…“ Der 31-jährige legte nun den Rest seiner Kleidung ab und Simon erhaschte dabei einen Blick auf seine Erektion. Er wurde hochgezogen, sodass er nun auf dem Bett saß. „Wir versuchen jetzt ein anderes Spiel. Du wirst aufsitzen und das kleine Glöckchen zum Klingen bringen. Wenn du das schaffst, hast du gute Chancen, dass du einen Wunsch äußern darfst, was du beim nächsten Training haben möchtest.“ Gehorsam nickte sein Petboy und platzierte sich auf Lerons Schoß. Langsam ließ er sich herabsinken und spürte, wie ein wesentlich stärkerer Druck auf seinen Anus ausgeübt wurde, als Leron langsam in ihn eindrang und ihn vollständig ausfüllte. Ja, das war es, was er gewollt hatte. Wie sehr hatte er dieses Gefühl vermisst in den letzten Tagen, als er im Krankenhaus gelegen hatte. Dieses Gefühl, dass sie beide eins waren und er sich vollständig in dieser unbeschreiblichen Lust verlieren konnte, die Leron ihm bescherte. Zärtlich strichen zwei Hände über seinen Körper und spielten mit seinen Brustwarzen. Sein Blick wanderte zum Spiegel ihm gegenüber, wo er sich selbst sah und wie er auf Lerons Schoß saß. Sein Gesicht und sein Unterleib waren von Spermaflecken besudelt und verliehen seinem Aussehen noch etwas zusätzlich Schmutziges und Verdorbenes. Er auch selbst dieses Verlangen in seinen Augen, welche regelrecht schreien wollten „nimm mich hier und jetzt und mache mich zu deiner Schlampe!“ War das wirklich er? Hatte er jedes Mal so ausgesehen, wenn Leron mit ihm geschlafen hatte? So eine Seite kannte er gar nicht von sich und er hätte nie gedacht, dass er jemals solch einen Blick haben würde. Lerons Hände wanderten hinunter zu seinen Hüften. „Na dann wollen wie mal das Spiel beginnen. Mal sehen, ob du es schaffst.“ Simon nickte gehorsam, versuchte eine etwas bessere Position einzunehmen, um sich ein wenig abzustützen, als er damit begann, seine Hüften auf- und ab zu bewegen. Erst langsam, doch dann nach und nach immer schneller. Das kleine Glöckchen klingelte dabei leise und nun gab es für ihn kein Zurückhalten mehr. Dabei sah er sein Spiegelbild, welches ihn fast schon lüstern ansah. Es war eine solche Leidenschaft in diesem Gesicht zu sehen und direkt vor sich zu sehen, wie er und Leron Sex miteinander hatten, zog ihn auf der einen Seite regelrecht in den Bann, doch auf der anderen Seite überkam ihn sein Schamgefühl. Und dabei hatte er immer gedacht, er hätte kaum noch welches. Instinktiv wollte er wieder wegschauen, doch das ließ Leron nicht zu und richtete seinen Blick wieder auf den Spiegel. „Es gibt keinen Grund, den Blick abzuwenden. Sieh genau hin, damit du erkennst, wie ich dich jedes Mal sehe, wenn wir es tun.“ So sehe ich jedes Mal aus?, schoss es Simon durch den Kopf und es fiel ihm schwer zu glauben. Nie im Leben hätte er erwartet, dass es solch eine Seite an ihm gab und er wusste auch nicht, was er darüber denken oder fühlen sollte. Sollte es ihn stolz machen, dass er so aussah, wenn er mit Leron schlief? Oder sollte er sich schämen, dass er tief in seinem Innersten so verdorben war? Sein Spiegelbild schaute ihn ebenfalls fragend an und schien keine Antwort zu wissen. „Ich höre das Glöckchen nicht mehr klingeln“, ermahnte Leron ihn, womit er ihn wieder aus seinen Gedanken riss. „Du musst dich schon ein wenig mehr anstrengen.“ Simon beschloss, sich später darüber Gedanken zu machen und sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Seine Bewegungen wurden wieder schneller und das Glöckchen, welches an einer roten Schleife an seinem Penis befestigt war, klingelte wieder lauter. „Ja, genauso ist es richtig. Lass dich einfach fallen und hör auf, an irgendetwas zu denken. Du bist nicht hier um zu denken, sondern um diesen Augenblick zu genießen.“ Lerons Worte wirkten beinahe hypnotisch auf ihn. Als würden sie tatsächlich seinen Verstand beeinflussen, verblasste nach und nach jeglicher Gedanke aus seinem Verstand und so dachte er an gar nichts mehr. Weder an den Blick im Spiegel, noch an irgendwelche Zweifel und Sorgen. Das alles kümmerte ihn in diesem Moment nicht mehr. Stattdessen gab er sich diesem unbeschreiblichen Gefühl der Lust hin, die ihn erfüllte. Sein Herz hämmerte in seiner Brust und das Blut pulsierte kräftig in seinen Adern. Schweißperlen rannen von seiner Stirn hinunter und ihm war, als würde sich ein dichter weißer Nebel über diesen Raum legen. Sein Bewusstsein rückte wie in eine weite Ferne und dann geschah es: mit einem letzten Aufbäumen durchfuhr ihn ein heißer Schauer und er sah, wie sein Spiegelbild in der Bewegung erstarrte, als er zu seinem Höhepunkt kam. Wenig später war auch Leron soweit und Simon spürte, wie ein heißer Schwall sein Innerstes durchströmte. Erschöpft saß er auf Lerons Schoß, leicht in sich zusammengesackt, bis ihm schließlich dieses merkwürdige Geschirr an seinem Kopf abgenommen wurde, sodass er auch endlich wieder normal sprechen konnte. Müde ließ er sich aufs Bett fallen und ließ sich von Leron noch diese Fäustlinge abnehmen. Liebevoll strich diese vertraute Hand durch sein verschwitztes Haar. „Du hast deine Sache wirklich sehr gut gemacht. Ich bin stolz auf dich. Und wie hat es dir gefallen?“ Der Angesprochene lächelte erschöpft, aber trotzdem sehr glücklich. „Es war schon etwas ungewohnt, aber ich fand es sehr aufregend. Nur das mit den Spiegeln hatte ich so noch nie erlebt gehabt. Das war ein wenig komisch.“ „Kann ich mir gut vorstellen. Ich hatte auch erst nicht erwartet, dass du dich ausgerechnet für das Bett entscheidest.“ „Ich wusste ja nicht, wie man das Ding da drüben benutzt und nachfragen ging schlecht.“ Simon deutete auf den Sling und versuchte sich wieder aufzusetzen. Doch ihm war immer noch, als hätte ihm irgendetwas sämtliche Kraft entzogen. Leron folgte seinem Fingerzeig und schmunzelte. „Ich kann mir gut vorstellen, dass du trotz deiner Berufserfahrung noch nie mit solchen Geräten zu tun hattest. Na gut, dann mache ich dir einen Vorschlag: wenn wir den Sling demnächst ausprobieren, dann lasse ich dir deinen Mund zum Reden. Aber so wie du aussiehst, wird das erst einmal warten müssen. Und da du dich so wacker geschlagen hast, darfst du einen Wunsch äußern, was du bei unserer Trainingsstunde machen möchtest.“ Da brauchte er nicht lange zu überlegen, um auf die Antwort zu kommen: „Ich möchte gerne wieder dieses Gefängnisrollenspiel machen. Das hat mir besonders viel Spaß gemacht.“ „Na gut. Dann steh mal auf, wir gehen beide duschen und machen es uns dann gemütlich.“ Das war ein wirklich guter Vorschlag, den Simon auch gerne annahm. Da sich seine Beine allerdings wie Gummi anfühlten, war das Laufen für ihn etwas schwieriger. Nachdem Leron sich seine Hose wieder angezogen hatte und sein Hemd dieses Mal wohl lieber offen trug, trug er seinen geschwächten Petboy nach oben hinauf in sein Schlafzimmer. Dort ließ er Wasser in die Badewanne ein und während sie warteten, verließ der Unternehmer kurz das Zimmer weil er noch Getränke holen wollte. Nachdem die Wanne schon zur Hälfte gefüllt war, nahm Simon sein Halsband und die Hand- und Fußfesseln ab, legte sie ordentlich beiseite und stieg schon mal in die Wanne. Die Temperatur war ein wenig heiß, aber vielleicht war sein Körper inzwischen ausgekühlt, das konnte auch möglich sein. Umso besser fühlte sich deshalb die warme Temperatur des Wassers an. Mit einem zufriedenen Seufzer nahm er eine bequemere Position ein und schloss die Augen. Er war auch tatsächlich kurz eingenickt, denn als er sie wieder öffnete, stieg Leron gerade zu ihm in die Badewanne. Sie änderten die Positionen ein wenig, sodass Simon vor ihm saß. Der Unternehmer ließ es sich natürlich nicht nehmen, ihn mit Seifenschaum einzureiben und seinen Körper von den Spuren ihres erotischen Trainings zu säubern. Der 21-jährige ließ es sich bereitwillig gefallen und genoss es auch, dass Lerons ganze Aufmerksamkeit und Hingabe gerade ihm galt, während er sich zurücklehnen und entspannen durfte. „Sag mal Leron“, begann er schließlich. „Du hattest doch mal erwähnt, dass du bereits Beziehungen hattest. Hast du deshalb all diese Erfahrungen in diesen Sachen?“ Ein nachdenkliches „Hm…“ folgte, woraufhin sich zwei Arme um ihn legten und er sich daraufhin gegen Lerons Körper lehnte. Es fühlte sich so angenehm an und wieder überkam ihn eine leichte Schläfrigkeit. „Es fing an, als ich um die 16 Jahre alt war. Ich hatte gewisse Fantasien gehabt, wusste aber nicht damit umzugehen. Ich habe mir erst nur Videos angesehen und versucht, es irgendwie geheim zu halten. Nun war da aber mein Nachhilfelehrer, der davon Wind bekommen hat und der mir anbot, mir diese Welt näher zu bringen. Mit ihm hatte ich mein erstes Mal und er war auch sanft und rücksichtsvoll, aber kaum, dass er mich ans Bett gefesselt hatte, da setzte alles in mir aus und ich drehte durch. Danach war ich immer derjenige, der die Oberhand hatte. Ich bin unerkannt und unter falschen Namen in Clubs gegangen, habe mich dort mit anderen ausgetauscht und hatte eher unromantische Beziehungen. Es waren eher Sexbeziehungen, wo keine Gefühle dahintersteckten.“ „Also reine Sexbeziehungen“, schlussfolgerte Simon. „Ja genau. Meine erste richtige Beziehung war mit jemandem, der nur knapp drei Jahre jünger war. Das Verhältnis endete aber abrupt, als meine Familie Wind von der Sache bekam. Mein Vater forderte mich auf, die Beziehung sofort zu beenden und von diesen Clubs fernzubleiben. Ich weigerte mich und kurz darauf brach Lewis komplett den Kontakt zu mir ab und ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Als ich mit ihm reden wollte, blockte er komplett ab und sagte mir, dass er nichts mit einem Freak zu tun haben wollte. Zuerst dachte ich, er wäre ein mieser Arsch gewesen, aber inzwischen glaube ich, dass mein Vater ihn unter Druck gesetzt hat und Lewis Angst bekommen hat. Er war schon damals sehr sensibel gewesen und konnte große psychische Belastungen nicht vertragen, weil er eine gewisse Vorgeschichte hatte. Und ich denke, dass er damals für sich die Konsequenzen gezogen hat und geflüchtet ist, weil er Angst bekam. Danach hatte ich wieder nur belanglose One-Night-Stands gehabt.“ „Und hast du je wieder etwas von Lewis gehört?“ „Nur in der Zeitung“, seufzte Leron. „Er starb vor zwei Jahren bei einem Zugunglück.“ „Oh… tut mir leid…“ Simon schwieg und fragte sich, ob Leron diesem Lewis wohl noch irgendwie hinterhertrauerte oder etwas für ihn empfand. Immerhin schien dieser ja die einzige Person zu sein, mit der Leron eine feste Beziehung gehabt hatte. Doch sollte er diese Frage wirklich stellen? Vielleicht wäre das nicht sonderlich fair. Bevor er aber weiter darüber nachdenken konnte, fuhr Leron fort zu erzählen. „Soweit ich gehört habe, war Lewis bereits verheiratet und glücklich gewesen. Ich habe auf der Beerdigung seinen Ehemann getroffen und ein wenig mit ihm geredet. Inzwischen ist dieser nach Annatown gezogen, um neu anzufangen. Ich glaube, dass Lewis mit ihm auch wesentlich glücklicher war als mit mir. Auf lange Sicht gesehen hätte unsere Beziehung keine Zukunft gehabt, weil er selbst damals große Probleme gehabt hatte und unter Depressionen litt. Ich konnte ihm nicht die Hilfe geben, die er brauchte. Dementsprechend fiel es leichter für mich, unser Beziehungsaus zu akzeptieren. Rückblickend würde ich sagen, dass es nicht unbedingt die große Liebe war. Diese Rolle hat jemand anderes in meinem Leben.“ Damit drückte Leron ihn fest an sich, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Simon verstand auch ohne Worte, was das bedeutete und lächelte glücklich. Schließlich griff der Unternehmer nach einer Sektflasche, die er vorhin geholt hatte, schenkte in zwei Gläser ein und reichte seinem Petboy eines davon. „Auf unseren neuen Vertrag.“ „Und auf unsere Beziehung, die nicht einmal deine Familie sabotieren konnte!“ Darauf stießen sie beide an. Nachdem sie eine Weile in der Wanne gesessen und sich entspannt hatten, verließen sie diese, als das Wasser langsam kalt wurde und Simon schnappte sich ein Handtuch, welches in greifbarer Nähe lag. Inzwischen fühlte er sich wesentlich besser als vorher und nachdem er sich in seinem Zimmer frische Wäsche geholt und angezogen hatte, ging er in die Küche, denn inzwischen hatte er Hunger bekommen und konnte eine kleine Stärkung gut gebrauchen. Leron war auch schon dort, wirkte aber plötzlich sehr ernst und nachdenklich. Sein erster Gedanke war, dass vielleicht etwas passiert sein könnte und so fragte er was denn los sei. „Es ist ein Brief für dich angekommen“, erklärte der Unternehmer und reichte ihm einen Umschlag. „Es ist vom Institut. Anscheinend sind die DNA-Proben ausgewertet worden.“ War Simon bis gerade noch die Ruhe und Entspannung in Person gewesen, schoss sein Puls blitzschnell nach oben und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Nun war es also soweit. Er würde jetzt endlich erfahren, ob er eine Familie hatte oder nicht. Mit zitternden Händen öffnete er den Umschlag und wurde dabei besorgt von Leron betrachtet, der ihm rief „Sei nicht allzu enttäuscht, wenn das Ergebnis nicht so ausfällt, wie du es dir wünscht, okay?“ Doch er bekam nur ein geistesabwesendes Nicken zur Antwort und beobachtete schweigend, wie Simon den Brief öffnete und ihn zu lesen begann. Stille kehrte ein und er versuchte angestrengt, den Blick des Jungen zu deuten um zu erkennen, wie denn das Ergebnis war. Doch außer gespannter Konzentration war da nichts zu erkennen. Doch dann weiteten sich plötzlich die Augen des Jungen und Tränen sammelten sich in seinen Augen. Tränen? Ach herrje… „Ist der Test negativ ausgefallen?“ Immer noch keine Antwort. Stattdessen fiel Simon ihm in die Arme, drückte sein Gesicht schluchzend in sein Hemd und konnte sich nicht mehr beruhigen. Leron war erst überfragt von dieser plötzlichen Reaktion und versuchte den Jungen so gut es ging zu beruhigen. „Hey, ganz ruhig Simon. Sag schon, was stand in dem Brief?“ Und unter heftigen Schluchzern kam die Antwort „Er ist positiv! Cypher ist mein älterer Bruder.“ Kapitel 37: Alpträume --------------------- Simon lag auf dem Boden und konnte sich kaum rühren. Seine Hände waren mit Paketklebeband gefesselt und zwei Hände hielten ihn brutal auf dem Boden gedrückt. Er hatte Angst. Er schrie und wehrte sich nach Leibeskräften, doch die Person, die ihn festhielt, war einfach zu stark für ihn. Eine dieser Hände streichelte sein Gesäß und umspielte dabei seinen Schließmuskel. Doch es war nicht Leron, der ihn berührte. Das wahnsinnige Lachen, welches in seinem Kopf widerhallte und ihn vor Angst zusammenzucken ließ, gehörte Michael. Erbarmungslos hatte dieser ihn überwältigt und ihm die Kleider vom Leib gerissen. Simon versuchte zwar, sich gegen diese widerlichen Berührungen zu wehren, doch er hatte einfach keine Chance. Sein Körper war wie gelähmt vor Angst. „Ja das gefällt dir wohl, du kleine Schlampe. Ich muss nur ein bisschen an deinem Arsch herumfummeln und schon gehst du ab. Du musst mich ja wirklich vermisst haben.“ „Nein, ich will das nicht“, wimmerte er und versuchte wenigstens wegzukriechen, doch da spürte er plötzlich einen rasenden Schmerz in seiner unteren Hälfte. Ohne Vorwarnung und ohne Rücksicht drang Michael in ihn ein. Der 21-jährige schrie und flehte, doch es hatte keinen Zweck. Unaufhörlich rannen Tränen über seine Wangen, während sich sein Vergewaltiger an ihn verging. Dann wurde er auf den Rücken gedreht, woraufhin er direkt in die dämonisch funkelnden Augen des Wahnsinnigen blickte, die nicht mehr länger die eines Menschen sondern die eines Monsters waren. Entsetzt schrie er auf und hatte das Gefühl, jeden Moment seinen Verstand zu verlieren als er in diese manische Fratze blickte. „Nein, bitte lass mich… Ich will nicht!!!“ „Du gehörst mir, hast du verstanden? Ich werde dich niemand anderem überlassen und wenn ich dich umbringen musst, damit du bei mir bleibst!“ Damit legten sich Michaels Hände um seinen Hals und drückten zu, woraufhin Simon keine Luft mehr bekam. Er versuchte noch verzweifelt, sich aus diesem Klammergriff zu befreien um Luft zu holen, doch es hatte keinen Zweck. Verzweifelt rang er nach Sauerstoff, während die Welt um ihn herum im Dunkeln versank. Schweißgebadet und mit rasendem Herzen erwachte Simon aus seinem Alptraum und saß mit einem Male kerzengerade im Bett, während er hastig einatmete. Nur ein Traum, dachte er sich. Es war wieder nur ein Traum, der sich verdammt real angefühlt hatte. Selbst jetzt war ihm, als könne er immer noch Michaels Hände an seinem Hals spüren und wie dieser ihn dabei beschmutzte. Allein die Erinnerung daran verursachte bei ihm Übelkeit. Es war nicht das erste Mal, dass er die Nacht nicht schlafen konnte. Schon seit seiner ersten Nacht im Krankenhaus hatte er immer wieder diese Alpträume von Michael, der ihn vergewaltigt und gewürgt hatte. Und wie jedes Mal, wenn er danach aufgewacht war, fühlte er sich benutzt und schmutzig. Sein Blick wanderte zu Leron, der seinerseits aufgrund der Medikamente, die er einnahm, einen sehr tiefen Schlaf hatte. Umso besser. Dann musste er wenigstens nichts von den Alpträumen erfahren oder dass sein Petboy schon seit zwei Wochen keine einzige Nacht mehr durchschlafen konnte. Bisher hatte er es auch erfolgreich geschafft, sich nichts dergleichen anmerken zu lassen. Nun gut, er war die meiste Zeit müde, aber bisher schien Leron noch keinen Verdacht geschöpft zu haben, woher das kommen konnte. Es war auf jeden Fall besser so. Der Unternehmer machte sich ohnehin schon Vorwürfe, weil dieser nicht da gewesen war, als es passiert war. Da wollte er nicht, dass dieser sich noch mehr Schuldgefühle auflud, wo er doch schon genug Probleme hatte. Leise stand Simon auf und ging ins Bad. Er wollte einfach nur noch duschen und dieses widerliche Gefühl, beschmutzt worden zu sein, von seinem Körper waschen. Vielleicht ging es ihm dann etwas besser und er konnte wieder weiterschlafen, wenn er erst einmal ausgiebig geduscht hatte. Nachdem er die Schiebetür des Badezimmers zugezogen hatte, legte er seine Kleidung ab und ging unter die Dusche. Als der kalte Strahl auf seinen Körper niederprasselte, musste er an seine Anfangszeit auf dem Straßenstrich zurückdenken. Damals hatte er sich genauso gefühlt wie jetzt: dreckig, abstoßend, erschöpft, wertlos… Eigentlich hatte er gedacht, dass er diese Phase längst hinter sich gelassen hatte. Andernfalls wäre er höchstwahrscheinlich Alkoholiker geworden. Irgendwann hatte er gelernt gehabt, damit umzugehen und es hatte vier Jahre lang erfolgreich geklappt. Warum also warf ihn diese eine Vergewaltigung nur so dermaßen aus der Bahn, obwohl sie nicht allzu heftig ausgegangen war wie beim letzten Mal, als er diese Tortur stundenlang ertragen musste? Warum nur nahm es ihn ausgerechnet jetzt so mit? Tränen sammelten sich in seinen Augen und er begann leise zu schluchzen. Er wollte dieses Gefühl nicht mehr erleben. Warum nur konnte er dieses Thema nicht einfach abhaken und akzeptieren wie er es sonst immer getan hatte? Das Schlimmste an allem war insbesondere die Angst, die er verspürte. Vor allem wenn er alleine in der Villa war. Solange Leron an seiner Seite war, konnte er diese ganzen schlimmen Gedanken und Erinnerungen erfolgreich verdrängen und im Hier und Jetzt leben. Auch sein Körper hatte sich von dieser Geschichte ziemlich schnell erholt. Und trotzdem wachte er jede Nacht schweißgebadet und angsterfüllt aus solchen Alpträumen auf. Und er hasste es. Er wollte diese Tortur nicht noch mal durchleben so wie damals und sich tagtäglich die Augen ausheulen und seine Erinnerungen mit Alkohol verdrängen. Ob es vielleicht daran lag, weil er seine Zeit auf dem Straßenstrich fast vergessen hatte, seit er bei Leron lebte? Vorher hatte er in ziemlich miserablen Zuständen gelebt und jetzt wohnte er in einer schicken Villa weit abseits des Ghettos, wo es jeden Tag Raubüberfälle, Einbrüche, Schießereien, Drogengeschäfte oder Morde gab. Er hatte sich zu sehr an dieses Leben hier gewöhnt und jetzt, da er wieder in die harte Realität zurückgeworfen worden war, konnte er nicht mehr damit umgehen. Jetzt merkte er es viel deutlicher als sonst. Er bekam furchtbare Angst, wenn er alleine in der Villa war und konnte nicht mehr alleine sein und er litt jetzt unter Alpträumen. Irgendetwas musste er sich einfallen lassen, damit er diese Sache endlich verarbeitet bekam und diese Sache hinter sich lassen konnte. Nie im Leben wollte er sich jemals wieder so fühlen wie am Anfang und sich tagtäglich betrinken, nur um diese Bilder zu vergessen und sich nie wieder schmutzig zu fühlen. Mit einem niedergeschlagenen Seufzer nahm sich Simon etwas von Lerons Duschgel und begann sich zu waschen. Doch wirklich helfen tat es auch nicht. Er fühlte sich kein Stück besser. Immer noch klebte dieser Schmutz an ihm, wenn auch nicht körperlich. Egal wie oft er auch unter der Dusche stand, es blieb immer dieses Gefühl zurück, dass er ein schmutziger und wertloser Junge vom Straßenstrich war, der mit unzähligen widerwärtigen Perverslingen geschlafen hatte, um Geld zu verdienen. Wie lange er insgesamt unter der Dusche gestanden hatte, konnte er nicht sagen. Er war so in seinen Gedanken verloren, dass es ihm völlig gleichgültig geworden war, dass er inzwischen ziemlich fror und dass sein Körper durch die Unterkühlung zu zittern begann. Es musste aber recht lange gewesen sein, denn plötzlich stand Leron im Bad und ihm stand der Schock und die Verwirrung ins Gesicht geschrieben, als er ihn in diesem Zustand sah. „Simon, was… deine Lippen sind blau und du zitterst. Mein Gott, was ist passiert und was ist los mit dir?“ Da Simons Körper inzwischen völlig ausgekühlt war und dringend aufgewärmt werden musste, drehte Leron nun die Wassertemperatur auf. Doch das eigentlich angenehm warme Wasser fühlte sich kochend heiß auf seiner Haut an und er wollte es daraufhin komplett abstellen, aber Leron ließ das nicht zu. „Wenn du deinen Körper nicht wieder aufwärmst, wirst du noch krank werden“, erklärte dieser streng bevor er in einem strengen Ton nachfragte „Wie lange stehst du denn schon unter der Dusche?“ „Weiß nicht“, murmelte Simon, sah ihm aber nicht in die Augen. Er schämte sich ein wenig dafür, dass er in dieser Situation erwischt worden war. „Hab nicht auf die Uhr gesehen.“ „Mit Sicherheit schon länger. So wie du aussiehst, bist du sicher schon vollkommen ausgekühlt. Sag mal, was ist los mit dir und wieso duscht du denn um 4 Uhr nachts?!“ 4 Uhr? Er versuchte sich zurückzuerinnern, wann er aufgestanden war. Das musste vielleicht gegen 2 oder 3 Uhr gewesen sein. Dann stand er also schon seit mehr als einer Stunde unter der Dusche? Seltsamerweise war ihm das gar nicht so lange vorgekommen, aber so wie er seinen Gedanken nachgegangen war, schien die Zeit viel schneller vergangen zu sein als erwartet. Nachdem er noch einmal zehn Minuten damit verbrachte, sich unter einer warmen Dusche wieder aufzuwärmen, wickelte Leron ihn in ein Badetuch ein und trocknete ihm die Haare. Danach gingen sie wieder ins Schlafzimmer zurück und setzten sich aufs Bett. Trotz der heißen Dusche fror Simon entsetzlich und zitterte immer noch. Dabei war ihm nicht einmal so, als wäre ihm bloß auf der Haut kalt. Nein, die Kälte schien wesentlich tiefer in seinem Körper zu sitzen. Sie saß tief in seinen Knochen und wollte einfach nicht verschwinden. Kurzerhand kroch er wieder unter die Decke, doch selbst das konnte keine Abhilfe schaffen. Ihm war entsetzlich kalt, als herrschte tiefster Winter im Schlafzimmer. Also gesellte sich Leron zu ihm und drückte ihn an sich, um ihn auf diese Weise irgendwie wärmen zu können. „Nun sag schon warum du mitten in der Nacht unter der kalten Dusche stehst. Ich hatte mich wirklich erschrocken, als ich dich gesehen habe. Du warst kreidebleich und sichtlich unterkühlt. Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir.“ „Mir war einfach nur heiß“, log er, um das Thema schnellstmöglich zu beenden. „Und ich war ziemlich verschwitzt gewesen, deswegen bin ich duschen gegangen, um mich abzukühlen.“ „Erzähl mir doch keine Märchen. So wie du aussiehst, hast du wesentlich länger drunter gestanden und eigentlich hättest du selber merken müssen, wie stark du ausgekühlt warst. Also versuch gar nicht erst, mir irgendwelche Geschichten auftischen zu wollen. Erzähl schon, was mit dir los ist. Irgendetwas stimmt mit dir nicht, dass sieht doch selbst ein Blinder.“ Es hatte wohl keinen Sinn, Leron noch irgendetwas vormachen zu wollen. Er war dieses Mal eindeutig ertappt worden und nun musste er wohl oder übel die Karten auf dem Tisch legen. Schweigend kuschelte sich Simon noch dichter an ihm heran in der Hoffnung, dass diese innere Kälte irgendwann weichen würde. „Ich hatte einen Alptraum… von Michael. Seit ich im Krankenhaus war, wache ich nachts auf und fühlte mich danach ziemlich schlecht, deshalb gehe ich dann unter die Dusche.“ Ein leises Seufzen war zu hören und zuerst fürchtete er, dass Leron wütend sein würde, weil er ihm nichts darüber gesagt hatte. Doch stattdessen streichelte dieser zärtlich durch sein immer noch feuchtes Haar. Und diese Reaktion irritierte ihn. „Bist du gar nicht sauer?“ „Warum sollte ich?“ erwiderte Leron und klang auch gar nicht danach, als würde er wütend sein. „Du bist hier derjenige, der darunter leidet. Aber warum hast du mir nichts gesagt?“ „Na weil ich weiß, dass du dir Vorwürfe machst“, gestand der 21-jährige, dem es zwar immer noch fror, doch Lerons Wärme gab ihm zumindest ein Gefühl der Geborgenheit und der Sicherheit. Und allein das beruhigte ihn schon. „In meiner Zeit auf dem Straßenstrich habe ich so einiges erlebt und auch viel durchgemacht. Dass meine Freier teilweise ziemlich grob wurden und ich blaue Flecken davontrug, war für mich Alltag. Auch als ich mal vergewaltigt oder mit einem Messer verletzt wurde, war das für mich noch relativ normal gewesen. Bisher konnte ich immer gut damit umgehen und es einfach abhaken. Aber auf einmal ist bei mir alles durcheinander und ich komme mir so schmutzig und benutzt vor. Und das hatte ich zuletzt in meiner Anfangszeit, als ich auch viel gesoffen hatte, um damit fertig zu werden. Ich verstehe das selbst nicht, warum mich so etwas dermaßen aus der Bahn geworfen hat, obwohl ich schon Schlimmeres durchleben musste. Ich… ich…“ Ohne es zu wollen, begann er wieder zu weinen und konnte sich auch nicht mehr beruhigen. Leron hielt ihn fest im Arm und streichelte ihm beruhigend den Rücken. „Scheiße, warum muss ich schon wieder heulen? Warum kann ich das nicht endgültig abhaken und einfach darüber hinwegkommen so wie sonst?“ „Du musst nicht immer den Starken spielen, Simon“, erklärte Leron ihm, während er den emotional völlig aufgewühlten Jungen beruhigte. „Du hast dich hier sicher gefühlt und konntest von diesen schlimmen Dingen Abstand nehmen. Und dann passiert so etwas. Ich hätte selber wissen müssen, dass es Zeit braucht, damit du das Ganze für dich verarbeiten kannst. Und wahrscheinlich sind viele dieser Dinge durch unsere Session wieder hochgekommen, oder?“ Doch Simon schüttelte daraufhin entschieden den Kopf. „Nein, wenn du bei mir bist, kann ich das alles ganz gut ausblenden. Aber… sobald ich schlafe oder ganz alleine bin, da bekomme ich Angst. Dann kommt die Erinnerung wieder, was passiert ist.“ „Ich denke, die Dinge brauchen ihre Zeit. Aber wenn es nicht besser wird, dann solltest du dir Hilfe suchen.“ Doch Simon schüttelte nur den Kopf. Er brauchte einfach nur etwas Zeit, bis er das Ganze verarbeitet hatte. Zumindest konnte ihm nichts mehr passieren, denn Michael war tot und er würde nicht mehr zurückkehren. Und solange Leron bei ihm war, fühlte er sich wesentlich sicherer. „Es geht schon“, versicherte er deshalb. Trotzdem stand für ihn fest, dass die Nacht für ihn definitiv vorbei war. Nach dem schrecklichen Alptraum war Weiterschlafen einfach keine Option mehr. „Übermorgen ist die Einäscherung von Michael“, erwähnte der Unternehmer. „Vielleicht hilft es dir ja, mit diesem Thema besser abzuschließen, wenn du dabei bist.“ „Übermorgen?“ fragte er überrascht. „Aber er doch schon knapp zwei Wochen her seit er tot ist. Warum wird er erst so spät eingeäschert?“ „Weil die Gerichtsmedizin seine Leiche untersuchen wollte um sicherzugehen, dass es keine Unstimmigkeiten gibt. Immerhin hat er zwei Schläge mit dem Hammer auf den Kopf bekommen und er hatte obendrein einen Hirntumor. Die wollten halt wissen, ob der Grund für Michaels Amoklauf sein Hirntumor gewesen sein könnte. Jordan und seine Familie wurde schon längst bestattet.“ Simon dachte darüber nach ob er das wirklich wollte. Wenn er bei der Einäscherung dabei war, würde er mit Sicherheit Lionel über den Weg laufen und das wollte er lieber nicht riskieren. Aber andererseits hatte Leron vielleicht Recht und er konnte besser mit dieser Sache abschließen, wenn er sah, wie sein toter Vergewaltiger eingeäschert wurde. Trotzdem war er sich nicht wirklich sicher und wahrscheinlich würde er heute noch mal darüber nachdenken. „Wirst du hingehen?“ „Ja. Ich habe ihm nämlich noch so einiges zu sagen, damit ich selber ein Stück weit meinen Frieden finde. Ich selbst leide ab und zu unter Alpträumen, dementsprechend weiß ich sehr gut, wie du dich fühlst und was du durchmachst. Wie wäre es, wenn wir uns ins Wohnzimmer setzen und uns einen Film ansehen? Ich denke, dass keiner von uns einschlafen kann.“ Dem konnte er schlecht widersprechen und nachdem sich Simon einen neuen Schlafanzug angezogen hatte, folgte er Leron ins Wohnzimmer. Inzwischen war ihm ein wenig wärmer geworden, trotzdem war er noch in eine Decke gewickelt. Da ihnen nicht sonderlich nach düsterer Stimmung zumute war, schauten sie sich „Ziemlich beste Freunde“ an. Simon legte sich auf die Couch und bettete seinen Kopf auf Lerons Schoß. Doch irgendwann überkam ihn dann doch wieder die Müdigkeit und er fiel in einen traumlosen Schlaf. Als er wieder die Augen öffnete, war es bereits helllichter Tag und er lag noch auf der Couch, eingewickelt in seine Decke. Sein Kopf schmerzte und er fühlte sich wie gerädert. Selbst als er sich langsam aufsetzte, war ihm, als würde irgendetwas durch seinen Kopf rauschen und seine Stirn fühlte sich heiß an. Ihm war schwindelig und so beschloss er, lieber noch etwas liegen zu bleiben und sich auszuruhen. „Hey Simon!“ Etwas benommen schaute er auf und erkannte etwas verschwommen Leron, der seinerseits schon angezogen war und aussah, als wäre er schon eine Weile wach. Er sah besorgt aus, als er ihn in diesem Zustand sah. „Du siehst gar nicht gut aus. Warte mal…“ Eine Hand legte sich auf seine Stirn und sie fühlte sich sehr kalt an. Daraufhin ging der Unternehmer ein Thermometer holen, um die genaue Temperatur zu messen und wie sich herausstellte, hatte Simon mit 38,4°C leichtes Fieber. Offenbar hatte die heiße Dusche nicht wirklich geholfen und nun war er krank geworden. „Ich bring dich besser ins Bett und…“ „Nein!“ rief Simon sofort und hielt ihn fest. „Ich will nicht alleine sein.“ „Na gut“, seufzte Leron geschlagen. „Ich werde Anthony bitten, zur Apotheke zu fahren und ein paar fiebersenkende Medikamente zu holen. Solange er unterwegs ist, bleibe ich hier, aber nachher muss ich kurz zu einem Termin. Und den kann ich nicht verschieben.“ Beinahe fassungslos sah der 21-jährige ihn an. Er hatte Angst davor, alleine in dieser Villa zu bleiben, wenn Leron nicht da war. Natürlich wusste er, dass dieser nicht immer an seiner Seite bleiben konnte, vor allem weil der Unternehmer früher oder später den Konzern seines Vaters leiten würde und das bedeutete viel Verantwortung und vor allem viel Arbeit. Da musste er damit leben, dass er auch mal ab und zu alleine bleiben musste. Trotzdem machte ihm dieser Gedanke Angst. Vor allem jetzt, wo er in den letzten Nächten doch eh schon so oft Alpträume haben musste. Da Leron wohl erkannte, wie groß seine Angst vor dem Alleinsein war, überlegte er, was es an Alternativen gab. Cypher lag immer noch im Krankenhaus und Anthony? Nun, zwar hatte Simon ein gutes Verhältnis zu ihm, aber der Junge brauchte jemanden, der ihm auch das Gefühl gab, als wäre er sicher. Hunter wäre vielleicht eine Alternative. Immerhin hatte dieser ihn ja vor Michael gerettet und diesen umgebracht. Simon kannte ihn schon ein wenig und der Kerl wirkte sowieso wie jemand, der selbst den Sensenmann mit seinem Mörderblick in die Flucht schlagen könnte. Sicherheitshalber entschied er sich aber trotzdem, noch mal nachzufragen: „Reicht es dir wenn Anthony hier ist?“ Eine kurze Überlegung, gefolgt von einem Kopfschütteln. Also nein. „Soll ich Hunter anrufen und ihn fragen, ob er herkommen und auf dich aufpassen soll, solange ich weg bin?“ Ein Nicken kam zur Antwort und so ließ sich Simon die Nummer geben und rief Hunter erst auf dem Festnetz an. Da dieser aber nicht ranging, versuchte er es noch mal auf dem Handy und hatte tatsächlich mehr Glück. Nachdem er dem 24-jährigen die Situation in kurzen Worten geschildert hatte, wagte er die Frage und rechnete erst mit einer Absage. Immerhin war das Ganze ziemlich kurzfristig. Doch überraschenderweise erklärte sich Hunter einverstanden und versicherte, dass er sich auf dem Weg machen würde. „Also gut, Hunter ist auf dem Weg hierher. Ich bleibe noch hier, bis er da ist. Und du bleibst hier liegen und ruhst dich aus.“ Zwar ließ sich Leron nichts anmerken, aber er machte sich wirklich Sorgen um Simon. Der Junge schien wirklich Angst davor zu haben, alleine zu bleiben. Die Frage war nur, was er tun konnte, um ihm zu helfen. Brauchte Simon einfach nur Zeit, um über all diese Dinge hinwegzukommen? Oder war es vielleicht eine bessere Idee, wenn sie irgendwo anders einen Neuanfang starteten? Nun, es war vielleicht besser, wenn er den Dingen ihre Zeit ließ. Es noch zu früh, um über so etwas nachzudenken. Das sollte die letzte Option bleiben. Was Simon jetzt vor allem brauchte, waren Normalität und Stabilität. Und ihn in Watte einzupacken und ihn wie ein rohes Ei zu behandeln, war auch nicht sonderlich hilfreich. Natürlich wäre Leron nur zu gerne bei ihm geblieben, aber er hatte etwas sehr Wichtiges zu tun. Zwar hatte er schon länger mit diesem Gedanken gespielt, allerdings war er sich nicht allzu sicher gewesen, ob es sonderlich produktiv gewesen wäre. Vor allem weil es keine Garantie gab, dass er mit dieser Aktion Erfolg hatte. Deshalb hatte er es vorgezogen, seinen Plan vor Simon geheim zu halten, um ihm keine falschen Hoffnungen zu machen. Aber seitdem feststand, dass Cypher sein älterer Bruder war, wollte er zumindest einen Versuch wagen. Leron hatte einen Termin mit einem Privatdetektiv ausgemacht, um mit ihm über einen neuen Auftrag zu reden. Da Simon ihm in der letzten Zeit so oft beigestanden und ihm geholfen hatte, wollte er es wieder gutmachen. Vor allem weil der Junge wegen ihm schon so viel durchmachen musste. Aus diesem Grund hatte er beschlossen, denselben Privatdetektiv, der ihm schon bei der Suche nach Simon geholfen hatte, damit zu beauftragen, nach Simons Familie zu suchen. Zwar waren die Erfolgschancen nicht die besten, aber er wollte es zumindest versuchen. Zwar konnte niemand sagen, ob die Wahrheit angenehm sein würde, warum Cypher und Simon damals ausgesetzt werden würde, aber dann hatte der Junge endlich Gewissheit über seine Herkunft und wusste dann, warum er damals ausgesetzt wurde. Und er wusste, wie sehr sich der Junge wünschte, mehr über seine Familie zu wissen. Nachdem Hunter nach knapp zwanzig Minuten später eingetroffen war, machte sich Leron auf den Weg und wusste, dass Simon in guten Händen war. Kapitel 38: Schwere Zeit ------------------------ Nachdem Hunter endlich da war, konnte Leron zu seinem Termin fahren und es beruhigte Simon ungemein zu wissen, dass er nicht alleine war. Vor allem Hunters Anwesenheit gab ihm ein deutliches Gefühl der Sicherheit. Da er sich aber nicht sonderlich fit fühlte, blieb er auf der Couch liegen und hörte, wie Schritte näherkamen. Die Wohnzimmertür wurde geöffnet und tatsächlich sah Simon Hunter im Türrahmen stehen. Er hatte wie immer einen nicht sonderlich freundlich gesinnten Blick und heute trug ein schwarzes Shirt, auf dem Waldo aus Büchern „Finde Waldo“ zu sehen war, welche Simon noch aus dem Waisenhaus kannte. Jedoch hatte dieser nun ein psychopathisches Grinsen und hielt ein Messer in der Hand. Zu lesen war die Aufschrift „Find him before he finds you“. Wirklich passend für ihn und seinen unheimlichen Geschmack für makabere Sprüche. „Hi“, grüßte er den Ankömmling und wollte sich aufsetzen, doch ein tonloses „Bleib liegen“ hielt ihn davon ab. Der Bildhauer machte es sich auf dem Sessel bequem und musterte Simon mit einem unbestimmten Gesichtsausdruck, der sich nur schwer deuten ließ. Und es dauerte eine Weile, bis er fragte „Was fehlt dir?“ „Ich habe ein wenig Fieber und ich fühle mich ziemlich schlapp. Ein bis zwei Stunden kalt zu duschen war wohl nicht sonderlich clever von mir.“ Hunter sagte nichts, sondern starrte ihn nur an. Es war schwierig zu sagen was er gerade dachte oder fühlte und da Cypher nicht da war, stellte sich das Ganze als etwas schwierig dar. Vor allem weil Simon immer noch ein sehr schlechtes Gewissen plagte und er nicht wusste, wie er sich ihm gegenüber nun verhalten sollte. „Hunter…“, begann er zögerlich. „Es tut mir leid wegen der ganzen Sache. Wegen mir wurde Cypher niedergeschossen und wäre fast gestorben. Und dann hattest du auch noch Ärger mit der Polizei, obwohl du mir doch nur helfen wolltest.“ Immer noch schwieg der 24-jährige, doch es war zu hören, dass er leise seufzte. Dann schließlich, nach einer Weile des Schweigens sagte Hunter „War ja nicht deine Schuld. Und du hast auch was abgekriegt.“ „Ja aber er ist wegen mir…“ „Er war ein Cohan. Und die sind gefährlich, das weißt du. Auch Leron und ich sind gefährlich.“ „Aber im Gegensatz zu euch hat dieser Kerl sich nicht beherrschen können und elf Menschen getötet.“ Wieder kehrte Stille ein. Es war manchmal eine sehr seltsame Stille und es fiel Simon nicht gerade leicht zu erkennen, ob er jetzt etwas sagen oder doch lieber die Klappe halten sollte. Da merkte man auch deutlich, wie sehr Cypher in dieser Runde fehlte. Mit ihm wäre es wahrscheinlich nicht ganz so ruhig und er hätte etwas mehr Leben in die Konversation gebracht. Und das schien auch dessen Freund zu merken, der seinerseits wohl überlegte, was er sagen sollte. Er schien es ja eher zu bevorzugen, lieber anderen das Reden zu überlassen. Simon sah deutlich, wie Hunter die ganze Zeit angestrengt darüber nachdachte, was er sagen sollte, doch er schien nicht die geeigneten Worte zu finden, um seine Gedanken auszudrücken. „Du musst dich nicht zum Reden zwingen, wenn du nicht willst“, sagte er deshalb. „Ich bin schon froh, wenn du hier bist, solange Leron nicht da ist.“ „Du hast eine besondere Beobachtungsgabe“, stellte Hunter fest. „Genauso wie Cypher. Muss daran liegen, weil ihr Brüder seid.“ Überrascht horchte Simon auf. „Ihr wisst also auch schon Bescheid?“ „Das Ergebnis kam gestern und ich habe Cypher den Brief gebracht. Er war total aus dem Häuschen. Ist lange her, dass er das letzte Mal geheult hat.“ Simon schmunzelte und konnte sich kaum vorstellen, dass Cypher weinen konnte. Aber andererseits schien er ja ein sehr emotionaler Mensch zu sein, da war es eigentlich nicht ganz so unwahrscheinlich, dass ihm vor Freude auch mal die Tränen kommen konnten. Wenn es ihm besser ging, würde er ihn auf jeden Fall im Krankenhaus besuchen gehen. Zwar besuchte er ihn sowieso schon jeden Tag, aber es war trotzdem anders, weil sie jetzt beide wussten, dass sie Brüder waren. „Hätte mich überrascht, wenn ihr nicht verwandt gewesen wärt“, meinte Hunter schließlich. „Ihr seid euch ähnlich.“ „Wegen unserer Augen?“ „Nein, du hast diese spezielle Beobachtungsgabe wie er“, erklärte der Bildhauer und wurde mit einem Male sehr nachdenklich. Als würde er einer sehr alten Erinnerung nachgehen, die ihn manchmal beschäftigte. „Es erinnert mich an jemanden, den ich vor einigen Jahren kennen gelernt habe…“ Doch bevor er weitererzählen konnte, wurde die Tür geöffnet und Anthony kam mit den Medikamenten und Tee zu ihnen und erklärte, dass die Arznei half, das Fieber wieder zu senken. Sofort nahm Simon sie ein in der Hoffnung, dass sie bald zu wirken begann und es ihm dann auch wieder etwas besser ging. Danach wollte er aber natürlich wissen, was Hunter sagen wollte und so fragte er nach, von welcher Person die Rede gewesen war. Dieser zuckte mit den Schultern und erklärte „Ich war schon mal als Kind in der Klinik. Das war bevor ich mit meinem Vater nach New York kam. Da Annatown keine richtige Klinik hatte, kam ich nach Backwater. Das ist eher ein Dorf. Da war ein Junge, der war etwas jünger. Er war seltsam, aber er wusste einiges. Er sagte, dass besondere Augen von besonderen Menschen zeugen. Und Annatown ist die Wurzel des Phänomens.“ „Spielte er damit etwa darauf an, dass alle Cohans gelbe Augen haben und für gewöhnlich verrückt sind?“ „Nicht nur. Es gibt wohl andere Phänomene in Annatown. Azarias sagte, er wüsste Dinge, die eigentlich keiner wissen könnte und seine Aufgabe sei es, den Kern zu bewachen. Allerdings wusste man bei ihm nicht, ob er die Wahrheit sagt oder ob es bloß seine Wahnideen waren.“ Ein besonderes Phänomen verbunden mit der Augenfarbe? Das klang irgendwie nach einem Mysteryroman aber nicht wirklich nach dem wahren Leben. Aber andererseits… die Cohans hatten gelbe Augen und neigten zu psychischen Krankheiten. Wie unwahrscheinlich war es da also, dass es so etwas Ähnliches gab? Und was war mit ihm? Konnte es vielleicht sein, dass er und Cypher nicht vielleicht bloß beide Einzelfälle waren und es noch mehr solcher Leute wie ihn gab? Tja, wer weiß. „Ich beneide Cypher echt“, murmelte Simon schließlich. „Er ist immer gut gelaunt und fröhlich, egal was auch passiert. Und ich habe Angst davor, ohne Leron in der Villa zu bleiben.“ Ein leises Seufzen war zu hören und dann stand Hunter überraschend auf. Zuerst dachte Simon, er hätte irgendetwas Falsches gesagt, doch da gesellte sich der Bildhauer plötzlich zu ihm auf die Couch. Sofort setzte sich der Kranke auf und spürte dann auch schon, wie sich ein Arm um ihn legte. Es war ein starker Arm, der viele schwere körperliche Arbeiten zu bewältigen hatte, das spürte er sofort. Obwohl die Kleidung es geschickt versteckte, hatte Hunter sehr kräftige Arme. Etwas überrumpelt von dieser plötzlichen Umarmung wusste er gar nicht, wie er das einordnen sollte und warum Hunter so etwas plötzlich tat. Doch dann dachte er sich einfach, dass es eine nett gemeinte Geste war und legte seinen Kopf auf Hunters Schulter. „Cypher zwingt sich oft selbst dazu, positiv zu bleiben“, erklärte dieser schließlich. „Seine Depression und sein Alkoholproblem rührten auch daher, dass er die Leute zu sehr durchschaut hat und wusste, wie sie über ihn dachten. Seine Beobachtungsgabe empfand er immer als eine Strafe.“ „Meinst du, ich habe sie auch?“ Hunter nickte und wirkte immer noch sehr in Gedanken versunken, so als erinnerte er sich daran zurück, wie Cypher damals gewesen war, als sie sich kennen gelernt hatten. Wahrscheinlich war er damals ganz anders gewesen, bevor sie beide sich kennen gelernt hatten. Aber irgendwie konnte sich Simon das nicht so wirklich vorstellen, weil er Cypher ganz anders kennen gelernt hatte. Doch irgendwo hatte er mal gehört, dass die Leute mit dem fröhlichsten Lächeln oft diejenigen mit der traurigsten Geschichte waren. Vermutlich traf das dann auch auf Cypher zu. Aber er selbst zweifelte daran, dass er wirklich so eine Beobachtungsgabe wie Cypher hatte. Immerhin war er in seiner Vergangenheit schon viel zu oft an die falschen Menschen geraten. „Wenn ich wirklich so eine tolle Beobachtungsgabe habe, warum konnte ich dann damals nicht sehen, wie gefährlich Michael damals war? Dann wären wir uns wahrscheinlich nie über den Weg gelaufen. Und dann wäre ich wahrscheinlich auch nicht an solche Freier geraten, die es als Vorspiel ansehen, mich zu verprügeln oder mit dem Messer zu attackieren.“ „Wahrnehmung kann durch Denken verzerrt werden“, erklärte Hunter. „Wenn du denkst, alle sind scheiße, dann wirst du blind für die Tatsachen.“ Auch wieder wahr. Da es sonst nicht viel zu reden gab, schlug Simon vor, dass sie sich einen Film anschauen konnten. Und weil es sie vor allem aus dieser Situation befreite, dass sie sich beide zum Reden zwangen, war auch Hunter einverstanden und zusammen schauten sie sich Thankskilling an. Zwar war das nicht wirklich das, was Cypher und Hunter üblicherweise zu schauen pflegten, aber der 24-jährige beschwerte sich nicht und so saßen sie zusammen, bis Simon wieder eingeschlafen war. Als Leron von seinem Termin wieder zurückkehrte, fand er Hunter und Simon im Wohnzimmer vor. Zweiter lag auf der Couch und sein Kopf lag auf Hunters Schoß. Und er sah auch wie der Schlafende Hunters Hand festhielt und ihn anscheinend auch nicht loslassen wollte. Der Bildhauer wandte den Blick zu ihm und seine goldgelben Augen wirkten wie immer sehr bedrohlich, auch wenn der Scheint trog. „Er ist wieder eingeschlafen?“ Ein Nicken kam zur Antwort, kurz darauf gefolgt von der Erklärung „Er wurde unruhig, aber dann klammerte er sich an meiner Hand fest und wurde wieder still.“ Tatsächlich sah Simon deutlich danach aus, als würde er nicht gerade einen angenehmen Traum haben. Besorgt streichelte Leron dem Schlafenden den Kopf und fühlte deutlich, dass seine Stirn heiß war. Ob er sich im Krankenhaus irgendetwas eingefangen hatte? Oder war es eine körperliche Reaktion auf den ganzen Stress der letzten Tage? Nun, nach allem, was in der letzten Zeit passiert war, lag es sicherlich am Stress. „Hoffentlich kehrt jetzt endlich mal Ruhe ein. Dann wird es ihm vielleicht auch wieder deutlich besser gehen.“ Ein stummes Nicken von Hunters Seite kam zur Antwort und vorsichtig schafften sie es beide, ihn aus Simons Griff zu befreien, ohne den Schlafenden aufzuwecken. Mit einer kurzen Handbewegung verabschiedete sich Hunter und ließ die beiden wieder alleine, denn sein Job war hier erledigt und er wäre in dieser Situation nur überflüssig gewesen. Es dauerte mehrere Stunden, bis Simon wieder aufwachte und selbst da war er so erschöpft, dass er am liebsten wieder eingeschlafen wäre. Er wirkte entkräftet und unkonzentriert und schaffte es nicht einmal, einfachste Dinge im Kopf zu behalten. Der Ärmste war völlig neben der Spur und sicherheitshalber kontrollierte Leron noch mal die Temperatur. Diese war unverändert und auch am nächsten Tag war Simon sehr erschöpft und wirkte ziemlich bleich. Selbst das Aufstehen wollte ihm kaum gelingen und es schien so, als würde es ihm sogar noch schlechter gehen. In seiner Sorge um den Jungen rief Leron bei Dr. Morris an, der zu einem Hausbesuch vorbeikam und den Kranken untersuchte. Glücklicherweise war es nichts Ernstes, wie er von dem Mediziner erfuhr. Es war offenbar nur eine körperliche Reaktion auf Stress. Also wies der Hausarzt an, dass Simon viel Ruhe brauche, um sich zu erholen. Gegen die Alpträume, die jenen immer wieder heimsuchten, verschrieb Dr. Morris Baldrian, was in erster Linie die Nerven beruhigen sollte. Da seine Sorge um Simons Gesundheit zu groß war, beschloss Leron, nicht zu Michaels Beerdigung zu gehen und auch nicht zum Konzern zu fahren. Stattdessen verlegte er seine Arbeit nach Hause und regelte alle wichtigen Dinge telefonisch oder per Mail. Als sein Vater anrief und sich deutlich ungehalten zeigte, erklärte Leron nur, dass er alt genug sei um zu wissen, was er tat und legte einfach auf. Simon selbst schlief die meiste Zeit über. Eigentlich wachte er nur auf, weil er Durst oder Hunger hatte. Danach blieb er eine kurze Weile wach und schlief dann direkt wieder ein. Es schien fast so, als würde sein gesamtes Leben nur noch aus Essen und Schlafen bestehen. Obwohl das Fieber recht schnell wieder gesunken war, sah sein Zustand dennoch bedenklich aus. Zumindest litt er nicht ständig unter Alpträumen, sondern nur zwischendurch und es schien sich wenigstens zu bessern, wenn dann jemand bei ihm war und ihm zusprach oder seine Hand hielt. Schließlich aber stellte sich nach knapp vier Tagen eine deutliche Besserung bei Simon ein. Seine Gesichtsfarbe kehrte wieder zurück und er wirkte auch nicht mehr so erschöpft und schläfrig. Auch sein Fieber war inzwischen komplett zurückgegangen und er wirkte wieder voller Tatendrang. So saßen sie am fünften Tag gemeinsam am Frühstückstisch und ganz überraschend folgte von Simons Seite aus die Frage, wann denn das nächste Training sein würde. Das verblüffte den Unternehmer sichtlich und er ließ seine Tasse sinken. Zur Sicherheit fragte er auch noch mal „Bist du dir ganz sicher, dass du das jetzt schon machen möchtest? Ich möchte nicht, dass du wieder an diese traumatisierenden Ereignisse zurückerinnert wirst. Vor allem, weil ich bei unserem Rollenspiel ohnehin einen deutlich anderen Ton anschlagen werde als sonst.“ „Das geht schon in Ordnung“, versicherte der 21-jährige. „Immerhin bist du es ja und nicht er. Bei dir fühle ich mich sicher und ich weiß, dass du mir niemals etwas tun würdest.“ Doch Leron war sich trotzdem nicht ganz sicher, ob er ihm schon ein weiteres Training zumuten konnte. Auf der einen Seite war Simon während der letzten Session sehr entspannt geblieben und hatte auch nicht danach gewirkt, als würde ihn das irgendwie an die Vergewaltigung erinnern. Aber auf der anderen Seite merkte er auch, dass dieses Erlebnis Spuren bei dem Jungen hinterlassen hatte. Er hatte Angst vor dem Alleinsein und litt unter Alpträumen. Ganz zu schweigen davon, dass er danach ewig unter der kalten Dusche gestanden hatte. Auf jeden Fall musste er sich darum kümmern, dass es Simon bald wieder besser ging. Immerhin hatte er sich doch verpflichtet, sich um ihn zu kümmern und nicht nur seine körperliche, sondern auch seine geistige Gesundheit zu gewährleisten. „Na gut, aber ich erwarte im Gegenzug, dass du dich in Therapie begibst.“ Deutlich entgeistert schaute Simon ihn an und konnte offenbar nicht glauben, was er da hörte. „Wieso soll ich zum Psychologen? Ich bin okay, ich brauche halt nur etwas Zeit, das ist alles.“ „Du schleppst sehr viel mit dir herum, Simon und es sieht selbst ein Blinder, dass du darunter leidest. Und ich dulde keine Widerworte von dir. Du hast den Vertrag unterzeichnet und ich bin für dich verantwortlich. Du leidest unter Alpträumen, man kann dich nicht allein lassen und du stehst dann ewig unter der Dusche und holst dir den Tod. Ganz zu schweigen davon hast du dir die Augen ausgeheult und brichst unter dem Stress zusammen und bist so erschöpft, dass du vier Tage lang außer Schlafen kaum etwas anderes tun konntest. Du kannst mir nicht erzählen, dass mit dir alles in Ordnung ist und du nur ein bisschen Zeit brauchst, um über alles hinwegzukommen. Das ist Schwachsinn. Manche Dinge kannst du nicht alleine regeln. Das musste ich auch lernen.“ Nun, eigentlich hatte er ja Recht, das wusste Simon auch. Aber ihm gefiel der Gedanke einfach nicht, dass er sich einen Therapeuten suchen musste, nur weil er wegen dieser Vergewaltigung Alpträume hatte. Aber er ahnte, dass es keinen Sinn machen würde, Leron weiterhin zu widersprechen. Wie dieser es ganz klar dargelegt hatte, besagte der Vertrag, dass es gewisse Verpflichtungen gab. Und seine war eben halt, Lerons Anweisungen Folge zu leisten und ihm nicht zu widersprechen. Also blieb ihm in diesem Fall nichts anderes übrig, als klein bei zu geben. Trotzdem sah Begeisterung bei ihm ganz anders aus. „Also gut, ich suche mir einen Therapeuten. Wann können wir mit dem Training fortfahren?“ „Heute Nachmittag. Ich habe noch ein wenig zu arbeiten, bevor wir anfangen. Wir werden aber heute kein Rollenspiel machen, weil ich möchte, dass du dafür auch fit genug bist. Also werden wir heute stattdessen etwas anderes machen. Das Training wird um 15 Uhr stattfinden. Du wirst nichts außer deinem Halsband und den Lederfesseln tragen.“ Simon war schon ein wenig enttäuscht, dass das Rollenspiel nicht stattfinden würde. Andererseits konnte er Leron auch verstehen. In den letzten Tagen hatte er sich wirklich nicht gut gefühlt, da war es natürlich verständlich, dass dieser lieber etwas weniger Anstrengendes machen wollte. Und es war ja nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. „Verrätst du mir wenigstens, was heute auf dem Programm steht?“ Ein Lächeln verriet, dass Leron schon etwas Spezielles im Hinterkopf hatte. „Heute werden wir den Sling einweihen. Der Vorteil ist, dass es körperlich nicht so anspruchsvoll ist. Und da ich nicht weiß, wie dein Körper auf größere Anstrengungen reagieren wird, ist es erst einmal ein guter Wiedereinstieg.“ Unwillkürlich musste Simon wieder an dieses merkwürdige Gerät im Spielzimmer denken. Entweder hatte er ein totales Brett vorm Kopf oder er war einfach nur total ahnungslos, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, was macht man da machte. Und natürlich regte das auch sein Interesse. Also nickte er zum Zeichen des Einverständnisses da sie noch genug Zeit hatten, saßen sie noch eine Weile zusammen. Dabei fragte Simon auch vorsichtig „Du arbeitest viel zuhause wegen mir, oder?“ Doch der Unternehmer winkte nur lässig ab und versicherte ihm„Schon in Ordnung. Es sind meist nur Emails und Telefonate und die kann ich auch von hier aus organisieren. Wenn es nicht möglich gewesen wäre, dann hätte ich mir etwas anderes einfallen lassen. Mach dir da mal keine Gedanken darüber. Ich habe alles so weit unter Kontrolle.“ Dennoch hatte er ein schlechtes Gewissen. Vor allem weil er wusste, dass Leron es nur deshalb tat, weil er Angst davor hatte, alleine in der Villa zu sein. Und mit großer Sicherheit hatte er deshalb mehr Arbeit um die Ohren als er zugeben wollte. Aber das war halt typisch Leron. Er würde es niemals zugeben und tat dann lieber so, als wäre alles ein Kinderspiel. Schließlich stand Leron auf und entschuldigte sich, da er noch zu arbeiten hatte. Also überlegte er sich, was er denn tun konnte um ein wenig die Zeit totzuschlagen. Da er keine Lust hatte, ganz nur herumzusitzen, beschloss er, einen kleinen Spaziergang zu machen. Ein bisschen Bewegung konnte ja nicht schaden, nachdem er die letzten Tage fast nur geschlafen hatte. Außerdem gab es da etwas, das er ohnehin tun wollte: er wollte seinem „alten Arbeitsplatz“ einen Besuch abstatten und den Jungs sagen, dass er mit dieser Sache durch war und er nie wieder hierher zurückkehren würde. Und dann konnte er ihnen auch mal die Meinung geigen, nachdem sie ihn vier Jahre lang immer nur herumgeschubst und verprügelt hatten. Also ging er in sein Zimmer, zog sich seine Schuhe an, setzte die Sonnenbrille auf und machte sich auf den Weg. Es war draußen ein wenig kühler als sonst und er merkte langsam, dass es allmählich Herbst wurde. Kaum zu glauben, dass er schon knapp drei Monate bei Leron lebte. Irgendwie schien die Zeit wie im Fluge zu vergehen und er konnte es selbst nicht wirklich glauben, dass er jetzt schon so lange bei Leron in der Villa lebte. Irgendwie konnte er sich auch nicht mehr wirklich vorstellen, wie sein Leben in dieser dreckigen und verschimmelten Wohnung gewesen war. Vielleicht war das auch die Belohnung dafür, dass er stets ein hartes Leben führen musste. Für ihn stand auf jeden Fall fest, dass er nie wieder in dieses alte Leben zurück wollte. Während er ein Liedchen vor sich hin summte, ging er die Straßen entlang und erreichte nach knapp einer Stunde Fußmarsch jenen Parkplatz, an welchem er vor einiger Zeit noch gearbeitet hatte. Üblicherweise war um diese Zeit nicht sonderlich viel los, da der Hauptbetrieb eigentlich im Abendbereich lag. Doch überraschenderweise waren dort bereits ein paar der Jungs da. Einer von ihnen war Tyler und der gehörte zu den Älteren, die das Sagen hatten und anderen die Plätze zuwiesen und ihre eigenen mit roher Gewalt verteidigten. Simon hatte schon oft Bekanntschaft mit ihm gemacht, weil Tyler es liebte, die Neulinge herumzuschubsen und zu verprügeln. Viel wusste er nicht über ihn, außer dass der Kerl ein ziemliches Drogenproblem hatte. Allein aus reiner Genugtuung ging er zu ihm hin und hob zum Gruß die Hand. „Hey Tyler, was geht?“ Überrascht runzelte der 23-jährige mit dem kurz geschnittenen blonden Haar die Stirn und sah aus, als könne er nicht glauben, wen er da sah. „Scheiße Mann, du bist immer noch nicht tot? Und ich hatte echt schon gedacht, dich hätte der nächste Psycho kaltgemacht. Eigentlich interessiert’s mich einen Scheiß, aber wo zur Hölle warst du denn? Und was hast du da für Klamotten? Sag bloß du fickst jetzt die Oberklasse.“ „Ich habe dieses Dasein hinter mir, Tyler“, erklärte Simon und verschränkte die Arme. „Ich werde nie wieder auf den Strich zurückkehren. Meinen Platz kann ein anderer haben.“ „Ach so ist das…“ Ein breites Grinsen zog sich über Tylers Gesicht und entblößte seine etwas schief gewachsenen und schlecht gepflegten Zähne. Er streckte die Hand aus und packte Simons Halsband. „Jetzt bist du vom Stricherjungen zur persönlichen Luxushure befördert worden. Gehst du auch brav an der Leine und machst Männchen für ihn?“ „Fick dich“, gab Simon unbeeindruckt zurück. Auch wenn Tyler größer war als er, hatte er vor diesem Kerl wesentlich weniger Angst als vor Lerons Familie. Gegen die waren die Stricherjungen ein Witz. Die prügelten sich nur ab und an mal bei Revierstreitigkeiten, das war es aber auch schon. „Wenigstens habe ich es nicht mehr nötig, mich von irgendwelchen zugedröhnten oder versoffenen Freiern zusammenschlagen oder mit dem Messer bedrohen zu lassen. Ich habe mit diesem Kapitel abgeschlossen, genauso wie mit dir und den anderen. Und für ihn bin ich weder ein Stricherjunge, noch eine Luxushure oder sonst irgendetwas. Von ihm werde ich respektvoll behandelt und es war meine Entscheidung, bei ihm zu bleiben. Denk du von mir aus was du willst aber ich bin froh, dass ich vom Straßenstrich weg bin.“ Damit wandte er sich ab und wollte wieder gehen. Allerdings hatte er nicht mit Tylers Hartnäckigkeit gerechnet. Denn dem passte diese Situation ganz und gar nicht und so wurde er grob am Arm gepackt und zurückgezerrt. „Ja, ja. Rede dir das nur schön“, blaffte Tyler und verzog herablassend die Miene. „Aber letzten Endes kannst du eh nichts anderes, als Schwänze lutschen und dich von alten Säcken ficken lassen. Stricher bleibt Stricher und irgendwann hat dein Macker genug von dir und tauscht dich gegen einen jüngeren aus. Letztendlich bist du nur sein Haustier und die setzt man bekanntlich am Straßenrand aus, wenn man sie nicht mehr braucht. Und außerdem fickst du sowieso alles und jeden, der einen Fünfer springen lässt und hast deinen Spaß dabei. Wahrscheinlich geht dir jedes Mal voll einer ab, wenn dich deine Freier besonders hart rannehmen und dich zum Winseln bringen wie einen Hund.“ Eigentlich wäre es ratsam gewesen, ihn einfach zu ignorieren und weiterzugehen, doch für Simon war das in diesem Moment zu viel. Dass Tyler über seine Vergangenheit herzog, das war eine Sache. Aber das hier war eindeutig zu viel. Irgendetwas setzte in ihm aus und er konnte nicht mehr klar denken. Stattdessen drehte er sich um, holte aus und schlug dem 23-jährigen mitten ins Gesicht. „Wag es nie wieder zu sagen, ich hätte Spaß daran, wenn ich vergewaltigt und fast umgebracht werde! Sag das nicht noch einmal!!!“ Kapitel 39: Kleine Strafe ------------------------- Die Prügelei zwischen Simon und Tyler war glücklicherweise nicht allzu schlimm ausgegangen. Der 21-jährige hatte sich halbwegs wacker gehalten und seinen Kontrahenten mit einem Tritt unter die Gürtellinie außer Gefecht setzen können um abhauen zu können. Er selbst war mit ein paar Schlägen in die Rippen, die Magengrube und im Gesicht davongekommen, aber es hätte ihn wesentlich schlimmer erwischen können. Dummerweise war der Verschluss des Halsbandes irgendwie beschädigt worden und es hatte sich gelöst. Kurzerhand hatte Simon es in seine Hosentasche gesteckt und sich schnell wieder auf den Weg nach Hause gemacht. Die Schläge, die Tyler ihm verpasst hatte, wirkten noch ziemlich nach und es tat immer noch ziemlich weh. Aber das war es ihm trotzdem wert gewesen. Dieser miese Arsch hatte nicht das Recht zu behaupten, er hätte Spaß daran, malträtiert und vergewaltigt zu werden. Jetzt gab es halt nur ein Problem: Leron würde garantiert auffallen, dass er sein Halsband nicht trug und dann würde er Fragen stellen. Was also sollte er tun? Eine Möglichkeit wäre, sich irgendeine Ausrede einfallen zu lassen. Sie musste nur glaubhaft genug klingen. Doch andererseits konnte das noch mehr Ärger geben, wenn Leron dahinterkam, dass er gelogen hatte und irgendetwas erfand. Was war das kleinere Übel? Zu gestehen, dass er sich wieder auf dem Parkplatz herumgetrieben und sich mit einem drogenabhängigen Stricher geprügelt hatte, oder zu behaupten, dass das Halsband durch einen harmlosen Unfall kaputt gegangen war? Tja, beim letzten Mal hatte Leron noch Gnade walten lassen, als er ihm diese Sache mit Lionel verschwiegen hatte. Und garantiert würde es dieses Mal Konsequenzen geben, wenn er es noch mal versuchte. Letztes Mal hatte Leron ihn das deutlich spüren lassen und ihn nicht einmal in den Arm genommen und beinahe hätte er alleine schlafen müssen. Bevor es so weit kam, gestand er lieber selber sein Vergehen. Herauskommen würde es wahrscheinlich sowieso wenn die blauen Flecken sichtbar wurden. Also ging er direkt zu Lerons Arbeitszimmer und klopfte an. Ein kurzes „Ja!“ folgte zur Antwort und Simon trat ein. Der Unternehmer saß am Schreibtisch und schien gerade einige Mails durchzulesen. Als er aber merkte, wer gerade hereingekommen war, drehte er sich um und sah sofort Simons aufgeplatzte Unterlippe. Verwundert hob er die Augenbrauen. „Was ist mit dir passiert?“ Nun holte der 21-jährige das Halsband aus seiner Hosentasche und zeigte es ihm. „Ich war spazieren und war am Parkplatz.“ „Parkplatz?“ fragte Leron erst einmal verständnislos und wusste erst nicht, wovon die Rede war. Dann aber ging ihm langsam ein Licht auf und seine Miene wurde ernst. „Etwa der Straßenstrich?“ Simon nickte und erklärte „Ich habe mit Tyler geredet. Er hat quasi das Sagen dort und ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr dorthin zurückgehen werde. Er hat mich daraufhin ziemlich provoziert und da habe ich die Nerven verloren und mich mit ihm geprügelt.“ Immer noch wirkte der Unternehmer ein wenig überrascht, was ja auch kein Wunder war. Er hatte Simon zwar als etwas eigensinnig, aber nicht unbedingt als streitlustig oder gewaltbereit eingestuft. Und da war diese Offenbarung über eine Schlägerei auf dem Parkplatz nicht unbedingt etwas, was er erwartet hätte. Vor allem dass Simon derjenige war, der die Schlägerei angefangen hatte. „Wie genau hat er dich provoziert?“ „Er sagte, dass ich es vom Stricher lediglich zur Luxushure geschafft habe und dass du mich bei der nächstbesten Gelegenheit vor die Tür setzt, wenn du mich nicht mehr haben willst.“ „Und davon lässt du dich zu einer Schlägerei hinreißen?“ „Nein“, erwiderte Simon und seufzte. „Was mich erst so wütend gemacht hat, war die Tatsache, dass er meinte, ich würde mein Vergnügen daraus ziehen, solche Sachen zu machen und mich wie Dreck behandeln zu lassen. Ich musste da wieder an Michael denken und habe die Beherrschung verloren. Ich habe Tyler eins auf die Nase gegeben und dann haben wir eine Auseinandersetzung gehabt. Dabei ist der Verschluss von meinem Halsband kaputt gegangen. Ich dachte, ich erzähle es dir lieber jetzt, bevor es anders rauskommt.“ Leron atmete tief durch und sagte erst einmal nichts. Man sah deutlich, dass er versuchte, ruhig und gefasst zu bleiben, um eine vernünftige Entscheidung treffen zu können. Das wäre vor einiger Zeit noch nicht vorstellbar gewesen, aber durch die Medikamente und die Therapie war er in der Lage, seine Gefühle in solchen Situationen unter Kontrolle zu halten. „Hast du irgendwelche anderen Verletzungen?“ Simon schüttelte den Kopf. „Tut es dir leid, was du getan hast?“ „Nein“, gestand der 21-jährige. „Zumindest wegen Tyler tut es mir nicht leid. Er hat eine Abreibung verdient gehabt. Mir tut es nur leid, dass das Halsband jetzt kaputt ist.“ Immer noch war Lerons Miene unbewegt und nun war er ein wenig verunsichert, denn er wusste einfach nicht, was ihn jetzt erwartete und vor allem was Leron nun tun würde. Schließlich aber schien der Unternehmer seine Entscheidung gefällt zu haben. „Nun, da du anscheinend fit genug bist, um dich mit anderen Jungs zu prügeln, wird es eine entsprechende Erziehungsstunde geben. Dass du dich provoziert gefühlt hast, ist verständlich. Aber erstens hättest du weder zu diesem Parkplatz zurückgehen sollen, zweitens hättest du dich auch gar nicht erst so provozieren lassen sollen. Es war in erster Linie deine Dummheit gewesen. Und dementsprechend werde ich dir beibringen, dass du dich in Zukunft von solchen Plätzen fernhältst und dich nicht in eine Prügelei verwickeln lässt.“ „Und wird es nach der Erziehungsstunde weitere Konsequenzen geben?“ „Das hängt ganz von dir ab. Du kannst gehen und du wirst das Haus bis 15 Uhr nicht verlassen. Danach kommst du ohne Kleidung zu mir.“ Gehorsam nickte Simon und verließ das Arbeitszimmer. Irgendwie hatte er ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Es war das erste Mal, dass er sich einen ziemlichen Fehltritt geleistet hatte und dafür jetzt bestraft wurde. Ansonsten war es immer im spielerischen Rahmen während der Sessions passiert aber jetzt lag die Sache anders. Leron hatte ganz Recht. Er war zum Parkplatz gegangen obwohl er hätte wissen müssen, dass es irgendwie in diese Richtung verlaufen würde. Und da war es ja auch abzusehen gewesen, dass ihm auch dementsprechend Konsequenzen drohten. Na hoffentlich lief es nicht darauf hinaus, dass Leron ihm zur Strafe die kalte Schulter zeigen würde. Vielleicht ließ dieser auch ein bisschen Milde walten, weil er ja von selbst alles gestanden hatte. Zumindest hoffte er das. Da es besser war, Leron nicht noch mehr zu verärgern, blieb Simon im Haus und verarztete seine Unterlippe. Gegen 15 Uhr legte er seine gesamte Kleidung ab und kam nackt zu Leron, so wie dieser ihm aufgetragen hatte. Doch der Unternehmer schien etwas verstimmt zu sein und als der 21-jährige reumütig den Blick senkte, folgte auch schon die Anweisung „Komm mit!“ Er klang streng und fordernd. Fast wie ein Vater, der seinem Sohn eine Standpauke halten würde. Innerlich zuckte Simon zusammen und wurde nervös. Er mochte es nicht, Leron so zu sehen und verstand nicht, warum dieser so heftig wegen dieser Kleinigkeit reagierte. Es war doch bloß eine kleine Prügelei mit einem drogensüchtigen Stricher gewesen. Bis vor drei Monaten hatte er so etwas fast jede Woche erlebt. Und Tyler hatte es halt nicht anders verdient. Gemeinsam gingen sie in den Keller, doch statt dem Spielzimmer steuerte Leron dieses Mal einen ganz anderen Raum an, nämlich das Strafzimmer. Ein mulmiges Gefühl überkam Simon und er fragte sich, was ihn wohl erwarten würde. Zumindest nichts, was gegen die festgelegten Tabus verstieß. Immerhin war ganz deutlich festgelegt worden, dass sie niemals ohne seine ausdrückliche Erlaubnis gebrochen werden durften. Dennoch begann er zu ahnen, dass es für ihn kein Spaziergang werden würde. Vor der Tür blieben sie schließlich stehen und Leron holte etwas hervor, was er erst nicht genau erkennen konnte. Als der Unternehmer es dann aber plötzlich an seinen Penis anbrachte, sah er, dass es ein Cock Cage war. Dieser bestand aus Metall und alles war rund abgeschliffen, sodass er eigentlich ganz angenehm saß. Er besaß zusätzlich ein kleines Vorhängeschloss, welches Leron auch sogleich abschloss. „Diesen wirst du während der Erziehungsmaßnahme die ganze Zeit tragen. Wie lange die Maßnahme dauert, hängt davon ab, ob du deine Lektion auch wirklich lernst. Wenn du es nicht schaffst, wirst du die nächsten drei Tage alleine schlafen müssen.“ Drei Tage?! Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Zuerst wollte er protestieren, doch dann erinnerte er sich an die Regel, keine Widerworte zu geben und während der Session nicht ohne Aufforderung zu reden. Also hielt er lieber die Klappe und nickte brav. Es wäre ziemlich unklug, seine Lage noch schlimmer zu machen als ohnehin schon. Insbesondere weil Leron schon sauer auf ihn war, da er sich diesen Fehltritt erlaubt hatte. Das Beste war, wenn er die Strafe akzeptierte und sein Bestes gab. Also betraten sie nun das Strafzimmer und zuerst blieb Simon stehen, denn die Inneneinrichtung schüchterte ihn schon etwas ein. Er sah einen Käfig, ein Andreaskreuz, mehrere Ketten von der Decke hängen und andere merkwürdige Möbel, die er noch nie gesehen hatte. Einer davon sah ein wenig wie ein elektrischer Stuhl aus, nur ohne die mörderische Apparatur. Und etwas weiter weg stand sogar ein Pranger. Eingeschüchtert von dieser Einrichtung wich Simon einen Schritt zurück und sogleich legte sich eine Hand auf seine Schulter. „Was hast du, Simon?“ „Ich glaube, ich habe ein klein wenig Schiss…“, gab der 21-jährige zu. „Das sieht nicht gerade vertrauenserweckend aus.“ „Das liegt daran, dass dies hier noch alles sehr neu für dich ist. Aber es gibt keinen Grund zur Sorge. Es wird dir nichts Schlimmes passieren. Und du weißt, was du zu sagen hast, wenn es zu viel für dich wird.“ Er nickte und versuchte, tief durchzuatmen um sich zu beruhigen. Dennoch war er immer noch ein wenig eingeschüchtert von dieser seltsamen Einrichtung. Brav folgte er Leron zu einem Gerät, das ein klein wenig an eine Liege erinnerte. Aber auch nur ein wenig. Die gepolsterte Fläche war in einer Art V-Form und besaß eine gewölbte Liegefläche. Zudem gab es mehrere Gurte und eine Art Kopfablage. Darunter war gut sichtbar eine Art kleiner Bildschirm fixiert. Außerdem waren zwischen den Beinablagen Geräte fixiert, die Simon als einen Massagestab und einen Dildo wiederzuerkennen glaubte. Leron begann nun nach und nach die Gurte zu lösen und wies ihn dann an, entsprechende Position einzunehmen. Da der Angesprochene aber noch etwas unerfahren mit solchen Geräten war, stellte er sich ein klein wenig ungeschickt an und musste sich ein wenig helfen lassen, damit er auch richtig auf dem Strafbock auflag. Danach wurde er fixiert, bis er sich nicht mehr bewegen konnte. Stattdessen war er gezwungen, nach unten auf den Bildschirm zu sehen. Auf der Liegefläche gab es eine entsprechende Aussparung, sodass er einen idealen Blick darauf hatte. Dieser wurde schließlich eingeschaltet und was er sah, bestätigte seinen Verdacht nur allzu deutlich: das war er selbst von hinten. Er sah seinen eigenen Arsch. „So mein lieber Simon. Du weißt, warum ich mit dir hier bin und warum wir das hier machen. Was genau hast du verbrochen, dass ich dich strenger erziehen muss?“ „Ich habe mich geprügelt und mein Halsband ist dabei kaputt gegangen.“ „Das war aber noch nicht alles, oder?“ Lerons Hand streichelte nun über sein Gesäß und begann es zu kneten. Doch seine Nervosität war immer noch recht groß, vor allem weil er sich überhaupt nicht bewegen konnte. „Ich glaube, du hast etwas sehr entscheidendes vergessen.“ Und was genau? Irgendwie verstand er nicht, was er denn vergessen hatte. Das war doch genau das, was Leron ihm vorwarf: er hatte eine Prügelei angefangen und kassierte dafür entsprechend Ärger. Bevor er darüber nachdenken konnte, gab es ein klatschendes Geräusch, als Leron ihm einen wohl dosierten, aber dennoch kräftigen Klaps auf den Hintern gab. „Dann streng dich mal genau an. Warum bin ich denn sauer deswegen?“ „Weil ich die Prügelei angefangen habe?“ Wieder folgte ein Klaps und kurz darauf der nächste. „Das hatten wir schon. Du hast diesen Jungen provoziert und es auf eine Schlägerei ankommen lassen. Du wolltest deine Schadenfreude gegenüber anderen auskosten und ihnen unter die Nase reiben, dass du es jetzt besser hast als die.“ „Das stimmt nicht!“ protestierte Simon laut. „Ich wollte nur…“ „Ich kann mich nicht entsinnen, dir die Erlaubnis zum Sprechen erteilt zu haben. Das macht den ersten Strich. Und für die Widerworte kassierst du auch gleich den nächsten. Jeder Strich wird dir einen Schlag mehr kosten.“ Simon schwieg und versuchte den Ärger herunterzuschlucken. Warum verstand Leron seine Situation nicht? Er war all die Jahre immer wie ein Fußabtreter behandelt worden und nun, da er endlich die Chance hatte es allen zu zeigen, da wurde er bestraft. Das war nicht fair. „Erkennst du selbst dein Fehlverhalten?“ „Ja, ich weiß, dass ich mich falsch verhalten habe“, gab Simon ohne Umschweife zu. „Es war eine blöde Idee, aber ich wollte es denen einfach mal zeigen, nachdem sie mich immer so mies behandelt haben.“ „Das mag sein und es ist verständlich“, räumte Leron ein. „Aber denk darüber nach, dass diese Leute selbst um ihre Existenz kämpfen müssen. Sie haben nicht so viel Glück wie du und sie tun alles, um zu überleben und nicht verhungern zu müssen. Viele sind drogenabhängig und kommen alleine aus diesem Teufelskreis nicht heraus. Du hattest Glück, Simon. Wenn ich dich nicht gefunden hätte und du nicht mit mir mitgekommen wärst, würdest du immer noch dort arbeiten. Dein Verhalten war arrogant und so etwas akzeptiere ich hier nicht. Du wirst diese Erziehungsmaßnahme dazu nutzen, um darüber nachzudenken.“ Da Simon vollkommen bewegungsunfähig war, konnte er nur sehen, was sich auf dem Bildschirm abspielte. Zuerst sah er nur, wie Leron sich kurz entfernte, dann aber wieder ins Sichtfeld der Kamera zurückkehrte. Er spürte, wie etwas Gleitgel auf seinen Schließmuskelring verteilt wurde, bevor zwei Finger in ihn eindrangen. Es brauchte nicht fiel, bis Simon spürte, wie seine Erregung stärker wurde, während Leron ihn auf diese Weise stimulierte. Doch sogleich merkte er auch, wie es langsam enger im Cock Cage wurde. Schließlich aber entfernten sich Lerons Finger aus seinem After und er sah auf dem Bildschirm, wie der Unternehmer nun an diesem seltsamen Dildogerät zu arbeiten begann. „Äh… was genau ist das?“ fragte der Festgeschnallte und versuchte sich irgendwie zu bewegen, doch das war nicht wirklich möglich. „Das wirst du gleich merken. Bleib einfach entspannt und atme tief durch.“ Immer noch nervös folgte er der Anweisung und versuchte sich wieder zu beruhigen. Zärtlich strich eine Hand über seinen Hintern und Simon schloss die Augen und konzentrierte sich ganz alleine auf die Berührung. Und es half tatsächlich ein wenig. Dann aber spürte er, wie erneut Druck auf seinen Anus ausgeübt wurde und er spürte, wie etwas Hartes in ihn eindrang. Zuerst überkam ihn für einen Augenblick wieder die Angst. Das Gefühl der Hilflosigkeit als er sich nicht bewegen konnte und völlig wehrlos war, übermannte ihn beinahe und obwohl die Regeln besagten, dass er nicht ohne Erlaubnis reden durfte, tat er es dennoch. „Leron, ich… ich hab Angst…“ „Versuch tief durchzuatmen. Ich bin hier und ich werde nicht weggehen.“ „Bitte…“, flehte Simon und merkte mit leichtem Entsetzen, dass seine Stimme zitterte. „Ich will die Strafe annehmen… aber ich habe trotzdem Angst. Kannst du bitte meine Hand halten?“ Leron spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte, als er Simon so reden hörte. Der Junge hatte wirklich Angst. Trotzdem wollte er es immer noch durchziehen. Anscheinend half es nichts, wenn er nur mit ihm redete. Nein, er musste spüren, dass er in Sicherheit war. Unter normalen Umständen wäre er konsequent geblieben, aber angesichts der Tatsache, dass Simon mit einem Trauma zu kämpfen hatte, entschied er sich dazu, ein wenig Milde walten zu lassen. Er holte sich einen Hocker herbei, setzte sich neben ihn und legte eine Hand auf die des Jungen, während seine andere Hand durch das dunkelbraune Haar strich. „Du machst das sehr gut“, sprach er beruhigend. „Konzentriere dich alleine auf meine Berührung. Es kann dir rein gar nichts passieren und ich werde nicht von deiner Seite weichen.“ Ein wenig wich die Anspannung wieder, doch er spürte immer noch ein leichtes Zittern. Trotzdem brach Simon immer noch nicht ab, obwohl er es jederzeit hätte tun können. Kampfgeist hatte er auf jeden Fall. Zärtlich streichelte er ihm den Kopf und als sich der Junge langsam entspannte, nahm er die Fernbedienung und erhöhte die Stufe der Dildomaschine. „Für diese Strafe gibt es kein Zeitlimit“, erklärte er schließlich. „Es hängt von deinem eigenen Durchhaltevermögen ab. Entweder du lernst deine Lektion und erkennst dein Fehlverhalten, oder du brichst ab und die Erziehungsstunde gilt damit als fehlgeschlagen.“ Simon hatte sich zunächst alles andere als wohl gefühlt und es hatte ihn wirklich Anstrengung gekostet, ruhig zu bleiben und nicht die Nerven zu verlieren. Zumindest half es ihm, dass Leron nah bei ihm war. Die Angst, alleine und hilflos zurückzubleiben, war einfach zu groß gewesen. Und während Leron ihm zärtlich den Kopf streichelte, konnte er sich etwas entspannen. Er spürte, wie der Dildo tief in ihn eindrang und sich dann wieder aus ihm entfernte, nur um wieder von Neuen tief in ihn zu stoßen. Seine Erregung wurde stärker und gleichzeitig auch der Schmerz, als es langsam zu eng im Cock Cage wurde. Ein lautes halb lustvolles und halb schmerzerfülltes Keuchen entwich ihm und nun begann er so langsam zu realisieren, worum es bei dieser Strafe ging. Der Cock Cage machte es ihm unmöglich, zum Orgasmus zu kommen und es schmerzte obendrein, dass er erregt war. Und es gab keinerlei Möglichkeit für ihn, sich irgendwie aus dieser Situation herauszuwinden. Es war ein verdammt unbefriedigendes Gefühl. Auf der einen Seite wurde er so stimuliert und auf der anderen Seite machte der Cock Cage die ganze Sache ziemlich unangenehm für ihn. Angestrengt versuchte er sich gedanklich irgendwie abzulenken, um auf diese Weise etwas herunterzukommen. Doch das hatte nicht den geringsten Erfolg und er spürte, wie der Druck langsam schlimmer wurde. Verdamm noch mal er wollte kommen, doch das würde nicht gehen solange er dieses Ding trug. „Ah… aah…“ Simon ballte seine Hände zu Fäusten und er war gefangen zwischen dem Gefühl der Lust und dem Schmerz, der ihn davon abhielt, sich einfach dem ersteren Gefühl hinzugeben. Er bezweifelte, dass er das lange durchhalten würde, vor allem wenn dieses verdammte Ding um seinen Penis immer enger zu werden schien. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: entweder abbrechen, oder über das nachdenken, was Leron ihm gesagt hatte und sein eigenes Fehlverhalten einsehen. Nun… dass er eine Dummheit begangen hatte, bestritt er durchaus nicht. Er hätte es wirklich lassen sollen und wenn er bedachte wie er sich früher verhalten hatte… Wenn ihm jemand seinen Wohlstand und sein neues tolles Leben unter die Nase gerieben hätte, nur weil diese Person mehr Glück hatte, wäre er wahrscheinlich auch ziemlich sauer gewesen und hätte es auf Ärger ankommen lassen. Nun gut, er hatte seine Genugtuung gehabt, aber die anderen Stricherjungen waren immer noch in dieser Hölle gefangen und kamen da wahrscheinlich auch niemals heraus. Für sie gab es kein Happy End und sie würden eines Tages im Drogenmilieu enden, wenn sie nicht schon vorher an AIDS starben oder von einem aggressiven und betrunkenen oder zugedröhnten Freier umgebracht wurden. In der Hinsicht war das wirklich eine sehr kurzsichtige Aktion von ihm gewesen. „Leron…“ Wieder streichelte diese vertraute Hand seinen Kopf und der Angesprochene fragte „Willst du mir irgendetwas sagen?“ Simon biss sich auf die Unterlippe als der Druck langsam unerträglich wurde. „Es tut mir leid, dass ich mich so mies verhalten habe. Es war scheiße von mir, dass ich den anderen unter die Nase reiben wollte, dass ich jetzt ein besseres Leben habe als sie. Ich habe nicht nachgedacht und… und… ich wollte einfach nur das Gefühl von Schadenfreude genießen.“ „Aha…“, kam es von Leron aber es klang nicht wirklich danach, als würde er wirklich mit dem Gedanken spielen, ihn endlich loszubinden. „Es tut dir also leid? Hm… irgendwie bin ich noch nicht wirklich überzeugt, dass du es auch wirklich ernst meinst. Dafür, dass du vorhin so rebellisch und dickköpfig warst, zeigst du dich ziemlich reumütig und einsichtig.“ Damit entfernte sich Leron von ihm und für einen Moment überkam Simon die Angst, dass er irgendetwas Falsches gesagt hatte und er nun noch schlimmer bestraft werden würde. Doch dann spürte er wieder Lerons Hand, die nun zärtlich über sein Gesäß streichelte, bis die diese dann seine Hoden zu massieren begann. „Ich habe eher das Gefühl, dass du das nur sagst, weil du nicht abspritzen kannst.“ „Es tut mir wirklich leid“, versicherte der 21-jährige, hatte aber Mühe, sich zusammenzureißen. „Ich habe eine Strafe für mein Fehlverhalten verdient und ich will es auch nie wieder tun.“ „Hm…“ Ein scheinbar endlos langes Schweigen trat ein, bis plötzlich ein kräftiger Klaps auf seinen Hintern folgte, kurz darauf ein zweiter. „Na gut. Dann werde ich dir das glauben.“ Damit wurde der Dildo aus seinem After entfernt und auch der Cock Cage wurde abgenommen. Doch er wurde noch nicht losgeschnallt. „Nun gut. Da du deine Lektion offenbar gelernt hast, werde ich mich um dein kleines Problem hier kümmern.“ Simon sah auf dem kleinen Monitor, wie Leron den Gürtel seiner Hose öffnete und wusste nun, was folgen würde. Doch der Unternehmer ließ sich Zeit, um ihn noch ein wenig hinzuhalten. Und auch wenn er dessen Gesicht nicht sehen konnte, wusste er dennoch, dass dieser lächelte. Tja, er war eben halt trotz allem ein Sadist… Kapitel 40: Unerwarteter Besuch ------------------------------- Simon hatte das Gefühl, als hätte er einen kurzen Aussetzer gehabt. Kaum, dass Leron ihm den Cock Cage abgenommen hatte, hatte er seinen Orgasmus nicht zurückhalten können und dann war ihm schwarz vor Augen geworden. Als er wieder bei Sinnen war, hatte Leron ihn bereits losgeschnallt und trug ihn zu einer Liege. „Bleib noch etwas liegen“, wies Leron ihn an. „Ich hole dir eben ein Glas Wasser.“ Etwas benommen nickte Simon und blieb liegen. Sein Herzschlag war inzwischen ruhiger geworden, was wohl bedeutete, dass er etwas länger als nur ein paar Sekunden weggetreten gewesen war. Anscheinend war er doch nicht hundertprozentig wieder auf den Beinen und sein Kreislauf hatte sich kurzfristig wieder verabschiedet. Naja, es konnte schlimmer sein. Blieb nur zu hoffen, dass Leron jetzt nicht auf den Trichter kam, dass er weitere Tage lang Schonfrist benötigte. Darauf hatte er nun wirklich keine Lust mehr und er ärgerte sich auch selbst, dass er sich nicht hatte zusammenreißen können. Aber irgendwie war ihm so, als hätte er eine Art kurze Traumsequenz gehabt, als er ohnmächtig gewesen war. Es war wieder diese Szene gewesen, wo er krank auf der Couch gelegen hatte und Hunter bei ihm gewesen war. Hunter hatte so eine seltsame Andeutung gemacht, die ihn nicht losließ. Irgendetwas mit einem Phänomen… Was war das noch mal gewesen? Er versuchte sich zu erinnern, aber in seinem Kopf drehte sich noch alles. Leron kam schließlich wieder zurück und reichte ihm ein Glas Wasser. Als das Kopfkarussell endlich vorbei war, setzte sich Simon auf und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Leron setzte sich neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. „Willst du nicht lieber wieder nach oben gehen und dich ausruhen?“ Doch Simon schüttelte nur den Kopf und versicherte „Es ist alles in Ordnung. Mir geht es schon wieder besser.“ Er leerte das Glas in einem Zug und lehnte sich an Lerons Schulter an. „Nur eine kleine Kreislaufschwäche, mehr nicht. Aber ich möchte nicht, dass das alles schon vorbei ist. Ich möchte dir nach sein. Ich will dich spüren.“ „Das kannst du jederzeit“, versicherte Leron und nahm ihn in den Arm. „Ich bin sehr stolz auf dich, dass du es durchgezogen hast, auch wenn du zwischendurch Angst hattest. Das hast du sehr gut gemacht. Und ich hoffe, diese Erziehungsstunde war dir eine Lehre.“ Simon nickte und schloss die Augen. Es fühlte sich so angenehm an, Lerons Körperwärme zu spüren und den Schlag seines Herzens zu hören. „Ja, es tut mir leid, dass ich mich so danebenbenommen habe. Das kommt nicht mehr vor.“ Leron seufzte und tätschelte seinen Kopf. „Naja, ich denke mal, dass dir einfach die nötigen Elternfiguren gefehlt haben, um dir das beizubringen und ich hake diesen Vorfall als kleine Rebellion ab. Ich sage ja nicht, dass ich dir den Kopf abreißen werde, wenn du dir einen Fehltritt erlaubst. Aber ich will, dass du verstehst, dass dein Handeln entsprechende Konsequenzen nach sich zieht.“ Natürlich verstand Simon, wie das Ganze funktionierte. Aber es war für ihn nach wie vor ein seltsames Gefühl. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass es quasi dasselbe war wie zwischen Vater und Sohn. Aber das war nicht die richtige Beschreibung für die Beziehung zwischen ihm und Leron. Er wusste auch nicht so wirklich, wie er damit umgehen sollte. Also fasste er sich ein Herz und entschied sich, mit Leron darüber zu reden. Der Unternehmer hörte ihm aufmerksam zu und schmunzelte sogar ein wenig darüber, als Simon ihm gestand, wie er sich dabei fühlte. Ein wenig neckisch kniff er ihm in die Wange und erklärte „Du bist mein Petboy, also fast wie eine Art Sexsklave. Nur mit dem Unterschied, dass ich es bevorzuge, dich zu erziehen, anstatt zu erniedrigen und ich bevorzuge es auch lieber, dich zu verwöhnen, wenn du dich anständig benimmst. Und es ist ähnlich wie bei einem Haustier: wenn es seinem Herrchen auf der Nase herumtanzt, wird es erzogen. Aber ich kann schon verstehen, dass dich das ein wenig irritiert. Du hattest keine Eltern und dementsprechend war auch diese rebellische Phase niemals da, wo du dich gegen deine Eltern auflehnst und deine Grenzen austestest. Dementsprechend ist das hier auch eine neue Erfahrung für dich. Aber eines will ich von vornherein klarstellen: ich will keine Vaterfigur für dich sein, Simon.“ „Das will ich auch nicht“, versicherte der 21-jährige sofort. „Es kam mir halt nur so in den Sinn und ich wollte deshalb mit dir darüber reden.“ „Dann ist ja gut.“ Leron stand nun auf und trug Simon auf seinen Armen aus dem Keller heraus. Der Weg führte sie nach oben ins Schlafzimmer und vorsichtig wurde er aufs Bett gelegt. Doch Simon wollte sich noch nicht hinlegen. Zuerst wollte er sich eine heiße Dusche gönnen, um seinen Kreislauf wieder auf Vordermann zu bringen. Als er aber in Richtung Bad ging, hielt Leron ihn kurz zurück und wollte wissen, wo er denn hingehen wollte. „Ich brauche erst mal eine heiße Dusche“, erklärte sein Petboy mit einem herausfordernden Lächeln. „Ich bin ziemlich verschwitzt und eine heiße Dusche soll wahre Wunder wirken.“ „Na dann komme ich eben mit“, beschloss Leron kurzerhand. „Es macht eh keinen Sinn, wenn wir danach wieder duschen gehen.“ Auch wieder wahr. Also gingen sie gemeinsam ins Bad und nachdem Leron den Rest seiner Kleidung abgelegt hatte, drehten sie das Wasser auf und Simon spürte die wohltuende Wirkung des heißen Wassers, das auf seine Haut niederprasselte. Er stand mit dem Rücken zu Leron und hatte ihn für einen kurzen Moment ausgeblendet, bis er plötzlich dessen Hände auf seinen Hüften spürte. „Ich glaube, du hast bei deinen nächtlichen Duschaktionen mein Duschgel fast komplett aufgebraucht“, raunte die Stimme des Unternehmers dicht an seinem Ohr. „Magst du etwa dein eigenes nicht mehr?“ „Ich habe mich wohler gefühlt, wenn ich deines genommen habe“, gab Simon ein wenig verlegen zu und wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht. „Ich hatte dann das Gefühl, dass du bei mir warst und ich habe mich dann sicherer gefühlt.“ „Na schön. Dann wollen wir dich mal gründlich saubermachen.“ Zärtlich glitten Lerons Hände über seinen zierlichen Körper und rieben ihn mit Seifenschaum ein. Und natürlich ließ es sich der Unternehmer nicht nehmen, ein wenig mit ihm zu spielen. Simon genoss es, wie Lerons Hände seinen Körper erforschten, seine Brustwarzen kneteten und über seinen Hals strichen. Als Leron ihm spielerisch ins Ohrläppchen biss und nun seinen Penis zu massieren begann, keuchte er leise und schloss die Augen, während er sich näher an Lerons Körper drückte. Er wollte sich einfach nur fallen lassen und alles um sich herum vergessen. „Warum schaffst du es immer wieder, mich so um den Verstand zu bringen?“ raunte die Stimme in sein Ohr. „Jedes Mal, wenn ich dich sehe, kann ich einfach nicht an mir halten.“ Darüber konnte Simon nur schmunzeln und er erklärte „Vielleicht liegt es daran, weil ich genauso unverbesserlich bin. Das nennt man wohl hoffnungslos verknallt, vermute ich.“ Daraufhin kassierte er einen spielerischen Klaps auf seinen Hintern, gefolgt von der Warnung „Sei bloß nicht so frech, oder ich versohle dir noch wirklich den Hintern.“ „Ich liebe dich auch, Leron.“ Mit diesen Worten drehte sich Simon um, schlang seine Arme um ihn und küsste ihn. Leron erwiderte diesen Kuss sofort und war damit schnell wieder versöhnlich gestimmt. Und während sich der anfangs noch einfache Kuss zu einem leidenschaftlichen Zungenkuss steigerte, begann nun eine Hand damit, Simons Hintern zu kneten. Es brauchte nicht viel, bis der 21-jährige erregt war und er stellte schnell fest, dass es sich bei Leron nicht sonderlich anders verhielt. „Na das ging ja schnell bei dir“, merkte er scherzhaft an, als er kurz seine Lippen von Leron löste. „Was soll das denn heißen? Im Gegensatz zu dir bin ich noch nicht zum Schuss gekommen.“ Na dann wollen wir das mal ändern, dachte sich Simon und ging nun auf die Knie. Dann braucht er nicht herumzumeckern, dass ich mehr Spaß hatte als er. Leron drehte nun das Wasser ab und strich die nassen Haarsträhnen aus Simons Gesicht, bevor er seine Hand auf den Hinterkopf des Jungen legte. Er drängte ihn nicht, er wartete einfach ab, denn er wusste, dass er ihn gut erzogen hatte. Er brauchte nicht einmal zu sagen, was er wollte. Der Junge wusste es auch so und tat es von sich aus, weil er es selber so wollte und nicht weil er sich genötigt fühlte. Er kümmerte sich nicht nur bloß um sein eigenes Wohl, sondern auch um das seines „Herrn“. Und genauso wollte er es haben. Simon ließ Lerons Penis in seinen Mund gleiten und begann ihn nun mit seinem Mund zu verwöhnen. Er spürte die Hitze und das Pulsieren und hörte, wie Lerons Atem geräuschvoller wurde. Oh ja, er wusste genau wie dieser es am liebsten mochte. Seine Zunge umspielte erst spielerisch den Schaft, bevor er sich etwas zurückzog und an der Spitze zu saugen begann. Wenn er ganz ehrlich war, liebte er es, Leron auf diese Weise zu verwöhnen und ihm diese Töne zu entlocken. Ob das ein Resultat des Trainings war oder ob es einfach nur daran lag, weil er Leron liebte, konnte er nicht sagen und es kümmerte ihn auch nicht sonderlich. Was zählte war, dass sie beide ihren Spaß dabei hatten und Momente wie diese genossen. Und wer weiß, vielleicht belohnte Leron ihn später mal dafür. Immerhin hatten sie noch gar nicht das Rollenspiel weitergeführt, wie er es sich gewünscht hatte. Und wenn er einen guten Job machte, vergaß Leron seinen Fehltritt von heute und ließ mit sich reden. Also war es das Beste, wenn er ihn möglichst schnell zum Höhepunkt brachte. Simon legte noch einen Zahn zu und hörte, wie der Unternehmer nun schwerer keuchte als vorher und spürte, wie sich der Griff in seinen Haaren verstärkte. Dann schließlich zog Leron seinen Kopf nach hinten und Simon schloss noch rechtzeitig seine Augen, als er auch schon spürte, wie ihm etwas Warmes ins Gesicht spritzte. Langsam öffnete er wieder die Augen und schaute zu Leron auf, der ihn zufrieden betrachtete. Der 21-jährige grinste als er die Befriedigung in dessen Miene sah und fragte „Du stehst wohl drauf, auf mein Gesicht abzuspritzen, wie? Da habe ich wohl einen heimlichen Fetisch von dir entdeckt.“ „Womöglich“, gab Leron zu und half ihm hoch. „Ich finde einfach den Anblick so erregend.“ „Ich habe gehört, dass Männer so etwas machen, weil sie entweder den Partner erniedrigen, oder ihre Macht ausleben wollen. Oder sie wollen nur nachmachen, was sie in einem Porno gesehen haben. Was trifft denn auf dich zu?“ „Weiß nicht. Ich finde, es sieht einfach verboten heiß aus. Und jetzt dreh dich um und spreiz deine Beine.“ Gehorsam kam Simon dieser Aufforderung nach und stützte sich an der Wand ab, um einen festen Stand zu haben. Erneut kassierte er einen Klaps auf den nackten Hintern, wohl als kleine Strafe für seinen frechen Kommentar. Aber das störte ihn nicht sonderlich. Stattdessen wandte er sich kurz zu ihm um und zwinkerte ihm neckisch zu. Es war wie ein kleines Spiel zwischen ihnen und auch wenn Simon schon von vornherein wusste, dass er unterliegen würde, ließ er es darauf ankommen. Nur weil er der Petboy in der Beziehung war, bedeutete das nicht unbedingt, dass er sich ständig so brav und unterwürfig verhalten musste wie ein Sklave. Ein kleiner Freiraum wurde ihm gewährt, in dem er sich bewegen konnte und er testete halt die Grenzen aus um zu wissen, wie weit er es treiben durfte. Natürlich nicht allzu oft, das würde nur zu Spannungen führen und dann auch höchstwahrscheinlich zu einer weiteren Erziehungsstunde. Aber ein kleines bisschen mit ihm zu spielen, verlieh dem ganzen auch wiederum eine gewisse Würze. Simon atmete tief durch um zu entspannen, als er den wachsenden Druck auf seinen Schließmuskel verspürte. Leron war dieses Mal nicht ganz so langsam und vorsichtig wie sonst. Vielleicht weil es auch nicht wirklich nötig war, denn ihnen beiden stand der Sinn nach einer etwas härteren Runde. „Scheinst es ja ziemlich eilig zu haben“, provozierte Simon ihn ein wenig. „Dabei hast du erst gerade abgespritzt.“ „Pass bloß auf, was du sagst“, kam es als Warnung zurück. „Ansonsten muss ich dich wieder eine Erziehungsstunde verpassen. Und ich glaube du hast etwas vergessen.“ Vergessen? Simon dachte nach und versuchte sich zu erinnern, was er denn vergessen hatte und dann fiel es ihm glücklicherweise wieder ein. „Danke für die Erziehungsstunde vorhin.“ „Beim nächsten Mal gibt es noch eine zusätzlich, wenn du es wieder vergessen solltest.“ Oh Mann, er ist wirklich verdammt streng, dachte sich Simon, sagte aber nichts dazu. Stattdessen entwich ihm ein lustvolles Keuchen, als Leron hart in ihn hineinstieß und diesen einen Punkt traf, der ihn jedes Mal in diese süße Ekstase versetzte. Verdammt war das geil. Ein heißer Schauer jagte über seinen Körper und mit einem lauten Stöhnen krallte Simon seine Finger in die Fugen der Fliesen, um irgendwie Halt zu finden. Leron hielt seine Hüften fest gepackt und seine Stöße waren schnell und hart. Er spürte, wie die Lust immer stärker wurde und er wieder bereits kurz vor seinem Höhepunkt stand. Doch er versuchte es noch zurückzuhalten, denn noch hatte er nicht die Erlaubnis erhalten. „Leron… Kann ich…“ „Ja, du darfst.“ Sterne explodierten vor Simons Augen und für einen Moment war ihm, als würden sich seine Beine in Gummi verwandeln und jeden Augenblick nachgeben. Ein elektrisierender Schauer durchzuckte seinen Körper, gefolgt von einem Nachbeben der Lust, als er zu seinem Orgasmus kam. Als sich Leron wieder aus ihm entfernt hatte, drehte er sich um, schlang seine Arme um ihn und drückte sich an ihn. Ihn überkam ein so starkes Verlangen danach, einfach in seinen Armen zu liegen und diese wunderbare Geborgenheit und Befriedigung nach dem Sex zu spüren. Wann war er eigentlich so klammernd geworden, dass er am liebsten keine Sekunde lang von Leron getrennt sein wollte? Er konnte es nicht sagen und es war ihm in diesem Moment auch völlig gleich. Er fühlte sich glücklich und dieses Gefühl wollte er sich so lange wie möglich bewahren. Und mit einem liebevollen Kuss flüsterte er „Ich liebe dich, Leron.“ Nachdem sie fertig geduscht hatten, gingen sie ins Schlafzimmer und Simon warf sich aufs Bett. Er war müde und ein wenig ausgelaugt. Nun gut, es war noch recht früh zum Schlafengehen, aber er hatte immerhin auch eine Prügelei, eine Erziehungsstunde und dann noch Sex in der Dusche gehabt. Und da er vorhin schon zusammengeklappt war, war es auch nicht weiter verwunderlich, wenn ihm nun endgültig die Kraft ausgegangen war. Leron hingegen zog sich erst etwas Bequemeres an, bevor er sich zu ihm aufs Bett setzte. Simon schmunzelte, als er ihn im Shirt und einfacher Hose sah. Für gewöhnlich trug Leron immer Anzüge oder zumindest ein Hemd. Ihn dann mal so zu sehen, war auch irgendwie ungewohnt. „Heute mal kein Hemd?“ „Für heute lohnt sich das eh nicht mehr. Es ist eh schon später Nachmittag und arbeiten muss ich ohnehin nicht mehr. Und was ist mit dir? Willst du im Bett liegen bleiben oder möchtest du gleich etwas essen?“ „Hm… später vielleicht“, antwortete Simon auf die zweite Frage und erklärte „Ich bin ziemlich kaputt und könnte eine kleine Pause vertragen. Und noch mal sorry wegen meinem Ausrutscher. War eine blöde Idee gewesen und ich habe nicht nachgedacht. Es ist wohl ziemlich leicht, in alte Muster reinzurutschen, wenn man an seinen alten Arbeitsplatz zurückgeht und mit denselben Leuten zu tun hat, denen man am liebsten den Arsch aufreißen will.“ „Ja das stimmt“, gab Leron ohne Umschweife zu. „Wenn es um die Arbeit geht, neige ich schnell dazu, ziemlich gereizt zu werden. Liegt wahrscheinlich daran, weil ich mit meinen Brüdern im Clinch lag und ich meinen Vater hasse. Er ist ein Mensch, den nur das Ansehen wichtig ist und dem alles andere scheißegal ist. Vor allem die eigene Familie.“ Simon schwieg und musste wieder an das denken, was Lionel ihm gesagt hatte, als er ihn auf Lerons Mutter angesprochen hatte. Bis jetzt hatte er noch kein Sterbenswort darüber zu Leron gesagt, aber jetzt überkam ihn das dringende Bedürfnis, darüber zu sprechen. „Leron… ich glaube, ich muss dir etwas erzählen.“ Lionel Evans saß in seinem Sessel und hatte ein Glas Cognac in der Hand. Obwohl er dem Alkohol eigentlich schon vor langem hatte abschwören wollen, hatte ihn letzten Endes seine Willensstärke verlassen und der sehnliche Wunsch hatte ihn übermannt, seine Sorgen und all seine Erinnerungen im Alkohol zu ertränken und alles zu vergessen. Alles, aber auch wirklich alles drohte über ihn zusammenzustürzen. Zwei seiner Söhne waren tot, seine Enkel waren tot und Leron, die einzige Hoffnung seines Lebenswerkes, hatte mit dem Verkauf des Konzerns gedroht, um sich endgültig von den Ketten seines Familiennamens loszureißen. Und das war nicht mal die einzige Hiobsbotschaft, die über ihn hereingebrochen war. Nein, jetzt war er auch noch der Hauptverdächtige in dieser alten Mordserie, die Katherine damals angezettelt hatte. Diese elende Hexe schaffte es selbst nach ihrem Tod noch, sein Leben zu ruinieren und ihm alles zu nehmen, was ihm wichtig war. Wie gerne würde er sie noch einmal sehen und ihr all seinen Hass ins Gesicht sagen, sie und ihre verdorbene Familie und diese dämonische Saat, die sie ins Leben gesetzt hatte, verfluchen. Wirklich alles zerbrach und es war anscheinend unaufhaltsam. Wahrscheinlich war das Karma. Er hatte seinen Teil dazu beigetragen, dass alles so kommen musste und das war nun die Strafe, die ihn ereilte. Manchmal fragte er sich, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er damals nicht Katherine, sondern Lucy zuerst kennen gelernt hätte. Dann hätte er gesunde Kinder zur Welt gebracht und keinen geisteskranken Verrückten, keinen manipulativen Eisblock und keinen launenhaften und instabilen Schizophrenen, der mit Stimmen in seinen Kopf sprach. Aber zumindest hatte die ganze Sache auch etwas Gutes: Lucy bekam nach all den Jahrzehnten endlich ein anständiges Grab. Wenigstens das war ein kleiner Trost. Sie würde ein wunderschönes Grab bekommen, dafür würde er persönlich sorgen. Und wenn er dann eines Tages sterben würde, wollte er dann wenigstens bei ihr begraben sein und zumindest im Tode wieder mit ihr vereint sein. Es lohnte sich ohnehin nicht mehr, sich wegen irgendetwas anderem noch Gedanken zu machen. Er hatte getan was er konnte und jetzt lagen die Dinge ohnehin nicht mehr in seiner Macht. Ein plötzliches Klopfen unterbrach ihn und sein Dienstmädchen Dora kam herein. Sie war eine groß gewachsene afroamerikanische Frau, kräftig gebaut aber mit einer stählernen Persönlichkeit, die ihm damals ein wenig imponiert hatte. Auf der einen Seite war sie gehorsam, fleißig und respektvoll wie es von ihr verlangt wurde, aber sie ließ sich von niemandem sonst etwas vorschreiben, außer von ihm. Normalerweise hätte er eine Frau mit einer solchen Persönlichkeit niemals eingestellt. Solche erinnerten ihn zu sehr an Katherine, doch Dora war so loyal, dass es manchmal sogar den Anschein erweckte, als würde sie für ihren Arbeitgeber sogar in den Untergang folgen. Und diese uneingeschränkte Loyalität war es, die ihn dazu veranlasst hatte, sie einzustellen. „Entschuldigen Sie Mr. Evans, da ist ein Besucher für Sie da. Er sagte, er müsse mit Ihnen reden.“ „Ein Besucher?“ fragte Lionel verwundert und stellte sein Glas ab. Soweit er sich recht entsann, erwartete er für heute niemanden mehr und unangemeldete Besucher waren für gewöhnlich sehr verdächtig. „Etwa jemand von der Polizei?“ „Nein, Sir“, antwortete Dora mit einem Kopfschütteln. „Er sagte, es ginge um eine Verwandte von ihm, wegen der er Sie sprechen wollte.“ Verwandte? Lionel verstand kein Wort und überlegte zuerst, den Besucher wieder wegschicken zu lassen, aber dann entschied er sich anders und wies das Dienstmädchen an, diesen zu ihm zu schicken. Dora verschwand und kam kurz darauf mit einem Jungen zurück, der vom Aussehen her nicht älter als 25 oder 26 Jahre alt sein mochte. Seine Haut war so weiß wie Schnee und sein Haar hatte etwas von einem sehr hellen Platinblond. Er war dünn und hatte eine etwas sonderbare Ausstrahlung. Es mochte aber auch an seinem äußeren Erscheinungsbild liegen. Einen Albinomenschen sah man für gewöhnlich auch nicht alle Tage. Doch was Lionel wirklich in den Bann zog, waren die Augen: sie waren eisblau und wirkten so wunderschön und klar wie Kristalle. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte er solche Augen bei einem Menschen gesehen und allein die Erinnerung daran schmerzte ihm: Lucy… seine geliebte Lucy hatte dieselben wunderschönen kristallklaren funkelnden Augen gehabt. Für einen Moment war Lionel wie von einer Welle der Freude und Wehmut ergriffen. Es war, als würde sich mit einem Mal der düstere Schleier über seinem Leben lichten und helles Licht in seine so triste Seele eindringen. Und ihm kamen tatsächlich fast die Tränen dabei. Nie hätte er gedacht, dass sein vor Kälte erstarrtes Herz wieder so etwas empfinden konnte? „Entschuldigen Sie bitte“, begann der Junge und trat näher. Es lag keine Schüchternheit oder Unsicherheit in seinem Blick. Nur eine ruhige Sanftmut, die selbst einem kalten Herz wie Lionels Wärme zu spenden vermochte. „Mein Name ist Elion Witherfield. Sie kennen mich nicht, aber ich bin der Großneffe von Lucy Witherfield. Es mag für Sie etwas seltsam klingen, aber ich weiß, dass sie sich beide früher sehr nah gestanden hatten und ich wollte deshalb mit Ihnen darüber reden, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Lionel erhob sich von seinem Sessel und ging auf den Jungen zu. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass vor ihm jemand stand, der ihn so sehr an seine über alles geliebte Lucy erinnerte. Und dann war es auch noch ihr Großneffe. Gott, wie sehr sahen sich die beiden doch ähnlich. Als wäre es ihr eigen Fleisch und Blut. Er blieb direkt vor Elion stehen und betrachtete sein Gesicht. Seine Haut war so makellos weiß wie Schnee und der Ausdruck in seinen Augen war derselbe wie der von Lucy. Lionel spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte und sich Tränen in seinen Augen sammelten. „Du… du siehst genauso aus wie sie.“ Elion lächelte und erklärte „Meine Großmutter und Lucy waren eineiige Zwillinge. Ich komme eben ganz nach ihr. Und es freut mich, dass meine Großtante jemanden hatte, der sie selbst so lange nach ihrem Tod noch so sehr liebt.“ „Woher weißt du…“ „Ein Freund der Familie hat mir von Ihnen und Ihrer Familie erzählt. Und als meine Großmutter Grace eine Nachricht von der Polizei erhielt, dass ihre Schwester gefunden wurde, habe ich sie hierher begleitet. Meine Schwester Charity ist bereits im siebten Monat schwanger und da wäre es nicht gut, wenn sie fliegen würde. Und ich wollte den Mann kennen lernen, der mit meiner Großtante zusammen war.“ Als Elion seine Hand nahm, übermannten Lionel endgültig die Gefühle. Diese blassen, zarten und warmen Hände fühlten sich so vertraut an. Und allein diese Berührung reichte aus, um den letzten Rest Eis in seinem Herzen tauen zu lassen. Es war, als wären seine stillen Gebete in diesem Moment erhört worden und als wäre ein Engel vor ihm erschienen. „Ich habe sie wirklich sehr geliebt“, pflichtete er bei, während Tränen über seine Wangen flossen. „Mehr als alles andere auf der Welt.“ „Dann erzählen Sie mir bitte von ihr“, bat Elion. „Ich möchte verstehen, was damals passiert ist. Warum sie gestorben ist und wieso es Ihr Herz so kalt werden ließ.“ „Katherine…“, antwortete Lionel knapp und löste sich wieder von Elion. Er nahm wieder auf seinem Sessel Platz und bat seinen Besucher, sich ebenfalls hinzusetzen, bevor er Dora anwies, Getränke vorzubereiten. „Ich habe mich auf die falsche Frau eingelassen.“ „Katherine Cohan?“ fragte sein Besucher und nickte. „Ja sie kam tragischerweise genauso mit dem Stigma zur Welt, mit welchem ihre gesamte Familie gebrandmarkt ist.“ „Sie war eine Hexe“, erwiderte Lionel aufgebracht. „Sie hat meine Lucy ermordet und mein Leben zerstört.“ „Sie hatte leider nie gelernt, was eine liebevolle Familie ist“, seufzte Elion und senkte leicht den Blick. Der Ausdruck in seinen Augen änderte sich und es wirkte, als würde er aufrichtiges Mitleid mit ihr empfinden. „Ihre Großeltern und Urgroßeltern betrieben Inzest und ihr Vater ermordete seine eigene Ehefrau vor den Augen seiner Kinder. Und Inzuchterscheinungen bleiben da manchmal nicht aus. Das ist auch ihr Grund für die Störungen Ihres ältesten Sohnes gewesen. Nicht der Hirntumor war es, der ihn wahnsinnig machte, sondern das unreine Blut seiner eigenen Familie. Natürlich macht es dadurch den Tod Ihrer großen Liebe nicht ungeschehen, aber auch die Cohans sind Opfer ihrer eigenen Vergangenheit. Sie sind zu Unrecht in dieses Elend hineingezogen worden und werden mit dem Stigma ihrer Vorgänger geboren, ohne jemals eine Wahl gehabt zu haben. Sie alle sind in einem schrecklichen Teufelskreis gefangen, aus dem sie aus eigener Kraft nicht entfliehen können.“ „Und warum erzählst du mir das?“ fragte Lionel nun. „Willst du, dass ich Katherine etwa all das vergebe, was sie mir und Lucy angetan hat?“ „Nein, das wäre zu viel verlangt. Aber ich möchte an Sie appellieren. Sie haben doch noch einen Sohn und er verdient es, die Wahrheit zu wissen. Was für eine Person seine Mutter war und woher er und seine Brüder diese Krankheit haben. Es muss doch auch für Sie belastend sein, dieses schreckliche Geheimnis all die Jahre für sich zu behalten. Und das müssen Sie nicht. Sie haben schon genug Leid durchgestanden, dann müssen Sie diese Lüge nicht noch bis zum Ende Ihres Lebens aufrechterhalten. Wen wollen Sie schützen? Ihren Sohn? Er ist erwachsen und er kann die Wahrheit verkraften. Und Katherine müssen Sie auch nicht in Schutz nehmen. Erleichtern Sie sich ihr Herz und suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Sohn, Lionel. Sagen Sie ihm die Wahrheit und legen Sie diese schwere Last ab, die Sie so niederdrückt.“ Diese Worte, die sein Gast sagte, waren wie warme Sonnenstrahlen für Lionels Seele. Es war, als würde nach der langen Finsternis so etwas wie ein gleißender Lichtstrahl aufleuchtete. Solche liebevollen und herzensguten Worte hatte er zuletzt von Lucy gehört. Und nun hörte er sie von ihrem Großneffen. Aus einer Hosentasche holte er ein Taschentuch und wischte sich die Tränen weg. „Warum sagst du das?“ „Weil Sie schon genug gelitten haben“, erklärte Elion und stand nun auf. „Ihr ganzes Leid hat Ihr Herz erkalten und unempfänglich für irgendwelche Gefühle werden lassen. Sie sollen nicht noch mehr durchleiden müssen. Lucy hätte nicht gewollt, dass Sie Ihr Leben lang Buße tun für die Dinge, die Katherine Cohan getan hat. Es haben schon genug Menschen leiden müssen. Es muss irgendwann ein Ende finden.“ Kapitel 41: Lionels Geständnis ------------------------------ Noch am selben Abend, als Simon über Lionels merkwürdige Andeutungen im Krankenhaus berichtet hatte, war Leron zusammen mit ihm zur Villa seines Vaters gefahren und keine zehn Pferde hätten ihn noch eine Sekunde länger zuhause behalten können. Hätte er nicht seine Medikamente genommen, wäre er einem Tobsuchtsanfall nahe gewesen, aber zum Glück hielt sich sein Temperament in Grenzen. Zumindest für jetzt. Trotzdem war Simon besorgt um ihn und wollte ihn lieber nicht alleine gehen lassen, auch wenn er sich am liebsten ausgeruht hätte. Er wollte Leron Halt geben, wenn dieser seinen Vater zur Rede stellte und ihn fragte, was dieser wirklich über seine Mutter wusste. Dass er aufgewühlt war, konnte der 21-jährige gut verstehen. Wäre er in der gleichen Situation, dann würde es ihm wahrscheinlich auch nicht anders ergehen. Während sie in der Limousine saßen, herrschte eine unangenehme Stille zwischen ihnen und Simon war sich nicht wirklich sicher, ob Leron vielleicht sauer auf ihn war. Immerhin hatte er ihm dieses Detail tagelang verschwiegen weil er gedacht hatte, dass es nicht gut wäre, ihn damit zu belasten. Vor allem weil Lionel ihn so unter Druck gesetzt hatte. Unsicher wanderte sein Blick zu seinem Begleiter, der nachdenklich ins Leere starrte und seine wunderschönen haselnussbraunen Augen spiegelten eine leichte Unsicherheit wieder. Irgendetwas beschäftigte ihn ganz gewaltig, das sah selbst ein Blinder. Und so fragte er schließlich nach: „Bist du mir böse, weil ich dir verschwiegen habe, was dein Vater gesagt hat?“ „Nein“, antwortete Leron knapp, doch sonderlich überzeugend klang es nicht direkt. Simon seufzte und hakte weiter nach: „Und was ist es dann, was dich so beschäftigt?“ „Ich musste an etwas denken, was ich gesehen habe. Als Michael dich in der Villa angegriffen hat und ich an das Heizungsrohr gefesselt war, habe ich meine Mutter gesehen. Aber sie war irgendwie anders als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre Augen waren genauso wie Michaels Augen und ihre Kleidung war blutverschmiert. Und ich hatte schon während meines Klinikaufenthalts das Gefühl gehabt, als hätte ich irgendeine verdrängte Erinnerung an sie. Aber als ich meinen Vater darauf ansprach, schob er alles auf meine Schizophrenie. Aber so langsam dämmert es mir: meine Mutter war auch krank gewesen. Das ist nicht bloß ein Hirngespinst von mir und mein Vater weiß mehr darüber als er zugeben wollte. Und du hast ihn unbewusst aus der Reserve gelockt.“ „Ich war schon überrascht gewesen, als du relativ ruhig auf diese Nachricht reagiert hast“, gestand Simon. „Ich hatte ehrlich gesagt Angst gehabt, du würdest durchdrehen. So sehr wie du an deiner Mutter hängst, dachte ich, es wäre ein ziemlicher Schock für dich.“ „Nein, ehrlich gesagt nicht direkt. Seit ich von meiner Mutter halluziniert habe, hat sie mir ehrlich gesagt mehr Angst gemacht, als Michaels Stimme es getan hat.“ Verständnisvoll nickte Simon und nahm Lerons Hand. Es war sicher sehr nervenaufreibend für ihn und er hoffte insgeheim, dass sein sturer Vater endlich mal den Mund aufmachte und mit der Wahrheit herausrückte, anstatt alles nur totzuschweigen wie sonst auch immer. Und sollte es wieder schwierig zwischen den beiden werden, konnte er zumindest versuchen, Leron wieder zu beruhigen und dafür zu sorgen, dass er sich nicht allzu sehr aufregte. „Mach dir nicht so viele Gedanken. Es wird schon alles gut werden.“ Doch er wusste selbst, dass das nicht gerade überzeugend klang. Vor allem weil er selbst wusste, wie Lerons Vater drauf war. Das würde ein verdammt harter Brocken werden. Als sie schließlich das Ziel erreicht hatten, stiegen sie aus und sogleich sah Simon eine prunkvolle Villa, die dem altdeutschen Herrenhausstil nachempfunden war und somit in einem starken Kontrast zu der modernen Villa von Leron stand. Das Gelände war riesig und die Hecken und Sträucher waren kunstvoll beschnitten. Zwar hatte sich der Junge aus bescheidenen Verhältnissen inzwischen ein wenig an das Leben in solchen Kreisen gewöhnt, aber dennoch war er sprachlos von der großen Villa. Für einen Moment war er wie gebannt von dem Anblick, bis ihm auffiel, dass ihnen jemand entgegen kam. Es war ein schlanker junger Mann mit schneeweißer Haut, eisblauen Augen und hellblonden fast weißen Haaren. Ihn begleitete ein kleines Mädchen von ungefähr zehn oder elf Jahren mit langen schwarzen lockigen Haaren und rubinroten Augen. Sie trug ein gepunktetes schwarzweißes Kleid und ihre Augen waren von leichten Schatten umrandet. Beide wirkten nebeneinander wie Tag und Nacht. Lerons Augenbrauen zogen sich misstrauisch zusammen, als er die beiden sah und sogleich fragte er sie „Wer seid ihr zwei und was wollt ihr bei meinem Vater?“ Sofort reichte der Albinojunge ihnen die Hand und lächelte freundlich. Seine Begleiterin hingegen schaute Leron äußerst feindselig an und ihr Blick hätte töten können. „Hi, ich bin Elion Witherfield und das ist Sally Kinsley, sie passt auf mich auf. Ich war nur kurz zu Besuch, weil ich meine Großmutter Grace nach New York begleite. Meine verstorbene Großtante war eine gute Bekannte von Ihrem Vater.“ „Ah…“ „Entschuldigt, aber wir müssen uns ein wenig beeilen. Es wird langsam spät.“ Als Elion Simons Hand ergriff, da geschah etwas, was der 21-jährige nicht in Worte fassen konnte und was er noch nie zuvor in seinem Leben erlebt hatte. Ihm war, als würde plötzlich ein Licht in seiner Seele aufleuchten und allein durch diese Berührung so hell aufstrahlen, dass ihn die Gefühle zu überwältigen drohten. Es raubte ihm den Atem und ihn überkam plötzlich das Verlangen, zu weinen. Und er konnte sich nicht einmal erklären warum. Er spürte so eine merkwürdige Vertrautheit. So als hätten sie sich schon immer gekannt, aber vor langer Zeit aus den Augen verloren. Elion lächelte herzlich und verabschiedete sich mit den Worten „Einen schönen Abend noch. Bis zum nächsten Mal.“ Und damit gingen die beiden und Leron schaute ihnen schweigend nach. Das kleine Mädchen, was Elion begleitete, schaute ebenfalls ihr zurück und ihr Blick, mit dem sie Leron strafte, wirkte gefährlich. „Merkwürdige Leute“, murmelte Leron. „Ich frage mich echt, was mein Vater mit einer Verwandten von dem da zu schaffen hat. Na komm, Simon.“ Damit ergriff er dessen Hand und gemeinsam gingen sie den Weg weiter bis zur Eingangstür und klingelten an. Es dauerte nicht lange, bis ihnen ein dunkelhäutiges Dienstmädchen die Tür öffnete. Sie wirkte sehr überrascht, als sie Leron sah und das Erste, was sie sagte, war direkt „Na so was. Wenn das mal nicht Leron Evans ist. Dich hat man auch schon seit langem nicht mehr zu Gesicht bekommen.“ Simon erkannte sofort, dass diese Frau ganz anders war als Anthony. Sie ging viel vertrauter mit Leron um, den sie offenbar schon seit langem zu kennen schien und siezte ihn nicht einmal. Und sie besaß auch nicht dieselbe diskrete Zurückhaltung wie er. Nein, sie war wahrscheinlich eine jener Frauen, die sich nichts vormachen ließ und ihren eigenen Kopf besaß. Doch Leron schien dies nicht weiter zu stören. Stattdessen grüßte er sie mit einem etwas gezwungenen Lächeln, da er momentan nicht in der Stimmung für ein ehrliches Lächeln war. „Guten Abend Dora. Ich muss mit meinem Vater sprechen. Es ist wichtig.“ „Na dann komm rein in die gute Stube, das gleiche gilt für deinen Begleiter. Dein Vater ist im Kaminzimmer. Und bitte reiß ihm nicht gleich wieder den Kopf ab, er hatte einen schwierigen Tag hinter sich.“ „Keine Sorge, Dora. Ich will nur ein paar Fragen beantwortet haben und mehr nicht.“ Die Afroamerikanerin nickte und führte sie herein. Simon sah sich um und fand viele hochwertige und alte Ölgemälde wieder. Alles wirkte wie ein altes Herrenhaus und es gab viele Antiquitäten hier. Dora führte sie in einen großen Raum, welcher das Kaminzimmer war. Dort gab es eine Hausbar mit allerhand Flaschen und Gläsern. Ein riesiges Ölgemälde von Lionel Evans selbst an der Wand über den Kamin. Zusammengesunken in einem Sessel mit einem Glas Cognac in der Hand saß der Hausherr selbst und wirkte völlig geistesabwesend, als hätte er gerade eine Erleuchtung gehabt, von welcher er sich erst einmal erholen musste. Selbst Leron war von diesem Anblick überrascht, denn er hatte seinen Vater noch nie so gesehen. Normalerweise war dieser ein Mensch, der in jeder Lebenssituation immer die Beherrschung und Ruhe bewahren konnte und mit kühler Sachlichkeit an die Probleme heranging, ohne jemals Emotionen zuzulassen. Und nun sah es danach aus, als saß da ein völlig anderer Mensch dort, der nur wie sein Vater aussah. Vor allem erschütterte es ihn, dass er sah, dass Lionels Augen von Tränen gerötet waren. Noch nie hatte er seinen alten Herrn weinen sehen. Weder beim Tod seiner Mutter, noch bei der Beerdigung seiner eigenen Söhne. Und nun war es tatsächlich passiert, nachdem ihn zwei Fremde besucht hatten. Das war eine völlig verkehrte Welt. „Vater?“ Lionel hob den Kopf und als er die beiden neuen Besucher sah, begann er sich wieder zu fangen und runzelte überrascht die Stirn. „Leron, was machst du um die Uhrzeit hier? Und wieso bringst du diesen Jungen mit?“ „Ich will mit dir reden und ich brauche mich vor dir nicht zu rechtfertigen, dass ich Simon als Begleitung mitbringe. Wir beide sind zusammen, also finde dich damit ab.“ „Na gut…“, seufzte das Familienoberhaupt und wies mit einer halbherzigen Handbewegung zum Sofa, wo die beiden schließlich Platz nahmen. Lionel trank sein Glas leer und stellte es auf den Tisch ab. „Also worüber möchtest du mit mir reden?“ „Simon hat mir erzählt, was du ihm im Krankenhaus gesagt hast. Du hast ihm gesagt, dass Mum eine sadistische Mörderin war, genauso wie Michael. Und ich will jetzt endlich die Wahrheit von dir hören und mich nicht länger für dumm verkaufen lassen. Inzwischen habe ich selber das Gefühl, dass Mum kein Engel war und sie krank war. Sie hatte dieselben Augen wie Michael und ich kann mich erinnern, dass sie spät in der Nacht im Bad gewesen war und sich Blut von den Händen gewaschen hat. Ich bin kein kleiner Junge mehr und ich will jetzt endlich die Wahrheit wissen: war Mum eine Psychopathin oder nicht?“ Lionel schwieg und seufzte leise. Er stand auf, schnappte sich wieder sein Glas und ging rüber zur Hausbar und schenkte sich Cognac ein, dann gab er noch Eiswürfel dazu. Er wirkte zwar wieder wesentlich gefasster als gerade noch, allerdings merkte man ihm an, dass es ihm nicht leicht fiel, darüber zu sprechen. „Als ich deine Mutter an der Universität kennen lernte, war sie sehr lebhaft und liebevoll gewesen. Sie war sehr hübsch und ich genoss es ehrlich gesagt auch, dass ich der wichtigste Mensch in ihrem Leben war. Dass sie ein anderes Gesicht hatte, erkannte ich allerdings erst später… Sie war auch rasend eifersüchtig und konnte schnell die Beherrschung verlieren. Und sie wurde auch gewalttätig.“ Lionel bereitete noch ein zweites Glas vor und kam damit wieder zurück. Er reichte Leron eines der mit Cognac gefüllten Gläser und setzte sich dann wieder. „Katherine war schon immer sehr temperamentvoll gewesen, aber sie reagierte äußerst schnell aggressiv auf Ablehnung. Sie wurde unkontrollierbar und wurde zu einer Furie. Als ich mich selbstständig machte, entwickelte sie einen Kontrollwahn und warf mir eine Affäre nach der anderen vor. Und es eskalierte darin, dass sie mir eine Weinflasche auf den Kopf schlug. Die Wunde musste genäht werden und daraufhin machte ich Schluss mit ihr.“ Also doch, dachte sich Simon. Ich hatte gar nicht mal Unrecht gehabt, als ich ihm an den Kopf warf, dass die ganze Familie total verrückt sei. Katherine war genauso geisteskrank gewesen wie Michael. Aber warum war Lionel wieder zu ihr zurückgekehrt? Das machte doch keinen Sinn! Auch Leron schien der gleichen Ansicht zu sein und wollte daraufhin wissen „Und wieso seid ihr wieder zusammengekommen?“ Hieraufhin trank sein Vater einen Schluck und sein Blick nahm etwas Wehmütiges an. „Als ich deine Mutter verlassen hatte, war sie bereits schwanger gewesen. Zu der Zeit, als wir getrennt lebten, lernte ich in einem Café eine Kellnerin kennen. Ihr Name war Lucy Witherfield. Ihre Familie stammte aus Ohio und sie war nach New York gekommen, weil sie Schauspielerin werden wollte. Es war bei uns Liebe auf dem ersten Blick gewesen und ich habe sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt. Ich wollte sie heiraten und eine Familie mit ihr gründen. Aber Katherine wollte mich nicht gehen lassen. Stattdessen setzte sie mich mit K.O.-Tropfen außer Gefecht und erschlug Lucy. Sie stellte mich vor die Wahl: entweder ich kehre freiwillig zu ihr zurück, oder sie würde persönlich dafür sorgen, dass ich im Gefängnis verrotte. Also war ich gezwungen, die Frau, die ich wirklich geliebt habe, im Wald zu vergraben und ihren Tod zu vertuschen. Doch Katherine ließ mich oft genug spüren, wer hier das Sagen hatte.“ Daraufhin schob Lionel sein Hemd hoch und zeigte damit eine alte verblasste Narbe auf seinem Bauch. „Wenn ihr etwas nicht passte, griff sie mich mit einem Messer an, fuhr mich mit dem Auto an oder schlug mich mit ihren Küchengeräten nieder. Aber ihre Kinder waren ihr schon immer heilig gewesen. Niemand durfte ihnen auch nur ein Haar krümmen oder ihnen zu nahe kommen. Und wenn es jemand gewagt hat, gegen diese Regel zu verstoßen, hat sie die Dinge persönlich geregelt, so wie sie es immer nannte. Die Leichen hat sie dann im Wald vergraben. Das ging über Jahre hinweg, bis sie schließlich krank wurde und dann an ihrem Bauchspeicheldrüsenkrebs starb.“ Stille kehrte ein und Simons Blick wanderte besorgt zu Leron, der seinen Vater mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck ansah, bevor er dann sein Glas nahm, es in wenigen Zügen leerte und dann wieder auf den Tisch stellte. Wahrscheinlich hatte er den Alkohol auch bitter nötig nach dieser Offenbarung. Zwar hatten sie beide nicht gerade mit einer harmlosen Geschichte gerechnet, aber nicht mit so etwas. Und da Simon nicht auf den Kopf gefallen war, brauchte er nur eins und eins zusammenzählen, um ein ganz entscheidendes Detail auf den Punkt zu bringen. „Dann heißt das also: die Leichen, die die Polizei alle im Wald gefunden haben, waren die Opfer von Katherine?“ „Ja“, gestand Lionel nickend. „Und dabei haben sie wahrscheinlich nicht einmal alle gefunden. So wie ich Katherine einschätze, hat sie mit Sicherheit mehr auf dem Gewissen.“ „Und warum hast du sie nie angezeigt?“ wollte Leron wissen. „Wenn sie dich tatsächlich so schwer verletzt hat, dann wäre es ein leichtes für dich gewesen, sie aufzuhalten.“ „Es waren damals andere Zeiten“, winkte sein Vater sofort ab. „Häusliche Gewalt ging damals nur von Männern aus und kein Mann, der erzählte, er würde von seiner Frau misshandelt werden, wurde ernst genommen. Er wurde zum Gespött der Leute und deine Mutter war nicht dumm gewesen. Sie wusste dies und hat das geschickt für sich genutzt. Als ich sie nach der Messerattacke anzeigen wollte, brach sie sich selbst den Arm und schlug ihren Kopf so oft gegen die Wand, bis sie eine Platzwunde davontrug und sagte, sie hätte aus Notwehr gehandelt, weil ich sie geschlagen hätte. Es gelang mir, einen öffentlichen Skandal zu verhindern, indem ich die Angelegenheit mit finanziellen Mitteln bereinigte. Aber mir wurde schnell klar, dass es keinen Weg gab, um von Katherine wegzukommen.“ Wieder trat Stille ein, dieses Mal länger. Besorgt wanderte Simons Blick wieder zu Leron, der sein Glas nun vollständig leerte und mit einem geistesabwesenden Blick ins Leere starrte. Es war schwer zu erkennen, wie er sich gerade fühlte, aber er sah dennoch, dass er kreidebleich war. Er ergriff seine Hand und spürte sofort, dass sie verschwitzt war. Ein deutliches Zeichen von starkem Stress. „Leron?“ Doch Leron hörte Simons Worte nicht. Er war vollkommen gefangen in einer Erinnerung, die er bisher nur bruchstückhaft hatte wachrufen können. In dieser Erinnerung war er nicht älter als fünf oder sechs Jahre alt gewesen. Er war mitten in der Nacht aufgewacht, weil er durch ein plötzliches Geräusch aufgeschreckt worden war. Zuerst hatte er Angst gehabt, es wäre wieder diese Nanny Evelyn gewesen, die sein Vater angestellt hatte und die ihn geohrfeigt hatte, weil er sich in die Hose gemacht hatte. Zuerst hatte er überlegt, ob er sich wieder unter der Decke verstecken sollte, aber dann war seine Neugier doch stärker gewesen und er hatte daraufhin sein Zimmer verlassen und war vorsichtig auf den Flur geschlichen. Dabei hatte er versucht, bloß leise zu sein, weil er Angst gehabt hatte, dass er Michael oder Jordan aufwecken könnte. Als er auf Zehenspitzen den Flur entlang gegangen war, hatte er plötzlich fließendes Wasser gehört. Instinktiv war er zum Badezimmer hingegangen, wo das Geräusch her kam und er hatte gesehen, dass die Tür leicht angelehnt war. Vorsichtig hatte er durch den Spalt gelugt und seine Mutter gesehen. Ihr sonst so ordentlich frisiertes und schönes Haar war leicht zerzaust, ihr liebevolles und mütterliches Gesicht war von Wahnsinn und blankem Hass verzerrt und ihre Augen… ihre Augen waren nicht dunkelbraun, sondern goldgelb und in ihnen hatte derselbe psychopathische Zerstörungswahn gelegen wie in Michaels Augen. Ihre Hände und ihre Kleidung waren von Blut besudelt und sie war dabei gewesen, ihre Hände zu waschen. „Diese verdammte Dreckschlampe. Dieses elende Miststück. Wagt es einfach, meinen kleinen Engel zu schlagen. Niemand vergreift sich an meinen Kindern. NIEMAND!!!“ Sie hatte dieses letzte Wort laut geschrien und das blutverschmierte Küchenmesser in den Spiegel gerammt. Er selbst war erschrocken zusammengezuckt und war entsetzt von der Tür zurückgewichen. Doch die Tür war aufgegangen und seine Mutter hatte vor ihm gestanden. Sie hatte wieder ihr liebevolles mütterliches Lächeln und hatte ihm zärtlich die Wange gestreichelt und ihm einen Kuss gegeben. „Hey mein Schatz, es ist schon spät. Du solltest schon längst im Bett liegen. Oder kannst du nicht schlafen?“ Er hatte nur den Kopf geschüttelt und zum ersten Mal so etwas wie Angst vor seiner Mutter verspürt. Insbesondere weil sie ihn so sehr an Michael erinnerte und er als kleiner Junge nicht verstanden hatte, was das zu bedeuten hatte. Das einzige, was er zustande gebracht hatte, war die Frage „Mommy, was hast du mit Evelyn gemacht?“ „Mach dir keine Sorgen, mein Schatz“, hatte seine Mutter ihm gesagt und ihm wieder einen Kuss gegeben. „Mommy hat die Dinge geregelt und diese schreckliche Frau wird dir nie wieder etwas antun.“ Simon sah mit Besorgnis, dass Lerons Augen vor Entsetzen geweitet waren und er völlig geistesabwesend war. Lionel reagierte nicht sonderlich darauf, sondern schenkte seinem Sohn noch ein Glas ein. Da Leron gerade nicht in der Lage war, das Gespräch weiterzuführen, übernahm Simon an seiner Stelle die Fragen. „Also ist der Grund für Ihre Abwesenheit bei der Beerdigung Ihrer Frau die Tatsache, dass sie eine aggressive und manipulierende Psychopathin war, die Sie misshandelt hat. Aber warum haben Sie Michael und Leron nicht geholfen und sie in Therapie geschickt, wenn Sie doch wussten, wie gefährlich Katherine war?“ „Jedes Mal, wenn ich in die Gesichter meiner Söhne geblickt hatte, sah ich nur das Erbe jener Frau, dir mir mein Leben zerstört hat. Dementsprechend hielt sich mein Interesse für sie in Grenzen. Ich wollte mit ihnen so wenig wie möglich zu tun haben.“ Ein lautes Klirren ertönte und ließ Simon erschrocken zusammenzucken, als Leron, der aus seiner Apathie erwacht war, plötzlich sein Glas auf dem Boden zerschlug. „Kein Interesse an uns? Du hast gewusst, dass Michael genauso gefährlich war wie Mum. Und nicht nur das: du hast all ihre Morde vertuscht und alles unter den Teppich gekehrt!“ „Was hatte ich für eine Wahl?“ entgegnete Lionel. „Sie hätte mich für all diese Morde verantwortlich gemacht. Und wenn wir mal ehrlich sind: selbst eine Therapie hätte nichts gebracht. Diese Krankheit, die ihr habt, ist genetisch bedingt. Ihr stammt aus einem speziellen Teil der Familie Cohan ab. Deine Großeltern und Urgroßeltern betrieben Inzucht und dadurch kam es zu dieser geistigen Störung.“ „Trotzdem ist das keine Entschuldigung“, wandte Simon. „Sie hätten die Wahrheit erzählen und Ihren ältesten Sohn in eine geschlossene Anstalt einweisen sollen, damit die Welt vor diesem Verrückten sicher gewesen wäre! Er hat mich zwei Male vergewaltigt, zehn Menschen umgebracht und beinahe meinen Bruder getötet. Und wer weiß, was dieses Monster noch alles getan hat!“ „Dessen bin ich mir durchaus bewusst“, gestand das Familienoberhaupt. „Aber nachdem mir Katherine alles genommen hat, was mir wichtig war, wollte ich nicht auch noch das verlieren, was ich mir in all den Jahren aufgebaut habe. Meine Firma war das Einzige, was mir Katherine nicht wegnehmen konnte und ich wollte sie nicht durch die Eskapaden meines Sohnes oder die Verbrechen meiner Frau ruinieren lassen.“ „Aha…“, sagte Leron trocken. „Und wir waren dir wohl niemals wichtig gewesen, oder? Hattest du überhaupt jemals Gefühle für uns?“ „Nein.“ „Verstehe… Und warum hast du mir dann all die Jahre die Wahrheit verschwiegen? Doch nicht etwa, weil du so etwas wie väterliche Gefühle entdeckt hast.“ „Das nicht“, stimmte Lionel ihm zu. „Aber deine Mutter hat dich geliebt. Trotz der Tatsache, dass sie psychisch krank und gefährlich war, hat sie euch drei mehr als alles andere auf der Welt geliebt. Da ich nicht in der Lage war, euch ein liebender Vater zu sein, wollte ich zumindest, dass du deine Mutter als eine liebevolle und herzensgute Person in Erinnerung behältst.“ „Sehr rücksichtsvoll von dir…“ Damit stand Leron auf und ergriff Simons Hand. „Dass du kein Interesse an uns hast, ist für mich ehrlich gesagt nichts Neues. Und ich würde wirklich gerne sagen, dass es mir leid tut, was Mum dir angetan hat. Aber genauso wenig, wie du dich für mich interessierst, tu ich es für dich. Und ich hoffe, dass du bald deine gerechte Strafe für all die vertuschten Morde bekommst. Ich habe genug gehört. Komm Simon, wir gehen.“ Ohne sich zu verabschieden, ging Leron und Simon folgte ihm. Während der Autofahrt sprachen sie kein Wort miteinander und auch den Rest des Tages über war Leron sehr schweigsam und in sich gekehrt. Kapitel 42: Simon allein zuhause -------------------------------- Nach einer etwas unruhigen Nacht wachte Simon mit leichten Kopfschmerzen auf und verspürte das Bedürfnis, sich wieder hinzulegen und einzuschlafen. Doch er kämpfte gegen dieses Bedürfnis an, stieg aus dem Bett und streckte sich laut gähnend. Leron war bereits aufgestanden und hatte ihm Kleidung bereit gelegt die er für heute anziehen sollte. Es erstaunte Simon, dass der Unternehmer schon so früh aufgestanden war, obwohl er sonst aufgrund der Medikamente viel tiefer schlief als sonst. Aber andererseits… diese unschöne Sache von gestern hatte sie beide ziemlich mitgenommen. Nach dem Gespräch mit seinem Vater war Leron so schweigsam gewesen, dass Simon schon fast befürchtet hatte, es würde zu einem lauten Knall kommen. Doch glücklicherweise war dieser ruhig geblieben und hatte nicht die Beherrschung verloren. Aber er hätte es ihm nicht verübelt, wenn es trotzdem geschehen wäre. Nach einer heißen Dusche zog er sich an und ging in die Küche, wo er Leron antraf. Der Unternehmer saß, als wäre gestern nichts geschehen, am Tisch, trank eine Tasse Kaffee und las die Morgenzeitung. Sein Gesichtsausdruck wirkte ein wenig verstimmt, aber ansonsten machte er einen recht entspannten Eindruck. „Guten Morgen“, grüßte er ihn und kam zu ihm. „Wie geht es dir denn?“ „Bestens“, versicherte der Unternehmer, zog ihn näher zu sich heran und gab ihm einen Kuss. „Und du scheint sehr gut geschlafen zu haben. Setz dich.“ Simon nickte und folgte der Aufforderung. Obwohl er noch keinen großen Hunger verspürte, begann er trotzdem damit, sich etwas Rührei und Speck auf den Teller zu laden und sich ein Glas Orangensaft einzuschenken. Leron seinerseits legte nun die Zeitung beiseite und seine haselnussbraunen Augen ruhten nun auf Simon. Eine gewisse Melancholie lag in seinem Blick und als seine Hand über die Wange des 21-jährigen strich, schlich sich ein schwaches Lächeln über seine Lippen. „Ich finde es lobenswert, dass du mir die Wahrheit erzählt hast und auch in deiner Erziehungsstunde hast du dich gut gemacht. Deshalb denke ich, dass du dir eine Belohnung verdient hast. Du hattest dir gewünscht, dass wir mit dem Rollenspiel weiter fortfahren. Nun, ich habe noch einen wichtigen Termin für heute und dann werde ich zurückkommen. Ich weiß noch nicht, wie lange mein Termin dauert und ich erwarte, dass du bis dahin artig zuhause bleibst. Ich werde unangemeldet zurückkommen und bis dahin hast du Zeit, dich vorzubereiten. Und wenn du bis dahin brav bleibst, dann erfülle ich dir deinen Wunsch.“ Simon nickte und verstand sofort, was Leron bezweckte. Er wurde auf die Probe gestellt. Nachdem er das letzte Mal einfach gegangen war und sich geprügelt hatte, wollte Leron natürlich sehen, ob er sich dieses Mal besser benehmen, oder ob er wieder dieselbe Dummheit begehen würde. Es konnte kurz dauern, vielleicht auch Stunden. Und bis dahin musste er im Haus bleiben. Wenn er es vergeigte, dann würde es Erziehungsstunden hageln, bis er nicht mehr sitzen konnte, das stand fest. Also galt es, sich ordentlich zu benehmen und Leron zu beweisen, dass er gehorsam war. Und wenn Leron zufrieden war, dann würde er ihn mit dem Rollenspiel belohnen. Das war genügend Motivation für ihn, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen. „Darf ich fragen, was für ein Termin das ist?“ erkundigte er sich und begann nun sein Frühstück zu essen. „Es geht um deine Augenoperation. Ich wollte mit Dr. Dawson den aktuellen Stand der Dinge besprechen und wie lange es noch dauert, bis er fertig ist. Außerdem will ich natürlich wissen, ob das Geld auch sinnvoll investiert worden ist.“ „Ich hoffe, dass es nicht mehr allzu lange dauert“, seufzte Simon. Der Gedanke, alleine in der Villa zu bleiben, machte ihm nach wie vor große Angst. „Ähm… darf ich um etwas bitten?“ „Was möchtest du?“ „Kann ich vielleicht bei Cypher im Krankenhaus bleiben? Ich glaube, ich kann noch nicht alleine hier in der Villa bleiben nach all den Dingen, die passiert sind.“ Leron überlegte und schien nicht sonderlich erfreut über diese Bitte zu sein. Aber andererseits konnte er ja auch ihm so eine Bitte ja auch nicht verdenken. Trotzdem blieb er bei seinem Entschluss und antwortete „Nein, ich möchte, dass du hier bleibst. Du musst dich daran gewöhnen, auch mal ohne mich hier zu sein und da Michael tot ist, kann dir auch nichts mehr passieren. Im absoluten Notfall kannst du Hunter anrufen und ihn fragen, ob er dir Gesellschaft leisten wird.“ Sichtlich enttäuscht nickte Simon und legte keinen Einspruch ein. Im Grunde hatte Leron auch irgendwie Recht. Irgendwann musste er sich wieder daran gewöhnen, alleine im Haus zu bleiben. Streng genommen konnte ihm ja wirklich nichts mehr passieren, nachdem Lerons Brüder tot waren. Aber es kam ihm so früh vor. Ja, es war noch viel zu früh dafür, ganz alleine zu bleiben. Auf der anderen Seite wollte er Leron auch nicht enttäuschen und so würde er sein Bestes versuchen. Dennoch machte ihm der Gedanke Angst, alleine zu sein. Zärtlich streichelte Leron ihm den Kopf und wirkte um einiges zuversichtlicher. „Ich weiß, dass du das schaffen kannst, Simon. Dir kann nichts mehr passieren und ich lasse dich auch nicht für ganze Tage alleine.“ „Trotzdem habe ich Angst…“, gestand Simon. „Das geht mir irgendwie zu schnell.“ „Es würde auch zu schnell für dich sein, wenn ich noch drei oder vier Wochen warte“, wandte der Unternehmer ein und an diesem Argument war durchaus etwas Wahres dran. „Ich will das Beste für dich und deshalb möchte ich, dass du lernst, wieder alleine im Haus zu sein, ohne Angst zu haben. Du kannst dich von deiner Angst ablenken wie du magst. Die Hauptsache ist, dass du im Haus bleibst.“ „Ja okay“, seufzte Simon, wirkte aber immer noch nicht sonderlich glücklich. Aber da musste er wohl oder übel durch. Sie frühstückten gemeinsam, bis Leron ihn anwies, ihm in sein Zimmer zu folgen. Zuerst hoffte er, dass vielleicht noch etwas Romantisches kam, aber auch diese Erwartung wurde zerschlagen, als sich herausstellte, dass Leron ihn nur zu sich geholt hatte, um ihn den Cock Cage anzulegen. „Ist das unbedingt notwendig?“ fragte er stirnrunzelnd. „Es ist so vereinbart“, erinnerte ihn Leron, der seinerseits Gefallen daran zu haben schien, ihm dieses Ding anzulegen. „Du trägst ihn immer, wenn ich nicht da bin. Nicht dass du noch auf die Idee kommst, alleine Spaß zu haben.“ „Also tragen Petboys und Sexsklaven auch noch ein Halsband unten rum…“ Nachdem Leron sich verabschiedet hatte und zu seinem Termin gefahren war, durchwanderte Simon die Villa und spürte, wie die Angst in ihm wuchs. Jedes vermeintliche Geräusch ließ ihn heftig aufschrecken und fast in Panik verfallen. Schließlich aber erinnerte er sich an Lerons Worte, dass er sich ablenken konnte und schnappte sich das Telefon. Er wählte die Nummer von Cyphers Handy in der Hoffnung, dass ein Telefongespräch mit ihm helfen konnte. Da dieser sowieso noch im Krankenhaus war, sollte es eigentlich kein Problem sein, ihn zu erreichen. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er die vertraute Stimme des Künstlers hörte. „Hi Cypher, ich bin’s…“ „Hey Simon, schön mal wieder von dir zu hören. Wie geht’s wie steht’s?“ „Es geht. Leron ist bei Dr. Dawson und ich soll alleine im Haus bleiben.“ „Ist das so eine Art Erziehungsmaßnahme von ihm?“ Nachdem Simon ihm schon längst seine Geschichte erzählt hatte, wusste Cypher natürlich, wie die Beziehung zwischen Leron und seinem jüngeren Bruder funktionierte. Er war weitaus weniger geschockt oder sprachlos darüber gewesen, wie Simon zunächst angenommen hatte. Das lag aber auch gewissermaßen daran, weil Cypher auch nicht gerade das war, was man als einen normalen Zeitgenossen bezeichnen konnte. Und so hatte Simon auch keine sonderlich großen Probleme, mit ihm über diese Dinge zu sprechen. „So in etwa. Ich hatte mich mit jemandem vom Straßenstrich geprügelt und eine Erziehungsstunde aufgebrummt bekommen. Und jetzt will er mich natürlich auf die Probe stellen, ob ich während seiner Abwesenheit auch anständig bleibe. Aber ehrlich gesagt kriege ich immer noch Angst davor, alleine im Haus zu sein.“ „Nach dem Scheiß, der mit diesem Psychopathen passiert ist, kann ich dir das auch nicht verdenken. Ich würde ja auch am liebsten vorbeikommen, aber meine Entlassung ist erst nächste Woche.“ „So früh schon?“ fragte Simon erstaunt. „Ich dachte, du müsstest viel länger bleiben.“ „Eigentlich schon, aber der Chefarzt meinte, es würde alles erstaunlich schnell verheilen, sodass ich auch schon früher nach Hause kann. Allerdings wird es trotzdem noch dauern, bis ich wieder vollkommen einsatzfähig bin. Naja, zumindest muss sich Hunter nicht mehr von Pizza, Pasta und Fertiggerichten ernähren müssen. Hach… ich vermisse ihn.“ „Ich dachte er kommt dich jeden Tag besuchen“, wandte Simon irritiert ein und wieder kam ein leicht wehmütiges Seufzen vom anderen Ende der Leitung. „Ja das schon, aber ich vermisse auch den Sex mit ihm. Du kannst dir nicht vorstellen wie ätzend das ist, wenn du unbedingt willst, aber nicht kannst. Und wenn du es versuchst, kriegst du gleich die Quittung mit den übelsten Bauchschmerzen seit deiner letzten Lebensmittelvergiftung.“ Simon schmunzelte, als er das hörte und musste sich in dem Moment wirklich vorstellen, wie Cypher und Hunter tatsächlich versuchten, im Krankenhaus Sex zu haben. Mit dem Resultat, dass es einfach nicht klappen wollte. Natürlich tat Cypher ihm leid. Immerhin konnte er ja nichts dafür, dass er in dieser Situation war. Aber die Art, wie er darüber redete, war einfach lustig. „Oje. Dann hoffe ich mal, dass deine Verletzung schnell verheilt. Ich wäre dich ja echt gerne besuchen gegangen, aber Leron wollte, dass ich hier bleibe. Vielleicht darf ich dich ja morgen besuchen kommen.“ Ein amüsiertes Kichern war von Cyphers Seite aus zu hörten, kurz darauf gefolgt von der Bemerkung „Der hält dich ja ganz schön an der Leine, wie?“ Simon spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen und räusperte sich verlegen. „Ehrlich gesagt fühle ich mich sicherer, wenn er mir die Richtung vorgibt. Und ich liebe ihn halt. Dafür habe ich halt ein Auge auf ihn, wenn seine Krankheit wieder schlimmer werden sollte.“ „Also letzten Endes fast so wie bei mir und Hunter“, schlussfolgerte sein älterer Bruder. „Tja, wir sind wirklich durch und durch Brüder. Wir stehen sogar auf Typen aus der gleichen Familie.“ „Jep, das ist wirklich schon fast Ironie. Bleibt nur zu hoffen, dass wir unser Augenproblem bald gelöst bekommen und vielleicht auch irgendwann mal herausfinden, wer unsere Eltern sind.“ Ein zustimmendes Murmeln kam zur Antwort und eine kurze Stille trat ein. Dann schließlich wurde Cyphers Stimme ernster als zuvor. Er klang sehr nachdenklich. „Hunter und ich haben uns unterhalten… über diese Sache. Er sagte er kennt eventuell jemanden in Backwater, der vielleicht helfen könnte. Es ist ein alter Freund von ihm, den er in der Klinik kennen gelernt hat.“ Alter Freund? Klinik? Da klingelte doch etwas in Simons Ohren. Ja genau, Hunter hatte diese Person erwähnt, als er zu Besuch gekommen war. „Hm… Hunter hat jemanden in diese Richtung erwähnt. Er meinte diese Person wüsste etwas über ein sogenanntes Annatown Phänomen.“ „Ja genau. Ursprünglich stammt die Familie Cohan aus Annatown und es gibt offenbar noch andere spezielle Familien. Hunters alter Freund ist ein Angehöriger der Familie Wyatt. Und diese scheinen wohl ziemlich viele Informationen zu haben. Vielleicht wäre es mal einen Versuch wert.“ Doch so ganz überzeugt war Simon nicht. Immerhin war von einer Person die Rede, die seit Jahren in einer Psychiatrie lebte und nach Hunters Aussage verrückt war? Das klang nicht gerade nach einer vertrauenswürdigen Quelle. Auf der anderen Seite wollte er Hunter auch nicht vor den Kopf stoßen und er glaubte auch nicht, dass er diesen Vorschlag gemacht hätte, wenn er sich nicht wirklich sicher gewesen wäre. Immerhin hatte Hunter ein großes Problem damit, Leuten zu vertrauen. Und überhaupt: was hatte er denn schon großartig zu verlieren? Im Grunde hatte er außer Cypher selbst keine Anhaltspunkte. Und natürlich wollte er schon gerne wissen, warum sie beide ausgesetzt worden waren. „Naja, es ist besser als nichts. Wenn Hunter meint, es könnte klappen, dann könnten wir es ja mal versuchen. Ach übrigens: erinnerst du dich noch an die Leiche, die wir im Wald gefunden haben?“ „Ja. Allerdings bin ich noch nicht auf dem neuesten Stand der Dinge. Weiß man denn schon etwas Neues über den Killer?“ „Die Polizei noch nicht, glaube ich. Aber als Leron und ich gestern bei seinem Vater waren, um ihn wegen seiner Mutter auszufragen, hat sich herausgestellt, dass die Leiche die Geliebte seines Vaters war. Und die anderen Leichen im Wald sind allesamt Angestellte, die von Lerons Mutter umgebracht wurden. Anscheinend war sie genauso eine verrückte Psychopathin wie Michael.“ „Alter Schwede“, murmelte Cypher und wirkte sprachlos. „Da wundert es mich echt, dass Leron nicht genauso verrückt geworden ist, wenn seine Mutter und sein Bruder so übel drauf waren.“ „Sie scheint wohl nur anderen gegenüber so brutal gewesen zu sein und hat ihre Kinder geliebt.“ „Hm… das ist recht ungewöhnlich. Normalerweise sind die eigenen Kinder meist die ersten Opfer. Aber vermutlich gibt es auch Ausnahmen in der Familie. Und warum hat Lerons alter Herr noch nichts der Polizei gesagt? Lass mich raten: er hat Schiss, dass der Konzern vor die Hunde geht, weil zwei von vier Familienmitgliedern mörderische Geisteskranke waren.“ „Würde mich nicht wundern“, seufzte Simon und legte sich aufs Bett, um es sich bequem zu machen. Dabei dachte er wieder an gestern zurück. „Dieser Typ hat nur noch seine Firma im Sinn, nachdem er von seiner Frau jahrelang tyrannisiert wurde. Auf der einen Seite tut er mir ja schon irgendwie leid, aber ich kann ihn trotzdem nicht ausstehen.“ „Musst ihn ja auch zum Glück nicht heiraten. Dafür hast du ja Leron.“ Simon war froh, dass er Cypher angerufen hatte. Seine gut gelaunte Stimme zu hören, lenkte ihn ziemlich gut von seiner Angst ab und munterte ihn ziemlich gut auf. Vor allem war es ein angenehmes Gefühl zu wissen, dass er einen guten Freund hatte, mit dem er auch über seine Beziehung reden konnte. Und ironischerweise war dieser gute Freund auch noch sein großer Bruder. Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass Cypher und er tatsächlich blutsverwandt waren. Eigentlich sollte er zumindest dafür seiner Augenkrankheit dankbar sein. Ohne die wären sie sich wahrscheinlich niemals begegnet und hätten auch nicht die Idee mit dem DNA-Test gehabt. Ob es vielleicht Schicksal war? Nun, das klang ziemlich kitschig, aber der Gedanke gefiel ihm irgendwie. Aber ironischerweise waren sie auch beide fast von demselben Mann getötet worden. „Mal so aus reiner Neugier: was habt ihr denn so alles im Programm bei euren Sessions?“ Diese Frage warf Simon fast aus dem Konzept. „Äh… also… Naja, wir haben eine Art Vertrag und Leron hat einen gewissen Fesselfetisch. Wir haben immer was anderes und wenn ich meine Sache gut mache, gibt es eine Belohnung und wenn nicht, dann gibt es eine Erziehungsstunde. Streng genommen ist es wie eine Strafe, aber Leron mag es nicht, es Bestrafung zu nennen.“ „Ah, also so eine Art SM-Beziehung?“ „So ähnlich. Allerdings ohne diesen ganzen Peitschenkram. Aber sag mal: wieso interessierst du dich so dafür?“ „Ich liege hier seit knapp drei Wochen im Krankenhaus und als ich versucht hatte, mein Problem selbst zu lösen, ist mein EKG so in die Höhe geschnellt, dass die Krankenschwester dachte, ich würde einen Herzinfarkt kriegen.“ „Du hast Druck auf der Leitung“, schlussfolgerte Simon und schüttelte amüsiert lächelnd den Kopf. „Kopf hoch Bruderherz, das wird schon werden. Du wirst nächste Woche entlassen!“ Doch Cypher seufzte nur wehleidig und erklärte „Ich war halt noch nie so lange von Hunter getrennt und wir haben eine sehr lebhafte Beziehung. Und dieser kalte Entzug ist die blanke Folter für mich!“ Der 21-jährige hatte wirklich Mitleid mit ihm und versuchte ihn ein wenig aufzuheitern. Sie telefonierten die meiste Zeit zusammen und konnten die Zeit perfekt totschlagen, bis Leron wieder zurückkommen würde. Lerons Gespräch mit Dr. Dawson war recht zufriedenstellend verlaufen. Wie sich herausgestellt hatte, war der Augenarzt zusammen mit einem Kollegen, der für ein Pharmainstitut arbeitete, momentan dabei, das Mittel zum ersten Mal zu testen. Das konnte zwar noch einige Wochen dauern, aber zumindest ging die Sache voran. Vor allem musste sichergestellt werden, dass das Mittel keine Risiken beinhaltete. Zwar hatte Cypher sich als menschliche Testperson zur Verfügung gestellt, aber sowohl Leron als auch Dr. Dawson wollten sichergehen, dass die Gefahr von irgendwelchen Folgeschäden möglichst minimiert wurde. Bislang sah alles ganz gut aus und er hoffte, dass er Simon bald seinen allergrößten Wunsch erfüllen konnte. Bis dahin würde er sich weiterhin gut um den Jungen kümmern und er hoffte für ihn, dass dieser brav im Haus blieb und sich nicht schon wieder einen Fehltritt leistete. Ansonsten würde die nächste Erziehungsstunde noch wesentlich länger dauern. Aber er bezweifelte, dass Simon einfach das Haus verlassen würde. Immerhin hatte dieser ja auch die Möglichkeit, Hunter anzurufen, wenn er die Einsamkeit nicht aushalten konnte. Zugegeben, er hatte ihn ziemlich damit überfallen, aber hätte er eine allzu große Sache daraus gemacht, hätte er Simon nur nervöser gemacht. Der Junge musste begreifen, dass ihm in diesem Haus nichts mehr passieren konnte und er in Sicherheit war. Es würde noch oft genug Situationen geben, dass Simon alleine sein würde und besser war, dass er ihn jetzt darauf vorbereitete. Zur Sicherheit rief er ihn auf dem Festnetz an, stellte aber fest, dass die Leitung belegt war. Offenbar telefonierte Simon mit jemandem. Ob er gerade Hunter anrief? Zur Sicherheit schrieb er ihm eine kurze SMS um nachzufragen, ob alles in Ordnung war. Es dauerte aber, bis er eine Antwort bekam: „Telefoniere grad mit Cypher. Alles ok.“ Schien so, als hätte Simon eine gute Ablenkung gefunden. Es war ja nicht so, dass er ihn ärgern wollte, indem er ihm verbot, Cypher zu besuchen. Aber er musste auch konsequent sein und ihm verdeutlichen, wer hier das Sagen hatte. Dafür würde Simon seine Belohnung bekommen, wenn er wieder bei ihm war. Nach all den schlimmen Dingen, die sich in der letzten Zeit zugetragen hatten, musste endlich wieder Normalität in den Alltag zurückkehren. Die Vorfälle mit seinen Brüdern und dann noch die mit seinem Vater und die Geschichte über seine Mutter waren wirklich genug gewesen und er sehnte sich insgeheim auch nach Ruhe. Er fühlte sich müde. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Er hatte schon mit Dr. Larson gesprochen, aber dieser hatte ihm versichert, dass es nur der Stress war und er nur ein wenig Ruhe brauchte. Dafür hatte der Psychologe ihm geraten, ein wenig kürzer zu treten und sich mehr auf die positiven Dinge zu konzentrieren. Und wenn ihm das half, würde er diesen Rat auch umsetzen. Bei der Gelegenheit hatte er ihn auch gefragt, ob es möglich sei, dass Simon zu ihm in Behandlung kam. Doch der Psychologe hatte nur geantwortet, dass er den Jungen erst einmal zu einem Aufnahmegespräch sehen wollte, um festzustellen, ob eine Behandlung möglich war. Natürlich würde er noch mal mit Simon darüber sprechen und er wusste genau, dass der Junge nicht gerade mit Begeisterung reagieren würde. Aber man konnte ihm ansehen, dass er professionelle Hilfe brauchte, um alles zu verarbeiten. Dann würde er auch hoffentlich seine Angst vor dem Alleinsein überwinden. Nun, das konnte aber noch ein wenig warten. Zuerst würde er noch mal mit dem Privatdetektiv sprechen, den er angeheuert hatte, um diesen auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Und vielleicht hatte dieser auch ein paar hilfreiche Informationen herausfinden zu Simons und Cyphers Herkunft herausfinden können. Insgeheim interessierte es ihn ja auch, was es mit den Eltern der beiden auf sich hatte und warum man Cypher vor dem Kloster abgesetzt hatte, während Simon einfach in einem Müllcontainer entsorgt worden war wie Abfall. Irgendetwas passte da einfach nicht zusammen, aber es war noch nicht erkennbar, was es bedeutete. Hoffentlich würde er die Antworten bald finden. Bis dahin würde er für Simon da sein und auf ihn aufpassen. Kapitel 43: Trigger ------------------- Als Leron am späten Nachmittag wieder zurückkam, fand er zu seiner größten Zufriedenheit Simon in der Villa vor. Dieser hatte es sich im Wohnzimmer bequem gemacht und schaute sich The Big Bang Theory an, während er ein paar Nüsse aß. Er schien ganz entspannt zu sein und wirkte gar nicht verkrampft oder ängstlich. Ein sehr gutes Zeichen für Leron. Allem Anschein nach hatte sich der Junge mit dem Telefonat mit Cypher sehr gut ablenken können. Dies war eine wunderbare Bestätigung dafür, dass er das Richtige getan hatte. Und hoffentlich würden Simons Alpträume und seine Angstzustände bald ein Ende finden, wenn er erst einmal verinnerlicht hatte, dass ihm nichts mehr passieren konnte. Simon würde schon bald verstehen, dass er mehr tat, als ihn nur zum Petboy zu erziehen. Das Wohl des Jungen stand für ihn an oberster Stelle und deswegen würde er auch seine eigenen Methoden anwenden, um ihm zu helfen. Als Simon seine Anwesenheit bemerkte, stand er auf und lief zu ihm hin, um ihn zu begrüßen. Mit einem strahlenden Lächeln wurde Leron umarmt, woraufhin ein zärtlicher Kuss folgte. Der Unternehmer erwiderte diesen und schloss Simon in seine Arme. Wieder wurde ihm mehr als deutlich bewusst, wie sehr er ihn liebte. Mehr als alles andere auf der Welt. Und ihn glücklich zu sehen war das Wichtigste für ihn. Und vor allen machte es ihn glücklich, dass es Simon gut ging und diese Zeit alleine in der Villa für ihn nichts Schlimmes gewesen war. „Wie ich sehe, bist du brav hiergeblieben. Und? War es denn so schlimm gewesen, alleine zu sein?“ „Anfangs schon, aber danach ging es ganz gut. Und was hat der Arzt gesagt?“ In einfachen und verständlichen Worten erklärte Leron ihm das, was Dr. Dawson ihm berichtet hatte und wann man ungefähr mit einem positiven Ergebnis rechnen konnte. Dabei bemühte er sich, keine allzu großen Versprechungen zu machen, da er wusste, wie wichtig diese Behandlung für Simon war. Und da wollte er ihn auch nicht enttäuschen. Schließlich aber kam er auf das Wesentliche zu sprechen. Immerhin war es ihm wichtig, dass Simon für sein gutes Verhalten belohnt wurde. „Also Simon, da du deine Sache wirklich sehr gut gemacht hast, denke ich, dass du dir deine Belohnung mehr als redlich verdient hast. Deshalb werde ich mein Versprechen einlösen und wir werden mit unserem Gefängnisrollenspiel weiter fortfahren, so wie du es dir gewünscht hast.“ Simon strahlte übers ganze Gesicht und schien sich schon richtig zu freuen. Das war schon wirklich verdammt niedlich. Aber der Junge hatte sich diese Belohnung auch verdient. Es hätte ihn selbst ziemlich geärgert, wenn er ihn hätte bestrafen müssen. „Hast du noch spezielle Wünsche, was das heutige Rollenspiel enthalten soll?“ „Hm…“ Sie setzten sich auf die Couch und Simon kuschelte sich sogleich an Leron heran. Anscheinend war der Junge wieder richtig anhänglich geworden, nachdem er die letzten Tage aufgrund seiner Alpträume ein wenig in sich gekehrt gewesen war. Umso mehr genoss er es nun, dass Simon wieder so intensiv seine Nähe suchte und das nicht bloß, weil er Angst vor dem Alleinsein hatte. „Hm… da lasse ich mich lieber überraschen. Deine Ideen sind ja schon ziemlich gut.“ „Na gut. Also ich habe es mir so gedacht: du bist ja ein inhaftierter Drogendealer. Obwohl du mir beim letzten Mal Treue geschworen hast, kannst du das dealen im Knast nicht sein lassen und ich habe dich dabei erwischt. Und dementsprechend werde ich dir zeigen, wo dein Platz ist und was passiert, wenn man mich hintergeht.“ „Hört sich vielversprechend an“, antwortete Simon und grinste fröhlich. „Da kann ich mich wohl mal wieder auf einiges gefasst machen.“ „Das auf jeden Fall. Aber… wenn du merkst, dass es dir wieder schlechter geht, dann lass es mich wissen und versuch nicht wieder, den Starken zu spielen. Du weißt, dass ich gleich ganz anders mit dir umgehen werde als sonst.“ „Ja, ja… ich weiß. Mach dir mal keine Sorgen“, winkte der 21-jährige ein wenig ungeduldig ab. „Es geht mir gut und wenn ich wieder einen Angstschub haben sollte, werde ich es dich wissen lassen. Ach übrigens, bevor ich es vergesse: Cypher geht es schon wesentlich besser und er kann schon nächste Woche aus dem Krankenhaus entlassen werden. Kann ich ihn dann besuchen gehen?“ „Klar. Wenn du weiterhin so brav bleibst wie heute, sehe ich da keine Probleme. Dann gehen wir ihn zusammen besuchen. Also… ich gehe soweit alles vorbereiten und du kommst in einer halben Stunde wieder nach unten. Dann kannst du dich umziehen und auf deine Rolle vorbereiten. Ich werde dann auf dich warten.“ Bevor Leron wieder aufstand, gab er Simon noch einen Kuss und strich ihm zärtlich durchs Haar. Verdammt wie sehr er den Jungen doch liebte. Mehr als alles andere auf der Welt. Allein schon ihn im Arm zu halten und seine Stimme zu hören, ließ Leron alles vergessen, was auf seinen Schultern lastete. Wie sehr wünschte er sich, dass er dasselbe auch für Simon tun konnte. Doch manchmal fragte er sich, was wohl die Zukunft bringen mochte, wenn Simon endlich seinen größten Wunsch erfüllt bekam und vielleicht sogar seine Familie wiederfand. Wie würde er sich dann verändern? Wie würde sich ihre Beziehung verändern? Als Simon hinauf in sein Zimmer gegangen war, um sich umzuziehen, wollte Leron in Richtung Keller gehen, da hörte er plötzlich eine Stimme.„Natürlich verändern sich Beziehungen im Laufe der Zeit. Zuerst schwebt man im siebten Himmel, danach ist so ziemlich die Luft raus und man kämpft nur noch. Und der Junge wird älter. Du bist viel älter als er und was willst du tun, wenn er dann das Interesse an dir verlieren wird? Dann wird dir nichts bleiben außer dem bitteren Schmerz…“ Leron wandte den Blick zum Sofa und sah dort seine Mutter sitzen. Scheiße verdammt. Da vergaß er mal seine Tabletten zu nehmen und schon gingen die Halluzinationen wieder los. Das hätte er sich ja gleich denken können. „Sorry Mum, aber ich habe mir zur Regel gemacht, nicht mit Trugbildern und schon gar nicht mit Serienmördern zu reden. Ich weiß, dass du nicht echt bist und ich lasse mich von niemandem mehr manipulieren.“ „Ach Schätzchen, du weißt doch, dass ich diese Leute umgebracht habe, weil ich dich liebe. Gerade du solltest es verstehen. Die wahre Liebe gibt es nur ein Mal. Simon ist die deine und du warst die meine. Für dich hätte ich jeden Menschen getötet, so sehr habe ich dich geliebt. Und genau das ist das Tragische an der Sache. Nicht der Wahnsinn ist es, der uns verdirbt. Es ist die Liebe. All unsere Gefühle werden obsessiv und unkontrollierbar. Sie sind wie ein Fluch und mein Wunsch nach Liebe hat mich zu der gemacht, die ich bin. Und dir wird es nicht anders ergehen. Deine Liebe zu diesem Jungen wird dich eines Tages in den Wahnsinn treiben. Spätestens dann wenn dich selbst diese scheußlichen Pillen nicht mehr vor deinen Trugbildern schützen können.“ „Ich bin nicht wie du“, widersprach Leron und ging in Richtung Küche. Es war besser, schnell noch seine Tabletten zu nehmen, damit sein Anfall bald wieder vorbei war. Er hatte nämlich keine Lust, sich den Tag durch seine Halluzinationen vermiesen zu lassen. Dr. Larson hatte ihm mehrmals eingeschärft gehabt, niemals auf die Trugbilder zu hören, sollte er mal vergessen, seine Medikamente zu nehmen. Denn was da zu ihm sprach, war nur das verdorbene Erbe der Familie seiner Mutter. „Du hast niemals versucht, dir helfen zu lassen. Stattdessen hast du es genossen.“ „Ach ja?!“ Plötzlich stand sie direkt vor ihm und versperrte ihm den Weg. Sie wirkte nun wütend und ihre goldgelben Augen blitzten gefährlich auf. „Glaubst du, ich habe mir dieses Dasein ausgesucht und es hat mir Spaß gemacht, in einer Familie aufzuwachsen, in der man misshandelt, missbraucht und getötet wird? Glaubst du ich habe es mir jemals ausgesucht, so zu sein? Deine Brüder taten es genauso wenig wie du und ich. Niemand von uns hat es sich ausgesucht. Wir sind damit auf die Welt gekommen und keiner von uns wird diesem Erbe entkommen. Auch du nicht. Unser Blut ist durch und durch verdorben und das ist es, was uns verbindet. Und irgendwann wirst auch du das erkennen, wenn dieser Junge dich verlassen wird. Es gibt nur einen Weg, wie du das verhindern kannst. Töte ihn, damit er für immer bei dir sein wird.“ „Du bist krank, Mum!“ Leron stieß sie beiseite und holte aus einem Schrank das Medikamentendöschen und schluckte eine Kapsel davon. „Veränderungen gehören zum Leben dazu und keine Beziehung ist einfach. Das ganze Leben besteht aus Höhen und Tiefen und niemand kann alles kontrollieren, das habe ich gelernt. Auch du konntest nicht alles kontrollieren, sonst wärst du damals nicht an Krebs gestorben. Zu einer Beziehung gehört Vertrauen und ich würde Simon jederzeit mein Leben anvertrauen. Du hast immer nur dir selbst vertraut und das war der Grund, warum du nie glücklich geworden bist. Deine Liebe war bloß eine krankhafte Obsession und eine Ausrede für dich, Menschen zu töten. Auf dieses Niveau lasse ich mich gar nicht erst herab. Also hör auf, mich mit Michael in eine Schublade zu stecken. Ihr beiden habt doch von der wahren Liebe keine Ahnung.“ Sicherheitshalber schluckte er zwei Tabletten und trank noch einen Schluck Wasser dazu. Zwar würde es dauern, bis sie zu wirken begannen, aber zumindest würden seine Halluzinationen bald wieder aufhören. Und bis dahin musste er versuchen, ruhig zu bleiben und sich vor Simon nichts anmerken zu lassen. Aber so wie er den Jungen kannte, würde es nicht leicht werden. Immerhin hatte dieser ein sehr scharfes Auge was das betraf. „Schatz, ich versuche doch nur, dir zu helfen. In dir fließt unser Blut und du kannst nichts gegen dein eigenes Erbe tun!“ „Das reicht…“ Plötzlich verstummte Katherine und wandte sich um. Auch Leron erstarrte als er plötzlich eine Frau am Küchentisch sitzen sah. Sie trug ein pechschwarzes elegantes Kleid, hatte ebenso schwarzes Haar und Augen die so rot wie Rubine waren. So rot wie die Augen des kleinen Mädchens in dem gepunkteten Kleid, das er am Haus seines Vaters gesehen hatte. Ihre Augen fixierten Katherine und starrten sie bedrohlich an. „Hast du nicht gehört? Dein Sohn will nichts von deinem Wahnsinn hören, also verschwinde wieder.“ Für einen Moment war so etwas wie Angst in den Augen seiner Mutter zu sehen. Und dann war sie auch plötzlich verschwunden. Verwirrt sah Leron zu der Frau. Wer zum Teufel war sie und was hatte das zu bedeuten? „Wer… wer sind Sie? Was machen Sie hier in meinem Haus und warum konnten Sie meine Mutter sehen?“ „Ganz ruhig“, sprach die Frau und hob die Hand. „Es sind nur Illusionen, verursacht durch Schizophrenie. Sobald die Tabletten wirken, ist sowieso alles vorbei. Aber du solltest dir mal angewöhnen, öfter daran zu denken. Psychosen sind eine wirklich ganz lästige Sache. Atme tief durch und konzentriere dich darauf, was du in der Therapie gelernt hast und geh schon mal in den Keller. Ansonsten wird sich der Kleine noch Sorgen machen.“ Etwas verwirrt schaute Leron die Frau an und verstand nicht so wirklich, was das zu bedeuten hatte. Aber es machte auch keinen Sinn, allzu viel darüber nachzudenken. Es gab noch wichtigeres zu tun. Immerhin musste er sich noch auf das Rollenspiel vorbereiten. Simon hatte sich bereits umgezogen und ahnte nichts von dem, was in der Küche passiert war. Er summte munter vor sich hin und freute sich auf das bevorstehende Rollenspiel. Allerdings war da etwas, das seine Stimmung ein klein wenig dämpfte: sein Halsband. Seit es kaputt gegangen war, fühlte er sich, als würde ein Teil von ihm fehlen. Es war zwar „nur“ ein Halsband, aber es symbolisierte immer noch das Band zwischen ihn und Leron. Und er hatte es wegen seiner Dummheit kaputt gemacht. Insgeheim fragte er sich, was zum Teufel ihn bloß geritten hatte, so eine Riesendummheit zu begehen und sich zu prügeln. Und die größere Frage war nun, ob er ein neues bekommen würde. Er hatte seine Strafe immerhin abgearbeitet und seinen Fehler eingesehen. Auf der anderen Seite war Leron ziemlich verärgert gewesen und vielleicht war er es ja immer noch. Simon versuchte, sich nicht weiter mit diesem Gedanken aufzuhalten. Jetzt war nicht die Zeit, sich die Stimmung vermiesen zu lassen. Er würde Leron später fragen, ob er ein neues Halsband bekommen würde und was er eventuell dafür tun musste, um es sich zu verdienen. Nachdem er fertig war, ging er nach unten in Richtung Leron’s Fetischkeller. Die Tür zum „Gefängnisbereich“ stand offen, was wohl signalisierte, dass Leron bereits drin war und auf ihn wartete. Er blieb noch einmal kurz an der Türschwelle stehen, atmete tief durch und sammelte sich. Er musste sich jetzt voll und ganz auf seine Rolle konzentrieren und alles andere ausblenden. So wie er Leron einschätzte, würde das Rollenspiel beginnen, sobald er durch die Tür gegangen war. Als er den „Gefängnistrakt“ betrat, wurde er plötzlich grob an der Schulter gepackt. Obwohl er sich innerlich vorbereitet hatte, schrak er heftig zusammen und sein Herz setzte vor Angst einen Schlag aus, doch als er sich umdrehte und Leron verkleidet als Gefängniswärter sah, atmete er erleichtert aus. Für einen Moment hatte er wirklich gedacht, es wäre Michael. Lerons Augen funkelten ihn streng an und er wirkte alles andere als zufrieden. „Na da scheint aber jemand nervös zu sein. Plagt dich etwa ein schlechtes Gewissen?“ Simon brauchte einen Moment, um wieder seine Gedanken zu sortieren und sich wieder auf das Rollenspiel zu konzentrieren. Er durfte sich jetzt bloß nicht wieder von seiner Angst beherrschen lassen. „Schon mal was von Intimsphäre gehört?“ entgegnete er einfach und grinste Leron provokant an. „Was ist los? Etwa Druck auf der Leitung?“ Doch da wurde er auch schon am Arm gepackt und Leron zerrte ihn mit sich. Simon blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen und dann schließlich erreichten sie die karge Zelle, in welcher sie das letzte Mal gewesen waren. Simon wurde hineingeschubst und mit einem lauten Knall fiel die Tür zu. Aus seiner Hosentasche holte Leron ein kleines Tütchen mit einem weißen Pulver heraus und hielt es ihm vor die Nase. „Was hatte ich dir bei unserem letzten Mal gesagt? Ich will keine Drogen hier in meinem Gefängnis. Anscheinend hast du es immer noch nicht verstanden.“ „Stoff verticken ist immer noch der beste Weg, um sich die Verrückten vom Hals zu halten, okay?“ verteidigte Simon sich. „Wenn ich denen nichts liefere, reißen sie mir den Arsch auf.“ Leron zog seinen Schlagstock, kam näher und hielt ihm die Waffe direkt vors Gesicht. „Der Einzige, der dir hier den Arsch aufreißt, bin ich. Und mich wütend zu machen, war ein verdammt großer Fehler, mein Freund. Ich glaube, es ist an der Zeit, dir eine Lektion zu erteilen. Mal sehen, wie den anderen Insassen die erotischen Fotos gefallen, die ich von dir gemacht habe. Mit Sicherheit wirst du zur Lieblingsschlampe des gesamten Gefängnisses werden.“ Lerons hämisches und zugleich verführerisches Lächeln, welches Simon beim letzten Rollenspiel so in seinen Bann gezogen hatte, wirkte schon fast einschüchternd. Und obwohl er diese Seite so sehr an Leron liebte, verunsicherte es ihn. „Das ist echt eine ganz miese Tour“, protestierte er. Aber damit konnte er sein Gegenüber auch nicht sonderlich beeindrucken. Dieser zeigte sich bloß amüsiert darüber. „Du kannst ruhig protestieren, aber damit stimmst du mich auch nicht wirklich um. Schon vergessen, was du beim letzten Mal gesagt hast? Du bist meine persönliche Schlampe und wenn du irgendetwas willst, dann hast du auch eine entsprechende Gegenleistung zu bringen.“ Simon senkte unterwürfig den Kopf und sagte nichts. Bei so einem Totschlagargument konnte er schlecht nein sagen. Also war die einzige Alternative Gehorsam. „Also gut, was soll ich tun?“ Ein unheilvolles Grinsen spielte sich auf die Lippen des Gefängniswärters, dann trat er nah an Simon heran und griff ihn direkt in den Schritt. „Das Einzige, was so eine kleine Schlampe wie du machen kann. Erst einmal solltest du dich für die Frechheiten mir gegenüber angemessen entschuldigen. Also geh schön runter auf die Knie und blas mir einen!“ Leron öffnete seine Hose und entblößte seinen halbharten Penis. Simon spürte den kalten und strengen Blick der absoluten Autorität auf ihn lasten und ging gehorsam auf die Knie. Er öffnete seinen Mund und ließ Lerons Glied in seinen Mund gleiten. Doch dem „Gefängniswärter“ schien das noch zu zaghaft zu sein, packte ihn etwas grob am Schopf. „Zeig mal etwas mehr Einsatz. Mit der laschen Tour werde ich noch ewig warten müssen. Also leg mal besser einen Zahn zu.“ Simon wurde von einem Gemisch aus Schauer und Erregung gepackt und fast aus dem Konzept gebracht. Er schloss die Augen und begann nun, Lerons Penis mit seiner Zunge zu verwöhnen. Doch es fiel ihm etwas schwer, sich vollständig fallen zu lassen und sich ganz dem Rollenspiel hinzugeben. Obwohl das Rollenspiel nichts Neues für ihn war, fühlte er sich einfach nur unsicher dabei und die kleinsten Dinge schienen ihn schon aus den Gedanken zu bringen. Doch er versuchte, sich nicht weiter darum zu kümmern. Er hatte das hier gewollt und er musste endlich wieder zu seinem alten Selbst zurückfinden. Plötzlich drückte Leron ihn weg und seufzte frustriert. „Oh Mann, da macht selbst eine Nutte bessere Arbeit als du.“ Obwohl Simon wusste, dass dies Teil des Rollenspiels war und ihn dieser harsche Ton für gewöhnlich erregte weil er diese Seite an Leron so liebte, konnte er nicht mehr in seiner Rolle bleiben. Er spürte, wie sich plötzlich sein Hals zusammenschnürte und ohne es zu wollen, brach er in Tränen aus. Es geschah so schnell, dass er sich nicht mehr zusammenreißen, geschweige denn die Tränen zurückhalten konnte. „Scheiße…“ entfuhr es Leron, als er Simon so sah. Schnell schloss er seine Hose wieder und kniete sich vor ihm hin. „Simon, was ist los? Was hast du?“ Doch der 21-jährige schaffte es nicht zu antworten. Er sah Leron nicht einmal an und vergoss still Tränen, ohne wirklich zu weinen. Erst als er in den Arm genommen wurde, löste sich diese Starre und er klammerte sich an Leron fest, wobei sein Körper leicht zitterte. „Es tut mir leid… Ich… ich glaube ich kann das noch nicht.“ „Habe ich dir solch eine Angst gemacht?“ wollte Leron wissen, während dieser versuchte, ihn zu beruhigen. „Nein… ja… ich… ich weiß nicht“, antwortete Simon. „Ich will schon, aber… Ich weiß doch auch nicht, was mit mir los ist. Ich will es wirklich und ich habe mich darauf gefreut. Aber aus irgendeinem Grund kann ich es nicht.“ Leron nickte nur und sagte „Dann beenden wir das hier besser. Na komm, wir gehen wieder nach oben.“ „Es tut mir leid“, schluchzte Simon und wischte sich die Tränen weg. Leron legte einen Arm um ihn und gemeinsam verließen sie den Keller. Sie gingen ins Wohnzimmer, setzten sich auf die Couch und Simon kuschelte sich an Leron heran. Simon hatte sich näher an ihn herangekuschelt und obwohl er aufgehört hatte zu weinen, sah er immer noch ziemlich elend aus. Anscheinend hatten sie beide Simons Zustand falsch eingeschätzt. Obwohl vieles danach ausgesehen hatte, als wäre er wieder halbwegs gefestigt, schien er emotional immer noch sehr verletzlich zu sein. Und insgeheim ärgerte sich Leron, dass er die Dinge so überstürzt hatte. Eigentlich hätte ihn schon die Erziehungsstunde zeigen müssen, dass Simon noch viel zu unsicher war, um sich vollständig wieder auf diese Spielchen einzulassen. Und Simon hatte sich selbst auch falsch eingeschätzt. „Ich glaube, das war uns beiden eine wichtige Lektion, dass manche Dinge ihre Zeit brauchen.“ „Tut mir leid…“ „Du musst dich nicht entschuldigen“, entgegnete Leron. „Die Schuld liegt auch bei mir. Um ehrlich zu sein habe ich nicht gesehen, wie unsicher du noch warst und ich habe zu viel von dir erwartet. Anstatt dir mehr Zeit zu geben und dich zu schonen, habe ich zu schnell Fortschritte erwartet.“ „Es ist ja nicht so als könnte ich nicht mehr… ich habe nur halt Angst gekriegt, wenn du so redest. Wenn du so bist wie jetzt, fühle ich mich wenigstens sicher.“ Trotzdem hatte Leron so seine Zweifel. Simons heftige Reaktion hatte nur allzu deutlich gezeigt, dass er mental noch nicht allzu sehr belastbar war. Und da war er sich nicht wirklich sicher, was er Simon überhaupt zutrauen konnte. Der Junge schien ja nicht einmal selber zu wissen, was er emotional verpacken konnte und was nicht. „Hör mal Simon, ich will nichts tun, was dich noch mehr belasten könnte. Und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob du so etwas mental durchstehen kannst. Ich will dir nicht wehtun. Weder körperlich noch seelisch.“ Hierauf schaute Simon ihn mit seinen schneeweißen Augen an, legte seine Arme um ihn und küsste ihn. Es war ein zärtlicher und liebevoller Kuss. Leron erwiderte den Kuss und schloss den Jungen fest in seine Arme. „Ich will wirklich mit dir schlafen“, erklärte Simon ihn. „Aber ich bin noch nicht bereit für diese harten Spielchen. Zumindest nicht, wenn du dann so mit mir redest wie vorhin. Weißt du noch, als ich für die Prügelei bestraft wurde? Es hat mir Angst gemacht, so vollkommen hilflos zu sein, aber ich fühlte mich sicher, weil du da warst. Also könnten wir es nachher noch mal versuchen? Aber dieses Mal ohne diese grobe Behandlung wie vorhin.“ Leron konnte nicht anders als zu schmunzeln. Anscheinend konnte er Simon diese Idee nicht ausreden. Der Junge war wirklich verdammt stur was das betraf. Aber das zeigte doch auch, wie sehr er ihn liebte. Und das Vertrauen war immer noch so stark wie zuvor. Er hätte es ihm nicht übel genommen, wenn Simon gesagt hätte, er wolle so etwas nicht mehr, nachdem das Rollenspiel ihn so getriggert hatte. Doch der Junge schien sich wohl nicht so leicht von etwas abbringen lassen. „Na schön, dann gehen wir gleich ins Schlafzimmer und machen dort weiter. Aber sollte ich merken, dass es dir wieder schlechter geht, breche ich sofort ab. Ich will, dass du dich gut dabei fühlst. Dementsprechend wird es die nächste Zeit auch keine Kellerbesuche mehr geben. Wir werden uns Stück für Stück vorarbeiten und dir die Zeit geben, die du brauchst. Das bedeutet aber nicht, dass du von Erziehungsmaßnahmen befreit bist, wenn du dich wieder so aufmüpfig verhalten solltest.“ Kapitel 44: Donner ------------------ Es war draußen dunkel geworden und Regen prasselte gegen die Scheiben. Simon schaute unruhig aus dem Fenster und beobachtete das Gewitter. Mit Sicherheit würde es nachher anfangen zu donnern. Und dabei hasste er Gewitter wie die Pest. Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, zuckte er erschrocken zusammen, bis er dann merkte, dass es bloß Leron war. Der Unternehmer betrachtete ihn ein wenig besorgt und merkte an „Du bist ziemlich schreckhaft. Ist auch wirklich alles in Ordnung?“ Er nickte zur Antwort, doch er schämte sich für seine Reaktion und konnte ihm nicht in die Augen sehen. „Tut mir leid. Ich kann noch nicht so gut mit Situationen umgehen. Wenn du mich nicht mehr so erschrecken würdest, wäre ich dir wirklich dankbar.“ Sie gingen zusammen in Lerons Schlafzimmer und kaum, dass sie drin waren, hörte Simon auch schon ein leises Donnern und zuckte wieder zusammen. „Immer noch Angst vor Gewitter?“ fragte der Unternehmer halb scherzhaft und begann nun Wasser in die Badewanne einzulassen. „Vielleicht wird dich ja ein heißes Bad etwas mehr entspannen.“ Aha, ein Bad also? Das klang doch nach einer wunderbaren Idee. Simon begann nun seine Häftlingskleidung abzulegen und behielt nur seine Boxershorts an. Er ging zu Leron hin und ergriff seine Hand. Auch wenn Leron ziemlich gut mit der Situation umging, quälte ihn dennoch ein schlechtes Gewissen wegen vorhin. Nur weil er seine eigene Verfassung falsch eingeschätzt hatte, machte sich Leron wahrscheinlich große Vorwürfe. „Tut mir leid wegen allem, was passiert ist. Ich mache wirklich viele Probleme, oder?“ Doch Leron schüttelte den Kopf und wirkte sehr nachdenklich und ernst. „Ganz und gar nicht. Im Grunde genommen habe ich dir auch ganz schön viele Belastungen zugemutet, seitdem du bei mir lebst. Meine Krankheit und meine Familie waren allein schon viel gewesen, aber ich habe ehrlich gesagt unterschätzt, wie sehr dich das belastet. Auch wenn wir beide in einer Beziehung sind, habe ich immer noch eine Fürsorgepflicht dir gegenüber. Du bist hier der letzte, der sich für irgendetwas entschuldigen sollte. Und ehrlich gesagt verstehe ich so langsam, warum du dir diese Dummheit auf dem Parkplatz geleistet hast.“ Simon presste die Lippen zusammen, als er wieder an die Schlägerei dachte und wie verärgert Leron darüber gewesen war. Instinktiv wanderte seine Hand wieder zu seinem Hals, welcher sich immer noch so nackt anfühlte. Diese Reaktion blieb nicht unbemerkt und Leron löste sich kurz von ihm, um etwas aus seiner Tasche zu holen. „Eigentlich wollte ich es dir zum Ende des Rollenspiels geben, aber da sich unser Vorhaben ein wenig geändert hat, gebe ich es dir jetzt.“ Simons Augen weiteten sich, als er sah, dass Leron ein Halsband hervorgeholt hatte. Es sah fast wie sein altes aus, wirkte aber noch um einiges edler und dezenter als das alte. Behutsam legte der Unternehmer es ihm an und wieder dieses Gefühl von Leder um seinen Hals zu spüren, ließ Simons Herz höher springen. Überglücklich umarmte er seinen Liebsten und küsste ihn. „Danke, danke, danke, Leron!!!“ rief er freudestrahlend. Der 31-jährige schmunzelte und tätschelte den Kopf seines Petboys. Diesem stiegen plötzlich wieder Tränen in die Augen und er vergrub sein Gesicht in Lerons Schulter. „Hey…“, versuchte der Unternehmer ihn zu beruhigen. „Wegen einem Halsband brauchst du doch nicht gleich zu weinen.“ „Aber es ist wichtig für mich!“ protestierte Simon und schaffte es nicht, seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. „Es ist quasi wie eine… naja… wie eine BDSM-Version eines Eherings, oder nicht?“ Dieser Kommentar war wohl endgültig zu viel für Leron und er konnte nicht anders als zu lachen. Er hatte mit Sicherheit mit einigem gerechnet, aber nicht mit so etwas. Simon seinerseits errötete und zog einen leichten Schmollmund und fragte etwas kleinlaut „Was ist denn so lustig daran?“ Doch der Unternehmer schüttelte nur den Kopf, schmunzelte immer noch amüsiert und erklärte „Das ist jetzt nicht böse gemeint, aber ich hätte nie gedacht, dass du so kitschig denken kannst.“ Als genügend Wasser eingelassen war, drehte Leron den Hahn zu und beide entledigten sich ihrer Kleidung, bevor sie in die Badewanne stiegen. Simon setzte sich vor den Unternehmer, lehnte sich zurück und ließ sich von ihm in die Arme schließen. Es fühlte sich so wunderbar an, in Lerons Armen zu liegen und sich einfach fallen zu lassen. Er schloss die Augen und spürte, wie langsam seine Anspannung abfiel. Behutsam strich eine Hand über seinen Oberkörper und er ließ sie bereitwillig gewähren. Sanft streichelte sie über sein Schlüsselbein, bevor sie hinunterwanderte und begann, seine linke Brustwarze zu kneten. Lerons andere Hand hingegen glitt zwischen seine Beine und strich zärtlich über seinen Oberschenkel. „Es freut mich, dass dir so viel daran liegt. Und ich hoffe, dass sich so ein Vorfall so schnell nicht wiederholt.“ „Ganz sicher nicht“, versprach Simon. „Die Abreibung und die Strafe haben mir gereicht.“ „Sehr schön.“ Zärtlich küsste Leron seine Halsbeuge und langsam entspannte sich der 21-jährige. Er spürte, wie seine Erregung stärker wurde, als die Hand, die zuvor seinen Oberschenkel erforscht hatte, nun damit begann, sein Glied zu massieren. Er begann bereits seine Augen zu schließen, doch da stellte Leron ihm eine Frage, die ihn sehr überraschte: „Sag mal Simon, hast du eigentlich jemals den Wunsch verspürt, irgendwann mal deine Eltern zu finden?“ „Wie kommst du jetzt plötzlich darauf?“ fragte er den Unternehmer überrascht. „Fragst du weil Cypher mein Bruder ist?“ Leron nickte und erklärte „Vielleicht liegt es auch daran, weil ich selbst viel mit meiner Familie zu tun hatte, seit du bei mir lebst. Und manchmal frage ich mich, ob du nicht auch manchmal den Wunsch verspürst, mehr über deine Herkunft zu erfahren.“ Simon legte den Kopf zurück und dachte nach. Natürlich hatte er sich sehr oft gefragt, wer seine Eltern waren und warum er einfach in einen Müllcontainer entsorgt worden war. Und nachdem er erfahren hatte, dass Cypher sein Bruder war, kam ihm die Frage in jüngster Zeit wieder auf. Warum hatten seine Eltern ihn an einem Kloster abgesetzt aber ihren jüngeren Sohn weggeworfen wie Müll? Hatte er noch mehr Geschwister und welchen Grund hatten seine Eltern gehabt, sie beide wegzugeben? Auf der einen Seite wollte er Antworten haben, um endlich mit diesem Thema abzuschließen, aber auf der anderen Seite hatte er auch Angst davor, was er eventuell herausfinden könnte. „Ehrlich gesagt wünsche ich mir schon, ein paar Antworten zu finden. Ich würde schon gerne wissen, wer meine Eltern sind und warum sie mich abgegeben haben. Aber ich habe auch Angst vor der Wahrheit. Vielleicht ist meine Mutter damals einfach überfordert gewesen. Womöglich hat sie mich und Cypher einfach nicht gewollt oder ist vielleicht eine drogenabhängige Prostituierte. Aber solange ich keine Antworten habe, kann ich mit diesem Thema einfach nicht abschließen. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich meine Eltern jemals finden werde. Nicht einmal das Kloster, in welchem Cypher aufgewachsen ist, weiß irgendetwas.“ „Ja, das dürfte in der Tat schwierig werden“, stimmte Leron zu. „Naja, es ging mir halt durch den Kopf.“ „Schon gut. Aber lassen wir das Thema Familie erst einmal beiseite, okay? Das zieht einen nur runter.“ Damit drehte Simon seinen Kopf zu ihm und gab ihm einen Kuss. Ein verschlagenes Lächeln spielte sich auf Lerons Lippen und seine haselnussfarbenen Augen sahen tief in Simons, die von einem undurchdringlichen Weiß bedeckt waren. Ehe sich der 21-jährige versah, wurde er sanft aber dennoch fest gepackt und nach vorne gedrückt. Seine Hände bekamen den Rand der Wanne zu fassen und er hielt sich instinktiv daran fest. Lerons Hand strich durch sein dunkelbraunes Haar und er hörte ihn leise murmeln: „So, ich habe genug gewartet. Lass uns ein bisschen Spaß haben.“ Simon spürte einen wachsenden Druck auf seinen Schließmuskel und streckte Leron seinen Hintern entgegen. Er wurde ungeduldig und konnte genauso wenig warten wie Leron. Er wollte ihn spüren und all seine Gedanken und Sorgen vergessen und sich einfach fallen lassen. Der Druck wurde stärker und eine vertraute Hitze erfüllte ihn, als Leron tief in ihn eindrang. Ein leises Keuchen entfuhr ihm, doch da verpasste Leron ihm einen Klaps auf und er zuckte kurz zusammen. „Immer wenn ich deinen süßen kleinen Arsch sehe, würde ich ihn dir am liebsten versohlen.“ „Du Sadist“, gab Simon halb im Scherz zurück, doch da verpasste der Unternehmer ihm noch einen Klaps und erwiderte „Nur weil aus unserem kleinen Rollenspiel nichts geworden ist, bedeutet das nicht, dass ich dich mit Samthandschuhen anfassen werde.“ Damit packte Leron ihn an den Hüften und drang tief in ihn ein. Ein leichter Stich durchfuhr Simon und er umklammerte den Rand der Wanne fester. Eine Welle aus Lust und Schmerz durchfuhr seinen Körper und ein leises Stöhnen entfuhr ihm, doch Leron ließ ihm keine Chance, sich zu sammeln und zog sich wieder aus ihm zurück, nur um wieder hart und tief in ihn hineinzustoßen. Seine Hände hielten ihn fest gepackt und ließen ihm keine Möglichkeit, sich ihm zu entziehen. Ein heißer Schauer durchfuhr Simon und er spürte, wie seine Erregung stärker wurde und der Schmerz langsam wich und die Lust sich immer weiter steigerte. Sein Herz begann zu rasen und ein unbändiges Verlangen nach mehr überkam ihn. Er wollte mehr, wollte es noch härter und intensiver. Das kalte Leder auf seiner Haut rief Erinnerungen in ihm wach. Die Erziehungsstunden und das Training mit Leron und die Erinnerung daran, wie viel er Leron bedeutete. Vor allem aber gab ihm das Wissen darum, dass er sich einfach fallen lassen und Leron die Kontrolle überlassen konnte, ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit. Er gehörte Leron und das Halsband, was er trug, war der Beweis dafür. Simon hielt es nicht mehr aus und löste eine Hand vom Rand der Badewanne, um sich selbst zu befriedigen. Sein Glied war bereits hart und sein Körper schrie nach Erlösung von dem Druck. Er wollte noch mehr fühlen, wollte die Ekstase und dieses Gefühl der Lust auskosten. Doch Leron durchschaute seine Absicht sofort und hielt sein Handgelenk fest. „Wer hat dir denn erlaubt, dass du dir selbst einen runterholen darfst?“ „Bitte“, flehte Simon. „Ich will mehr…“ „Du willst mehr?“ fragte der Unternehmer streng und stieß noch stärker zu. Ein elektrisierender Schauer durchfuhr seinen Körper und er stöhnte laut auf, als Leron genau jenen sensiblen Punkt traf, der ihn jedes Mal um den Verstand brachte. „Nur weil ich aufgrund deines derzeitigen Zustandes Rücksicht walten lasse, heißt das noch lange nicht, dass du dir solche Freiheiten rausnehmen darfst. Jetzt wirst du warten müssen, bis ich zuerst komme.“ Simon realisierte, was das bedeutete und wollte etwas sagen, doch er wusste, dass er es noch schlimmer machen würde, wenn er sich Leron widersetzte. Also akzeptierte er diese kleine Strafe und nahm seine Hand wieder zurück. Das hatte er sich selber eingebrockt. Warum musste Leron aber auch so verdammt streng mit ihm sein? Der 21-jährige biss sich auf die Unterlippe und versuchte sich wieder zu sammeln, doch Leron machte es ihm nicht einfach und schien es offensichtlich zu genießen, ihn ein bisschen zu quälen. Er wusste, wie er seinen Petboy an sein Limit bringen konnte und spielte diesen Trumpf natürlich auch aus. Es fiel ihm schwer, sich zusammenzureißen und sich nicht der Versuchung hinzugeben, sich über Leron hinwegzusetzen und es einfach zuzulassen. Nur ein kleiner, schwacher Moment… Doch Simons Wille war stärker und er unterdrückte sein Verlangen. Die letzte Bestrafung hatte ihm wirklich gereicht und er wollte diesen Moment hier gemeinsam mit dem Mann genießen, den er liebte. Der Mann, den er liebte… Nie in seinem Leben hätte er je gedacht, dass er fähig sein würde, einen anderen Menschen wirklich zu lieben. Ihm war, als würde das Blut in seinen Adern anfangen zu kochen. Sein Herz hämmerte in der Brust und sein Verstand schien von einem weißen Schleier bedeckt zu sein. Alles begann in eine weite Ferne zu rücken und er fühlte sich wie im Fieber. Es kam ihm vor, als würde sein Bewusstsein langsam in eine weite Ferne entrücken und er nahm all dies hier nur durch diesen dichten weißen Schleier wahr. Der Druck wurde immer stärker und sein Körper schrie nach Erlösung. Er wollte kommen und in diese dunkelrote Tiefe dieser heißen Sehnsucht versinken. Eine unbeschreibliche Hitze durchflutete sein Innerstes und er verlor jegliche Kontrolle über sich selbst. Für einen Moment tanzten Sterne vor seinen Augen, als er endlich zum ersehnten Höhepunkt kam und keuchend zusammensank. Als er sich wieder gesammelt hatte, drehte er sich um und schloss Leron fest in seine Arme. Mit einem Male überkam ihm der sehnliche Wunsch, einfach nur von ihm im Arm gehalten zu werden und diese Liebe und Geborgenheit zu spüren. Er spürte, wie eine Hand zärtlich seinen Kopf streichelte, bevor sich Lerons Arme um seinen Körper legten. „Ist alles in Ordnung?“ fragte der Unternehmer mit leichter Besorgnis, doch Simon schüttelte den Kopf und erklärte „Ich brauche das hier einfach gerade…“ Sie verharrten eine Weile in dieser Umarmung, bis sie sich wieder voneinander lösten. Nachdem sie aus der Badewanne gestiegen waren und sich abgetrocknet hatten, gingen sie ins Bett und Simon kuschelte sich an Leron heran. Obwohl der 21-jährige nichts Beunruhigendes gesagt hatte, machte sich der Unternehmer dennoch Sorgen um ihn. Zwar war der Junge sowieso jemand, der diese Art von Nähe brauchte, aber er wirkte wesentlich zerbrechlicher als sonst. Für gewöhnlich war er viel stärker gewesen, aber nun wirkte es so, als hätte sich ein Schatten über seine Seele gelegt. Und die Frage war, was er tun konnte, um ihm zu helfen. Immer noch musste er an die Szene im Keller denken und wie Simon plötzlich angefangen hatte zu weinen. Zwar war er vorhin wesentlich entspannter gewesen und hatte auch nicht danach gewirkt, als würde er wieder eine Panikattacke erleiden. Aber es war dennoch erkennbar, dass er sich verändert hatte. Die Belastungen waren einfach zu groß für ihn gewesen und es brauchte seine Zeit, bis er sich von all diesen Geschehnissen erholen würde. Und noch etwas beunruhigte ihn. Es konnte seine Einbildung sein, aber Simons Körper fühlte sich kälter an als sonst. Es war nicht so, dass er sich eiskalt anfühlte, aber es schien so, als würde ihm die Energie fehlen, seine eigene Temperatur aufrecht zu erhalten. „Ist dir kalt?“ „Nein, ich finde es angenehm warm.“ Vielleicht bilde ich mir das ja auch nur ein, dachte sich Leron und streichelte zärtlich Simons Kopf während er ihn im Arm hielt. Aber ihm war wirklich so, als fühle sich Simons Körper im Vergleich zu sonst etwas kälter an. Nur ganz leicht, aber dennoch bemerkbar. Und dabei hatten sie gerade erst Sex gehabt und das Wasser in der Badewanne war auch sehr warm gewesen. Hoffentlich wurde der Junge nicht schon wieder krank. Er sollte ihn vielleicht mal zu seinem Hausarzt schicken um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung war. „Simon, wenn dir irgendetwas auf der Seele liegt, möchte ich, dass du mit mir darüber sprichst. Ich bin zwar für dich da, aber ich weiß nicht was…“ Ein lautes Donnergrollen unterbrach Leron und sofort spürte er, wie Simon heftig zusammenzuckte und sich noch tiefer unter die Decke verkroch. Das Gewitter hatte er fast vergessen gehabt. Anscheinend ging es jetzt los. Der nächste Donner war so laut, dass Leron sogar glaubte, die Vibration in den Wänden zu spüren. Ein Blitz leuchtete draußen am dunklen Himmel auf und Regen prasselte gegen die Scheiben. Für ihn selbst war es nichts Besonderes, aber für Simon war dies ein einziger Horror. Der Ärmste kauerte völlig verkrampft und zitternd im Bett und hatte eine Heidenangst. „Alles wird gut“, versuchte er ihn zu beruhigen. „Wir sind hier drin geschützt und es kann uns nichts passieren.“ Doch Simon schien seine Worte nicht zu hören. Er zitterte immer noch und in seinen Augenwinkeln glänzten Tränen. Und alle Beruhigungsversuche Lerons endeten schließlich darin, dass er anfing zu schluchzen. Mit dieser Reaktion war der Unternehmer nun überfragt. Er verstand nicht, was plötzlich mit Simon los war. Es war doch gerade noch alles in Ordnung gewesen und nun begann er wieder zu weinen. Aber warum? Das Gewitter konnte doch wohl kaum die Ursache dafür sein. „Simon, was ist los? Warum weinst du?“ „Ich bin es so leid…“, brachte der Junge mit den brünetten Locken unter heftigen Schluchzern hervor. „Ich dachte, es wird alles wieder in Ordnung, aber ich habe immer noch Angst. Warum kann es nicht mehr so sein wie vorher? Warum können wir nicht einfach zu der Zeit noch zurückkehren, als alles noch in Ordnung war?“ Ach so ist das, dachte Leron und verstand so langsam. Anscheinend kam nach und nach alles heraus, was Simon bislang so erfolgreich aus seinem Bewusstsein verbannen konnte. Und nun, da er sein Limit überschritten hatte, fühlte er sich mit dem Gefühl der Hilflosigkeit und der Angst völlig überfordert. Zärtlich streichelte er ihm den Kopf und versuchte weiterhin, ihn zu trösten. „Es ist in Ordnung, sich ab und zu mal hilflos zu fühlen. Das ergeht jedem Menschen mal so. Und sei doch mal ehrlich: auch wenn viel passiert ist, stehen wir jetzt alle Male besser da als am Anfang.“ Doch da schaute der Junge ihn mit seinen schneeweißen Augen an so als glaube er, Leron wolle ihn für dumm verkaufen wollen. Aber der Unternehmer blieb bei seiner Meinung und erklärte „Denk doch mal zurück an den Anfang. Da hatte ich meine Schizophrenie noch nicht im Griff, Michael und Jordan waren am Leben und wir waren kein richtiges Paar gewesen. Du hast Hunter und Cypher nicht gekannt und wusstest auch nichts davon, dass du einen Bruder hast. Natürlich ist viel passiert, aber zusammenfassend gesehen ist auch viel Gutes passiert. Und all diese negativen Erlebnisse hatten letzten Endes auch etwas Gutes. Du musst lernen, auch mal diese Hilflosigkeit auszuhalten. Körper und Seele brauchen Zeit, um sich von gewissen Dingen zu erholen. Selbst wenn dein Körper sich einigermaßen erholt hat, braucht deine Seele länger. Du weißt, ich bin für dich da um dir beizustehen. Aber ich will nicht, dass du dich unter Druck setzt. Niemand erwartet von dir, dass du von heute auf morgen über all diese Dinge hinwegkommst. Also gib dir selbst Zeit.“ Immer noch schluchzte Simon leise und klammerte sich an Leron. Wieder donnerte es und das half nicht wirklich, dass er sich wieder beruhigte. Der Unternehmer überlegte, was er für Simon tun konnte, damit sich der Ärmste wenigstens ein bisschen besser fühlte und sich nicht mehr so sehr vor dem Donner fürchtete. Doch was konnte er tun? „Wie wäre es, wenn ich dir eine kleine Geschichte erzähle?“ „Was denn für eine?“ wollte der Junge sofort wissen. „Eine richtige oder eine erfundene?“ „Es ist eine richtige. Und keine Sorge, sie ist eine recht schöne.“ „Okay…“ murmelte Simon und wischte sich die Tränen weg. „Dann erzähl sie mir.“ Leron atmete tief durch und versuchte sich an die genauen Details seiner Anekdote zu erinnern. „Ich war genau in deinem Alter, als ich damals eine feste Stelle im Konzern zugeteilt bekam. Ich hatte mein Studium früher als geplant abgeschlossen und obwohl ich den Abschluss in der Tasche hatte, war ich noch ziemlich grün hinter den Ohren gewesen. Und als solcher wurde ich auch nicht sonderlich respektiert. Mein damaliger Mentor war William Green gewesen. Er kannte meine Familie schon seit langem und war ein außerordentlich talentierter Unternehmer. Aber er war auch unfassbar streng gewesen und hat mir das Leben sehr schwer gemacht. Nicht nur hat er ständig meine Autorität untergraben und mich wie einen Praktikanten behandelt, er hat auch keinen Hehl daraus gemacht, dass er nichts von Leuten hielt, die über Beziehungen in den Konzern kamen. Er hatte mich ziemlich auf dem Kieker gehabt und keine Gelegenheit ausgelassen, um mir die undankbarsten Aufgaben aufs Auge zu drücken. Teilweise ging ich schon mit Widerwillen zur Arbeit weil ich dachte, er wolle mich mit Absicht rausekeln.“ Leron hielt kurz inne, als Simon wieder den Blickkontakt suchte. Er wirkte sehr skeptisch und meinte „Das klingt aber nicht sonderlich nach einer schönen Geschichte.“ „Mach dir keine Sorgen“, beschwichtigte Leron ihn. „Ich bin ja auch noch nicht fertig. Also… das ganze Theater ging für eine längere Zeit so. Und ich stand vor der Wahl, was ich nun tun sollte: aufgeben und den Job hinschmeißen, oder diesem arroganten Sack den Arsch aufreißen und ihm zeigen, dass er sich nicht mit Leron Evans anlegen soll.“ „Du hast ihm den Marsch geblasen, oder?“ fragte Simon und Leron musste lachen, als die Erinnerung an diese Zeit wieder lebhaft zurückkam, als hätte er es erst gestern erlebt. „Oh ja, das habe ich. Aufgeben war für mich nicht infrage gekommen und ich sah nicht ein, warum ich mir von so einem Schnösel mein Leben versauen lassen sollte. Also habe ich ihn zu einem Gespräch zu mir gebeten und es hat ein verbales Gemetzel gegeben. Ich habe ihm deutlich gesagt, dass ich meine Arbeit und meine Karriere von niemandem ruinieren lassen werde und es mir scheißegal ist, wie gut er mit meinem Vater befreundet ist. Und wenn er denkt, er könne mich als seinen persönlichen Sklaven behandeln und meine Autorität untergraben, dann würde ich einen Weg finden, um ihn aus dem Unternehmen rauszuschmeißen.“ Er legte eine kurze Pause ein, um Simon die Zeit zu geben, die Geschichte sacken zu lassen und ihn neugierig auf mehr zu machen. Und tatsächlich brauchte es nur einen Augenblick, bis Simon ihn mit nun größerer Neugier fragte „Und was ist dann passiert? Hast du ihn tatsächlich rausgeschmissen oder hast du Ärger gekriegt?“ „Keines von beiden“, erklärte Leron und schmunzelte, als er die Szene wieder lebhaft vor Augen hatte. „Er hat mir gratuliert.“ „Häh?!“ Nun war der Junge sichtlich verwirrt und konnte das nicht so wirklich glauben. „Wieso hat er dir gratuliert? Und wofür denn?!“ „Dafür, dass ich endlich den Mund aufgemacht und ihn zurechtgewiesen habe“, erklärte Leron ihm. „Will hatte sich meine Tirade geduldig angehört und als ich fertig war und mir fast die Seele aus dem Leib geschrien hatte, fing er plötzlich an zu lächeln und zu klatschen. Ich dachte erst, er wolle sich wieder über mich lustig machen, doch da sagte er Na also, wurde aber auch endlich Zeit, dass du dich zur Wehr setzt. Damit hast du die wichtigste Lektion gelernt. Ich war genauso verständnislos gewesen wie du und dachte immer noch, er wolle mich verarschen. Aber dann hat er mir erklärt, warum er mich die ganze Zeit so schikaniert hat. Er wusste von meiner Situation und meinen beiden Brüdern. Und da sie im selben Konzern arbeiteten wie ich und beide wesentlich älter waren, wäre es für mich umso schwerer geworden, Fuß zu fassen. Das Geschäftsleben ist hart und Schwächlinge kommen nicht vorwärts, wenn sie nach oben wollen. Er wusste zwar nicht, was Michael und Jordan mit mir gemacht hatten, aber er wusste, dass Michael ein sadistischer Psychopath war und konnte ihn nicht leiden. Er verstand sich gut mit meinem Vater, aber aus irgendeinem Grund hatte er mich unter seine Fittiche genommen. Tatsächlich diente seine ganze Schikane nur zu dem Zweck, dass er mich abhärten und für den Moment vorbereiten wollte, wenn ich mich gegen meinen Vater behaupten würde. Er sagte mir der Weg eines Geschäftsmannes ist hart und steinig. Du wirst Feinde in den eigenen Reihen haben, wenn du nicht vorsichtig bist. Und jede Schwäche kann dir zum Verhängnis werden, wenn du dir vor den falschen Leuten Blöße gibst. Entweder du setzt dich zur Wehr, oder du gehst unter. Und wenn du dich gegen deine Familie behaupten willst, musst du lernen, dich gegen mich zu behaupten. Er war wirklich kein schlechter Kerl gewesen.“ „Und wie war euer Verhältnis danach? War er danach wenigstens netter zu dir?“ „Nein, er war immer noch absolut unbarmherzig und streng mit mir, wenn es um die Arbeit ging. Er hat mich härter rangenommen als jeden anderen, aber er hat mich auch gelehrt, mich durchzusetzen, mir nichts gefallen zu lassen, wie man verhandelt und wie man knallharte Geschäfte macht. Es waren die härtesten Jahre meines Lebens aber ich war ihm trotzdem verdammt dankbar dafür. Letzten Endes hat er aus mir den Menschen gemacht, der ich heute bin und dank ihm habe ich auch gelernt, mich gegen meinen Vater durchzusetzen und mich nicht von ihm beeinflussen zu lassen. Als ich nach knapp fünf Jahren soweit war, hatte sich unser Verhältnis wesentlich entspannt. Wir waren quasi Freunde.“ „Und jetzt nicht mehr?“ fragte Simon zögerlich. „Ist etwas mit ihm passiert?“ „Er ist vorletztes Jahr in den Ruhestand gegangen und zusammen mit seiner Familie nach Europa ausgewandert. Aber verstehst du so langsam, warum ich dir ausgerechnet diese Geschichte erzähle?“ Simon schwieg und ließ sich Lerons Anekdote durch den Kopf gehen. Zuerst war er sich nicht sicher, ob diese Geschichte nur frei erfunden war, oder ob sie sich wirklich zugetragen hatte. Aber auf der anderen Seite… warum sollte sich Leron diese Geschichte ausdenken? Bisher hatte er ihm noch nie irgendwelche Märchen aufgetischt. Doch es fiel ihm irgendwie schwer, sich vorzustellen, dass Leron von seinem Mentor aus einem guten Grund schikaniert wurde. Und vor allem fiel es ihm schwer zu verstehen, dass solch eine Methode wirklich helfen konnte. „Ehrlich gesagt fällt es mir schwer zu glauben, dass das wirklich so hilfreich war. Ich meine… was wenn es nach hinten losgegangen wäre und du stattdessen aufgegeben hättest?“ „Selbst dann hätte ich eine Lektion fürs Leben gelernt“, wurde ihm erklärt. Simon dachte weiter nach und begann langsam zu verstehen. „Also das heißt… diese Zeit hat dich so weit gebracht, dass du den Mut gefunden hast, dich gegen jemanden verbal zur Wehr zu setzen, der in der Hierarchie über dir steht?“ „Ganz richtig. Es war zwar eine harte Zeit, aber es hat mich stärker gemacht.“ Simon dachte zurück an die vergangenen Wochen zurück. Auch wenn er zustimmte, dass sich trotz aller Schicksalsschläge viel zum Guten gewandt hatte, fühlte er sich dennoch nicht unbedingt besser. Aber wahrscheinlich lag es auch nur daran, weil er sich einfach nur müde und deprimiert fühlte. Es donnerte wieder, allerdings weiter in der Ferne. Doch Simon registrierte es kaum, denn eine lähmende Müdigkeit überkam ihn und seine Augenlider wurden schwer. Leron sagte irgendetwas zu ihm, doch in dem Moment fiel er in einen tiefen Schlaf. Kapitel 45: Simon bekommt Besuch -------------------------------- Die Tage gingen ins Land und der Herbst hatte endlich begonnen. Leron hatte mehr Zeit auf der Arbeit verbringen müssen, da sich der Gesundheitszustand seines Vaters drastisch verschlechtert hatte und er mit einem starken Stechen in der Brust ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Da Simon nicht von ihm erwarten konnte, dass er in dieser schwierigen Situation zuhause blieb, nur weil es ihm momentan schlecht ging, hatte ihm versichert, dass alles in Ordnung war. Er hätte sonst ein richtig schlechtes Gewissen gehabt, da er wusste, dass Leron trotz aller Antipathie gegen seinen Vater ein pflichtbewusster Geschäftsmann war. Und so hatte er die Zeit genutzt gehabt, in denen er alleine war, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Tatsächlich hatte er mehrere Tage fast nur mit Schlafen verbracht, weil er sich einfach nur müde und erschöpft fühlte. Knapp eineinhalb Wochen hatte er so gelebt, bis er einen Anruf von Cypher gekriegt hatte, der ihm freudestrahlend mitteilte, dass er endlich entlassen wurde und nach Hause zurückkehren durfte. Nachdem er bis zum frühen Mittag geschlafen hatte und nur sehr langsam wach wurde, hatte plötzlich sein Handy geklingelt und Cypher selbst war in der Leitung gewesen und hatte ihm die frohe Nachricht verkündet. Und da Simon keine Fahrgelegenheit hatte, war kurzerhand abgemacht worden, dass Cypher und Hunter ihn besuchen würden. Dies hatte Simons Lebensgeister wiedererweckt. Gut gelaunt hatte er eine heiße Dusche genommen und den Butler Anthony informiert. Dieser war dabei, einen kleinen Snack vorzubereiten und lächelte zufrieden, als Simon ihm von dem bevorstehenden Besuch erzählte. „Es freut mich zu sehen, dass es Ihnen wieder besser geht. Um ehrlich zu sein, war ich um Sie besorgt.“ Simon setzte sich an den Küchentisch und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein. „Tut mir leid, das wollte ich wirklich nicht“, entschuldigte er sich ein klein wenig beschämt. Doch Anthony schüttelte nur den Kopf und entgegnete „Es muss Ihnen nicht leid tun. Es ist viel passiert und das nimmt einen mit, auch körperlich. Und es freut mich zu sehen, dass Sie gute Freunde haben, die Ihnen beistehen. Es steht mir nicht als Butler zu, solche Bemerkungen zu machen, aber Sie haben auf mich sehr einsam gewirkt, als Sie das erste Mal hierhergekommen sind.“ Simon war insgeheim überrascht, dass Anthony sich solche Gedanken um ihn machte. Hatte er sich so auffallend verhalten? War er wirklich so einfach zu durchschauen? Als er genau diese Frage stellte, kam Anthony mit einer etwas merkwürdigen, aber dennoch überraschenden Antwort. „Es gibt solche und solche Menschen. Manche Menschen können ihre Gefühle und Gedanken sehr gut verbergen. Und manche können es nicht. Sie gehören zu den Menschen, denen man leicht ansehen kann, was Sie denken und fühlen, wenn man genau hinsieht. Das muss nicht unbedingt etwas Schlechtes heißen. Es bedeutet nur, dass Lügen nicht Ihre Stärke sein wird.“ Also bedeutete es, dass Leron ihn durchschaut hatte, als er vorgegeben hatte, es wäre alles wieder in Ordnung? Nun, es machte auch keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Anthony reichte ihm einen Teller mit gefüllten Feigen, bevor er sich den Vorbereitungen für den anstehenden Besuch widmete. Die Feigen waren gefüllt mit Mascarpone und Mandeln und schmeckten erfrischend nach einer Mischung aus Vanille und Limette. Er war überrascht und fragte Anthony „Wo haben Sie eigentlich die ganzen Rezepte her?“ „Ich war in meiner Jugend Koch und habe diese Leidenschaft bis heute beibehalten.“ „Und wie sind Sie Butler geworden? Das ist ja ein ziemlich großer Jobwechsel.“ Der Butler lächelte und erzählte ihm, dass er dem Stress als Koch irgendwann nicht mehr gewachsen war und sich nach einer etwas ruhigeren und mehr geordneten Arbeit umgeschaut hatte. Der Zufall wollte es, dass zu der Zeit Lionel Evans nach einem Butler gesucht hatte. Zwar hatte Anthony zu diesem Zeitpunkt noch keine großartige Erfahrung, aber da Lionel aus irgendeinem Grund dachte, dass die besten Butler aus England kamen, hatte er den Job bekommen. Und da die Stelle sehr gut bezahlt war, hatte er den Job natürlich angenommen. Im Grunde hatte ein altes Vorurteil ihm einen Job besorgt, den er nun seit über 27 Jahren ausführte. Manchmal schrieb das Leben wirklich ironische Geschichten. Ob er irgendwann auch mal einen Job finden würde, den er so viele Jahre glücklich und zufrieden ausüben konnte? Würden er und Leron so lange zusammenbleiben? Er wusste es nicht, aber dieser Gedanke gab ihm eine gewisse Hoffnung. Nachdem er die Feigen gegessen hatte, ging er in sein Zimmer um ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Doch irgendwie blieb die gewünschte Wirkung aus, obwohl ein heißes Bad ihm bisher geholfen hatte, wieder zu Kräften zu kommen. Zwar fühlte es sich gut an, aber er fühlte sich nicht sonderlich besser dadurch. Vielleicht lag es aber auch nur daran, weil er sich immer noch ein wenig müde fühlte. Aber vielleicht wurde es ja besser, wenn er wieder Zeit mit Cypher und Hunter verbrachte. Die beiden waren ihm wirklich ans Herz gewachsen und es kam ihm immer noch so surreal vor, dass er tatsächlich Cyphers jüngerer Bruder war. Es klang wie nach einer Folge aus einer TV-Soap, in der solch merkwürdige Plottwists fast schon klischeehaft waren. Und so fiel es ihm schwer zu glauben, dass ihm das tatsächlich passierte. Irgendwie hatte Leron Recht gehabt. Selbst die unglücklichsten Umstände konnten auch etwas Positives haben. Und wäre seine angeborene Augenkrankheit nicht gewesen, hätte er seinen Bruder nicht gefunden. Außerdem hatte er zwei Freunde gefunden und das bedeutete ihm genauso viel. Und trotzdem konnte er diese eine Frage nicht vergessen. Wer waren seine Eltern? Warum war er in einen Müllcontainer geworfen worden, während man Cypher in ein Kloster gebracht hatte? Egal wie sehr er auch versuchte, sich von dieser Frage abzulenken, kehrten seine Gedanken immer wieder zu diesem Punkt zurück. Und es setzte ihm zu. Er fand keine Ruhe und es war ihm so, als raube es ihm die Energie. Aber vielleicht steigerte er sich auch nur zu sehr hinein. Nach dem Bad zog sich Simon ein schwarzes Hemd an und versuchte seine dunkelbraunen Locken zu einer halbwegs vernünftig zu frisieren, aber es wollte ihm nicht wirklich gelingen. Also gab er es auf und verfluchte wie schon so oft seine Naturlocken und sein dickes Haar, das es ihm fast unmöglich machte, seine Frisur in den Griff zu bekommen. Schließlich aber wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als er plötzlich ein Klingeln an der Tür hörte. Schnell sprang er auf und lief nach unten zur Eingangstür. Anthony war bereits da und war gerade dabei, die Ankömmlinge hereinzulassen. Wie erwartet waren es Cypher und Hunter. Der Bildhauer mit den goldgelben Augen wirkte wesentlich entspannter als sonst und hatte auch nicht mehr diesen Ausdruck in den Augen, als wolle er Massenmord begehen. Zwar war sein Blick immer noch sehr verschlossen, aber man sah ihm an, dass er sich freute, dass Cypher endlich aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Er trug eine schwarze Lederjacke und ein orangefarbenes Shirt auf dem ein blaues Cartoonmännchen mit großem Kopf zu sehen war. Es trug einen gelben Anzug, hatte einen Golfschläger in der Hand und im Hintergrund standen groß geschrieben die Worte „KILL JERRY“. Seine schwarze Hose war ein wenig zerschlissen, dafür aber waren die Lederstiefel mit den Nieten nagelneu. Cypher selbst trug ein weißes Shirt mit einem schwarzen Totenkopf darauf. Er hatte ein wenig abgebaut, was wahrscheinlich hauptsächlich daran lag, weil er sich im Krankenhaus kaum bewegen konnte. Dennoch wirkte er im bizarren Gegensatz dazu so lebendig wie noch nie. Kaum, dass sie einander sahen, kam Cypher direkt auf ihn zugelaufen und umarmte ihn. „Hey Bruderherz! Endlich sehen wir uns in Freiheit wieder!“ Der Künstler strahlte übers ganze Gesicht und wirkte überglücklich. Simon konnte nicht anders als darüber zu schmunzeln. „Du redest ja so als wärst du aus dem Knast entlassen worden.“ „Hast du eine Ahnung, was für eine Folter es ist, den ganzen Tag im Bett zu liegen und zwangsenthaltsam zu sein!“ Bei den letzten Worten löste er sich wieder von Simon und ergriff Hunters Hand. „Das Einzige, was ich hatte, waren Morphium und Schmerzen. Zwar bin ich Masochist, aber das war schlimmer für mich als die Sonntagsschule im Kloster.“ Sie gingen gemeinsam ins Wohnzimmer und während sie es sich bequem machten, servierte der Butler die Getränke. Freudestrahlend zeigte Cypher die Schussverletzung an seinem Arm, von der inzwischen nur noch eine Narbe übrig war. „Eigentlich sind meine Verletzungen schon längst verheilt gewesen, aber dem Chefarzt war das nicht so ganz geheuer gewesen, deswegen hatte er mich noch länger dabehalten. Er sagte, dass meine Schussverletzungen außergewöhnlich schnell verheilt seien und mein Körper sich ziemlich gut erholt hat. Tja, was soll ich sagen? Mein Körper ist der Hammer.“ Cypher lachte und stieß Hunter scherzhaft in die Seite. Er trank einen Schluck von seinem Kaffee und begann von seinem Leid zu klagen, wie eintönig sein Alltag im Krankenhaus gewesen war. Als er dann endlich das Zimmer verlassen konnte, hatte er sich die Langeweile damit vertrieben, mit Chirurgen über ihre Arbeit zu reden und die Krankenschwestern mit gruseligen Geschichten zu ärgern. Manchmal hatte er auch Anrufe von Ezra erhalten, der sich nach ihm erkundigt hatte. Hier runzelte Simon etwas verwundert die Stirn. „Er hat dich nicht besucht?“ „Ezra hat panische Angst vor Krankenhäusern“, erklärte Cypher mit einem leisen Seufzer. „Und da er halt sehr sensibel ist, wollte ich ihm so etwas nicht zumuten.“ „Wie geht es ihm eigentlich?“, erkundigte sich Simon daraufhin. Er selbst rührte sein Getränk nicht an. Stattdessen wanderte sein Blick immer wieder zu Cyphers Arm. Es war wirklich erstaunlich, wie gut die Verletzung verheilt war. Die Kugel hatte seinen Knochen getroffen und eine solche Verletzung brauchte lange, um zu heilen. Aber sie war inzwischen vollständig verheilt. Keine Verkrustung oder etwas dergleichen. Selbst die Narbe war so blass, dass sie kaum zu sehen war. Es sah aus, als wäre es eine uralte Wunde, die er sich vor vielen Jahren zugezogen hatte. Wirklich beneidenswert… Vor allem war es beneidenswert, wie lebhaft Cypher selbst wirkte. Er selbst fühlte sich eher, als hätte ihm irgendetwas die Energie geraubt. Und wie gerne würde er sich so fühlen wie sein Bruder. „Ezra hat sich inzwischen wieder beruhigt. Zwar sucht das Jugendamt immer noch nach einer Pflegefamilie für ihn, aber es geht ihm schon wesentlich besser. Er hat zwar Angst vor Erwachsenen, aber er vertraut den Mönchen im Kloster.“ Erst jetzt fiel Simon auf, dass Hunter ihn ansah. Die goldgelben Augen des Bildhauers sahen ihn prüfend an. Er sagte nichts und sein Blick war auch nicht feindselig. Nein, es war einfach nur ein prüfender Blick und Simon konnte nicht wirklich sagen, warum Hunter ihn so ansah. Schließlich aber lenkte eine Frage seine Aufmerksamkeit wieder auf Cypher. „Und wie geht es dir denn soweit? Du siehst ein wenig blass aus. Hast du schlecht geschlafen?“ „Ich fühle mich nur ein wenig schlapp, das ist alles“, erklärte er und machte eine abwehrende Handbwegung. „Ich glaube, ich brauche halt etwas länger, um den ganzen Stress zu verarbeiten oder vielleicht verschleppe ich bloß irgendwas.“ Hieraufhin legte Cypher eine Hand auf seine Stirn um seine Temperatur zu prüfen. „Also zumindest hast du schon mal kein Fieber. Na hoffentlich wirst du nicht schon wieder krank. Aber andererseits… der Herbst hat jetzt auch schon angefangen und da holt man sich schneller eine Erkältung weg, als einem lieb ist. Oder vielleicht brauchst du einfach mal Urlaub. Vielleicht kannst du Leron ja überreden, mit dir irgendwo hinzureisen.“ Ja das war gar nicht mal so eine schlechte Idee, wenn da nicht das Problem wäre, dass Leron sich momentan in einer schwierigen Situation befand. Es war sehr wahrscheinlich, dass sein Vater länger im Krankenhaus bleiben musste und bis alle Dinge weitestgehend geregelt waren, musste Leron sich um den Konzern kümmern. Also war das einzige, was er im Moment tun konnte, seine eigenen Ansprüche zurückstellen und Leron so gut es ging zu unterstützen. „Das wird erst mal warten müssen. Nachdem Lerons Vater ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wird er ziemlich viel um die Ohren haben.“ „Ach herrje, was hat er denn?“ wollte Cypher wissen. Unsicher zuckte Simon mit den Schultern und vermutete, dass es vielleicht ein Herzinfarkt sein konnte. Aber solange noch keine offizielle Diagnose feststand, konnte man nur Vermutungen anstellen. Schließlich aber kam Simon auf ein ganz anderes Thema zu sprechen, welches ihm schon seit einer Weile auf dem Herzen lag. Und da es auch Cypher betraf, wollte er über dieses Dilemma sprechen. „Sag mal Cypher… hast du schon mal darüber nachgedacht, nach deinen… ich meine… unseren Eltern zu suchen?“ Nun wich das unbeschwerte Lächeln und der 25-jährige Künstler wirkte sehr ernst. Er legte eine Hand auf die Schulter seines jüngeren Bruders und fragte ihn „Beschäftigt dich das denn so sehr?“ Simon nickte und senkte den Blick. „Ich würde so gerne wissen, warum unsere Eltern mich nicht auch in ein Kloster oder ein Heim gegeben haben und warum sie uns nicht behalten haben. Selbst wenn sich herausstellt, dass sie einfach nur Junkies sind, die in der Gosse leben, weiß ich dann wenigstens, wo ich herkomme und warum sie mich nicht behalten haben. Ich weiß auch nicht. Seit Leron mich darauf angesprochen hat, spukt es mir im Kopf herum. Aber die Frage ist… wie soll ich sie denn finden? Einfach meine DNA in der Datenbank prüfen lassen, bis sich irgendjemand findet, funktioniert ja sowieso nur in TV-Serien. Und ich wollte halt wissen, wie du über dieses Thema denkst.“ Stille trat ein und Cypher tauschte einen kurzen Blick mit Hunter aus. Er schien über das Ganze ernsthaft nachzudenken, war sich aber anscheinend nicht sicher, wie er dazu stand, oder wie er seine Antwort formulieren sollte. „Ehrlich gesagt habe ich nicht allzu viel darüber nachgedacht, weil ich glücklich mit den Menschen bin, die ich in meinem Leben habe. Ich habe Hunter, dich und meine Freunde… Natürlich denke ich manchmal darüber nach und klar möchte ich auch eine Antwort haben, wo ich herkomme. Aber wie du schon sagtest: es wird äußerst schwierig werden und vielleicht ist es sogar unmöglich. Solange kein Wunder geschieht, wird sich wahrscheinlich kaum etwas tun.“ Wieder trat Still ein und Simon fühlte eine gewisse Niedergeschlagenheit in ihm hochkommen. Er konnte nicht erklären warum, aber er spürte wieder die Tränen kommen. So etwas passierte ihm schon seit einiger Zeit, dass seine Stimmung plötzlich ins Negative umschlagen konnte und er konnte auch nicht sagen, ob es einfach nur eine kurzzeitige Verstimmung oder vielleicht eine Art depressive Phase sein konnte. Mit einem leisen Seufzer fuhr er sich durchs Haar und versuchte, seine Gedanken wieder zu ordnen. „Ich weiß nicht warum, aber meine Gefühle fahren in der letzten Zeit die totale Achterbahnfahrt. Aus irgendeinem Grund ist mir manchmal einfach nur zum Heulen und manchmal tue ich es ohne Grund. Was ist nur mit mir los?“ „Klingt ziemlich danach, als wärst du ziemlich durch mit den Nerven“, schlussfolgerte Cypher und legte einen Arm um ihn. „Ich kenne das sehr gut. Im ersten Moment bist du gut gelaunt und könntest die ganze Welt umarmen. Und kurz darauf fühlst du dich, als würde die Welt über deinen Kopf zusammenstürzen. Das Gefühl hatte ich, als ich Depressionen hatte. Es ist ziemlich anstrengend, aber solch eine Phase kann man haben, wenn man sein Limit erreicht. Du hast viel durchlebt und brauchst dringend Ruhe und vor allem Abstand von allem. Deswegen sage ich ja, dass ein Urlaub wirklich helfen kann. Vor allem musst du aus deinem Alltag raus und was unternehmen. Wenn du dich hier verkriechst, wird es nicht besser werden.“ Nun erhob sich auf einmal Hunter vom Sofa und trat auf ihn zu. Immer noch lag dieser prüfende Blick auf seinem Gesicht und er streckte die Hand nach ihm aus. Als Simon seine goldgelben Augen sah, die ihn zu durchdringen schienen, bekam er auf einmal Angst und wich instinktiv zurück, obwohl er eigentlich wissen musste, dass Hunter keine Gefahr darstellte. Die raue Hand des Bildhauers legte sich überraschend auf seine Halsbeuge statt auf seine Stirn und dann bemerkte er ruhig „Du bist kalt.“ „Echt?“ fragte Cypher überrascht und tastete Simons Haut zur Kontrolle ab. „Also ich merke nichts.“ „Er ist kalt“, beharrte Hunter mit fester Stimme. „Seine Ausstrahlung ist kalt. Und sein Blick wirkt trüb.“ „Na hoffentlich wirst du nicht wirklich krank“, murmelte der 25-jährige Künstler mit den schneeweißen Augen und wirkte nun besorgt. „Ich glaube, ich bringe dir mal meine spezielle Kräuterteemischung mit, die hilft jedem Kranken auf die Beine. Wenn Leron schon so viel Ärger am Hals hat, dann werden wir uns halt um dich kümmern. Nicht wahr, Hunter?“ Der Angesprochene nickte und setzte sich wieder. Er schwieg eine Weile und sein Blick hatte sich sehr verdüstert. Es schien ihn sichtlich zu stören, dass Cypher nicht derselben Ansicht war und er offenbar der Einzige war, der bemerkte, dass Simon sich seltsam kalt anfühlte. Doch dann unterbrach er sein Schweigen und murmelte nur ein einziges Wort: „Azarias.“ Simon runzelte die Stirn und verstand nicht so wirklich, wer oder was Azarias war und wovon Hunter da sprach. Auch Cypher wirkte ein wenig verwirrt und kratzte sich hinterm Ohr. „Könntest du dich ein kleines bisschen deutlicher ausdrücken?“ „Azarias Wyatt“, begann Hunter zu erklären, jedoch sah er niemanden direkt an. „Mein alter Bekannter aus der Klinik. Vielleicht weiß er was.“ Doch sein Freund schüttelte skeptisch den Kopf und versuchte ihm zu erklären, dass das völlig verrückt sei, da dieser Freund nicht in New York, sondern in der Klinik eines kleinen Kaffs in Ohio lebte. Doch Hunter blieb felsenfest dabei und erklärte „Azarias hat eine Gabe. Er kennt die Antworten, wenn man Fragen hat. Ich kann ihn anrufen und fragen.“ Simon war ebenso skeptisch wie sein Bruder und wusste nicht genau, was er von dieser Idee halten sollte. Wie Cypher bereits sagte: wie sollte jemand, der in einem anderen Bundesstaat lebte, ihm helfen, seine Eltern zu finden? Das klang irgendwie nach einer ziemlich verrückten Geschichte. Aber andererseits… Hunter war nicht der Typ Mensch, der sich so etwas Bescheuertes ausdachte. Er schien sich sehr sicher zu sein. Also entschied er sich dazu, ihm zu vertrauen. „Naja… es wäre einen Versuch wert. Wenn dieser Azarias vielleicht helfen kann, dann können wir es versuchen. Hast du seine Nummer?“ „Wir müssen in der Klinik anrufen“, erklärte Hunter. „Es ist mehr als zehn Jahre her, als wir miteinander geredet haben.“ „Und woher weißt du dann, dass er immer noch in der Klinik ist?“ „Er sagte mir, dass ich dort anrufen sollte, wenn ich jemals seine Hilfe brauche.“ Zuerst wollte Simon dagegen argumentieren, gab es aber auf und schwieg, während Hunter sein Handy hervorholte. Er musste erst die Nummer der Backwater Psychiatrie heraussuchen, da er sie nicht eingespeichert hatte. Es dauerte eine Weile, aber dann hatte er sie endlich gefunden und begann die Nummer zu wählen und aktivierte die Freisprechfunktion. Nach einer Weile meldete sich eine Frauenstimme, die wahrscheinlich einer Stationsschwester gehörte. „Psychiatrische Klinik Belvedere in Backwater, wie kann ich Ihnen helfen?“ „Hier ist Hunter J. Cohan. Kann ich bitte einen Patienten namens Azarias Wyatt sprechen?“ „Der Patient ist momentan noch in der Therapiesitzung. Ich könnte…“ Bevor die Stationsschwester weiterreden konnte, wurde sie von irgendetwas unterbrochen und eine Stimme im Hintergrund war zu hören. Kurz darauf war ein leises Rascheln zu hören, gefolgt von einer männlichen Stimme, die etwas laut in den Hörer hineinsprach. „Hunter Jayden Cohan, das hat ja gedauert, bis du dich bei mir meldest. Hast dir den perfekten Tag ausgesucht. Die Ausdruckstherapie ist eh total langweilig. Ich hoffe, bei dir ist alles soweit in Ordnung, hehehe.“ Woher weiß er, wer am Telefon ist?, begann sich Simon zu fragen. Er konnte sich nicht erinnern, dass die Stationsschwester Hunters Namen ausgesprochen hatte. Aber vielleicht war er auch einfach nur paranoid. Hunter schaute kurz zu ihm und antwortete „Mir geht es gut. Ich habe einen Freund. Sein Name ist Cypher Grant und er hat einen Bruder namens Simon Cavanaugh. Sie wollen wissen, wer ihre Eltern sind. Du bist der Einzige, der vermutlich eine Antwort weiß.“ „Simon…“, murmelte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Beschreibe mal wie er aussieht.“ „Dunkelbraune Locken, schlank, 170cm groß, blass und schneeweiße Augen.“ „Und keine schwarzen, langen Haare? Keine Tattoos oder Piercings?“ „Nein, das ist Cypher.“ Simon runzelte die Stirn. Irgendwie machte diese Konversation am Telefon nicht wirklich Sinn für ihn und er verstand nicht so wirklich, was das bedeuten sollte. Dann schließlich ertönte ein lang gedehntes Seufzen am Telefon und Azarias antwortete „Okay, das ist neu. Wenn er so ausgesehen hätte, dann hätte ich die Antwort, aber das hier hatte ich noch nicht. Und blöderweise habe ich bereits meine Medikamente eingenommen, da funktioniert mein siebter Sinn auch nicht so präzise. Lass uns noch mal reden, wenn die Augenbehandlung abgeschlossen ist. Wenn ich die Augenfarbe kenne, müsste ich wissen, aus welcher Familie sie kommen. Aber das sollte eh nicht mehr lange dauern.“ Nun war es Hunter, der verwundert die Stirn runzelte und nicht wirklich verstand. „Du weißt es nicht?“ „Ich bin mir nicht sicher. Es gibt zu viele Möglichkeiten und dass er anders aussieht als ich es gedacht habe, wirft alles durcheinander. Deshalb brauche ich die Augenfarbe um sagen zu können, aus welcher Familie die beiden stammen. Aber wie gesagt, wir sprechen uns eh noch mal. Ich muss jetzt wieder in die Ausdruckstherapie zurück. Ciao Hunter, war nett mal wieder deine Stimme zu hören!“ Damit war das Telefonat beendet und Hunter steckte sein Handy wieder ein. Und es stellten sich nur noch mehr Fragen für Simon. Die wichtigste davon aber war „Woher zum Teufel weiß er von der Augenbehandlung?“ „Ich sagte, dass Azarias Dinge weiß“, erklärte Hunter. „Er leidet unter paranoider Schizophrenie und ist verrückt, aber weiß manche Dinge auch wenn er sie nicht wissen kann. Es ist der siebte Sinn. Eine Intuition, die jeder Mensch besitzt. Sie ist aber nicht präzise. Wir müssen also bis zur Behandlung warten.“ Simon seufzte und fragte sich, was er eigentlich von diesem Gespräch erwartet hatte. Es wäre zu schön gewesen um wahr zu sein. Mit einem niedergeschlagenen Seufzer sank er auf seinen Platz zurück und schaute an die Zimmerdecke. Doch da klopfte Cypher ihm aufmunternd auf die Schulter. „Kopf hoch, das wird schon werden. Wir sollten optimistisch bleiben, denn so lange kann es ja auch nicht mehr dauern, bis die Augenbehandlung endlich ansteht. Und wenn wir das hinter uns haben, können wir Hunters Freund noch mal anrufen und dann wird er uns mit Sicherheit sagen können, wer unsere Eltern sind. Wenn Hunter felsenfest davon überzeugt ist, dass Azarias uns helfen kann, vertraue ich ihm. Und deswegen sage ich dir auch noch mal: weine nicht um das, was du noch nicht hast, sondern freue dich auf das, was kommen wird. Genieße die Zeit und mach das Beste daraus. Dann wird es dir auch bald wieder besser gehen.“ Kapitel 46: Wiedersehen mit Ezra -------------------------------- Die Woche brachte viel Regen und Gewitter. der Himmel war die ganze Zeit grau verhangen und es schien, als würde sich die Sonne nie wieder zeigen. So düster wie es draußen war, fühlte sich auch die Stimmung an. Obwohl Simon viel Besuch von Cypher bekam, vermochte nichts seine Laune dauerhaft zu heben und er war in einer Art Schwermütigkeit gefangen. Leron war die meiste Zeit arbeiten und es gab immer noch keine Information darüber, was seinem Vater fehlte. Dieser lag noch im Krankenhaus, klagte über Atemnot und Schmerzen in der Brust und hatte nun auch hohes Fieber dazubekommen. Obwohl Leron immer noch hoffte, dass sein alter Herr sich wieder bald berappeln würde, sah es nicht danach aus als könne dieser das Krankenhaus so schnell wieder verlassen. Es war eine schwierige Situation für sie. Und obwohl Simon versuchte, Leron nicht auch noch zur Last zu fallen, hatte dieser trotzdem seine Sorgen. Zwar war ihm längst aufgefallen, dass Simon sich kalt anfühlte und irgendwie schwächer und kränklicher wirkte als sonst, aber nun fiel ihm auf, dass es sich langsam schleichend verschlimmerte. Also hatte er seinen Hausarzt Dr. Morris angerufen und einen Termin für Simon ausgemacht. Obwohl der 21-jährige beharrte, dass mit ihm alles in Ordnung sei und er vielleicht nur eine beginnende Winterdepression entwickelte, blieb Leron bei seinem Entschluss und schickte ihn zum Arzt. Nur mit Mühe konnte sich Simon dazu aufraffen, denn ihm fehlte gänzlich die Motivation für solche Dinge. Als er von Lerons Chauffeur zur Praxis von Dr. Morris gebracht wurde, empfing der Arzt ihn gut gelaunt und drückte ihm fest die Hand. „Schön Sie wiederzusehen, Mr. Cavanaugh. Was führt Sie denn heute zu mir?” Simon nahm auf einem der beiden Stühle Platz und zuckte unsicher mit den Schultern, denn so ganz wusste er auch nicht, warum er hier hingeschickt wurde. „Ich weiß es nicht so genau. Ich fühle mich in der letzten Zeit einfach nur müde und kaputt und bin oft ziemlich niedergeschlagen. Nun gut, ich hatte in den letzten Monaten ziemlich viel durchgemacht und das war halt ziemlich viel für mich. Und bei dem Wetter da draußen ist es ja eh kein Wunder, wenn man schlechte Stimmung hat. Hauptsächlich bin ich wegen Leron hier, weil er sich Sorgen macht. Er sagt, ich würde mich kalt anfühlen.” Dr. Morris betrachtete ihn mit einem prüfenden Blick und faltete die Hände. „Haben Sie irgendwelche Beschwerden? Frieren Sie häufiger oder haben Kopfschmerzen?” „Nicht wirklich”, murmelte Simon. „Ich bin halt nur ziemlich erschöpft und schlafe viel.” Nun stand der Arzt auf und holte ein Ohrthermometer aus einem Schrank, um die Temperatur zu messen. Simon ließ die Prozedur über sich ergehen, doch wie Dr. Morris feststellte, war es nichts Besorgniserregendes. Die Temperatur lag bei knapp 36,1°C. Zwar war das etwas niedrig, aber immer noch im Normalbereich. Als nächstes wurde der Herzschlag und der Puls untersucht, danach hatte der Arzt auch schon sein Resultat gezogen. „Also der Puls ist etwas niedrig, der Herzschlag ist in Ordnung. Ich will jetzt nicht die Pferde scheu machen und sagen, dass Sie schwer krank sind. Vermutlich sind diese Symptome einfach nur eine Mangelerscheinung.” Hier zog der 21-jährige die Augenbrauen zusammen und schaute den Arzt verwundert an. „Eine Mangelerscheinung? Wie meinen Sie das?” „Es kann durchaus ein Vitamin- oder anderweitiger Nährstoffmangel vorliegen. So etwas kann auch Depressionen und Müdigkeit hervorrufen. Bevor ich Diagnosen psychischer Art treffe, versuche ich zuerst alle körperlichen Probleme auszuschließen. In der heutigen Zeit diagnostizieren viele Ärzte recht schnell eine Depression, lassen aber außer Acht, dass viele Probleme durch unseren eigenen Körper verursacht werden. Durch falsche Ernährung oder Lebensweise können Mangelerscheinungen auftreten und deswegen möchte ich gleich eine Blutabnahme vornehmen. Ich möchte einmal prüfen ob Sie eventuell einen Mangel haben oder ob vielleicht eine Schilddrüsenunterfunktion vorliegt.” Noch immer fiel es Simon schwer zu glauben, er könne so etwas tatsächlich haben. Ansonsten wäre es doch bei seiner Eingangsuntersuchung herausgekommen. Aber er vertraute auf die Meinung des Arztes und ließ ihn eine Blutabnahme machen. Danach riet ihm Dr. Morris noch, viel Tee zu trinken und sich zu schonen. Das Ergebnis der Blutuntersuchung würde er spätestens in zwei Tagen haben. Damit war der Arztbesuch auch schon wieder vorbei. Trotzdem war Simon nicht wirklich danach, nach Hause zurückzukehren. Er verspürte den Wunsch, einfach mal wegzugehen und für sich alleine zu sein. Also bat er den Chauffeur, ohne ihn zurückzufahren damit er einen Spaziergang machen konnte. Es regnete immer noch, aber glücklicherweise hatte er einen Regenschirm dabei. Die Luft war kühl, aber irgendwie wirkte es auch belebend auf ihn. Vielleicht war etwas Bewegung einfach das, was er brauchte. Nachdem Simon sich noch zusätzlich seine Sonnenbrille aufgesetzt hatte, um seine Augen zu verstecken, machte er sich auf zu seinem Spaziergang. Trotz beginnender Mittagszeit war erstaunlich wenig los. Zwar begegnete er einigen Fußgängern, aber selbst die hatten es eilig, so schnell wie möglich wieder ins Trockene zu kommen. Und offenbar war der Rest von New York nicht wirklich in Stimmung, bei diesem Wetter einen Fuß vor die Tür zu setzen oder die Leute waren noch arbeiten. Nun, es konnte ihm recht sein. Dann gab es zumindest weniger Leute, die ihn wegen seiner Sonnenbrille komisch von der Seite ansahen. Nachdem er eine Weile ziellos herumgelaufen war und hier und da in ein paar Geschäften Halt gemacht und ein paar Sachen eingekauft hatte, wollte er eigentlich wieder nach Hause gehen nur dummerweise wusste er nicht genau, wie er dorthin kommen sollte und setzte sich an einer überdachten Bushaltestelle, um sein Handy zur Hilfe nehmen zu können. Der Zufall aber wollte es, dass er dort auf ein vertrautes Gesicht traf: Ezra Parker. Zusammengekauert in der Ecke hockte er auf dem Boden, den Blick gesenkt und mit seinem Hund Archi bei sich. Er hätte auf dem ersten Blick mehr wie ein Ausreißer gewirkt, wenn man ihn nicht gekannt hätte. „Ezra?” Erschrocken schaute der 16-jährige auf und wirkte zuerst zutiefst verängstigt, doch dann entspannte er sich wieder, als er Simon sah. „Was willst du denn hier?” fragte er etwas schroff und wirkte ziemlich verstimmt. „Ich bin gerade auf dem Weg zurück nach Hause”, antwortete Simon. „Ich hatte nur einen kleinen Spaziergang gemacht, das war alles. Und was ist mit dir?” „Ich hatte keine Lust mehr”, kam es von dem etwas klein geratenen androgynen Jungen. „Ständig schreiben sie mir vor, was ich tun oder lassen soll und es kotzt mich an. Und was ich will, interessiert niemanden. Erwachsene sind doch alle gleich…” „Ist es wegen den Pflegefamilien? Hast du immer noch solche Angst davor, einer Familie angehören?” Ezra sah ihn nicht an und schwieg. Der Rottweiler ließ ein kurzes Winseln von sich hören, bevor er seinen Kopf auf dem Schoß seines Herrchens ablegte. Schließlich, nachdem eine Weile lang Stille zwischen ihnen geherrscht hatte, ließ Ezra ein leises Seufzen von sich vernehmen und erklärte „Menschen allgemein machen wir Angst.” „Warum denn?” wollte Simon wissen und rückte näher an ihn heran. „Sind sie denn so grausam zu dir gewesen?” „Ich weiß es nicht!” rief Ezra plötzlich in einem Anflug von Gereiztheit und schaute ihn wütend an. „Ich habe keine Ahnung, warum! Und glaubst du, das macht Spaß, vor allem Möglichem Angst zu haben weil irgendetwas Schlimmes in deinem Leben passiert ist und du kannst dich nicht mal daran erinnern? Es ist doch jedes Mal der gleiche Mist…” Der 16-jährige fuhr sich durchs Haar und Simon sah, wie viele davon an seiner Hand hängen blieben. Zwar erinnerte er sich daran zurück, wie Cypher erwähnt hatte, dass Ezra bei Stress die Haare ausfielen, aber es sah trotzdem beunruhigend aus. Und auch wenn er ihn nicht so lange kannte, machte er sich trotzdem Sorgen um ihn. Der Junge erinnerte ihn einfach ein Stück weit an sich selbst. „Kriegst du Panikattacken, wenn du mit Erwachsenen zu tun hast?” „Nur bei Männern”, antwortete Ezra und machte sich noch kleiner als er ohnehin schon war. „Mein letzter Pflegevater war eigentlich ganz okay gewesen. Aber als er mich an der Schulter angefasst hat, da habe ich Panik gekriegt und ihn gebissen. Ich habe es ja gesagt: ich bin nicht für Familien geeignet.” Der Bus kam und mehrere Leute stiegen aus. Simon bemerkte, wie Ezra sich nervös anspannte und die Leute feindselig anstarrte wie ein in die Ecke getriebenes Tier. Er hatte Angst, das konnte man mehr als deutlich sehen.Also fasste sich Simon ein Herz und reichte Ezra seine Hand. „Sollen wir woanders hingehen, wo wir in Ruhe reden können?” Nur zögerlich nickte der 16-jährige, stand auf und folgte Simon wortlos. Sie gingen in ein Café, welches nur spärlich besucht war und setzten sich in eine kleine Ecke, wo sie ihre Ruhe hatten. Unruhig sah sich Ezra um und wirkte immer noch sehr angespannt, doch zumindest wirkte er nicht mehr ganz so angriffslustig wie vorhin. Nachdem Simon Getränke für sie beide bestellt hatte, versuchte er, mit Ezra ein wenig ins Gespräch zu kommen. „Wann bist du eigentlich ins Kloster gekommen? Und wieso ausgerechnet dort?” „Ich war neun oder zehn Jahre alt”, antwortete der 16-jährige und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß nicht genau was davor war, aber ich weiß noch, dass meine Mutter vor meinen Augen gestorben war. Dann ist irgendetwas mit meinem Vater passiert. Zuerst wollten sie mich in ein Heim stecken, aber ich kam nicht mit den anderen zurecht.” „Warum nicht?” „Weil sie sich die ganze Zeit über mich lustig gemacht haben. Für die war ich doch immer nur der Hundejunge.” Kinder können wirklich grausam sein, dachte sich Simon und musste an seine eigene Kindheit zurückdenken, die auch nicht wirklich die glücklichste war. „Und wie kommt es, dass du Hunde so sehr liebst?” Etwas unsicher zuckte Ezra mit den Schultern und begann den Kopf des Rottweilers zu streicheln. Der Hund machte es sich auf dem Boden gemütlich so gut wie es ging und blieb dort brav liegen. „Ich weiß es nicht genau. Wir hatten mal einen Hund gehabt, bevor mein Vater gestorben ist. Ich glaube, der Hund hatte mich damals beschützt gehabt. Aber ich kann mich halt an nichts erinnern. Jedenfalls… Tiere sind für mich wesentlich angenehmer als Menschen. Erwachsene machen mir Angst, vor allem Familien. Die einzigen Menschen, vor denen ich keine Angst habe, sind Cypher, Hunter und die Klosterbrüder.” „Und wieso bist du dann abgehauen?” „Weil sie ständig darüber reden, dass ich eine Familie brauche und ich nicht ewig im Kloster bleiben kann. Die verstehen einfach nicht, dass ich so etwas nicht will. Für mich ist das schlimmer als von Idioten in der Schule verprügelt und Hundejunge genannt zu werden. Ich will am liebsten irgendwo auf dem Land leben, auf einer Farm und mich um Tiere kümmern. Hier sind einfach zu viele Menschen.” Es fiel Simon schwer, sich vorzustellen, dass jemand die Gesellschaft von Menschen so sehr hassen und fürchten könnte. Auch wenn er selbst nicht gerade ein einfaches Leben hatte, konnte er sich nicht vorstellen, völlig isoliert zu leben und dann auch noch glücklich damit zu sein. Aber anscheinend waren manche Menschen so. Und was auch immer mit Ezra passiert war, dass er solch eine Angst vor Menschen entwickelt hatte, es musste ihn zu dem Punkt gebracht haben, dass allein die Vorstellung einer Familie für ihn unerträglich war. Zwar konnte er die Ansichten der Mönche verstehen, aber er glaubte, dass es auch nicht der richtige Weg war, Ezra zu drängen, in einer Familie zu leben und ihn somit einem derartigen Stress auszusetzen. „Hast du schon mal über eine Therapie nachgedacht? Vielleicht hilft es dir, besser mit deiner Angst umzugehen. Womöglich hilft es dir sogar, dich daran zu erinnern, was damals mit deiner Familie passiert ist. Wenn du alleine leben willst, ist das okay. Aber solch eine Angst vor Menschen zu haben ist doch nicht normal.” Ezra zuckte wieder nur mit den Schultern und schwieg dazu. Er schien nicht genau zu wissen, ob er das wirklich tun sollte oder nicht und Simon hatte auch nicht vor, ihn weiter zu bedrängen. Während Ezra seinen Milchshake trank, den die Kellnerin gebracht hatte, herrschte Stille zwischen ihnen und Simon spürte, wie ihn erneut Müdigkeit überkam. Er fühlte sich erschöpft und rieb sich müde die Augen. Anscheinend war der Spaziergang anstrengender gewesen als gedacht. Na hoffentlich gab das Ergebnis der Blutuntersuchung Aufschluss darüber, warum er seit einiger Zeit neben der Spur war. „Du siehst scheiße aus”, meinte der 16-jährige, sah ihn aber nicht direkt an. „Stimmt was nicht mit dir?” „Keine Ahnung”, murmelte Simon und gähnte. „Vermutlich ist es nur irgendetwas Harmloses. Aber sehe ich wirklich so schlimm aus?” „Du bist kreidebleich und du riechst komisch”, erklärte Ezra und nahm noch einen Schluck von seinem Milchshake. „Aber du riechst nicht wie ein Kranker.” „Du kannst riechen, ob jemand krank ist?” Der klein geratene Teenager nickte und erklärte, dass er einen sehr sensiblen Geruchssinn besaß, der ihm manchmal Probleme bereitete, weil er viele Gerüche intensiver wahrnahm als andere Menschen. Aber es ermöglichte ihm auch, Gerüche wahrzunehmen, die normale Menschen nicht bemerken würden. So konnte er tatsächlich Menschen am Geruch erkennen und ebenso riechen, ob jemand krank sei oder nicht. Das machte Simon umso neugieriger und natürlich wollte er sofort wissen, wie kranke Menschen denn riechen würden. Doch es fiel Ezra schwer, Gerüche vernünftig zu beschreiben. Natürlich wusste er wie verschiedene Dinge oder Lebewesen rochen, aber es mit Worten zu beschreiben, war wesentlich schwieriger. „Es kommt auf die Krankheit an. Die meisten aber riechen nach Pisse oder nach etwas Fauligem. Es stinkt fürchterlich und selbst eine Grippe stinkt nach alten Socken und selbst Zuckerkranke riechen wie billiger Nagellackentferner. Kranke Menschen mit Organproblemen stinken oder riechen extrem sauer wie eine Flasche Essig.” „Und wie rieche ich?” Wieder musste Ezra überlegen, wie er den Geruch mit Worten beschreiben konnte. „Du und Cypher, ihr riecht normalerweise ähnlich wie Sonnenblumen. Aber nun stinkst du eher nach vertrockneten Blumen an einem eisigen Wintertag. Wenn du krank wärst, würdest du sauer stinken, aber das tust du nicht. Ehrlich gesagt habe ich noch nicht erlebt, dass ein Mensch so gerochen hat wie du.” Da Simon sich mit diesen Dingen nicht auskannte, konnte er damit noch weniger anfangen als Ezra. Er holte sogar sein Handy hervor um herauszufinden, was das genau bedeutete und wie kranke Menschen riechen, aber fand nichts, was auf Ezras Beschreibung passte. Letzten Endes blieb ihm also nur, die Diagnose des Arztes abzuwarten. Aber das Ganze kam ihm recht merkwürdig vor. „Leron und Hunter haben auch schon gesagt, dass ich kalt bin aber ehrlich gesagt merke ich nicht einmal etwas. Mir ist nicht mal kalt. Der Arzt meinte zwar es könne eine Schilddrüsenunterfunktion sein, aber...” „Dann würdest du anders riechen”, unterbrach Ezra ihn. „Menschen mit Schilddrüsenprobleme riechen eher nach Essig. Was auch immer es ist, es hat nichts mit deinen Organen zu tun.” Nachdem Simon für die Getränke gezahlt hatte, bot Ezra ihm überraschend an, ihm das Kloster zu zeigen, in welchem er lebte. Da dies auch der Ort war, an dem Cypher aufgewachsen war, wurde Simon natürlich neugierig und nahm das Angebot an. Sie mussten mit dem Bus fahren, da sich der 21-jährige nicht imstande fühlte, die Strecke zu Fuß zu laufen. Das Kloster lag etwas außerhalb der City und war ein überraschend modernes und unscheinbares Gebäude. Simon hätte es niemals als Kloster identifizieren können, wenn er es nicht von Ezra erfahren hätte. Es gab eine Kirche nicht weit von dort und im Innenhof befand sich ein kleines Gewächshaus, in welchem Gemüse gezüchtet wurde. Sie stiegen die Stufen hoch und öffneten die große und schwere Tür. Simon seinerseits war noch nie in einem Kloster gewesen und hatte deshalb auch keine Vorstellung davon, wie ein solches von innen aussah. Er erwartete fast schon etwas Mittelalterliches, doch zu seiner Überraschung war das Kloster modern eingerichtet. Natürlich war es schlicht gehalten und die hauptsächliche Dekoration waren Bilder von Heiligen, der Jungfrau Maria oder Kreuze. Die Wände waren weiß gestrichen und es wirkte fast gemütlich. Zwar konnte man immer noch sehen, dass hier Menschen lebten, die Reichtümern abgeschworen haben und ein einfaches Leben bevorzugten, aber es war trotzdem wesentlich häuslicher eingerichtet als die Bruchbude, in der Simon gehaust hatte, bevor er zu Leron gezogen war. Sie gingen in einen großen Raum, der einen langen Tisch mit mehreren Stühlen, ein paar Schränke, Kruzifixe an den Wänden und ein paar nette Dekorationen beinhaltete. Es schien so etwas wie der Speiseraum zu sein und ein paar Männer mittleren und fortgeschrittenen Alters in Kutten saßen am Tisch und unterhielten sich. Als sie hereintraten, schauten die Männer auf und erhoben sich von ihren Plätzen. Ein knapp 60-jähriger halbglatziger Mönch, der eine Halbmondbrille auf der Nase trug, trat auf sie zu und fragte überrascht „Du hast Besuch mitgebracht, Ezra?” Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich direkt an Simon und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. „Willkommen im St. John Kloster. Ich bin Bruder Benedict. Freut mich sehr.” „Freut mich ebenfalls, ich bin Simon Cavanaugh”, stellte sich der 21-jährige vor und erwiderte den Händedruck. Nachdem er sich als Bekannter von Ezra vorgestellt hatte, wurde er auch von den anderen Mönchen begrüßt, die sich allesamt mit Namen vorstellten, die man hauptsächlich aus der Bibel kannte. Und da ihm der Name Benedict so bekannt vor kam, erlaubte er sich schließlich die Frage „Kennen Sie vielleicht Cypher?” „Wen?” fragte der alte Mann stirnrunzelnd und konnte erst gar nichts mit dem Namen anfangen, bis er sich dann aber erinnerte. „Ach Sie meinen Bartholomew? Natürlich erinnere ich mich an ihn. Ich habe den Jungen immerhin aufgezogen zusammen mit den anderen. Es ist für mich immer noch unverständlich, wie er einen so wundervollen Namen einfach ausgetauscht hat. Immerhin ist er nach zwei Aposteln benannt worden! Und woher kennen Sie ihn?” „Ich bin sein jüngerer Bruder”, antwortete Simon mit einem leichten Schmunzeln und schilderte dem Mönch, wie er Cypher gefunden hatte. Zwar wusste er selbst, wie merkwürdig die Geschichte war, doch es reichte aus, dass Benedict den Kopf schüttelte und darauf nichts anderes zu sagen wusste als „Wahrlich… die Wege des Herrn sind unergründlich. Ich habe so einiges in meinem Leben erlebt aber das hier überrascht mich nun doch sehr. Aber es freut mich auch für Bartholomew, dass er zumindest einen Familienteil gefunden hat. Trotzdem ist es immer noch sehr bedauerlich, dass wir seine Eltern nie ausfindig machen konnten. Wir sind sehr bemüht, zumindest für unseren Schützling Ezra eine liebevolle Pflegefamilie zu finden, aber es ist leider auch nicht einfach.” „Und ich habe es dir schon gesagt, dass ich keine Familie will!”, gab Ezra gereizt zurück und seine Miene verfinsterte sich. Doch davon ließ sich der ältere Mönch auch nicht beeindrucken und er erklärte mit einem leisen Seufzen „Gott hat Eva erschaffen, weil es in der Natur des Menschen liegt, in Gesellschaft mit seinesgleichen zu leben. Und ein Kind braucht eine Familie.” „Ich bin 16 Jahre alt und kein Kind mehr!”, kam es zurück und Ezra wandte sich von Benedict ab. „Ich habe nie darum gebeten, in irgendwelche Familien reingesteckt zu werden, die ich nicht kenne. Und nur weil ihr der Ansicht seid, ich müsse unbedingt zu irgendwelchen Fremden abgeschoben werden, heißt das noch lange nicht, dass ich damit einverstanden sein muss! Das ist mir jetzt echt zu blöd.” Damit ergriff Ezra Simons Hand und zog ihn mit sich. Sie verließen den Speiseraum und gingen den langen Flur entlang, bis sie nach einer Weile vor einer Tür stehen blieben, die Ezra öffnete. Dahinter lag ein gemütlich eingerichtetes Zimmer mit einem einfachen Bett, einem Schreibtisch, einem großen Kleiderschrank und einem Hundekorb für Ezras vierbeinigen Freund. Es gab sogar einen kleinen Fernseher und eine Spielekonsole. An den Wänden hingen einige Fotos, die Ezra zusammen mit seinem Hund Archi zeigten. Auf manchen waren auch die Mönche zu sehen und man sah deutlich, wie sehr sie sich um Ezra kümmerten. Aber ein Bild zog Simons Aufmerksamkeit auf sich: das Foto einer Frau mit dünnen blonden Locken und trüben grauen Augen. Sie wies ähnliche Gesichtszüge wie Ezra auf, was darauf schließen ließ, dass es höchstwahrscheinlich Ezras Mutter war. Um sicherzugehen fragte er den 16-jährigen danach, doch der zuckte nur mit den Schultern und meinte, er wüsste nicht, ob es seine Mutter war oder nicht. Denn er konnte sich nicht einmal an das Gesicht seiner Eltern erinnern. Sie setzten sich aufs Bett und für eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann aber wagte Simon den Anfang. „Ich kann verstehen, wie du dich fühlst. Aber denkst du nicht auch, du tust ihnen Unrecht? Sie wollen dir doch nur helfen.” „Ich weiß”, murmelte der Teenager und seufzte leise. „Aber wie würdest du dich fühlen, wenn man dich drängt oder zwingt, etwas zu tun, obwohl du es nicht willst und auch verdammt noch mal Angst davor hast?” Instinktiv musste Simon wieder an diesen schrecklichen Abend zurückdenken, wo Michael ihn aufgespürt, Cypher niedergeschossen und ihn vergewaltigt hatte. Sofort zog sich sein Innerstes zusammen und er kostete ihn Mühe, dieses Bild wieder zu verdrängen. „Ja”, antwortete er. „Das Gefühl kenne ich sehr gut. Und ich kann gut verstehen, dass es ein großes Problem für dich darstellt. Ehrlich gesagt weiß ich nicht wie ich dir helfen kann, aber du solltest wirklich mal überlegen, dir Hilfe zu suchen. Vielleicht bekommst du dann dein Problem besser in den Griff.” Der 16-jährige schwieg und Simon beschloss, ihn nicht mehr weiter zu bedrängen. Da es langsam etwas spät wurde, beschloss er, sich wieder auf den Weg nach Hause zu machen und verabschiedete sich von Ezra. Doch kaum, dass er aufstand, wurde ihm plötzlich schwindelig und alles begann sich um ihn herum zu drehen. Er verlor den Halt unter den Füßen und er fühlte sich, als würde alles Blut aus seinem Kopf weichen. Ihm wurde schwarz vor Augen und das letzte, was er spürte war ein dumpfer Schmerz, als er zu Boden stürzte. Kapitel 47: Ein unfairer Streit ------------------------------- Nachdem Simon in Ezras Zimmer kollabiert war, hatten die Mönche einen Krankenwagen gerufen und Simon war nach knapp zwei Stunden Ohnmacht im Krankenhaus aufgewacht. Da er Leron nicht zur Last fallen und ihn ebenso wenig beunruhigen wollte, hatte er kurzerhand seinen Bruder angerufen und ihn gebeten, zum Krankenhaus zu kommen. Dieser übernahm auch das Gespräch mit dem Arzt, der darauf bestand, Simon zur Beobachtung dazubehalten, da sein Puls schwach sei und diese Kreislaufschwäche beunruhigend sei. Doch Simon weigerte sich hartnäckig, dazubleiben und entließ sich kurzerhand selbst. Diese Entscheidung rächte sich schneller als ihm lieb war, denn noch am selben Abend litt er unter heftigem Schüttelfrost, dem ein sehr hohes Fieber folgte. Da sein Zustand sich rapide verschlechterte, blieb Cypher über Nacht bei ihm, während Leron immer noch geschäftlich unterwegs war. Natürlich versuchte Simon mit allerhand Medikamenten, schnell wieder gesund zu werden, bevor Leron wieder nach Hause zurückkehrte, aber das klappte nur bedingt. Als der Unternehmer wieder nach Hause zurückkehrte, war er mehr als geschockt, Simon in diesem Zustand zu sehen und machte sich schwere Vorwürfe, dass er nicht für ihn da gewesen war. Cypher hingegen hatte seine eigene Methode, mit der Situation umzugehen. Während er sein Bestes tat, um den von Schuldgefühlen geplagten Leron wieder aufzubauen, setzte er vor allem auf übliche Hausmittel und Rezepte, um seinen kleinen Bruder wieder gesund zu bekommen. Er kochte Ingwertee und Hühnersuppe für den Kranken und als das Fieber auf 40,6°C stieg, setzte er kalte Wadenwickel ein, um die Temperatur zu senken. Leron seinerseits versuchte, frühzeitiger Feierabend zu machen um mehr für Simon da zu sein und sich um ihn zu kümmern. Es brach ihm das Herz, Simon zitternd und totenbleich im Bett liegen zu sehen, während seine Stirn von kalten Schweißperlen glänzte. Das Erschreckendste aber war, dass er noch kälter zu sein schien als sonst. Obwohl seine Stirn von Fieber glühte, war es so, als würde ein eiskalter Hauch von ihm ausgehen. Es war absolut verrückt und Leron verstand auch nicht, warum Simon auf der einen Seite glühendes Fieber hatte und auf der anderen Seite so kalt wie Eis wirkte. Und anscheinend schien es niemand außer ihm zu bemerken. Wenn er Cypher oder Anthony darauf ansprach, schienen sie nichts zu bemerken und natürlich begann er sich zu fragen, ob er sich das nur einbildete oder es wirklich passierte. Er rief daraufhin noch einmal Dr. Morris an und wollte die Testergebnisse wissen, doch dieser hatte auch keine hilfreichen Informationen für ihn. Simon hatte weder eine Schilddrüsenunterfunktion, noch irgendwelche Mangelerscheinungen. Da Leron sich damit nicht zufrieden gab, ließ er seinen Hausarzt persönlich vorbeikommen, damit dieser Simon untersuchte. Aber selbst nachdem Dr. Morris ihn persönlich untersucht hatte, konnte er nicht viel sagen außer, dass der Kranke ein viel zu schwaches Immunsystem habe und er nicht genau sagen konnte, woran es lag. Also verschrieb er fiebersenkende Medikamente und verordnete strenge Bettruhe. Die ganze Situation war äußerst frustrierend für den Unternehmer, insbesondere weil er genau sah, dass es Simon immer schlechter zu gehen schien und sein Hausarzt nicht wirklich sagen konnte, warum das so war. Alles was dieser Kittelträger von sich gab, waren nur Vermutungen. Er vermutete sogar eine genetisch bedingte Immunschwäche, die eventuell mit seiner Augenanomalie in Verbindung stand, doch das hielt selbst Leron als Laie für unwahrscheinlich, weil Cypher nicht die geringsten Anzeichen von solchen Problemen zeigte. Tatsächlich behauptete dieser sogar, nur einmal in seinem Leben wirklich schwer krank gewesen zu sein. Nämlich zu der Zeit, als er schwer depressiv und alkoholabhängig gewesen war. Es dauerte knapp zwei Wochen, bis sich Simon wieder erholt hatte, aber er wirkte immer noch angeschlagen. Und Leron beschlich das ungute Gefühl, als würde es auch nicht mehr besser werden. Als wäre das nicht schon genug, kam plötzlich ein Anruf vom Augenarzt Dr. Dawson, der Leron über die Fertigstellung der Medikation für die Behandlung informieren wollte und fragte, wann Simon denn mit der Behandlung beginnen wollte. Das stellte Leron natürlich vor eine schwierige Frage. Konnte er seinem Petboy wirklich zumuten, die Behandlung durchzuziehen, obwohl er gesundheitlich angeschlagen war? Auf der einen Seite hatte Simon sich normale Augen schon sein ganzes Leben lang gewünscht und er wusste, wie sehr er diese Behandlung herbeisehnte. Aber auf der anderen Seite hatte er Angst, dass er es gesundheitlich nicht packen könnte. Das erste Mal seit langem war Leron vollkommen ratlos was er tun sollte und als Cypher und Hunter zu Besuch kamen, nutzte er die Gelegenheit, um eine kleine Gesprächsrunde zu halten. Cypher wirkte wie das blühende Leben und schien nicht die geringsten Beschwerden von seinen Verletzungen zu haben. Simon hingegen wirkte noch sehr müde und erschöpft. Er wirkte niedergeschlagen, auch wenn Leron nicht mal sagen konnte weswegen. Nachdem Anthony Getränke serviert hatte, kam Leron gleich zum Punkt. „Ich habe einen Anruf von Dr. Dawson erhalten. Er hat mich informiert, dass die Augenbehandlung nun durchgeführt werden kann.“ Nun begann sich plötzlich etwas in Simon zu regen. Obwohl er immer noch kränklich und müde wirkte, wurden seine Augen groß und das Leben kehrte wieder ein Stück weit in ihn zurück. Er und Cypher strahlten übers ganze Gesicht und konnten die gute Nachricht noch nicht fassen. „Wirklich? Wir können uns jetzt endlich behandeln lassen?“ Der Unternehmer nickte, versuchte aber sachlich zu bleiben. „Ich mache mir aber Sorgen, dass das dich körperlich noch zusätzlich belasten könnte, Simon. Immerhin warst du lange krank und du siehst immer noch nicht danach aus, als könnte ich dir das wirklich zumuten. Ich mache mir ernsthaft Sorgen.“ „Aber darauf warte ich schon mein ganzes Leben!“ protestierte Simon und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Und ich lasse nur meine Augen behandeln. Ich kriege das hin!“ „Ich weiß, wie sehr du das willst und welche Opfer du dafür auf dich genommen hast“, lenkte der Unternehmer sofort ein. „Aber ich würde gerne abwarten, bis es dir wieder besser geht. Was nützt es dir, wenn die Behandlung ein Erfolg ist, dir es aber körperlich noch schlechter gehen wird als ohnehin schon? Seit du ins Krankenhaus eingeliefert wurdest, geht es dir zusehends schlechter und ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich.“ „Das ist nicht fair!“ rief Simon, der nun drauf und dran war, die Beherrschung zu verlieren und Leron etwas an den Kopf zu werfen, was er später bereuen konnte. Doch bevor das passieren konnte, ging plötzlich Cypher dazwischen, um die Situation zu deeskalieren. „Hey, kein Grund gleich die Krallen auszufahren. Ich finde, Leron hat nicht ganz Unrecht. Und deswegen bin ich doch auch von der Partie. Schon vergessen? Ich bin hier das Testsubjekt für dieses Unterfangen. Auch wenn das Mittel vielleicht schon mal getestet wurde, liegen mit Sicherheit noch keine Infos zu den Nebenwirkungen vor. Und deswegen hat Dr. Dawson mich ins Boot geholt, damit er das Mittel zuerst an mir testet um eventuell noch Anpassungen zu machen, damit es bei Simon weniger Nebenwirkungen gibt. Also warum machen wir nicht einfach erst mal den ersten Schritt und ich zieh es als Erster durch? Dann sehen wir ja, ob und wie starke Nebenwirkungen es hat.“ „Ja aber du bist gesund und fit“, gab nun Hunter zu bedenken, der ähnlich wie Leron sehr skeptisch war, ob Simon es körperlich überhaupt verpacken konnte. Doch so schnell ließ sich der Künstler nicht umstimmen und er schien ziemlich selbstsicher zu sein. „Eben darum! Wenn ein gesunder Mensch unter starken Nebenwirkungen zu leiden hat, können wir direkt ausschließen, dass Simon es schaffen wird. Wenn ich es ohne Probleme schaffe, bedeutet es, dass es für einen Kranken eine wesentlich geringere Belastung darstellt.“ Dieses Argument schien zumindest Simon zufriedenzustellen. Hunter und Leron blieben weiterhin skeptisch aber sie sagten nichts mehr dazu. Schließlich wandte sich Cypher an seinen jüngeren Bruder und zwinkerte ihm zu. „Sieh es als kleine Motivation an. Freu dich auf die Behandlung, vielleicht wird es dir ja dann besser gehen. Es heißt ja nicht umsonst, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnt. Und wenn du dich nicht mehr so runterziehst und stattdessen das Positive siehst, wird es dir vielleicht etwas besser gehen. Alles wird gut werden, du musst nur daran glauben.“ Simon nickte stumm, senkte dann aber den Blick und Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Ich würde mich gerne freuen“, gab er zu, wirkte aber eher danach, als wäre jemand gestorben. „Aber irgendwie kann ich nicht so wirklich glauben, dass das wirklich passiert.“ „Das legt sich schon“, versicherte Cypher und winkte ab. „Klar klingt es noch, als liegt die Behandlung in weiter Ferne, aber du wirst schon sehen: ehe du dich versiehst, hast du endlich normale Augen und gleich ein anderes Selbstbewusstsein. Und dann wird es dir auch wesentlich besser gehen. Ich rufe gleich mal beim Doc durch und mache den Termin aus. Je eher wir das durchziehen, desto schneller haben wir auch das Resultat, ob die gleiche Behandlung auch bei Simon wirkt.“ Damit war die Situation fürs erste geklärt und Cypher holte auch direkt sein Handy raus und rief Dr. Dawson an, um einen Termin für die Behandlung auszumachen. Er hatte Glück, denn er konnte tatsächlich schon am nächsten Tag kommen. Aber dann merkte der Augenarzt noch an, dass Cypher nach der Behandlung eine Fahrgelegenheit brauchen würde, da sein Sehvermögen durch die Augentropfen stark beeinträchtigt werden würde. Zum Glück war das kein Problem, da er ja Hunter hatte, der ihn abholen konnte. Nun sollten eigentlich alle zufrieden sein, doch Simon stand plötzlich wortlos auf und ging. Die drei sahen ihm ein wenig ratlos nach und Cypher wandte sich an Leron. „Was ist eigentlich mit Simon los? Irgendwie wirkt er noch schlechter gelaunt und niedergeschlagener als sonst. Ist irgendetwas passiert?“ „Ich weiß es auch nicht“, seufzte der Unternehmer und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Seit dem Vorfall mit Michael geht es ihm schon schlecht. Zuerst dachte ich, es läge nur an dem Trauma, aber es scheint ihm auch körperlich immer schlechter zu gehen. Und der Arzt hat auch nichts finden können. Davor war er eigensinnig, aber auch emotional sehr stark und stabil gewesen. Aber jetzt habe ich ehrlich gesagt Angst, dass die kleinste Kleinigkeit bei ihm einen Nervenzusammenbruch verursachen könnte. Es ist, als hätte er sich um 180° gedreht.“ „Ja, Ezra hat auch schon gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, stimmte der Künstler zu. „Ezra kann aufgrund seines Geruchssinns allein schon am Geruch feststellen ob jemand krank ist. Aber er wusste auch nicht, was genau nicht stimmte. Und als Simon urplötzlich zusammengebrochen ist und stundenlang ohnmächtig war, hatte er einen ziemlich heftigen Schreck gekriegt.“ „Was mich am meisten verwirrt ist die Tatsache, dass Simon sich kalt anfühlt“, merkte Leron an und ahnte bereits, dass wieder Unverständnis und Verwirrung folgen würde. „Ich weiß nicht, ob ich mir das nur einbilde, aber allein wenn ich in Simons Nähe bin, fühlt es sich an, als würde er irgendetwas Kaltes ausstrahlen. Das war besonders schlimm, als er hohes Fieber hatte. Ich hatte darauf bestanden, dass er im Krankenhaus bleibt, damit man wenigstens die Ursache klären kann, warum es ihm gesundheitlich immer schlechter geht. Aber… Simon weigert sich vehement und glaubt immer noch, es würde ihm bald wieder besser gehen, wenn er ein wenig Bettruhe hatte. Und wenn ich ihm helfen will, fühlt er sich sofort angegriffen und reagiert vollkommen abweisend. Ehrlich gesagt verstehe ich ihn einfach nicht mehr.“ „Du bildest dir das nicht ein“, meinte Hunter schließlich, sah Leron aber nicht an. „Er ist kalt.“ Stirnrunzelnd sah Cypher abwechselnd zu Leron und Hunter und verstand als Einziger nicht, wovon hier genau die Rede war. Und auch der Unternehmer war verwundert, jedoch aus einem ganz anderen Grund. „Du hast es auch gemerkt?“ „Ja. Aber ich weiß auch nicht warum er kalt ist. Und anscheinend spüren nur wir beide es… Oder nur Mitglieder der Cohan-Familie.“ „Was willst du damit sagen?“ wollte der 31-jährige wissen und wurde sichtlich angespannter. Ihn beschlich das Gefühl, als wüsste Hunter etwas, das er bis jetzt für sich behalten hatte. Und natürlich wollte er alles wissen, wenn es ihm dann auch half zu verstehen, was mit Simon los war. Doch Hunter schwieg und schien Schwierigkeiten zu haben, die richtigen Worte zu finden. Zudem war er es auch nicht gewohnt, so viel zu sprechen. Es dauerte eine Weile, bis er endlich wieder zu reden begann. „Ich habe letztens mit einem Bekannten telefoniert. Er wohnt in Annatown. Von ihm weiß ich, dass es in dieser Stadt ein besonderes Phänomen gibt. Nämlich eines, das die Augenfarbe betrifft. Ich habe ihn gefragt, ob er uns sagen kann, wer Cyphers und Simons Eltern sind. Aber solange er die Augenfarbe nicht kennt, konnte er nichts sagen. Vermutlich hängt Simons Zustand damit zusammen.“ „Das ist doch lächerlich!“ wandte Leron ein und schüttelte den Kopf. „Dr. Morris hat gesagt, dass die Augenanomalie nichts mit seinem jetzigen Gesundheitszustand zu tun hat.“ „Das sagst du, obwohl du den Cohans angehörst!“ konterte Hunter und sah ihn mit einem finsteren Blick an. Seine goldgelben Augen funkelten dämonisch. „Unsere Familie besitzt eine besondere Augenfarbe und besteht aus Verrückten und Mördern. Warum sollte ein ähnliches Phänomen nicht auch bei Cypher und Simon vorliegen?“ Zuerst wollte Leron widersprechen, da er es für äußerst unwahrscheinlich hielt, dass jemand den weiten Weg aus Ohio nach New York kam und dort Kinder zur Welt brachte, die dann einfach ausgesetzt wurden. Aber andererseits war es ja bei ihm genau dasselbe. Seine Mutter war damals auch aus Annatown hierhergekommen. Darum war es also gar nicht mal so unwahrscheinlich. Und wenn sie beide ohnehin schon so weit gekommen waren, konnte er sie auch in seinen geheimen Plan einweihen. „Ich habe vor einiger Zeit einen Privatdetektiv engagiert, um Simons Eltern zu finden. Ich habe ihm bisher noch nichts gesagt, weil er mit emotionalem Stress zurzeit nicht umgehen kann. Wenn es stimmt und eure Eltern wirklich aus Annatown stammen, könnte besagter Privatdetektiv sie eventuell ausfindig machen.“ Doch dieses Mal war es Cypher, der seine Bedenken hatte. „Klar könnte man es versuchen. Aber es hinter Simons Rücken zu machen, ist auch nicht richtig. Klar verstehe ich deine Bedenken, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht was jetzt das kleinere Übel ist: ihm die Wahrheit zu sagen, oder ihm dieses Detail zu verschweigen und riskieren, dass er es selbst herausfindet und glaubt, du würdest ihm in den Rücken fallen. Nichts Persönliches gegen dich, aber das ist nicht gerade das beste Timing, das du dir ausgesucht hast. Wenn du Simon darüber erzählst, wird ihn das natürlich mental stressen. Aber wenn du es ihm verschweigst, wird er es früher oder später herausfinden. Und das wird nicht besser enden. Vielleicht ist es auch nur eine verrückte Theorie, aber womöglich ist es ja gerade der mentale Stress, der ihn so krank macht. Ich hoffe ehrlich, dass die Augenbehandlung ihn endlich aus seiner depressiven Phase herausholt und es ihm dann wieder etwas besser geht. Wenn ich so zurückdenke… Als er Ezra besucht hat, hat sich dieser wieder ziemlich mit den Kuttenbrüdern gestritten und hatte wohl auch mit Simon über sein Problem gesprochen. Es ist nur ein Gedanke, aber vielleicht wird es ihm besser gehen, wenn er sich auch psychisch besser fühlt. Naja, vielleicht solltest du erst mal mit ihm reden. So wie er rausgestapft ist, scheint seine Stimmung ziemlich im Keller zu sein. Vielleicht kannst du ihn ja irgendwie aufmuntern.“ Simon hatte, nachdem er die Gesprächsrunde abrupt verlassen hatte, sich in sein Zimmer zurückgezogen. Er lag im Bett und hatte sich an sein Seitenschläferkissen geklammert. In ihm tobte ein extremes Gefühlschaos und er hatte es einfach nicht mehr aushalten können. Selten war er so wütend und enttäuscht von Leron gewesen. Zwar wusste er selbst, dass er körperlich nicht wirklich fit war, aber dass dieser verhindern wollte, dass er die Behandlung machen ließ, war einfach zu viel für ihn gewesen. Er hatte Leron vertraut und dieser wusste auch, wie sehr er sich normale Augen gewünscht hatte, damit er sich endlich normal fühlen konnte. Und nun versuchte Leron ihm genau diesen Traum zu zerstören. Und warum? Darüber konnte Simon zwar nur spekulieren, aber höchstwahrscheinlich hatte es wieder mit Lerons Krankheit zu tun. Immerhin war dieser ja auch ziemlich misstrauisch gegenüber Cypher gewesen und hatte nicht gewollt, dass er sich mit ihm traf. Oder es war noch viel schlimmer: Leron vertraute ihm immer noch nicht und wollte ihn von der Behandlung abhalten, damit sein Petboy für immer bei ihm blieb und von ihm abhängig war. Eines von beidem war es garantiert und das war es, was ihn so sehr verletzte: die Tatsache, dass Leron ihn aus eigenen selbstsüchtigen Gründen davon abhalten wollte, sich seinen Traum zu erfüllen. Und dabei hatte er wirklich gedacht, er könnte ihm vertrauen, aber letzten Endes war er wie immer nur enttäuscht worden. Warum nur musste sich die ganze Welt auch gegen ihn verschwören? War es nicht schon schlimm genug, dass er von einem sadistischen Psychopathen zwei Mal vergewaltigt und fast umgebracht wurde? Konnte dieser ganze Mist nicht endlich mal aufhören? Egal was auch passierte, es schien immer mehr und mehr Schlechtes dazuzukommen und er war einfach nur erschöpft und wollte seine Ruhe haben. Irgendwann waren ihm die Augen zugefallen und er hatte lange Zeit einfach nur im Bett gelegen, ohne wirklich einzuschlafen, bis er hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Als er die Augen wieder aufmachte, sah er, dass es Leron war und setzte sich sofort auf, wobei er ihm klar sagte „Ich will nicht mit dir reden, Leron! Also geh bitte!“ Der Unternehmer blieb stehen und seine nussbraunen Augen starrten ihn fast schon schockiert an. Es war erst das zweite Mal, dass Simon ihn in solch einem Ton angesprochen hatte. Und das letzte Mal war gewesen, als er erfahren hatte, dass sein Vergewaltiger Lerons Bruder war. Doch Simon war es vollkommen egal. Er war einfach nur wütend und verletzt, aber vor allem war er enttäuscht. „Simon, ich glaube, du hast da etwas missverstanden.“ „Was soll ich denn missverstanden haben?“ schrie der 21-jährige und seine ganze Wut entlud sich in diesem Moment. Er konnte nicht mehr klar denken, geschweige denn seine eigenen Gefühle unter Kontrolle halten. Tränen sammelten sich in seinen Augen und er wollte nicht mehr alles so stillschweigend hinnehmen wie sonst. Nein, dieses Mal würde er Leron in die Schranken weisen und ihm klar machen, dass er sich nicht verarschen ließ. „Du weißt, wie viel mir die Behandlung bedeutet und was ich jahrelang getan habe, um mir diesen Traum zu erfüllen. Und jetzt kommst du an, brichst dein Versprechen und willst mir die Behandlung ausreden. Glaubst du etwa, ich bin blöd?“ Simon stand auf und ging auf Leron zu. Dieser blieb im Türrahmen stehen und wirkte sehr unglücklich und zutiefst verletzt, aber Simon sah auch Schuldgefühle in seinem Blick und das machte ihn nur noch wütender. Er ließ ihn nicht einmal zu Wort kommen, sondern machte einfach weiter. „Hast du etwa geglaubt, du kannst mich mit deinen leeren Versprechen ruhig stellen, damit ich nach deiner Pfeife tanze und dir deine sexuellen Fantasien erfülle, weil man so etwas mit einem mittellosen Stricher wie mir machen kann? Hast du etwa wirklich geglaubt, ich würde nur mit dir zusammen sein, weil ich auf dein Geld scharf bin und nur die Behandlung will? Oder gehört es zu deinem Fetisch dazu, mich zu verarschen und mich von dir abhängig zu machen? Bin ich etwa nur ein verdammtes Sexspielzeug für…“ „JETZT PASS MAL AUF!!!“ unterbrach Leron ihn und wurde ebenfalls laut. Nachdem er den ersten Schock verdaut hatte, übermannte ihn die Wut über Simons unfaire Anschuldigungen. „Denkst du eigentlich mal für eine Sekunde darüber nach, was du da von dir gibst? Du müsstest inzwischen wissen, dass ich dich niemals derart hintergehen und dich so schamlos ausnutzen würde. Ich habe dich niemals zu irgendetwas gezwungen, was du nicht wolltest und du weißt genauso gut wie ich, warum ich nicht immer einfach bin. Ich habe mich in Behandlung gegeben und nehme die Medikamente, weil ich dir ein guter Partner sein will und weil du der wichtigste Mensch in meinem Leben bist. Und ich habe niemals gesagt gehabt, dass ich nicht will, dass du dich behandeln lässt. Wenn ich das nicht gewollt hätte, dann hätte ich sie dir wohl kaum bezahlt.“ „Ach jetzt geht es also ums Geld“, stellte Simon verbittert fest und verschränkte die Arme. Doch viel lieber hätte er Leron eine reingehauen. Es kostete ihn große Mühe, nicht zu weinen und er spürte, wie sich seine Brust schmerzhaft zusammenzog. „Und weil du für das ganze Geld aufgekommen bist, willst du natürlich, dass ich bei dir bleibe, um es dir mit meinem Körper zurückzuzahlen. Das war ja Teil unseres Vertrags, wenn ich mich recht entsinne, nicht wahr? Dir geht es ja bloß ums Geschäft und ich habe wirklich geglaubt, jemand meint es endlich mal ehrlich mit mir. Aber letzten Endes schaust du nur auf mich herab und glaubst, du kannst mich für dumm verkaufen, indem du mir irgendwas vorlügst, damit ich die Behandlung nicht durchziehe. Dein Bruder Michael war ein kranker Hurensohn gewesen, aber wenigstens wusste ich bei ihm, wo ich dran bin!“ Ein brennender Schmerz durchfuhr seine linke Wange, als eine Ohrfeige ihn direkt ins Gesicht traf. Es war das allererste Mal, dass Leron ihn auf diese Art und Weise geschlagen hatte und Simon spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Er bekam keine Luft mehr und seine Sicht verschwamm unter den Tränen. Und im nächsten Moment überkam ihn Angst. Als er in Lerons Gesicht sah, glaubte er für einen Moment, wieder das Gesicht von Michael zu sehen, der gekommen war, um ihn endgültig zu brechen. Der letzte kümmerliche Rest seines Denkens versagte vollständig und er verfiel in Panik. Er wich vor ihm zurück, schaffte es aber nicht, sich auf den Füßen zu halten und stürzte. Sein Herz begann zu rasen und er verfiel in eine heftige Schnappatmung, während sein Körper unkontrolliert zu zittern begann. „Nein, bitte! Lass mich in Ruhe! Bitte, ich will das nicht!“ Er begann heftig zu schluchzen und fürchtete zunächst, dass Leron ihn weiter anschreien oder noch mal schlagen würde, doch nichts dergleichen geschah. Der Unternehmer blieb auf Abstand und erklärte ruhig „Ich liebe dich, Simon. Und ich habe meine Bedenken nicht deswegen geäußert, weil ich Angst habe, du würdest mich verlassen. Ich vertraue dir und ich habe dich niemals schlecht oder respektlos behandelt. Ich habe Angst um dich, verstehst du? Du merkst doch selbst, wie schlecht es dir inzwischen geht. Seit Michael dich bei Cypher und Hunter aufgespürt und euch angegriffen hat, geht es dir gesundheitlich und mental immer schlechter. Natürlich wünsche ich mir für dich, dass deine Behandlung erfolgreich wird und du endlich glücklich sein kannst. Aber ich habe Angst davor, dass etwas schief läuft, weil du körperlich kaum in der Verfassung bist. Ich mache Fehler und ich bin nicht perfekt, das weiß ich. Aber ich tue das nicht, um dich zu schikanieren oder weil ich dich verarschen will. Ich tue das, eben weil ich Angst habe, dich zu verlieren und weil ich es nicht ertragen kann, dich leiden zu sehen. Glaubst du etwa, es ist mir egal oder es bereitet mir Vergnügen, wenn ich dich so sehe? Denkst du, ich mache mir keine Vorwürfe wegen dem was passiert ist? Egal wie sehr wir die Vergangenheit ändern wollen, wir können es nicht. Und ich kann nicht ungeschehen machen, was mit dir passiert ist. Alles, was ich tun kann ist, wenigstens dafür zu sorgen, dass es dir nicht noch schlechter geht. Wenn dir noch etwas passiert, kann ich mir das niemals verzeihen!“ Diese Worte trafen Simon hart und er begann erst jetzt langsam zu realisieren, was er da eigentlich gesagt hatte. Und er war schockiert, dass er tatsächlich so über Leron gedacht und ihm so wenig vertraut hatte. Wie hatte das nur so weit kommen können? Wie hatte es nur so weit kommen können, dass er bereits drauf und dran war, den Menschen wehzutun, die ihm eigentlich nur helfen wollten? Leron hatte ihn stets liebevoll und respektvoll behandelt und er dankte es ihm nun, indem er ihm solche Dinge unterstellte und ihn beschimpfte. Und jetzt war es zu spät, um es rückgängig zu machen. „Es tut mir leid“, schluchzte er, doch seine Stimme zitterte so heftig, dass er kaum ein Wort vernünftig hervorbringen konnte. „Ich… ich weiß, dass du mir nur helfen willst und dich um mich sorgst. Und ich werfe dir solche Dinge an den Kopf und mache alles nur schlimmer. Ich bin wirklich das Letzte… Verdammt noch mal. Ich weiß doch auch nicht, was mit mir los ist. Ich will doch auch, dass es wieder besser wird, aber ich schaffe es einfach nicht. Ich bin einfach nur erschöpft von allem…“ Er rechnete mit allem. Dass Leron ihn alleine lassen oder ihn für diese grausamen Worte bestrafen würde. Doch stattdessen kam der Unternehmer auf ihn zu, half ihm hoch und nahm ihn fest in den Arm. Simon verstand es nicht. Wieso stieß Leron ihn nicht einfach von sich, nachdem er ihm all diese Dinge an den Kopf geworfen und ihn derart gekränkt hatte? Und wieso begann er ihm so liebevoll den Kopf zu streicheln, wie er es so oft schon getan hatte? „Wir schaffen das gemeinsam, Simon. Egal was dafür nötig ist, ich werde dich das nicht alleine durchstehen lassen. Du warst für mich da, als ich Halt gebraucht habe. Jetzt bin ich für dich da und werde dich auffangen. Ich liebe dich und du wirst immer der wichtigste Mensch in meinem Leben bleiben. Du musst diese Dinge nicht alleine mit dir tragen. Ich bin doch jetzt bei dir und kann dir helfen, dich von diesen ganzen Lasten zu befreien. Aber dazu musst du auch Hilfe zulassen.“ Doch Simon war nicht mehr imstande, darauf zu antworten. Er war vollkommen überwältigt von seinen Gefühlen und klammerte sich an Leron, während er bitterlich weinte. Kapitel 48: Eine unschöne Wahrheit ---------------------------------- Cyphers Herz raste wie verrückt und er war entsetzlich nervös, auch wenn er versuchte, gelassen zu bleiben. Die ganze Zeit über hatte er Hunters Hand gehalten, während er im Wartezimmer gewartet hatte. Und obwohl sein Begleiter wirkte, als wäre das hier nichts Weiteres als eine harmlose Routineuntersuchung, schien auch er ein wenig unruhig zu sein. Doch es war nicht die Angst vor einem negativen Ergebnis, das Cypher so zusetzte. Es war die Angst vor der Behandlung selbst. Und diese Furcht hatte ihn beinahe dazu veranlasst, auf der Stelle wieder kehrt zu machen und nach Hause zu gehen. Doch Hunter hatte nicht mit sich reden lassen und hatte ihn überredet, doch noch zur Praxis von Dr. Dawson zu fahren. Der 25-jährige Künstler atmete tief durch und begann unruhig auf seiner Unterlippe zu kauen. „Scheiße verdammt. Ich hatte total verdrängt gehabt, dass bei dieser Behandlung Spritzen zum Einsatz kommen. Warum in aller Welt müssen es ausgerechnet Spritzen sein?!“ „Du schaffst das“, sprach Hunter ruhig und hielt seine Hand fest. „Es wird schnell gehen.“ Doch das half Cypher nicht wirklich, sich zu beruhigen. Er hatte schon seit seiner Kindheit panische Angst vor Spritzen und ging nur äußerst ungern zum Arzt, wenn er im Hinterkopf hatte, dass eine solche Prozedur nötig sein würde. Für gewöhnlich umging er so etwas sehr geschickt, auch wenn es nicht immer klappte. Vor allem nicht, wenn ein Impftermin bevorstand und Hunter davon wusste. Auch wenn dieser Krankenhäuser und vor allem Ärzte auf den Tod nicht ausstehen konnte, war er immer derjenige, der Cypher zu diesen Terminen schleifte und dafür sorgte, dass er derart wichtige Behandlungen bekam. Inzwischen hatte er Wege und Mittel gefunden, um Cypher zumindest ein Stück weit die Angst zu nehmen. Also holte er aus seiner Jackentasche einen MP3-Player hervor, schaltete ihn an und drückte ihn seinen Liebsten in die Hand. „Hör etwas Musik. Das beruhigt.“ Der 25-jährige hob erstaunt die Augenbrauen, denn damit hatte er nicht gerechnet. Sogleich steckte er die Hörer in die Ohren und begann nach einem guten Lied zu suchen. Als er dann auch noch sein altes Lieblingslied von den Crashtest Dummies entdeckte, musste er schmunzeln. Sogleich, als das Lied zu spielen begann, wurde er deutlich ruhiger und legte seinen Kopf auf Hunters Schulter. Nicht zu fassen, dass er noch genau meine alten Lieblingslieder kennt, dachte er sich. Er war unendlich dankbar dafür, dass Hunter mit ihm gekommen war und ihn hier nicht allein ließ. Natürlich war er auf der einen Seite überglücklich, dass er endlich die Augenbehandlung bekam, aber auf der anderen Seite hatte er auch Angst, dass es nicht klappen würde. Er wünschte sich schon seit Jahren normale Augen, um sich endlich wie ein vollwertiger Mensch zu fühlen. Aber was sollte denn schon großartig passieren, wenn es nicht klappte? Er hatte Hunter an seiner Seite und dieser hatte ihn schon immer so geliebt wie er war. Selbst mit diesen Augen. Und selbst wenn sich herausstellen sollte, dass das Mittel von Dr. Dawson nicht bei ihm wirkte, würde sich für ihn nicht viel ändern. Er würde weiterhin als Künstler arbeiten, seine gemeinsame Zeit mit Hunter und seinem kleinen Bruder verbringen und ab und zu mit Menschen zu tun haben, die sich an seinen Augen störten. Sein Leben würde weitergehen und er war dankbar für all die wunderbaren Dinge, die er jetzt hatte. Egal was auch passierte, die Menschen in seinem Leben würden bei ihm bleiben. Und das war das wichtigste für ihn. Als das Lied zu Ende war, spielte Cypher es erneut ab und erinnerte sich daran, wie oft er es in seiner Kindheit gehört hatte. Nicht nur hatte das Lied eine solch wunderbare und zeitlose Melodie gehabt, es hatte ihm auch eine wunderbare Lektion erteilt: ganz egal wie sehr er sich auch für seine angeborenen Makel schämte, es gab immer Leute, die noch schlechter dran waren als er. Und der Fakt, dass er keine Kontrolle über diesen Makel hatte, machte ihn machte es ihm einfacher, damit zu leben als jemand, der von anderen Menschen in eine unglückselige Situation gezwungen wurde. Außerdem hatte er seinen Augen trotz all dem Kummer in seinem jungen Leben auch vieles zu verdanken. Seine Depression und sein Alkoholismus hatten ihn in die Klinik gebracht und er hatte dort den Menschen kennen gelernt, mit dem er seit sechs Jahren glücklich zusammen war. Und wären seine abnormalen Augen nicht gewesen, dann hätte er niemals seinen Bruder gefunden. Er hatte zwei Schüsse aus nächster Nähe überlebt und er hatte keine Folgeschäden davongetragen. Im Grunde genommen war er ein wahrer Glückspilz. Als das Lied wieder zu Ende war, sprang er zum nächsten Lied über und es begann nun „Life on Mars“ von David Bowie zu spielen. Er lächelte glückselig, nahm dann aber den Hörer aus seinem rechten Ohr, drehte sich zu Hunter und küsste ihn. „Ich kann es nicht glauben, dass du dich noch daran erinnerst, dass ich diesen Song von den Crashtest Dummies so geliebt habe. Den habe ich zuletzt in der Klinik gehört.“ „Ich dachte, deine Lieblingssongs entspannen dich ein wenig“, erklärte sein Freund und ein kleines angedeutetes Lächeln spielte sich auf seine Lippen. „Du kümmerst dich um mich, ich kümmere mich um dich.“ „Womit habe ich dich nur verdient?“ Damit gab Cypher ihm noch einen Kuss. „Es ist schon verrückt. Seit ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde und kurz darauf erfahren habe, dass Simon mein Bruder ist, fühle ich mich irgendwie… komisch. Es ist, als wäre ich auf Antidepressiva, denn ich kriege ständig diese Glücksschübe und habe das Gefühl, im Grunde genommen der glücklichste Mensch zu sein. Ich hätte echt sterben können, aber ich habe überlebt und fühle mich besser denn je. Schon verrückt.“ „Das merkt man“, stimmte Hunter nickend zu. „Deine Ausstrahlung zeigt das.“ „Ich hoffe, die Behandlung wird erfolgreich. Nicht meinetwegen, sondern damit auch Simon endlich wieder glücklich wird. Also lass uns hoffen, dass alles gut geht.“ Nachdem sie eine Weile im Wartezimmer gewartet hatten, kam endlich die Sprechstundenhilfe zu ihnen und brachte sie in einen kleinen Raum, in dessen Mitte ein Behandlungsstuhl stand, den Cypher noch von den Untersuchungen her kannte. Er nahm auf diesem Platz, während Hunter sich auf einen Stuhl in der Ecke setzte. Wenig später kam Dr. Dawson herein und grüßte sie beide. „Schön, dass es so frühzeitig für Sie geklappt hat. Und? Sind Sie schon aufgeregt, Mr. Grant?“ „Ziemlich“, gestand Cypher und lachte verlegen. „Aber hauptsächlich, weil ich Schiss vor Nadeln habe.“ „Keine Sorge“, beschwichtigte ihn der Augenarzt. „Die Nadel, die ich für die Behandlung der Hornhaut verwende, ist so fein, dass Sie wahrscheinlich gar nichts bemerken werden. Und es wird auch nicht lange dauern.“ Die Lehne wurde zurückgestellt sodass Cypher sich nun fast in einer senkrechten Position befand. Dr. Dawson begann nun, seine Augenlider zu fixieren, damit er die Augen nicht schließen konnte. Das war bei weitem der unangenehmste Teil, vor allem weil er nach kürzester Zeit ein unangenehmes Brennen verspürte, bis der Arzt seine Augen mit entsprechenden Tropfen versorgte und ihm Linderung verschaffte. Er atmete tief durch und schaffte es, die wieder aufkeimende Aufregung wieder auf ein Minimum zu reduzieren, während Dr. Dawson nun eine Lupenbrille aufsetzte, welche Hunter sonst nur aus der Chirurgie kannte. Seine Hände verkrallten sich in die Lehnen, trotzdem versuchte er möglichst entspannt zu bleiben. Die Sprechstundenhilfe gab ihm dieses Mal Augentropfen, während der Augenarzt seine Lupenbrille richtig justierte und die Injektion vorbereitete. Zwar versuchte Cypher möglichst wegzuschauen, doch als er sah, wie die Spritze immer näher an sein Auge kam, war ihm so, als würde sein Herz einen Schlag aussetzen und er hielt vor Angespanntheit den Atem an. Wieder überkam ihm die panische Angst vor der Nadel, doch er zwang sich mit aller Kraft, ruhig zu bleiben und die Prozedur über sich ergehen lassen. Es wird nicht wehtun, versuchte er sich einzureden. Verdammt noch mal du hast zwei Schüsse überlebt. Eine Nadel sollte da das geringste Problem sein. Tatsächlich spürte er ein ganz leichtes Pieken, aber es war bei weitem nicht so schlimm wie bei einer normalen Nadel. Es war unangenehm, aber bei weitem nicht so schlimm wie befürchtet. „Sie haben es fast geschafft“, beruhigte ihn der Augenarzt und wechselte nun auf die andere Seite, um denselben Vorgang zu wiederholen. Und nachdem auch auf seinem anderen Auge das Mittel injiziert war, wurden ihm noch Augentropfen verabreicht. „In Ordnung, das war es. Ich gebe Ihnen noch ein Fläschchen für heute mit. Sie müssen alle sechs Stunden jeweils zwei Tropfen auf die Augen geben. Das schützt die Augen vor Reizungen. Dadurch, dass die Pupillen geweitet werden, kann es zu erheblichen Sehbeeinträchtigungen kommen. Kommen Sie morgen um neun Uhr noch mal in meine Praxis, dann können wir schauen, wie gut die Behandlung gewirkt hat und ob eventuell noch eine zweite erfolgen muss. Sollten unerwartet Beschwerden auftreten, zögern Sie nicht, mich anzurufen oder Sie kommen selbst vorbei. Für heute dürfen Sie keine schweren Maschinen mehr bedienen und auch kein Auto mehr fahren.“ „Und wie lange dauert es ungefähr, bis meine Augen nicht mehr so weiß sind?“ fragte Cypher ungeduldig und musste stark blinzeln, nachdem ihm die Klammern von den Augenlidern entfernt worden waren. Schon jetzt sah er alles völlig verschwommen und konnte kaum noch das Gesicht des Arztes erkennen. „Das dürfte zwischen zwei bis drei Tagen dauern“, kam es zur Antwort. „Je nachdem wie gut das Mittel anschlägt. Sie kommen morgen zur Kontrolle und wenn keine Reizungen aufgetreten sind, werden wir dann nächste Woche den nächsten Termin ansetzen. Wichtig ist: nehmen Sie die Augentropfen erst einmal für drei Tage. Überanstrengen Sie Ihre Augen nicht und vermeiden Sie direktes Licht für eine Weile. Sie müssen sich langsam an die verändernden Lichtverhältnisse gewöhnen. Deswegen empfehle ich Ihnen, bei starkem Sonnenlicht eine Sonnenbrille mit UV-Schutz zu tragen.“ Cypher erhob sich vom Stuhl und sah, wie alles um ihn herum vollständig verschwamm und er nicht einmal mehr Hunter sehen konnte. Er tastete sich ein wenig unbeholfen voran, bis sich ein Arm um ihn legte und ihn sicher festhielt. „Vielen Dank, Doc. Es wird ein bisschen schwierig werden, aber ich denke mal, wir kriegen das beide hin. Nicht wahr, Hunter?“ „Ja“, antwortete der Bildhauer kurz und knapp und brachte ihn nach draußen. Es gestaltete sich für Cypher extrem schwierig, sich zurechtzufinden und die Stufen unbeschadet hinabzusteigen. Doch er ging es ganz langsam an und vertraute auf Hunters Hilfe. Eines stand definitiv fest: es würde die nächsten Tage nur Essen vom Lieferservice geben, bis er endlich die Augentropfen absetzen und wieder normal sehen konnte. Aber diese vorübergehende Einschränkung war es ihm alle Male wert, wenn die Behandlung dafür auch erfolgreich war. Nachdem sie in den Wagen gestiegen waren und sich auf den Weg nach Hause machten, lehnte sich Cypher mit einem glücklichen Lächeln zurück und schloss die Augen. „Ich kann es nicht glauben, dass es gerade tatsächlich passiert ist. Das ging ja schneller und einfacher als ich gedacht hatte.“ „Habe ich dir ja gesagt“, meinte Hunter. „Und wenn wir deine Augenfarbe wissen, können wir Azarias noch mal anrufen.“ „Ach ja stimmt“, fiel es Cypher wieder ein. „Dann wissen wir ja auch endlich, wer meine und Simons Eltern sind. Mensch, das alles passiert jetzt irgendwie so schnell. Es fühlt sich immer noch wie ein verrückter Traum an. Und stell dir mal vor, unsere Eltern stammen tatsächlich aus Annatown so wie deine. Das wäre wirklich eine verdammte Ironie.“ Am Tag nach dem unglücklichen Nervenzusammenbruch hatte Simon ununterbrochen geschlafen und weder Anthony noch Leron hatten ihn aufgeweckt. Sie hatten es beide für besser erachtet, ihm seinen Schlaf zu lassen. Zwar hatte der Unternehmer heute früher Feierabend als sonst, weil das Meeting sich nicht allzu sehr in die Länge gezogen hatte, aber anstatt zur Villa zu fahren, hatte er ein ganz anderes Ziel. Er war in eine etwas abgelegene und ruhige Gegend abseits der City, wo es eher kleinere Geschäfte gab. Nachdem der Wagen das Ziel erreicht hatte, stieg Leron aus und ging zu der Privatdetektei, die er vor einiger Zeit engagiert hatte. Ein knapp 48-jähriger Mann mit Geheimratsecken und dunkelblondem Haar und einem frisch gebügelten weißen Hemd grüßte ihn mit einem kräftigen Händedruck und bat ihn zu sich ins Büro. Der Privatdetektiv Joseph Benson war ein ehemaliger FBI Agent, bis er den Dienst quittiert und sich als Privatdetektiv selbstständig gemacht hatte. Er galt als sehr erfolgreich und hatte eine Reihe von Kontakten, was auch der Grund war, warum Leron ihn engagiert hatte. Das Büro, in welchem Mr. Benson arbeitete, wenn er nicht unterwegs war, war voller Aktenschränke und ein wenig unaufgeräumt. Es roch nach Nikotin und es war auch ein wenig dunkel, da es nur ein kleines Fenster gab und die Deckenlampe bei weitem nicht hell genug war, um den ganzen Raum auszuleuchten. Der Privatdetektiv nahm auf seinem Bürostuhl Platz während Leron sich gegenüber von ihm auf einem der beiden Lederstühle setzte. „Also, Sie sagten mir heute Morgen, dass Sie Neuigkeiten für mich haben“, begann Leron die Konversation. „Haben Sie schon etwas herausgefunden?“ „Oh ja, das habe ich“, bestätigte Mr. Benson und begann seinen Aktenstapel zu durchforsten. „Es war zugegebenermaßen nicht gerade einfach, nach Anhaltspunkten zu suchen. Aber ein alter Freund arbeitet bei der Forensik und war so freundlich, die DNA Ihres Freundes mit der Datenbank des FBIs zu prüfen. Das hat zwar etwas gedauert, aber wir haben eine Übereinstimmung gefunden.“ Damit holte er eine Akte hervor und schob sie zu Leron herüber. Dieser öffnete sie und fand eine alte FBI-Akte. Das Bild zeigte einen dunkelhaarigen hageren Mann mit trüben grauen Augen, Dreitagebart und einem alles andere als sympathischen Blick. Er hatte eine krumme Nase als wäre sie ihm in der Vergangenheit schon einmal gebrochen worden und ein hässliches Muttermal zierte sein Kinn. Leron sah sofort, dass es ein polizeiliches Foto war und der Name des Mannes war Alan Henderson. „Laut Ergebnis der DNA-Analyse ist dies der biologische Vater“, erklärte der Privatdetektiv. „Alan Henderson sitzt seit knapp 21 Jahren wegen Missbrauch von Minderjährigen, Drogenmissbrauch, schwerer Körperverletzung und versuchten Mordes und einiger anderer Delikte im Gefängnis. Er betrieb damals eine Agentur für aufstrebende Talente. Models, Sänger, Schauspieler, was auch immer der Traum eines Teenagers war. Allerdings hat er sich weniger auf seine Arbeit als Manager fokussiert, sondern hat seine Macht und seinen Einfluss ausgenutzt, um seine Schützlinge unter Drogen zu setzen und sie dann zu missbrauchen. Manchmal hat er auch private Partys veranstaltet. Offiziell hieß es, dass er die Mädchen vermitteln und ihnen mehr Chancen ermöglichen wollte. Aber in Wahrheit hat er die Mädchen zur Prostitution genötigt.“ Fassungslos schüttelte Leron den Kopf und schaute wieder auf das Foto. Er hatte zwar mit einigem gerechnet, aber definitiv nicht mit so etwas. „Und was ist dann passiert? Irgendwie muss das doch ans Tageslicht gekommen sein.“ „Er hat ziemlich gute Arbeit geleistet, seine Machenschaften zu verschleiern und die Mädchen hatte er entweder erpresst oder manipuliert, sodass keine von ihnen auch nur ein Wort gesagt hat. Aber eine von ihnen hat den Spieß umgedreht und ihn erpresst, mit dieser Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen und ihn zu ruinieren. Da ist er unvorsichtig geworden und hat das Mädchen auf offener Straße überfahren.“ „Dann ist die Mutter eventuell eines der Mädchen, die bei ihm unter Vertrag waren?“ schlussfolgerte Leron, doch Mr. Benson zuckte etwas unsicher mit den Schultern und antwortete „Es besteht die Möglichkeit. Das Problem ist, dass die Mädchen allesamt noch minderjährig waren und es deshalb erheblich schwieriger ist, die Mutter ausfindig zu machen. Minderjährige werden beim FBI und jeder anderer Dienstbehörde mit besonderer Diskretion behandelt, um sie zu schützen. Ich kann mich weiter umhören, aber der einfachste Weg ist, Henderson einen Besuch abzustatten und ihn zu fragen. Vermutlich kann er sagen, welche der Mädchen damals schwanger waren.“ Leron atmete geräuschvoll aus und musste seine Gedanken sortieren. Er hatte ja eigentlich gehofft gehabt, zumindest eine gute Nachricht für Simon zu haben und ihn zumindest ein bisschen aufmuntern zu können. Aber das konnte er jetzt natürlich vergessen. Wenn Simon erfuhr, dass sein biologischer Vater ein Krimineller war, der sich an minderjährigen Mädchen verging und eine von ihnen überfahren hatte, um sie mundtot zu machen, würde das seinen Zustand noch weiter verschlimmern. Nein, es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um ihm davon zu erzählen. Innerlich ärgerte er sich, doch er versuchte, trotzdem ruhig zu bleiben. Was hatte er denn erwartet, als er auf den Trichter kam, einen Privatdetektiv zu engagieren, um Simons Eltern zu finden? Er hätte eigentlich damit rechnen können, dass auch so etwas herauskam. Nämlich, dass Simon und Cypher unter sehr unglücklichen Umständen gezeugt worden waren. Und nun war ihre Mutter wahrscheinlich eine von den armen Mädchen, die dieser Drecksack damals zum Sex gezwungen hatte, nachdem er sie unter Drogen gesetzt hatte. Und der einzige Weg, Simons Mutter zu finden war anscheinend, die ganzen Mädchen zu finden, sie zu fragen ob sie damals geschwängert wurden und die Kinder abgegeben hatte. Na das konnte noch heiter werden. „Ich hatte ehrlich gesagt mit erfreulicheren Nachrichten gehofft“, gab er zu. „Dann hätte ich Simon wenigstens noch mehr Kummer ersparen können.“ „So etwas ist leider oft der Fall, wenn Kinder zur Adoption freigegeben werden“, erklärte der Privatdetektiv. „In den allermeisten Fällen sind Drogen, Alkohol, Teenagerschwangerschaft, strenges Elternhaus, Vergewaltigung und andere traurigen Geschichten im Spiel. Wenn die Welt in Ordnung wäre, gäbe es keinen Grund, die eigenen Kinder zur Adoption freizugeben. Ich bleibe auf jeden Fall dran und werde Henderson im Gefängnis besuchen, um ihn nach den Mädchen zu fragen, mit denen er damals geschlafen hatte. Mit etwas Glück existieren noch irgendwo Informationen über sie und es gelingt mir über diesen Weg, die Mutter ausfindig zu machen. Ich werde auch noch mal meinen alten Freund beim FBI fragen, ob es noch irgendwo die Dokumente der Agentur gibt. Wenn damals gegen Hendersons Agentur ermittelt wurde, dann wurden diese beschlagnahmt und müssten sich vermutlich noch im Archiv befinden. Es wird etwas Zeit erfordern, aber es wird definitiv machbar sein. Ich gebe Ihnen auch noch die Adresse des Gefängnisses mit, falls Ihr Freund seinen biologischen Vater kennen lernen möchte.“ Damit reichte Mr. Benson ihm einen Notizzettel mit der vollständigen Adresse und der Telefonnummer des Gefängnisses, in welchem Alan Henderson inhaftiert war. Nachdem noch ein paar Dinge besprochen worden waren, verabschiedete sich Leron und verließ die Detektei. Doch er stieg nicht direkt in die Limousine ein, sondern blieb draußen stehen, um seine Gedanken zu sortieren. Denn er fühlte sich in diesem Moment überfordert. Er wusste einfach nicht, was er nun tun sollte. Auf der einen Seite wollte er keine Geheimnisse vor Simon haben und damit einen weiteren Streit riskieren. Obwohl Simon gestern einfach nur überreagiert hatte, weil er momentan extrem sensibel und verletzlich war, konnte er sich gut vorstellen, dass ein neuer Streit bald folgen würde, wenn der Junge dahinter kam, dass er Geheimnisse hatte. Aber auf der anderen Seite glaubte er kaum, dass er ihm zumuten konnte, ihm so etwas zu erzählen. Auch wenn er aus guten Motiven gehandelt hatte, so hatte er sich unweigerlich in eine extrem problematische Situation hineinmanövriert und wusste nicht, was nun die richtige Entscheidung war. Wahrscheinlich gab es nicht mal eine richtige, sondern er konnte nur zwischen dem größeren und dem kleineren Übel wählen. In dem Fall war die vernünftigere Entscheidung, dies erst einmal vor Simon zu verschweigen und abzuwarten, bis es ihm wieder etwas besser ging. Blieb nur zu hoffen, dass der Junge nichts merkte. Ansonsten würde es noch sehr böse enden. Schließlich holte er sein Handy heraus und rief Cypher an. Es dauerte eine Weile, bis dieser endlich ranging. „Cypher Grant, wer spricht da?“ „Ich bin’s, Leron“, antwortete der Unternehmer. „Wie ist denn die Behandlung verlaufen?“ „Überraschend schnell und schmerzlos“, antwortete der Künstler gut gelaunt. „Ich bin zwar wegen der Augentropfen blind wie ein Maulwurf, aber das wird schon werden. Der Doc meinte, dass es ein paar Tage dauert, bis sich meine Augen vollständig normalisiert haben, aber ich hoffe natürlich, dass es schneller geht, hehehe. Und wieso rufst du an? Wolltest du dich nur vergewissern, dass alles bei mir in Ordnung ist, oder liegt dir etwas auf dem Herzen?“ Es dauerte ein wenig, bis Leron sich dazu bringen konnte, ihm von seinem Besuch bei dem Privatdetektiv zu erzählen und was er von ihm erfahren hatte. Nachdem er Cypher geschildert hatte, was Mr. Benson ihm erzählt hatte, herrschte Stille und er hörte, wie der Künstler am anderen Ende der Leitung geräuschvoll ausatmete. „Verdammte Hacke“, murmelte Cypher leise und klang ziemlich geschockt. „Das ist wirklich eine üble Geschichte. Ehrlich gesagt hatte ich mich schon auf das Schlimmste vorbereitet. Und nun? Willst du es Simon sagen?“ „Das ist es ja“, antwortete Leron. „Ich weiß es nicht. Ich will ihm die Wahrheit nicht vorenthalten, aber sagen kann ich es ihm auch nicht. Das würde er unmöglich verkraften in seiner jetzigen Verfassung. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was die richtige Entscheidung ist und da wollte ich dich nach deiner Meinung fragen. Es betrifft dich ja auch und du hast deine eigene Meinung zu dieser Sache.“ Eine Weile lang herrschte Stille und Cypher dachte angestrengt nach. „Also das ist jetzt natürlich eine ziemlich schwierige Situation. Natürlich ist Simon momentan ziemlich angeschlagen, aber wenn du ihm das verschweigst, wird seine Reaktion noch schlimmer sein. Du musst ihm ja nicht direkt sagen, dass unser Dad ein Schwerkrimineller ist, der ein Mädchen überfahren hat und andere minderjährige Mädchen sexuell missbraucht hat. Bringe es ihm lieber schonend bei. Wenn ich wieder sehen kann, wäre ich dir dankbar, wenn du mir die Adresse geben könntest. Auch wenn mein biologischer Vater solch kranke Dinge getan hat, will ich ihn trotzdem persönlich treffen. “ „Klar… kein Problem…“, murmelte Leron und legte auf. Nein… er konnte es unmöglich tun. Er konnte Simon nicht noch mehr Kummer bereiten. Es hatte schon gereicht, dass der Junge gestern einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, nur weil er seine Bedenken zur Behandlung geäußert hatte. Wenn er ihm auch noch erzählte, was für ein Mensch sein biologischer Vater war, würde der nächste Nervenzusammenbruch garantiert folgen. Egal was auch passierte, er durfte nicht zulassen, dass sich Simons Zustand noch weiter verschlimmerte. Kapitel 49: Zeit zum Nachdenken ------------------------------- Insgesamt zwei Tage hatte Simon durchgeschlafen, ohne auch nur ein einziges Mal aufgewacht zu sein. Als er dann endlich nach knapp 46 Stunden Dauerschlaf aufgewacht war, war er vollkommen ausgehungert und saß die meiste Zeit in der Küche und plünderte den Kühlschrank. Er fühlte sich inzwischen wieder wesentlich besser und nachdem er sich gestärkt hatte, wollte er natürlich sofort wissen, wie Cyphers Behandlung verlaufen war. Wie er erfuhr, war die Behandlung ein voller Erfolg gewesen und auch wenn Cyphers Augen noch geschont werden mussten, brauchte er die Augentropfen bereits nicht mehr nehmen. Und auch seine Augen selbst waren endlich vollkommen normal. Das hatte dem 21-jährigen sämtliche Lebensgeister zurückgebracht und kaum, dass er von Cyphers erfolgreicher Behandlung erfahren hatte, bestand er natürlich selbst sofort darauf, ebenfalls behandelt zu werden. Er war so voller Vorfreude und Euphorie, dass Leron nicht wirklich etwas anderes übrig geblieben war, als sein Einverständnis zu geben und einen Termin bei Dr. Dawson zu machen. Und Simon hatte Glück, denn da bei seinem Bruder alles ohne Komplikationen abgelaufen war, konnte er noch am selben Tag vorbeikommen. Kaum, dass die gute Nachricht verkündet war, verfiel Simon in einen regelrechten Freudentanz und umarmte Leron überglücklich. Der Unternehmer selbst war von dieser Reaktion total überrascht und wusste das gar nicht erst einzuordnen. Die letzten Wochen war Simon mehr wie ein Häufchen Elend gewesen, hatte stets gekränkelt und hatte erst vor kurzem einen Nervenzusammenbruch gehabt. Und nun, da er nach einem fast schon unnatürlich langen Schlaf aufgewacht war, schien er wieder wie ausgewechselt zu sein. Auch Simon konnte es zunächst kaum glauben. Zur Sicherheit legte Leron ihm eine Hand auf die Stirn und fragte ihn „Geht es dir auch wirklich gut, Simon?“ „Klar doch“, antwortete der 21-jährige und grinste. „Ehrlich gesagt habe ich mich lange schon nicht mehr so gut gefühlt. Ich glaube, den langen Schlaf hatte ich echt gebraucht. Es heißt ja, dass Schlaf wahre Wunder bewirken kann, wenn es einem nicht gut geht.“ „Das vielleicht schon“, stimmte der Unternehmer zu. Doch er wirkte nicht ganz so glücklich wie erhofft, sondern eher ernst und besorgt. „Aber ehrlich gesagt hattest du mir schon wirklich Sorgen bereitet, als du gestern gar nicht mehr aufgewacht bist. Ich hatte gestern Abend schon versucht, dich zu wecken. Aber du warst so tief am Schlafen, dass dich rein gar nichts mehr geweckt hat. Ehrlich gesagt war ich drauf und dran gewesen, dich ins Krankenhaus zu bringen, weil ich Angst hatte, dass du gar nicht mehr aufwachst.“ Doch da schlang Simon seine Arme um ihn und gab ihm einen liebevollen Kuss. „Sorry, dass ich dir Angst gemacht habe. Ehrlich gesagt habe ich selber nicht gedacht, dass ich so lange schlafen kann. Aber zumindest geht es mir wieder besser und das ist doch wohl die Hauptsache, oder?“ Dem konnte Leron nicht widersprechen, aber es verwunderte ihn trotzdem, dass Simon so plötzlich wieder der alte war und es nichts weiter gebraucht hatte, als zwei Tage Schlaf. Nachdem der 21-jährige so ziemlich alles gegessen hatte, was der Kühlschrank hergab, begann er sich kurzerhand Pancakes zu machen und verputzte ganze acht Stück mit Ahornsirup. Leron beobachtete das Essgelage kommentarlos, bis Simons scheinbar endloser Hunger endlich gestillt war. Und es brauchte einiges dafür. Simon war selbst erstaunt darüber, wie viel er essen konnte und hatte das Gefühl, als hätte er kurz vor dem Hungertod gestanden. Und je mehr er aß, desto mehr hatte er das Gefühl, dass seine Kraft und Energie wieder zurückkehrte. Ihm war, als wäre er aus einem schlechten Traum aufgewacht und als wären alle negativen Erlebnisse nichts Weiteres als eine verblassende Erinnerung. Er fühlte sich quasi wie neugeboren und er war glücklich darüber. Was Besseres konnte ihm doch gar nicht passieren. Doch Leron schien sich nicht so wirklich zu freuen. Er war schweigsam und sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an. Und das war es, was er überhaupt nicht verstand. Warum freute sich Leron denn nicht, dass er sich endlich besser fühlte? Oder lag es an etwas anderem? Nachdem er sich sein drittes Glas Orangensaft eingeschüttet hatte, fasste er sich ein Herz und sprach es direkt an. „Bist du immer noch wütend wegen dem, was ich gesagt habe? Hör mal, es tut mir wirklich leid und ich wünschte ehrlich, ich könnte es ungeschehen machen. Ich war verdammt unfair gewesen und wenn du mich bestrafen willst, kannst du das tun. Ich war einfach nur mit den Nerven durch gewesen.“ „Ich bin dir nicht mehr böse deswegen“, versicherte der Unternehmer ihm, doch es sah nicht wirklich danach aus, als sich an seiner Stimmung etwas ändern. „Aber du hast dich nicht gesehen so wie ich es gesehen habe. Du warst schwer krank und hattest offensichtlich Depressionen. Und jetzt soll alles wieder in Ordnung sein? Nicht, dass ich dir das nicht gönnen würde, aber…“ „Warum kannst du dich nicht einfach freuen?“ rief Simon in einem Anflug von Ärger und knallte sein Glas auf den Tisch. „Ich habe mich ja selbst nicht ausstehen können, als es mir so beschissen ging und jetzt geht es endlich wieder bergauf. Aber anstatt, dass du dich für mich freust, meckerst du nur wieder herum.“ „Du überreagierst schon wieder“, entgegnete er ruhig. „Und ich bin natürlich froh, wenn du dich besser fühlst. Aber ich mache mir Sorgen, dass das nicht allzu lange anhält. Während du geschlafen hast, habe ich mir die Zeit genommen, mich genauer zu informieren. Und Stimmungsschwankungen sind bei einer depressiven Phase nichts Ungewöhnliches. Ich mache mir einfach nur Sorgen um dich.“ „Das musst du nicht“, blockte Simon ab und trank sein Glas leer. „Mir geht es hervorragend. Ehrlich gesagt ging es mir schon lange nicht mehr so gut. Und ehrlich gesagt ist mir jetzt auch nicht mehr wirklich nach ausruhen zumute.“ Damit stand er auf und ging direkt auf Leron zu. Er legte seine Arme um ihn und gab ihm einen Kuss. „Wie wäre es mit etwas körperlicher Betätigung, um wieder in Schwung zu kommen?“ Doch zu seiner noch größeren Verwunderung reagierte der Unternehmer nicht darauf und wirkte sogar ablehnend. Und als er das realisierte, war ihm, als würden sich glühend heiße Nadeln in sein Herz bohren. „Was ist los? Willst du etwa nicht?“ Mit einem langen Seufzer ergriff Leron seine Hand und hielt sie fest. Man konnte ihm ansehen, wie innerlich zerrissen er war und dass er nicht wusste, was er tun sollte. „Es ist nicht so, dass ich nicht will, Simon. Natürlich möchte ich es, aber ich habe auch Angst. Du hast dich in der letzten Zeit verändert. Du bist extrem dünnhäutig und sensibel geworden und ich habe die Sorge, dass du wieder getriggert werden könntest.“ „Dann hör doch einfach damit auf, dir Sorgen um mich zu machen“, erwiderte der 21-jährige frustriert. „Ich bin nicht aus Glas und ich will auch nicht in Watte gepackt werden. Ich brauche keine Vaterfigur, sondern einen Partner, der mir genauso vertraut, wie ich ihm vertraue.“ „Ich mache mir Sorgen, weil ich dich liebe“, versuchte der Unternehmer zu erklären, doch in seinem Unterton war ebenfalls ein Anflug von Ärger zu hören. „Du hast dir doch auch Sorgen gemacht, als es mir schlecht ging. Warum also darf ich nicht das Recht haben, mich um dich zu sorgen? Und nach allem, was die letzten Wochen passiert ist, kannst du mir ja wohl kaum verdenken, dass ich meine Zweifel habe, dass du körperlich und mental Belastungen aushalten kannst, geschweige denn mit mir schlafen kannst, ohne an diese schlimmen Dinge erinnert zu werden. Auch wenn es dir nicht gefällt, habe ich eine gewisse Verantwortung für dich. Nicht weil ich mich als Vaterfigur sehe, sondern ganz einfach aus dem Grund, weil ich zehn Jahre älter bin. Du bist noch jung und siehst dich selbst nicht, wie du auf andere wirkst. Und ich kann einfach nicht mit dir schlafen, wenn ich weiß, dass du psychisch instabil bist und diese ganzen Erlebnisse nicht verarbeitet hast.“ „Ich bin drüber weg!“ „Nein bist du nicht“, beharrte Leron und wurde langsam lauter. „Glaub mir, ich weiß sehr gut wie es ist, wenn man unter einem sehr traumatischen Erlebnis leidet. Mein psychopathischer Bruder Michael hat uns beiden schlimme Dinge angetan und ich habe dieselben Dinge durchlebt wie du, nur mit dem Unterschied, dass sich niemand interessiert hat, wie es mir ging. Ich will dir diese Tortur ersparen, ganz alleine mit diesen Dingen fertig zu werden, aber ich kann dir nicht helfen, wenn du ständig Hilfe ablehnst, oder dich wegen jeder Kleinigkeit sofort angegriffen fühlst. Du kannst nicht von mir erwarten, dass mir dein Leid am Arsch vorbeigeht und ich so tue, als wäre nie etwas passiert. So funktioniert eine Beziehung nicht.“ Hieraufhin riss sich Simon von Leron los und verschränkte die Arme. Er fühlte sich gekränkt und konnte einfach nicht verstehen, was das Problem war. Ihm fehlte nichts und nur weil er ein bisschen krank und nervlich angespannt gewesen war, hieß das noch lange nicht, dass gleich so ein Fass aufgemacht werden musste. Er konnte sich gut um sich selbst kümmern und er hatte nur ein bisschen Zeit gebraucht, um wieder auf die Spur zu kommen. Und jetzt, nachdem er endlich wieder normal war, spielte Leron plötzlich verrückt. Oder war dies alles vielleicht nur eine Ausrede, weil es in Wahrheit einen ganz anderen Grund gab? „Findest du mich nicht mehr attraktiv? Ist es das?“ „Was?“ platzte es aus Leron heraus, woraufhin ihm die Gesichtszüge völlig entgleisten. „Wie kommst du denn darauf?“ Doch Simon wandte sich von ihm ab und konnte ihm einfach nicht mehr in die Augen sehen. „Seien wir doch mal ehrlich. Es hat schon damit angefangen, nachdem das mit deinem Bruder passiert ist. Daran liegt es doch, nicht wahr? Du kannst mich nicht mehr anfassen, weil es an meinem verdorbenen Körper liegt.“ „Sag mal, hörst du überhaupt zu, was ich dir sage?!“ „Entschuldige, wenn ich nicht ändern kann, dass jemand anderes mit mir Sex hatte. Ich habe versucht, den Schmutz wegzuwaschen, aber ich kann die Dinge nicht ungeschehen machen! Ich kann nichts daran ändern, dass ich jahrelang das Sexspielzeug für irgendwelchen kranken Perversen war und ich nicht mehr attraktiv bin. Ich habe mir das alles nicht ausgesucht. Weißt du was? Es reicht mir. Ich muss echt raus, ansonsten explodiere ich noch endgültig.“ Damit verließ er die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Er zog sich seine Schuhe an und verließ die Villa, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken. Länger hätte er es einfach nicht mehr ausgehalten. Auch wenn er wusste, dass er überreagiert hatte, konnte er nichts daran ändern, dass er sich schäbig und abstoßend fühlte. Es war ein beschissenes Gefühl und wieder überkam ihn der Drang, einfach nur zu weinen. Doch er wollte sich nicht so fühlen. Er wollte das alles einfach nur vergessen und wieder von neu anfangen und wieder einen freien Kopf bekommen. Aber in der Villa schien ihm die Decke komplett auf den Kopf zu fallen und auch bei Cypher und Hunter kamen ihm nur schlechte Erinnerungen hoch. Aber wo sollte er denn hin, wenn er sich weder in der Villa noch bei seinem Bruder wirklich wohl fühlte? Alles, was er tun konnte, waren lange Spaziergänge zu machen, aber das war auch keine dauerhafte Lösung. Als er schließlich nach einem langen Spaziergang und einer Busfahrt war er schließlich an der Küste angelangt. Es war ein wenig kühl, aber eine angenehme Meeresbrise wehte ihm entgegen und kühlte seinen Kopf. Er setzte sich auf einen der größeren Steine und starrte auf das Wasser. Etwas weiter entfernt konnte er Long Island sehen, wenn auch in optisch weiter Ferne. Irgendwie hatte es was Beruhigendes, hier zu sein und er begann sich zu fragen, warum er nicht schon früher auf die Idee gekommen war, hierherzukommen. Es tat einfach mal gut, weit weg von den anderen zu sein. Weg von all den Sorgen und Problemen. „Ist schön hier, oder?“ Simon wurde aus seinen Gedanken gerissen und schaute in die Richtung der Stimme. Offenbar war er so in Gedanken gewesen, dass er gar nicht gemerkt hatte, dass da jemand neben ihm stand. Es war ein knapp 22-jähriger Junge mit unfrisiertem rotbraunem Haar und Augen, die so grün wie Efeu waren. Er trug einen Pullover, der ihm gut und gerne zwei Nummern zu groß war und auch seine Jeanshose war ihm zu lang. Seine Sneakers waren ziemlich ramponiert und selbst die Schnürsenkel waren offen. Sein Blick war auf das Wasser gerichtet und er nahm neben Simon Platz. „Die Menschen lieben das Wasser, weil das Meer ihnen ein Gefühl von Freiheit gibt. Als würden die Sorgen von den Wellen davongetragen werden.“ „Schön wär’s“, seufzte Simon und seufzte wehmütig. „Aber das Gefühl hält auch nur an, solange man hier ist. Spätestens wenn man wieder nach Hause in sein altes Zuhause zurückkehrt, ist man wieder in diesem Mix aus Wut, Leid, Unsicherheit und Selbsthass gefangen und alles scheint einem zu erdrücken. Und selbst die Menschen, die man liebt, scheinen einem die Luft zuzuschnüren.“ „Aber weglaufen ist auch schwierig“, erwiderte der Junge, ohne Simon auch nur ein einziges Mal anzusehen. „Du kannst es zwar versuchen, aber egal wo du hingehst, das Gefühl der Beengtheit wird dich trotzdem finden. Es hängt an dir wie ein Schatten und wird dir überallhin folgen. Und du wirst schnell realisieren, dass du nicht glücklich bist und versuchst wieder wegzulaufen. Du tust es immer wieder und versteckst dich in einer Scheinrealität, die du dir selbst erschaffst, bis dieses Kartenhaus über dir zusammenbricht und du in die grausame Realität zurückgeschleudert wirst. Aber nicht zu fliehen bedeutet, stehen zu bleiben und die Dinge zu konfrontieren, vor denen man davongelaufen ist. Und das ist der schwerste Part.“ „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe…“ „Das weiß niemand“, erklärte der Junge. „Natürlich ist es unangenehm und schmerzhaft. Aber es geht vorbei. Und man wächst an dem, was einen heruntergezogen hat. Niemand mag die unangenehmen Dinge sehen, aber das Leben besteht nicht nur aus glücklichen Momenten. Und wenn man so viel Leid zu tragen hat, sollte man sich vor die Frage stellen, ob dieses ganze Weglaufen die Mühe wirklich wert ist, oder ob man seine Energie nicht lieber dafür aufwenden sollte, an sich zu arbeiten. Anderen helfen ist immer leicht. Sich selbst zu helfen ist bei weitem das Schwerste.“ Der Junge hatte sich nun zusammengekauert und seine Arme um die Beine geschlungen. Er lächelte, aber es schien auch so, als läge etwas Bestimmtes in seinem Blick. Etwas tief verborgenes, was man nur schwer zu erkennen vermochte. Und sein Lächeln wirkte beinahe aufgesetzt oder einfach nur vorgespielt. Nun machte der Junge Simon doch ein wenig neugierig und er fragte „Sprichst du aus Erfahrung?“ „Ich bin schon kaputt geboren worden“, antwortete der Junge mit den grünen Augen. „Schon als ich klein war, wusste ich, dass ich anders als die anderen war. Und ich wusste, dass meine Mutter oft geweint hat und sich wünschte, sie hätte einen normalen Sohn und nicht jemanden, der so ist wie ich.“ „Das klingt nicht gerade nach einer glücklichen Kindheit…“ „Meine Kindheit war okay. Ich verstehe mich wunderbar mit meiner Schwester und ich habe meinen Weg zu leben gefunden. Es gibt zwar Leute, die mich bemitleiden, weil ich seit meiner Kindheit in einer stationären Einrichtung lebe, aber es gibt keinen Grund dafür. Es kommt nicht darauf an, ob du ein schickes Haus, viel Geld oder einen coolen Wagen hast. Was einzig und allein zählt ist, dass du glücklich mit deinem Leben bist und mit dir im Reinen bist.“ „Du lebst in einer stationären Einrichtung?“ fragte Simon erstaunt und halb betroffen. „Darf ich fragen wieso?“ „Ich bin klinisch verrückt“, antwortete sein Sitznachbar. „Verfolgungswahn und mangelnde Zurechnungsfähigkeit. Sie sagen, ich kann die Gefühle anderer Menschen nicht verstehen und hätte kein moralisches Verständnis. Es stimmt schon, dass ich mich nicht in andere Menschen hineinversetzen kann und Gefühle nicht so wahrnehme wie andere es tun. Aber das bedeutet nicht, dass es mir egal ist zu wissen, dass meine Mutter sich die Schuld dafür gibt, mich zur Welt gebracht zu haben. Es tut mir weh und weil ich meiner Familie keinen Kummer mehr bereiten wollte, habe ich mich einweisen lassen. Und auch weil ich erkannt habe, dass selbst ich über gewisse Dinge keine Kontrolle habe.“ „Du hast wenigstens eine Familie“, entgegnete der 21-jährige unglücklich und musste unfreiwillig an sein altes Leben zurückdenken. „Ich hatte mein ganzes Leben lang niemanden gehabt und musste alleine klarkommen. Und zu wissen, dass der Mensch, den ich liebe, sich um mich sorgt, überfordert mich einfach.“ „Du lebst aber auch in einer ziemlich beknackten Doppelmoral“, kam es zurück und fassungslos wandte sich Simon zu dem Jungen um, der nun einen Lollipop aus seiner Hosentasche holte, das Papier entfernte und ihn dann in den Mund steckte. „Du jammerst hier rum, weil dein Leben beschissen ist und suhlst dich in deinem Selbstmitleid und spielst hier das arme Opferlamm. Aber wenn dann die Leute dann endlich Sorge zeigen, willst du das nicht und sagst, du willst deinen Freiraum. Du musst schon zugeben, dass das ziemlich bescheuert ist.“ „Ich weiß auch nicht so wirklich, was mit mir los ist!“ gab Simon gereizt zurück, schnappte sich einen Stein und warf ihn ins Wasser. „Leron hatte eigentlich Recht, dass es unfair von mir ist, dass ich mir Sorgen um ihn mache, ich aber nicht will, dass er sich um mich sorgt. Aber es kotzt mich einfach an, dass er meint, er wüsste, was das Beste für mich ist. Er will mir ständig einreden, dass ich dies und das nicht packe und will mich in Watte packen.“ „Aber das willst du doch eigentlich“, erwiderte sein Gesprächspartner vollkommen unbeeindruckt. „Du bemitleidest dich selbst und willst nichts an der Situation ändern. Wenn du dich in deiner Opferrolle so wohl fühlst, warum beschwerst du dich dann, dass man dich wie ein Opfer behandelt?“ „Ich habe nie gesagt, dass ich mich in meiner Opferrolle wohl fühle!“ rief Simon wütend und stand auf. „Ich habe nie darum gebeten, von anderen so schäbig benutzt und misshandelt zu werden und ich wollte nie in solch eine Situation hineingeraten!“ „Und doch willst du nichts tun, um dich besser zu fühlen“, kam es als Konter zurück. „Mit diesem selbstzerstörerischen Verhalten wirst du nicht wirklich etwas erreichen, außer der Tatsache, dass du die Menschen vergraulst, die dir helfen wollen. Du kannst jetzt hier auf einem Stein sitzen und über die Dinge jammern, die du nicht mehr ändern kannst. Oder du kriegst deinen Arsch hoch und änderst etwas. Ich mag zwar unzurechnungsfähig und gefühlsarm veranlagt sein, aber ich kann dir sagen, dass du mit diesem selbstzerstörerischen Verhalten nur gegen die Wand laufen wirst. Und so kaputt kannst du nicht sein. Denn wenn dein Leben so verdammt beschissen ist, kannst du eigentlich aufhören zu jammern und dir einfach selbst die Kugel geben. Damit hättest du den einfachen Ausweg gewählt und gehst niemandem mehr auf dem Sack. Ich bin klinisch verrückt geboren worden und es besteht keine Hoffnung, dass meine psychischen Krankheiten jemals geheilt werden können. Wie sieht es mit deinen aus?“ Simon schwieg und wusste nichts darauf zu antworten. Auf der einen Seite machten ihn diese harschen Worte ziemlich wütend und am liebsten hätte er dem Jungen eine reingehauen, aber irgendwie war auch etwas an diesen Worten dran. Wenn er wirklich ehrlich zu sich selbst war, wollte er sich mit all diesen schlimmen Dingen nicht auseinandersetzen. Er hatte einfach viel zu große Angst davor, wieder durch das gleiche Elend gehen zu müssen, welches er bereits durchlebt hatte. Und er wusste nicht, ob er das wirklich schaffen würde. „Warum erzählst du mir das alles eigentlich?“ Der Junge zuckte mit den Schultern und erklärte „Du sahst halt aus, als hättest du Depressionen und ich kenne da jemanden in meiner Klinik, der das Gleiche hat. Also habe ich das erzählt, was unser Therapeut ihm erzählt hat.“ „Und wie schaut es bei dir aus? Hat sich etwas für dich geändert?“ „Nein“, antwortete der Junge mit dem rotbraunen Haar und schüttelte den Kopf. „Ich wurde bereits kaputt geboren, da kann man nichts machen. Ich kann höchstens Pillen schlucken, um meinen Verfolgungswahn unter Kontrolle zu halten.“ „Und was ist mit deiner Familie?“ „Ich habe den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen. Meine Mum denkt zwar, dass ich sie hasse, aber ich will nur, dass sie mich vergisst und aus ihrem Leben streicht, damit sie glücklicher wird. Es war das Beste für uns beide. Mein Vater hat es verstanden und akzeptiert und ich bekomme hauptsächlich Besuch von meiner Schwester, weil sie damit umgehen kann, dass ich so bin wie ich bin. Die Frage ist: willst du das auch? Dich von allen Menschen isolieren, weil du ein hoffnungsloser Fall bist, oder dir selbst in den Arsch treten und für dein Glück kämpfen? Mein Glück ist die Isolation der Klinik, wo Leute wie ich hingehören. Und wo liegt dein Glück?“ Simon wurde nachdenklich und schaute den Jungen unsicher an. Dieser starrte ihn mit seinen grasgrünen Augen an und lächelte immer noch. Es wirkte so fehl am Platze und fremd. Als würde ein Kind vor ihm sitzen, das nur wiederholte, was es aufgeschnappt hatte, ohne wirklich die Bedeutung dieser Worte zu verstehen. Und auch die Art wie er redete, wirkte unnatürlich. So als wüsste er nicht, wie man Emotionen ausdrückte. Er hatte keine Ahnung, wer dieser Kerl war und warum er mit ihm redete, aber er musste zugeben, dass viel Wahres dran war. Und es hatte ihn nachdenklich gemacht. „Danke für das Gespräch. Ich glaube, ich sollte langsam gehen.“ „Und wohin gehst du?“ wollte der Junge wissen, während er auf seinem Lollipop kaute. „Nach Hause“, antwortete Simon. „Ich muss über einige Dinge nachdenken.“ Damit machte er sich auf den Weg zur Bushaltestelle und bekam nicht mehr mit, wie der Junge leise kicherte und meinte „Na dann bis zu unserem nächsten Treffen, Simon Cavanaugh.“ Kapitel 50: Lionels Diagnose ---------------------------- Als Simon wieder zur Villa zurückgekehrt war, hatte er sofort nach Leron gesucht, um sich mit ihm auszusprechen. Doch zu seiner Enttäuschung war dieser nicht mehr da. Wie er von Anthony erfuhr, hatte Leron zum Krankenhaus fahren müssen, da er ein paar Dinge bezüglich seines Vaters klären musste. Da er nicht wusste, wann Leron wieder zurückkehren würde, beschloss er, ihn anzurufen. Zwar wusste er, dass das vielleicht nicht gerade der beste Zeitpunkt war, aber er musste es einfach sagen. Da Leron nicht an sein Handy ging, hinterließ Simon ihm eine Nachricht auf der Mailbox. Es war ein wenig schwierig, die richtigen Worte zu finden und er wusste auch nicht, ob er überhaupt die Dinge in Ordnung bringen konnte. Alles, was er tun konnte war, sein Bestes zu versuchen. „Hey Leron, ich bin’s. Tut mir leid, dass ich in der letzten Zeit so furchtbar gemein und unfair bin. Ich weiß, dass es mit mir im Moment nicht leicht ist und ich echt unausstehlich bin. Ehrlich gesagt würde ich es auch nicht mit mir aushalten wollen. Ich komme nur einfach nicht damit klar, dass ich mich selber nicht unter Kontrolle bekomme und nicht mehr einfach so weitermachen kann wie bisher, auch wenn ich es will. Ich bin momentan ziemlich überfordert mit mir selbst und ich habe ziemlich große Schwierigkeiten damit, Hilfe von anderen anzunehmen, weil ich all die Jahre ganz allein war. Das ist trotzdem keine Entschuldigung und das weiß ich. Aber ich will dich nicht verlieren. Du warst der allererste Mensch, der mich so geliebt hat wie ich bin und du hast mich nie aufgegeben. Deswegen möchte ich dich bitten…“ Simon musste eine kurze Pause einlegen, denn ihm war, als würde ihm etwas den Hals zuschnüren und Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Bitte gib mich jetzt nicht auf, okay? Ich liebe dich und es tut mir leid, dass ich meinen ganzen Frust an dir ausgelassen habe. Es wäre schön, wenn wir reden könnten, wenn du wieder zurück bist.“ Damit ging Simon in die Küche und machte sich selbst einen Ingwertee. Es war sehr still in der Villa und er begann sich ein wenig unwohl zu fühlen. Also ging er in sein Zimmer und sah sich ein paar Cartoons an, bis es spät wurde und er irgendwann einschlief. Leron war mit gemischten Gefühlen zum Krankenhaus gefahren und eigentlich hätte er sich diesen Gang nur allzu gerne selbst erspart. Er war nach wie vor schlecht auf ihn zu sprechen, doch da er unglücklicherweise Lionels letzter lebender Angehöriger war, blieb ihm kaum etwas anderes übrig. Der Chefarzt hatte darauf bestanden, mit ihm zu sprechen und so war der Unternehmer widerwillig hingefahren. Auch wenn er immer noch eine große Wut gegen seinen Vater hegte, war er trotzdem besorgt. Dass er ins Krankenhaus gebeten wurde, während sein Vater noch stationär behandelt wurde, war kein gutes Zeichen und er hatte bereits im Gefühl, dass da etwas nicht in Ordnung war. Insgeheim rechnete er mit einem versteckten Herzinfarkt, denn sein Vater war nicht mehr der Jüngste und trank schon seit Jahren viel Alkohol, auch wenn es nie gereicht hatte, um ihn zum Alkoholiker zu machen. Doch warum musste das zu solch einem schlechten Zeitpunkt geschehen, wo er genügend andere Sorgen hatte? Nicht nur, dass der Konzern seit dem Skandal über Michael Verlust gemacht hatte und sie einen wichtigen Auftrag an die Konkurrenz verloren hatten, auch Simon machte ihm zunehmend Sorgen und er wusste nicht, wie er alles unter einen Hut bringen sollte. Das alles wurde ihm wirklich zu viel und obwohl er sein Bestes gab, um ruhig zu bleiben, musste er sich wirklich zusammenreißen, wenn er auch noch Simons Gefühlsausbrüche einstecken musste. Aber lange Zeit würde er es nicht wirklich aushalten können. Als er das Krankenzimmer betrat, sah er seinen Vater im Bett liegen. Lionel war blass, wirkte geschwächt und hatte in den letzten Tagen und Wochen abgebaut. Er, der sonst immer wie ein unnahbarer und unnachgiebiger Geschäftsmann gewirkt hatte, wirkte in dieser Patientenkleidung nur noch wie ein verbitterter alter Mann. Er bedachte seinen jüngsten Sohn mit einem distanzierten Blick und merkte an „Du siehst gestresst aus. Sag bloß, du bist mit der Leitung des Konzerns jetzt schon überfordert.“ „Ich habe Besseres zu tun, als mir vom Arzt vorbeten zu lassen, unter welchen Wehwehchen du leidest, Vater“, gab Leron kalt zurück und setzte sich auf einen Stuhl. „Ich habe sowohl geschäftlich als auch privat viel um die Ohren und ich bin auch nur hier, weil der Arzt darauf bestanden hat.“ „Privater Stress?“ fragte sein Vater und runzelte seine faltige Stirn. „Darf ich raten? Es liegt an diesen Jungen, den du von der Straße aufgelesen hast. Ich habe dir ja gesagt, dass er dir Ärger bedeuten wird.“ „Das hast du genauso mitverschuldet wie Michael!“ konterte Leron und er hatte große Mühe, ruhig zu bleiben. Es lohnte sich ohnehin nicht, seine kostbaren Nerven an seinen Vater zu verschwenden. „Michael hat ihn fast umgebracht und ihn vergewaltigt und du hattest nichts Besseres zu tun, als Simon daraufhin zu drohen.“ „Ich habe ihm nicht gedroht“, korrigierte Lionel gelassen, ohne sich großartig beeindruckt zu zeigen. „Ich habe ihm eine stattliche Summe Geld geboten und ihm eine gut gemeinte Warnung mit auf den Weg zu geben. Aber wenn du meinst, dir zusätzlich Probleme mit einem Stricherjungen aufzubürden, dann ist das allein deine Entscheidung. Wie dem auch sei, es wird wesentlich mehr Arbeit in der nächsten Zeit auf dich zukommen und du solltest dir im Klaren darüber sein, was du willst.“ Hier stutzte Leron und verstand diese merkwürdige Andeutung erst gar nicht einzuordnen. Und eine böse Vorahnung beschlich ihn. „Was genau willst du damit sagen?“ Der alte Mann atmete geräuschvoll aus, musste dann aber husten und es hörte sich alles andere als gesund an. Zeitweise verfiel er in einen heftigen Hustkrampf und hatte Mühe, Luft zu holen. Als er sich wieder berappelt hatte, erklärte er „Das Ergebnis der Untersuchung steht seit heute fest: Leberzirrhose und Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Zudem hat sich ein Tumor im rechten Knie und der linken Schulter gebildet.“ Stille trat ein und obwohl Leron nicht wirklich Mitgefühl für seinen Vater empfand, der ihn sein ganzes Leben lang vernachlässigt hatte, überwältigte ihn diese Hiobsbotschaft trotzdem. Fassungslos schüttelte er den Kopf und konnte es kaum glauben. Erst verstarb seine Mutter mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, dann wurde bei Michael ein Hirntumor diagnostiziert und nun hatte man bei seinem Vater gleich zwei Krebsarten und zwei Tumore gefunden. Was war das doch für eine bittere Ironie. In seinem Kopf begann es zu drehen und er fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Es war seltsam. Dabei hatte er sonst nichts als Hass für seinen Vater empfunden. Und trotzdem war diese Nachricht schockierend. Er brauchte eine Weile, um sich wieder zu sammeln und sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Und was wirst du jetzt tun? Strahlen- oder Chemotherapie?“ Doch Lionel schüttelte den Kopf und erklärte „Was bringt das schon? Der Krebs ist bereits fortgeschritten und eine Chemotherapie würde das Voranschreiten höchstens verzögern, aber für eine Heilung ist es bereits zu spät. Und was nützen mir ein paar Monate mehr, wenn ich dafür als haarloser Bettlägeriger verbringen werde? Nein, ein so unwürdiges Ende werde ich nicht akzeptieren. Ich werde wenigstens in Würde sterben. Ich habe bereits meinen Notar kontaktiert. Ich werde dir den Konzern übertragen und mein Privatvermögen für die wenige Zeit, die mir noch bleibt, nutzen. Und um das Danach brauchst du dich nicht zu sorgen. Ich werde alle Vorkehrungen treffen, damit du deine kostbare Zeit nicht mit meiner Beerdigung verschwenden musst.“ „Wie viel Zeit bleibt dir?“ „Höchstens ein Jahr“, antwortete Lionel mit erschreckender Gleichgültigkeit. „Also genug Zeit, um alle erforderlichen Dinge zu regeln. Und ich denke, dass es wichtig für dich ist, jetzt die Leitung des Konzerns zu übernehmen, solange ich noch da bin, um dir den einen oder anderen Ratschlag zu erteilen. Ich weiß, du willst meine Hilfe nicht, aber ich kenne diesen Konzern und die Vorstandsmitglieder lange genug.“ Doch Leron konnte sich nicht wirklich mit dieser Situation abfinden. Es war ihm unverständlich, dass sein Vater so kühl und gefasst über die ganze Situation sprach, als handele es sich nur um eine unwichtige Kleinigkeit. War ihm sein eigenes Leben etwa so egal, dass ihn nicht mal die Tatsache interessierte, dass er bald sterben würde? „Interessiert dich deine Diagnose so wenig, dass du an nichts anderes denken kannst, außer dem Konzern?“ „Ich habe längst mit meinem Leben abgeschlossen“, erklärte Lionel und winkte ab. „Und es gibt nichts mehr, was in dieser Welt für mich noch von Bedeutung ist. Du kannst das vielleicht nicht verstehen, aber das brauchst du auch nicht.“ Zum ersten Mal in seinem Leben stimmte Leron ihm zu. Er verstand es nicht. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, dass einem Menschen das eigene Leben so vollkommen egal war, dass er nicht einmal den leisesten Willen zum Kämpfen zeigte. Was musste eigentlich passieren, dass man innerlich so tot war? Sein Vater schien zu bemerken, dass er sich Gedanken machte und fragte ihn sogar überraschenderweise „Was beschäftigt dich?“ „Erklär mir bitte, wie es sein kann, dass dir dein eigenes Leben so vollkommen egal geworden ist. Ich verstehe das nicht.“ Lionel seufzte senkte den Blick auf seine Hände. Sie waren dünn und vom fortschreitenden Alter gezeichnet. Es lag etwas Schmerzvolles in seinem Blick und diese kalte distanzlose Ausstrahlung war verschwunden. Plötzlich wirkte er auf Leron wie ein trauriger alter Mann, der nichts mehr hatte, an das er sich klammern konnte und der einfach aufgegeben hatte. Es war ein ziemlich trauriger Anblick. „Ein jeder Mensch hat seine Grenzen. Und wenn man stets an der Grenze gelebt hat, lernt man, dass der einzige Weg in der Resignation liegt, wenn man nicht daran zerbrechen will. Ich habe die Frau verloren, die ich aufrichtig geliebt habe und ich habe fast zwanzig Jahre mit einer Frau in einer Beziehung gelebt, die mich bedroht und misshandelt hat. Und es gab damals keinen Weg für mich, aus diesem Teufelskreis zu entkommen. Und selbst nachdem deine Mutter gestorben ist, war mir, als würde sie mich noch verfolgen. Manche Wunden sind einfach zu tief, als dass sie jemals verheilen können, Leron. Ich erwarte kein Mitgefühl von dir und ich weiß, ich war euch kein guter Vater. Aber wenn du selbst nach dem Tod deines Peinigers immer noch sein Gesicht siehst und sein Erbe gegen deinen Willen weiterführen musst, erscheint dir dein Leben nicht mehr lebenswert. Ich wollte euch als meine Kinder lieben, aber ich konnte es nicht. Immer, wenn ich in eure Gesichter sah, da sah ich immer nur Katherine. Und als Michael begann, immer auffälliger zu werden, da war es, als wäre ich in einen niemals endenden Alptraum gefangen und als würde mich meine Frau noch nach ihrem Tod heimsuchen. Verstehst du nun? Der Tod ist für mich nichts, wovor ich Angst haben sollte. Er ist die Erlösung für mich. Solange ich lebe, werden mich die Erinnerungen an Katherine heimsuchen und es ist sowieso zu spät, etwas Neues anzufangen. Ich habe genug Chancen in meinem Leben verspielt und der Konzern war immer das einzige, was mich wirklich am Arbeiten gehalten hat. Aber auch das ist nicht mehr von Bedeutung. Leron, ich weiß, dass du meinen Rat nicht willst und ich will dir und mir selbst auch nichts vormachen. Ich war nie ein guter Vater und werde es bis zu meinem Tod nie sein. Trotzdem möchte ich dir zumindest eines offen und ehrlich sagen. Kein Ratschlag darüber, wie du den Konzern zu leiten hast oder das Image der Familie wahrst. Vermutlich ist das hier der einzig wirklich gute Rat, den ich dir jemals als Vater geben kann: mach nicht die gleichen Fehler wie ich. Fülle dein Leben mit Dingen, die dich glücklich machen und beschütze sie. Geld kann dir zu Wohlstand verhelfen und dich vor einigen Sorgen des Lebens bewahren. Aber es macht dich nicht glücklich. Du wirst nur versuchen, die Leere in dir zu füllen, indem du dich mit Dingen und Menschen umgibst. Aber letzten Endes wirst du feststellen, dass all dies nichts bedeutet, weil du ihnen nichts bedeutest. Ich habe meine Zweifel, dass ein Junge vom Straßenstrich wirklich das ist, was dich glücklich macht oder er nur ein Versuch ist, die Leere in deinem Herzen zu füllen. Aber wenn du wirklich glaubst, dass er dein wahres Glück ist, dann lass ihn nicht gehen. Ich habe mein wahres Glück nicht beschützen können und an deine Mutter verloren. Lass nicht zu, dass dir das Gleiche passiert, wenn du nicht enden willst wie ich.“ Zum allerersten Mal in seinem Leben hatte Leron das Gefühl, als würde sein Vater direkt mit ihm sprechen. Nicht als einen Erben oder ein lästiges Familienanhängsel, das er bei Lust und Laune benutzen konnte. Nein, er sah ihn direkt an und sprach mit ihm, als würde er ihn endlich als seinen Sohn und als sein eigen Fleisch und Blut ansehen. Nach all den vielen Jahren der Vernachlässigung und der Lieblosigkeit in seiner Vergangenheit geschah endlich das, was er sich sein ganzes Leben lang herbeigesehnt hatte. Leron schaffte es nicht mehr, sich distanziert zu halten und er spürte, wie ihm die Tränen kamen. „Verdammt noch mal“, fluchte er und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg. „Warum musstest du mir das sagen? Es ist viel schwerer, dich zu hassen, wenn du dich nicht wie ein selbstgerechtes Arschloch verhältst.“ Lionel lächelte schwach. „Ich muss zugeben, dass auch jemand anderes dazu beigetragen hat, dass ich endlich mit all dem hier abschließen konnte.“ „Ach echt?“ fragte Leron überrascht. „Und wer war es?“ „An dem Abend, kurz bevor du zu mir gekommen bist und mich über deine Mutter ausgefragt hast, kam ein junger Mann zu Besuch. Es war Lucys Großneffe. Als ich ihn sah, war mir, als würde ich meine geliebte Lucy noch einmal vor mir sehen. Zuerst dachte ich, er würde mich für ihren Tod verantwortlich machen, aber das tat er nicht. Er hat mir einfach gedankt, dass ich Lucy geliebt habe. Wirklich alles an ihm hat mich an sie erinnert und mir war, als hätte mir Lucy selbst gedankt und mir verziehen, dass ich sie nicht vor Katherines Zorn beschützen konnte. Ich habe nach 40 Jahren endlich Frieden gefunden.“ Leron ließ sich diese Worte durch den Kopf gehen und kam zu der Erkenntnis, dass er nicht mehr imstande war, seinen Vater zu hassen. Natürlich konnte er ihm nicht die vielen Jahre der Vernachlässigung nicht vergeben, aber sein Groll hatte sich gelegt. Nachdem sein Vater endlich offen und ehrlich mit ihm über seine Gefühle sprach und auch endlich wie ein Vater mit ihm redete und nicht wie ein Fremder, konnte er ihn allmählich besser verstehen. Und er empfand sogar Mitgefühl für ihn. Der Tod seiner geliebten Lucy musste ihn wirklich gequält haben, vor allem weil er danach gezwungen war, mit der Frau zusammenzuleben, die sie getötet hatte. Er hatte eine schreckliche Ehe hinter sich, hatte in Angst vor einer Psychopathin gelebt, die unzählige Menschen ermordet hatte und war selbst nach ihrem Tod immer an das Martyrium erinnert worden. Wie viele Menschen konnten so etwas aushalten, ohne daran kaputt zu gehen? Sein Vater war zwar nach außen hin unantastbar geblieben, aber auch nur damit niemand sehen konnte, wie kaputt er innerlich war. Seine einzige Hoffnung lag für ihn im Tod, damit er wieder mit der Person vereint sein konnte, die ihm selbst nach 40 Jahren so viel bedeutet hatte. „Hör mal Vater“, sagte Leron schließlich, nachdem er sich wieder einigermaßen gesammelt hatte. „Ich kann dir zwar die Vernachlässigung nicht verzeihen, aber es ist nicht so, dass ich nicht verstehe, warum du dich nicht um uns kümmern konntest. Ehrlich gesagt will ich mir nicht einmal ausmalen, wie sehr du damals unter Mum zu leiden hattest. Aber ich will dieses Kapitel auch endlich abschließen. Wie wäre es, wenn wir uns darauf einigen, die Vergangenheit einfach ruhen zu lassen, okay? Du mischst dich nicht in meine Beziehung mit Simon ein und ich werde deine Ratschläge beherzigen und mich nicht mehr mit dir streiten. Und ich werde dafür Sorge tragen, dass du nicht in Mums Grab beerdigt wirst, sondern bei deiner Lucy.“ Das Angebot nahm der Schwerkranke nur zu gerne an und kurz darauf kam der Chefarzt herein, der sich für die Verspätung entschuldigte. Da Leron bereits alles zur Diagnose von seinem Vater erfahren hatte, fasste sich der Doktor kurz und zeigte ihm auch noch die MRT-Aufnahmen. Er bot auch noch die Nummer eines Sozialdienstes an, doch beide lehnten ab und nachdem er sich wieder verabschiedet hatte, waren Leron und Lionel wieder alleine. Der alte Mann wartete, bis die Tür zugefallen war, bis er sich wieder an seinen jüngsten Sohn wandte. „Wenn wir schon im Gespräch sind, kann ich auch ein weiteres Geständnis machen.“ „Noch mehr mörderische Verwandte, von denen ich wissen sollte?“ fragte Leron skeptisch und setzte sich wieder. „In der Hinsicht überrascht mich ehrlich gesagt nichts mehr.“ Doch Lionel schüttelte den Kopf und nachdem er einen weiteren Hustenanfall überstanden hatte, begann er zu erklären. „Du warst schon immer anders als deine Brüder gewesen, das hatte ich schon damals erkannt, als du noch jung warst. Michael und Jordan waren vollkommene Gegensätze auf einem äußerst ungesunden Level. Dein ältester Bruder kam ganz nach seiner Mutter, allerdings ohne auch nur eine ihrer guten Eigenschaften geerbt zu haben. Und aus Jordan bin ich noch nie schlau geworden. Er war ein manipulativer Egoist durch und durch und vor seinen Spielchen war niemand von uns sicher. Aber du warst schon immer derjenige mit den schwächsten Cohan-Genen gewesen. In dir hatte ich wirklich Hoffnung gesehen, deshalb hatte ich dir auch die Evans Hybrid Technologies übertragen.“ Doch so wirklich wusste Leron nicht, wie er die Worte seines Vaters einzuordnen hatte. Auch wenn es nach einem Lob klang, machte es in seinen Augen kaum Sinn. Immerhin war er stets außen vor gelassen und von der Familie isoliert worden. „Und warum hast du mich damals abgeschoben und alleine aufwachsen lassen? Wieso hast du dieses Spielchen mit dem Erbschaftswettstreit angefangen, wenn ich die ganze Zeit dein Favorit war?“ „Denk doch mal nach, Leron. Michael hat nur nach einer Gelegenheit gesucht, um dir das Leben zur Hölle zu machen und Jordan hat Michael meist aufgestachelt, um euch beide aus den Weg zu räumen. Ich mag euch zwar vernachlässigt haben, aber ich wusste ganz genau, wie jeder von euch tickt. Und was glaubst du wohl, wie deine Brüder reagiert hätten, wenn sie gewusst hätten, dass ich sie nie als Erben gesehen habe? Ich habe dich isoliert, damit du nicht mehr in ihrem Fokus bist. Die Scharade mit dem Erbschaftswettkampf diente auch nur dazu, damit sich deine Brüder selbst gegenseitig disqualifizieren. Zugegeben, Jordan hätte ein paar Chancen gehabt, weil er als Einziger eine Familie hat, aber ich hatte niemals im Sinn gehabt, Michael den Konzern zu überlassen. Es wäre so gewesen, als hätte ich Katherine mein Lebenswerk überlassen.“ „Aber spätestens wenn du zurückgetreten wärst, dann wäre doch alles zutage gekommen und Michael und Jordan hätten dich durchschaut!“ „Deine Brüder waren zwar schlau, aber niemals schlau genug, um zu realisieren, dass ich ganz andere Pläne hatte“, erklärte Lionel geduldig. „Es musste danach aussehen, als halte ich dich für absolut unfähig. Mein ursprünglicher Plan sah vor, dass ich Michael nach seiner letzten Eskapade enterbe, weil er ein zu großes Risiko für das Geschäftsimage darstellt. Und Jordan war nie ein sonderlich guter Geschäftsmann. Er hat viel lieber Leute gegeneinander ausgespielt, weil das sein persönliches Vergnügen war, aber er hat diese Fähigkeiten nicht im geschäftlichen Bereich angewandt. Natürlich hätten sie erfahren, dass du der Erbe sein wirst, aber du bist kein kleiner Junge mehr und Will hatte dich als dein Supervisor intensiv genug vorbereitet, um dich auf die Konfrontation mit deinen Brüdern vorzubereiten.“ „Dann hast du mich also genauso manipuliert wie du Michael und Jordan manipuliert hast“, schlussfolgerte Leron und seufzte. Warum überraschte ihn das nicht? Doch er musste zugeben, dass er trotzdem beeindruckt war, dass sein Vater es geschafft hatte, sie alle drei dermaßen an der Nase herumzuführen und keiner von ihnen hatte je Verdacht geschöpft. Zwar wusste er, dass Lionel in ihnen nur potentielle Nachfolger gesehen hatte und nichts anderes, aber es brauchte schon Nerven wie Drahtseile und außerordentliches Schauspieltalent, um seine wahren Absichten zu verbergen. Leron konnte nicht anders, als über die Erkenntnis zu lachen, dass die Isolation, der Erbschaftsstreit und die Schikanen seines Mentors von Lionel fingiert worden waren, um ihn für seine zukünftige Rolle vorzubereiten. Obwohl das bedeutete, dass er mal wieder nur als Spielfigur von seinem alten Herrn benutzt worden war, so rechnete er ihm trotzdem an, dass sein Vater nie in Betracht gezogen hatte, einem geisteskranken Sadisten oder einem gefühlslosen Psychopathen seinen Konzern zu überlassen und er ihn tatsächlich schützen wollte. Zwar hatten keinerlei väterliche Gefühle eine Rolle gespielt, aber es hätte auch ganz anders laufen können. Nämlich, dass ihm das Elend seines jüngsten Sohnes so kalt gelassen hatte, dass er ihm einfach seinem Schicksal überließ. „Ehrlich gesagt weiß ich gerade wirklich nicht, ob ich dich jetzt dafür hassen, oder dir danken soll.“ „Denke darüber, wie du willst. Letzten Endes brauchte ich diese Scharade nicht mehr weiterzuführen. Allerdings gehen die Probleme weiter als ich erwartet hatte.“ „Was meinst du damit?“ „Es geht um die Leichen“, erklärte Lionel und rieb sich mit einem leisen Seufzer die Stirn. „Die Polizei ermittelt gegen mich. Es ist deshalb wichtig, dass wir die Überschreibung des Konzerns so schnell wie möglich über die Bühne bringen, bevor sich alles verschlimmert.“ „Warte mal“, unterbrach Leron ihn und wurde laut. „Die Polizei ermittelt gegen dich? Etwa wegen der Tatsache, dass du die ganzen Taten verschwiegen hast? Oder hast du Mum etwa geholfen, all diese Leute umzubringen?“ „Natürlich nicht“, erwiderte sein Vater empört. „Aber deine Mutter war nicht dumm. Sie hat mich damals erpresst, dass sie mir die Morde anhängen wird und hat entsprechend Spuren gelegt, um die Polizei zu überzeugen, dass ich sie misshandle und nicht umgekehrt. Und das rächt sich jetzt allmählich. Zwar haben sie noch keine handfesten Beweise, aber Indizien, die dafür sprechen. Ich bezweifle zwar, dass sie in der Lage sein werden, mir den Mord an den 33 Opfern nachzuweisen, aber Lucys Ermordung werden sie mir höchstwahrscheinlich anhängen können. Ich habe zwar einen guten Anwalt, aber selbst ich kann die momentane Situation nicht abschätzen. Höchstwahrscheinlich wird es zum Prozess kommen, wenn ich nicht vorher schon sterbe. Aber es muss trotzdem mit dem Schlimmsten gerechnet werden, dass es darauf hinauslaufen wird, dass mir die Morde an diesen Menschen angehängt werden. Ich lege dir deshalb ans Herz, dass du dich so weit wie möglich von mir distanzierst und dafür sorgst, dass ich mit dem Konzern nicht mehr in Verbindung gebracht werde. Ansonsten wirst du mit schweren Rückschlägen zu rechnen haben.“ Schöne Scheiße, dachte sich Leron und hatte das Gefühl, als würde ihm ein Berg an Problemen auf den Schultern lasten und ihn langsam erdrücken. Da hatte er endlich Hoffnung, dass alles besser werden würde, doch stattdessen kamen immer mehr Hiobsbotschaften dazu. Kaum zu glauben, dass der Wahnsinn der Cohans selbst nach ihrem Tod noch hohe Wellen schlug und Chaos verursachte. Kapitel 51: Das Ultimatum ------------------------- Lionel atmete schwer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er fühlte sich müde und erschöpft, aber andererseits auch mehr als zufrieden. Es war glücklicherweise so gekommen wie er es sich erhofft hatte und das Gespräch mit seinem Sohn war besser verlaufen als geplant. Tatsächlich hätte er mit weiterem Trotz und Widerstand seitens Leron gerechnet, aber glücklicherweise hatte der Junge letzten Endes doch Vernunft angenommen und nun war nicht mehr viel für ihn zu tun. Die meisten Vorbereitungen waren abgeschlossen und alles Notwendige in die Wege geleitet worden. Jetzt musste er nur noch auf seinen Notar warten, damit er Leron die Firma überschreiben konnte. Dann konnte er sich guten Gewissens zur Ruhe setzen und dann den Tod finden, wenn ihn der Krebs endgültig besiegt hatte. Es war nicht nur dieses schicksalhafte Treffen mit Lucys Großneffen gewesen, das ihm inneren Frieden gebracht hatte und ihm diesen endgültigen Schritt leicht machte. Nein, es war etwas ganz anderes. Mit einem triumphierenden und zufriedenen Lächeln schloss er die Augen und legte den Kopf zurück ins Kissen. Zwar war sein Körper geschwächt, aber sein Geist war immer noch ungebrochen. Und letzten Endes hatte er es geschafft, seine verhasste Frau Katherine zu übertrumpfen und diesen einen letzten Schachzug gegen sie auszuspielen. Überraschenderweise hatte es nicht einmal viel gebraucht. Er hatte nur ein wenig zu erzählen brauchen und schon hatte sein Sohn ihm aus der Hand gefressen. Und anstatt die Firma zu verkaufen, würde er sie weiterführen und seinen Vater in Ehren halten, so wie er es wollte. Dabei hatte es nicht einmal viel gebraucht. Es war so lächerlich einfach und wenn er seinem Sohn gut genug zuredete, würde dieser auch endlich diesen Unfug mit diesem dreckigen dahergelaufenen Stricherjungen beenden und sich eine anständige Frau suchen. Nachdem all die kalte Strenge bei Leron nichts bewirkt hatte, musste er wohl oder übel andere Methoden anwenden, um ihn zur Vernunft zu bringen. Es konnte ja wohl nicht sein, dass der Sohn eines hoch angesehenen Konzerninhabers einen Jungen an seiner Seite hatte, der zum einen ein Freak und zum anderen noch ein halbes Kind war. Das war ein Skandal und wenn er bewirken wollte, dass Leron sein Erbe weiterführt, dann musste er ihn weiter bearbeiten, um ihn zur Einsicht zu bewegen. Alles was von Nöten war, das war Geduld. Taktik und Geduld. Aber lange würde es definitiv nicht mehr dauern, bis er ihn soweit hatte. Immerhin glaubte Leron ihm alles, was er erzählte. Er war ja noch ganz klein gewesen, als seine Mutter starb. Mit Michael und Jordan war es definitiv schwieriger gewesen, immerhin waren sie schon Teenager gewesen, als Katherine ihrem Bauchspeicheldrüsenkrebs erlag. Vor allem Michael hatte ihm das Leben schwer gemacht und sich nicht manipulieren lassen. Nein, er war ganz nach seiner Mutter gekommen und war schon immer ein Mutterkind gewesen. Und wie sehr hatte sein ältester Sohn ihn verachtet. Genauso so sehr, wie Lionel ihn verachtet hatte. Aus Jordan war er hingegen nie schlau geworden und hatte selten etwas wie Menschlichkeit oder Gefühle bei ihm gesehen. Das einzige Mal, wo Jordan wirklich Emotionen gezeigt hatte war, als er mit seinen Brüdern vom Hospiz zurückgekommen war, nachdem er sich von seiner sterbenden Mutter verabschiedet hatte. Da hatte er tatsächlich geweint. Ausgerechnet Jordan, der noch nie wirklich so etwas wie Wut oder Freude, Angst oder Leidenschaft gezeigt hatte. Und ausgerechnet er war es gewesen, der Frau und Kinder haben sollte. Auch das hatte Lionel nie verstanden, wie jemand wie Jordan in der Lage war, einen Menschen überhaupt zu lieben. Er erinnerte sich noch gut an die Hochzeit zwischen ihm und seiner Frau Evelyn, bei der er immer noch gewirkt hatte, als wäre diese ganze Zeremonie eine reine Geschäftssache für ihn. Das Ganze hatte ihn so verwirrt, dass er sich dazu durchgerungen hatte, seinen Sohn zu fragen, warum er diese Frau heiratete, obwohl er offensichtlich zu keinen Gefühlen imstande war. Und Jordans Antwort war schlicht und einfach gewesen „Ich habe Mum ein Versprechen gegeben.“ Erst da hatte er erkannt, wie groß Katherines Einfluss auf ihre Kinder gewesen war, dass sie selbst Jordan dazu bringen konnte, sich selbst nach ihrem Tod noch an das Versprechen zu halten, dass er ihr gegeben hatte. Er war im Übrigen auch der Einzige, der sein Versprechen hatte halten können. Obwohl Michael seiner sterbenden Mutter versprochen hatte, sich um seine Brüder zu kümmern, hatte es nicht lange gedauert, bis sein Wahnsinn Überhand nahm und er auf Leron losging, den er als die Wurzel allen Übels betrachtet hatte. Aber dafür hatte Michael es sich zur Aufgabe gemacht, das Erbe seiner Mutter weiterzuführen und seinen verhassten Vater dafür zahlen zu lassen, dass er sie nicht hatte zuhause sterben lassen, sondern sie einfach in ein heruntergekommenes Hospiz abgeschoben hatte, um sie endgültig loszuwerden. Glücklicherweise war das jetzt vorbei und nun war nur noch Leron übrig, aus dem man wenigstens noch einen anständigen Unternehmer machen konnte. Und wenigstens war er nicht durch das verfluchte Blut seiner Mutter verdorben worden. Nein, er würde schon dafür sorgen, dass Leron ihm ein würdiger Erbe sein würde. Mit einem glücklichen Lächeln schloss Lionel die Augen, um sich ein wenig auszuruhen, doch da spürte er plötzlich einen kalten Hauch im Zimmer. Es war, als würde plötzlich die Temperatur absinken und ein Winterwind hereinwehen, dabei war es weder Winter noch war das Fenster auf. Und seltsamerweise fror er nicht einmal. „Lionel…“ Schlagartig öffnete der 70-jährige die Augen, als er seinen Namen hörte und der weder von der Krankenschwester noch vom Chefarzt kam. Es war eine ganz andere Stimme, die etwas Ruhiges und zugleich Unheimliches und Fremdartiges an sich hatte. Er setzte sich ruckartig auf und sah eine Frau neben seinem Bett stehen. Sie hatte langes seidenglattes schwarzes Haar, rubinrote Augen und trug ein schwarzes Kleid und dazu ein fliederfarbenes Tuch um ihre Schultern. Sie war schön und wirkte zugleich bedrohlich und unheimlich. Etwas Düsteres ging von ihr aus als wäre sie von einem dunklen Schatten umgeben, der für das menschliche Auge nicht sichtbar war. Nur mit dem Unterschied, dass sie eins mit diesem Schatten war. Instinktiv überkam ihn Angst bei ihrem Anblick. „Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“ wollte er wissen und stellte entsetzt fest, wie seine Stimme zitterte. Warum nur jagte ihm diese Frau nur solch eine Angst ein? Irgendetwas an ihr weckte diese verborgene Urangst in ihm, die in jedem Menschen fest verankert war: die Angst vor dem Tod. „Ich bin gekommen um mit dir zu reden, Lionel“, antwortete sie, ohne auf die erste Frage zu antworten. „Du hast deinem Sohn etwas verschwiegen. Es ist noch nicht zu spät für dich. Noch kannst du die Dinge richtig stellen und mit einem reinen Gewissen deine restlichen Tage verbringen.“ „Ich weiß nicht, wovon Sie da reden!“ erwiderte Lionel nun gereizt. Er hatte keine Ahnung, wer diese merkwürdige Frau war und wie sie in sein Zimmer gekommen war. Vor allem wusste er nicht, woher sie überhaupt seinen Namen kannte und warum sie sich die Frechheit herausnahm, ihn zu duzen und bei seinem Vornamen zu nennen. „Was fällt Ihnen eigentlich ein, so mit mir zu reden? Ich kenne Sie nicht einmal.“ „Du weißt ganz genau, wer ich bin“, sprach die Frau ruhig und zeigte sich vollkommen unbeeindruckt von Lionels Worten. „Und du weißt sehr wohl wovon ich rede. Ich gebe dir hiermit noch eine Chance, vor deinem Sohn alles richtig zu stellen und ihm die Wahrheit zu sagen. Andernfalls werde ich es tun. Ich habe Katherine an ihrem Totenbett ein Versprechen gegeben und ich halte stets mein Wort. Ganz gleich wem ich es gebe. Darum kann ich nicht zulassen, dass Leron von dir oder vom Schatten seiner Mutter beeinflusst wird. Er muss seinen eigenen Weg gehen, frei von der Last seiner Familie.“ Lionel starrte die Frau in Schwarz eine Weile ratlos an und konnte immer noch nicht sagen, wer oder was sie war. Doch da dämmerte ihm etwas. Ein Gedanke kam ihm und er spürte, wie sich seine Brust schmerzhaft zusammenschnürte und ihm etwas den Atem raubte. Entsetzt starrte er sie an und wich vor ihr zurück, wobei er fast aus dem Bett gefallen wäre. „Das… das ist unmöglich…“, brachte er fassungslos hervor. „Dann warst du es also, die ich damals gesehen habe… in der Nacht, als meine geliebte Lucy gestorben ist. All die Jahre dachte ich immer, es wären die Drogen gewesen, die Katherine mir damals verabreicht hat, aber meine Augen haben mich doch nicht getäuscht. Du warst es! Du warst damals in dem Zimmer gewesen und hast bei ihr gestanden und nichts getan, obwohl sie im Sterben lag. Warum hast du sie damals nicht gerettet und wieso kommst du jetzt zu mir und verlangst so etwas?“ „Für jeden kommt die Zeit des Sterbens“, erklärte die Frau. „Für den einen früher, für den anderen später. Und es steht nicht in meiner Aufgabe Leben zu retten, Lionel. Du hast noch etwas von deinem Leben und ich will mein Versprechen wahren, indem ich verhindere, dass du deinen Sohn mit Lügen und Halbwahrheiten manipulierst, um ihn nach deinem Willen zu formen.“ Langsam wich die Furcht und stattdessen stieg Zorn in Lionel auf. Er konnte nicht glauben, dass diese Person es tatsächlich wagte, so etwas von ihm zu verlangen nach allem, was Katherine ihm in all den Jahren angetan hatte. Sie hatte nicht das Recht, so etwas von ihm zu fordern! „Was kümmern dich die Angelegenheiten der Lebenden, dass du dich in solche Dinge einmischst? Du hast Lucy sterben lassen und zugelassen, dass dieses geisteskranke Weibstück weiterlebt und drei Kinder in die Welt setzt, um mich selbst nach ihrem Tode noch weiterzubestrafen. Habe ich nicht schon genug erlitten? Sie hat es nicht verdient, auch nur von irgendjemandem betrauert oder bemitleidet zu werden. Ich hätte diese Hexe in einer noch schlimmeren Absteige verrecken lassen sollen, es wäre immer noch nicht annähernd gerecht gewesen. Jetzt habe ich endlich die Chance, es ihr zurückzuzahlen indem ich ihr das zerstöre, was sie zurückgelassen hat. Sie verdient es nicht, von ihren Kindern betrauert zu werden und wenn es so etwas wie Gerechtigkeit gibt, dann hoffe ich, dass dieses Miststück in der Hölle schmort, aus der sie gekommen ist!“ Lionel war immer lauter geworden und hatte die letzten Sätze regelrecht herausgeschrien. Nach und nach entflammte sich sein aufgestauter Hass und Zorn, bis er schließlich nicht mehr an sich halten konnte. „Ich war zumindest so gnädig gewesen, ihm nichts von den Dingen zu erzählen, die Katherine getan hat, damit er sie als gute Mutter in Erinnerung hält. Aber rechnet mir das jemand an?“ „Du bist selbstgerecht“, erwiderte die Frau, ohne sich auch nur im Geringsten von Lionels Wutausbruch beeindruckt zu zeigen. „Du weißt genau, dass Katherines Absturz genauso dein Verschulden war. Du hast deinem jüngsten Sohn nicht aus Rücksicht die Wahrheit verschwiegen, sondern weil du einzig und allein dein eigenes Gewissen beruhigen wolltest, weil du genau wusstest, warum Katherine so verbittert geworden war. Und nun, da du mit dir selbst ins Reine gekommen bist, spielst du das aus um Leron gegen seine Mutter aufzuhetzen und ihn auf deine Seite zu ziehen. Aber das werde ich nicht dulden. Es stimmt was du sagst, dass es nicht meine Angelegenheit ist und ich mich in solche Dinge nicht einmische. Aber ich sehe Hoffnung für die Cohan-Familie. Und deshalb werde ich beschützen, was zu beschützen ist, um diesen uralten Kreislauf aus Hass, Gewalt und Angst zu beenden um damit auch die Cohans vor ihrem Untergang zu retten.“ „Eine Familie aus Geisteskranken und Mördern verdient es nicht, gerettet zu werden“, erwiderte Lionel. „Und ebenso wenig verdient es dieses kranke Weibstück, dass sie bekommt was sie wollte. Sie hat Menschen getötet… sie hat mir meine Lucy genommen. Sie hat mir all diese Dinge angetan und ich habe weiß Gott genug für meine Fehler bezahlt. Vier Jahrzehnte habe ich mir die Schuld für Lucys Tod gegeben. Aber nun, nachdem ich mit ihrem Großneffen gesprochen habe, weiß ich es besser. Nicht ich habe Schuld an Lucys Ermordung oder am Tod dieser anderen Menschen. Es war allein Katherines Schuld. Sie war hier die mörderische Verrückte und es war nicht meine Schuld, dass sie durchgedreht ist und diese… diese… monströse Brut hervorgebracht hat, die mir selbst nach ihrem Tod das Leben schwer gemacht haben. Ich habe mir nichts vorzuwerfen! Und ich werde nicht zulassen, dass du mir dazwischenfunkst und mir meine Pläne ruinierst.“ „Dir geht es nur um deine Firma“, erwiderte die Frau mit einer Spur von Bedauern in ihrer Stimme und etwas wie Mitleid lag in ihrem Blick. „Dein ganzes Leben lang ist es dir nur um dich selbst gegangen. Es stimmt, dass dir großes Leid widerfahren ist. Aber du hast ebenso großes Leid über deine Mitmenschen gebracht. Das muss aufhören. Wenn jemand einen Stein wirft und du wirfst ebenso einen zurück, wird es niemandem helfen, sondern nur Wunden tiefer reißen. Sieh auf dein Leben zurück, Lionel. Du hast hart gearbeitet und gekämpft. Du hattest eine Frau, die dich aufrichtig geliebt hat und du hast sie fallen lassen, weil du dir selbst und das Ansehen deiner Firma wichtiger waren als alles andere. Und wohin haben diese Entscheidungen geführt? Du hast dir ein großes Imperium errichtet und es zu Reichtum gebracht. Aber kein Imperium überdauert die Zeit. Imperien werden zerfallen, Geld wird wertlos und bedeutungslos werden. Du predigst deinem Sohn, sich mit Menschen zu umgeben, um etwas zu haben, auf das er wahrlich stolz sein kann. Aber du wendest diese Weisheit nicht auf dein eigenes Leben an. Du verurteilst deinen Sohn weil er ein Verhältnis mit einem jungen Mann hat, der sich aus Not und Verzweiflung prostituiert hat. Dabei vergisst du aber, dass du damals deine hochschwangere Frau mit einer mittellosen Kellnerin betrogen hast und immer noch an deiner Liebe zu jener Kellnerin festhält. Dein selbstgerechtes Verhalten wird noch dein Untergang sein. Alles, was du siehst, ist nur dein selbst geschaffenes Imperium, welches nur so lange Bestand hat wie dein Sohn es wünscht. Und du schaust nur auf das, was du verloren hast anstatt auf die Menschen, die dir geblieben sind. Darum wirst du einsam bleiben und ebenso einsam von dieser Welt gehen. Katherine hat schlimme Dinge getan. Sie hat unzählige Leben zerstört weil sie ihrem eigenen Schatten nicht entkommen konnte. Aber sie hatte Menschen, die um sie geweint haben und die sich an ihre menschliche Seite erinnern. Du wirst nichts mehr haben, wenn du weiter diesem Pfad folgst. Und wie ich bereits sagte: wenn du Leron nicht reinen Wein einschenkst, dann werde ich es tun. Ich gebe dir noch drei Tage Zeit, dich zu besinnen. Danach werde ich nach eigenem Ermessen verfahren.“ Damit wandte sich die Frau wieder ab um zu gehen, doch da blieb sie noch einmal stehen und seufzte leise. „Ich bedaure die Menschen, die ihr wahres Glück nur im Geld und Erfolg sehen. Materielle Dinge sind in einer materiellen Welt wichtig, aber sie werden uns nicht in den Arm nehmen und trösten, wenn wir einsam sind. Und sie werden keinerlei Bedeutung haben, wenn unser Leben zerbricht. Leider bemerken die meisten Menschen erst dann, wie einsam und unglücklich sie sind, wenn sie alles verloren haben. Du hast mein Mitgefühl für das Martyrium, das du erlitten hast. Aber ich kann nicht zulassen, dass du deinen Zorn und deine Bitterkeit auf deinen Sohn überträgst. Denk darüber nach, Lionel. Noch ist es nicht zu spät.” Damit wollte die Frau mit den roten Augen das Zimmer verlassen und damit Lionel wieder alleine lassen. Doch so einfach wollte sich der alte Mann nicht geschlagen geben. Nach all den Jahren der Resignation flammte etwas wieder in ihm auf. Er konnte und wollte nicht akzeptieren, dass eine Frau ihm vorschrieb, was er zu tun oder zu lassen hatte und ihm dann auch noch die Pistole auf die Brust setzte. Sein Leben war ihm schon mal von einer Frau ruiniert worden, darum würde er nicht zulassen, dass eine weitere Frau das Gleiche tat und seine Pläne sabotierte und damit alles zunichte machte, worauf er hingearbeitet hatte. So viel harte Arbeit und Opfer hatte er für sein Lebenswerk gebracht. Er würde nicht auch dass noch verlieren, nachdem seine ihm so verhasste Ehefrau seine geliebte Lucy genommen hatte. Die Energie kehrte wieder in ihn zurück und er stand von seinem Bett auf und erhob sich zu seiner ganzen Größe. Dann schritt er auf die Frau zu und streckte die Hand nach ihr aus, um sie festzuhalten. „Ich lasse mir von einem unverschämten Weibsbild wie dir nicht mein Lebenswerk zerstören!“ Hier aber fuhr die Frau herum und ihre rubinroten Augen loderten auf wie ein Feuer. Zorn flammte in ihnen auf und ihr schönes, makelloses Gesicht wirkte nun erschreckend kalt und unmenschlich. „Stehenbleiben!“ befahl sie mit bebender Stimme, welche etwas so Erschütterndes und Kraftvolles an sich hatte, dass Lionel für einen Moment glaubte, die Erde würde unter diesem Klang erzittern. Augenblicklich blieb er stehen, doch nicht weil er es wollte. Sein Körper war wie erstarrt und er war nicht mehr imstande, sich zu bewegen. Mit einem Moment wurde es dunkel in dem Zimmer. Eine eiskalte Dunkelheit breitete sich auf und er spürte den Hauch des Todes, der ihn umgab. Das Herz blieb ihm fast stehen und er vermochte kaum zu atmen. Langsam hob die Frau ihren Arm und deutete auf Lionel. „Spiele nicht mit meiner Geduld, Lionel. Du magst Geld und Macht haben, aber sie sind für mich nur Schall und Rauch und bedeutungslos. Mein ganzes Selbst liegt weit jenseits deiner Macht und deinem Einfluss. Wage es nicht, meinen Zorn zu wecken! Ansonsten wird er dich restlos vernichten.“ Daraufhin senkte sie wieder den Arm und verließ das Zimmer. Und kaum, dass die Tür zugefallen war, verließ Lionel all seine Kraft und er brach bewusstlos zusammen. Doch selbst mehrere Stunden später, nachdem er wieder aufgewacht war, spürte er noch diese unerträgliche Kälte und zitterte am ganzen Leib. Noch nie in seinem Leben hatte er solch eine schreckliche Angst empfunden. Nicht einmal Katherine hatte so etwas je vermocht. „Womit habe ich es bloß verdient, immer an solch gefährliche Frauen zu geraten?“ war alles, was er dazu sagen konnte. Draußen vor dem Krankenhaus wehte ein kalter Herbstwind und graue Wolken verdunkelten den Himmel. Es würde vermutlich Regen geben. Die Frau in Schwarz seufzte und schaute zurück auf das Gebäude, in welchem sie so viele Schatten spüren konnte, die selbst gewöhnliche Menschen wahrnehmen konnten und für gewöhnlich als beklemmende Atmosphäre empfanden. Sie war enttäuscht, dass Lionel Evans so stur und uneinsichtig blieb. Zwar bezweifelte sie, dass er sich eines Besseren besinnen und vor Leron die Dinge richtig stellen würde, aber sie würde an ihrem Entschluss festhalten und drei Tage warten. Denn sie hielt immer ihr Wort, egal was es auch sein mochte. Und wenn Lionel sich bis dahin in Schweigen hüllte, würde sie Leron besuchen und ihm die Wahrheit sagen. Immerhin hatte sie seiner Mutter an ihrem Sterbebett versprochen gehabt, dass sie ihn vor dem Einfluss seiner Eltern schützen würde. Egal ob es der rastlose Schatten Katherines selbst oder die kaltherzige Manipulation ihres Mannes war. Gerade als sie aufbrechen wollte, klingelte das Handy, welches sie bei sich trug und es genügte nur ein Blick auf das Display um festzustellen, wer es war. Sie nahm den Anruf entgegen und fragte „Was gibt es?“ „Ich wollte nur mal hallo sagen, hehehe“, kam es mit einem Kichern vom anderen Ende der Leitung. „Ich wollte mich noch für die Hilfe bedanken. Ich bin jetzt im Hotel und habe auch schon die Zielperson gesehen. Wenn meine Vermutung zutrifft, werden wir bald deine Hilfe brauchen. Ansonsten macht er es nicht lange.“ Hieraufhin blieb sie stehen und zog die Augenbrauen zusammen. „Ist es inzwischen so schlimm?“ „Er scheint sich ein wenig erholt zu haben, wenn auch nur vorübergehend. Ich schätze aber, dass das nur maximal drei oder vier Tage anhalten wird. Das wird auf jeden Fall noch lustig werden, hehehe.“ „Dann bleibe solange im Hotel und verhalte dich ruhig. Ich habe Lionel ein Ultimatum von drei Tagen gegeben. Danach werde ich Leron aufsuchen und mich um alles weitere kümmern.“ „Und du erwartest allen Ernstes von mir, dass ich die ganzen drei Tage im Hotel hocke und nichts tue? Das ist so laaaaanweilig!“ „Du kannst dir doch die Looney Tunes oder die Animaniacs ansehen“, bot sie an. „Die schaust du dir doch so gerne an. Tu mir einfach den Gefallen und halte dich zurück. Ich möchte nicht, dass es zu Komplikationen kommt. Und New York ist groß, da kann man leicht verloren gehen.“ „Spielverderberin“, kam es beleidigt vom anderen Ende der Leitung zurück und damit war das Gespräch beendet. Die Frau mit den roten Augen seufzte und steckte ihr Handy wieder ein. Zwar hatte sie nahe gelegt, dass ihr „Komplize“ im Hotel bleiben sollte, aber so wie ihn einschätzte, würde es schon sehr bald zu Problemen kommen. Blieb nur zu hoffen, dass es kein Unglück gab. Sie würde erst einmal Lionels Reaktion abwarten. Und wenn ihre Vermutung zutraf und er nichts tun würde, dann blieb ihr keine Wahl, als entgegen ihrer Prinzipien aktiv zu werden und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Kapitel 52: Lerons Erschöpfung ------------------------------ Wie lange Simon gewartet hatte, dass Leron endlich zurückkam, wusste er nicht. Vielleicht zwei Stunden? Irgendwann war er einfach von Müdigkeit übermannt worden und war eingeschlafen, sodass er erst aufwachte, als es bereits dunkel wurde und er das Geräusch der Zimmertür und leise Schritte wahrnehmen konnte. Mit einem Male war er hellwach und setzte sich ruckartig auf. Sein Herz raste wie bei einem Marathon und für einem Moment überkam ihn die unbegründete Angst, dass Lerons psychopathischer Bruder wiedergekommen war. Dabei wusste er doch eigentlich selber, dass es unmöglich war, denn Michael war schon vor Wochen gestorben und er hatte mit eigenen Augen gesehen wie dieser von Hunter mit dem Hammer erschlagen worden war. Und trotzdem war da noch diese Angst, dass Michael trotzdem hierherkommen und ihn umbringen wollte. Doch zu seiner großen Erleichterung war dieser nicht von den Toten zurückgekehrt. Stattdessen war es Leron, der ins Zimmer gekommen war, um nach dem Rechten zu sehen. Der Unternehmer wirkte gestresst, das sah ihm selbst ein Blinder an. Seine nussfarbenen Augen, in die sich Simon schon bei ihrem ersten Treffen so verliebt hatte, waren matt und hatten an Glanz verloren. Sein Haar war nicht mehr so ordentlich frisiert und er hatte leichte Ringe unter den Augen. Dennoch versuchte er sich nichts anmerken und schaute stattdessen besorgt zu Simon. „Du brauchst dich nicht zu erschrecken, Simon. Ich bin es nur.“ Erleichtert atmete der 21-jährige aus und fuhr sich durch sein dickes, lockiges dunkelbraunes Haar welches er nie wirklich frisiert bekam. „Hey Leron. Ich hatte eigentlich auf dich warten wollen, aber anscheinend bin ich wieder eingepennt. Sorry deswegen. Du siehst aber auch ganz schön fertig aus. Wie geht es deinem Vater denn?“ Leron antwortete erst nicht und schien nachzudenken, ob er es denn sagen sollte. Dann aber entschied er sich dafür und erklärte „Er ist schwer krank und macht es nicht mehr lange. Anscheinend war es doch kein Herzproblem, sondern etwas anderes. Jedenfalls wird es darauf hinauslaufen, dass ich in naher Zukunft den Konzern übernehmen werde.“ „Oh…“, murmelte Simon und war sich nicht sonderlich sicher, wie er darauf reagieren sollte. Auf der einen Seite tat es ihm für Leron leid, dass er jetzt noch mehr Belastungen dazu bekam. Aber andererseits hatte er auch nicht sonderlich viel Mitgefühl für Lionel, denn es war viel zu viel passiert, als dass er so etwas wie Mitleid empfunden hätte. „Was genau hat er denn?“ „Eine kaputte Leber, Lungenkrebs im Endstadium und zwei Tumore“, antwortete Leron und als er Simons ungläubigen und fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkte, erklärte er „Mein Vater hatte nie sonderlich wenig Alkohol getrunken und da der Krebs so lange unbemerkt und unbehandelt blieb, haben sich mit der Zeit Metastasen gebildet, die zu Tumoren herangewachsen sind. Jedenfalls lehnt er eine Behandlung ab und der Arzt sagte auch, dass es für eine Heilung bereits zu spät sei. Aber mach dir keine Sorgen, Simon. Alles wird geregelt werden und es ist ja nicht so, dass ich jemals ein gutes Verhältnis zu meinem Vater hatte.“ Dennoch erkannte Simon, dass diese Diagnose Leron nicht kalt ließ. So etwas wünschte man auch niemandem, nicht einmal jemanden wie Lionel, der in Simons Augen weder ein guter Vater noch ein guter Mensch war. „Da hast du ja einige krebskranke Verwandte“, murmelte er als er so darüber nachdachte, wie es mit dem Rest von Lerons Familienmitgliedern aussah. „Deine Mutter und Michael hatten ja auch so was. Vielleicht solltest du dich auch mal untersuchen lassen. Nicht, dass so was vererbbar ist.“ „Das sollte ich vielleicht mal machen“, gab Leron zu, schien aber nicht wirklich die Motivation zu haben, sich um solche Dinge Gedanken zu machen. Stattdessen begann er das Thema zu wechseln und fragte „Wie geht es dir denn eigentlich, Simon?“ Der 21-jährige nickte und winkte Leron zu sich woraufhin sich der Unternehmer zu ihm aufs Bett setzte. Kaum, dass er Platz genommen hatte, schlang Simon seine Arme um ihn und drückte ihn. Ihm kamen beinahe wieder die Tränen und er spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte und ihm das Atmen schwerer fiel. „Es tut mir so leid, dass ich mich hier wie der letzte Arsch verhalte. Du hast selbst mit Problemen zu kämpfen und ich mache alles nur schlimmer. Ich lasse meinen ganzen Frust an dir aus, obwohl du der Letzte bist, der das verdient hat. Ich bin so verdammt unfair dir gegenüber und werfe dir so viele schlimme Dinge an den Kopf. Dabei will ich dich doch nicht verlieren! Ich liebe dich doch.“ Er erwartete nicht, dass Leron darauf antwortete, geschweige denn die Umarmung erwiderte. Er hätte es ihm nicht mal verübelt, wenn der Unternehmer noch wütend auf ihn gewesen wäre. Denn er hatte sich wirklich unfair verhalten und die Dinge zu weit getrieben. Doch als er spürte, wie sich Lerons Arme um ihn legten und eine Hand zärtlich durch sein Haar strich, da empfand er unendliche Erleichterung und wusste nicht, womit er so viel Nachsicht verdient hatte. Er hörte Leron geräuschvoll durchatmen, als müsse er sich sammeln um die richtigen Worte zu finden. „Du kannst nichts dafür, dass du Angst hast und mit deinen Gefühlen überfordert bist. Es ist viel passiert und jeder hat seine Grenzen. Ich will dich auch nicht verlieren. Ich liebe dich mehr als alles andere und das wird sich auch nicht ändern. Aber die Sache ist die, dass…“ Hier hielt er inne, denn er wusste nicht, wie er es genau erklären sollte. Er löste sich wieder von Simon und musste nachdenken, um eine verständliche Veranschaulichung zu finden. Dann aber schien er einen guten Vergleich gefunden zu haben. „Wenn du das Gefühl hast zu ertrinken, dann richtest du dich immer nach dem Licht denn du weißt, dass dort die Oberfläche ist und du gerettet wirst, wenn du in diese Richtung schwimmst. Du kannst auch jemand anderen retten, wenn er am Ertrinken ist. Aber wenn er immerzu weiterstrampelt und dich immer tiefer hinunterzieht, dann kannst du ihn nicht retten. Denn wenn du es versuchst, dann wirst du mit hinuntergezogen und ertrinkst. Ich kann versuchen, dich zu retten. Aber dazu musst du auch an die Oberfläche schwimmen wollen.“ „Ich will nicht ertrinken“, sprach Simon mit fast schon zitternder Stimme. „Ich will mich auch nicht mehr die ganze Zeit schlecht fühlen und mir selber leidtun. Ich bin müde vom traurig sein. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, als könne ich nicht zur Ruhe kommen oder all diesen ganzen Scheiß vergessen, wenn ich immer in derselben Umgebung bleibe! Es ist, als würde mir die Decke auf den Kopf fallen und mir die Luft zum Atmen nehmen. Aber das Problem ist, dass sowohl hier als auch bei Cypher und Hunter schlimme Dinge passiert sind und ich nicht zur Ruhe komme. Aber andere Orte gibt es nicht. Im Grunde waren dies die einzigen glücklichen Orte, die ich hatte. Und jetzt verbinde ich mit ihnen immer die Erinnerungen daran, wie Michael uns angegriffen hat.“ Stille trat ein und Simon war sich nicht sicher, ob er es Leron verständlich erklärt hatte. Nachdem er zuvor schon länger nachgedacht hatte, was er eigentlich brauchte, um sich besser zu fühlen, war er sich nun unsicher, ob er Leron damit auch noch belasten sollte. Immerhin hatte dieser im Moment genug Probleme am Hals und er wollte ihm nicht noch mehr aufbürden. Er erinnerte sich an die Diagnose und ihn überkam das schlechte Gewissen. „Tut mir leid, ich… ich will dir nicht noch mehr auflasten. Du hast mit deinem Vater und dem Konzern schon genug am Hals.“ Doch Leron schüttelte den Kopf und lächelte müde. „Du brauchst dich doch nicht dafür zu entschuldigen, dass du deine Wünsche und Probleme äußerst. Wir sind ein Paar und das bedeutet, dass wir uns umeinander kümmern. Ich denke auch, dass dir ein Tapetenwechsel gut tun würde, um auf andere Gedanken zu kommen. Zwar glaube ich, dass eine Therapie noch hilfreicher wäre, aber vielleicht fördert es auch deine Gesundheit ein wenig, wenn du eine kleine Luftveränderung bekommst. Zwar kann ich mich kurzfristig nicht frei machen, da ich noch die Übernahme organisieren und den Notar bestellen muss, Ich hatte auch schon überlegt, ob du vielleicht lieber mit deinem Bruder verreisen möchtest, aber Cypher ist auch im Moment zu sehr eingeschränkt weil er wegen der Augentropfen nichts sehen kann. Deswegen würde ich dich bitten, dich zumindest noch zwei Wochen zu gedulden. Ich werde versuchen, alles so schnell wie möglich unter Dach und Fach zu bringen und dann mit dir zusammen irgendwo hinfahren, damit du zur Ruhe kommst. Ich wünschte nur, ich könnte alles früher…“ Doch da unterbrach Simon ihn und schüttelte den Kopf. „Nein, es ist in Ordnung. Ich weiß, dass du hart arbeitest und du eine große Verantwortung hast. Ich erwarte auch nicht, dass du alles für mich stehen und liegen lässt. Deine Arbeit ist dir wichtig und es sind auch unzählige Arbeitsplätze von deinen Entscheidungen abhängig. Da wäre es nicht richtig, wenn ich mich so selbstsüchtig benehme.“ Und aus unverständlichen Gründen begann Leron amüsiert zu schmunzeln, was Simon ein wenig irritierte. Der Unternehmer schüttelte den Kopf und meinte schließlich „Ich verstehe einfach nicht, wie mein Vater solche Vorbehalte gegen dich und unsere Beziehung haben kann. Dir geht es so schlecht und trotzdem nimmst du so viel Rücksicht auf mich, dass ich echt ein schlechtes Gewissen bekomme, dass ich dir nicht so schnell helfen kann, obwohl ich es versprochen habe.“ Doch der 21-jährige schüttelte nur lächelnd den Kopf. Es stand ganz außer Frage für ihn, dass er niemals so weit gehen würde, dass er von Leron verlangte, sich zwischen ihm und dem Konzern zu entscheiden. Das wäre einfach nicht fair und außerdem wusste er ja, dass Leron stets sein Bestes gab, um beidem gerecht zu werden und sowohl Zeit mit ihm zu verbringen als auch seine Firma nicht zu vernachlässigen. Es bedeutete viel harte Arbeit und da mussten auch Kompromisse gemacht werden. Er liebte Leron und deswegen würde er ihm niemals etwas Derartiges abverlangen, dass der Unternehmer ihm zuliebe seine Geschäfte links liegen lassen ließ. Es machte ihn schon glücklich genug, dass Leron trotz seiner harten Arbeit immer genug Zeit und Energie fand, für ihn da zu sein. „Schon gut, du brauchst wegen mir kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich weiß ja, dass dir deine Arbeit wichtig ist und ich will dir da nicht im Weg stehen. Aber wie wäre es, wenn du dich gleich mal hinlegst und ausruhst? Du siehst echt aus, als könntest du etwas Schlaf vertragen.“ Leron bestritt das durchaus nicht. Und mit einem dankbaren Nicken gestand er „Dieser Tag war ein wenig nervenaufreibend gewesen. Willst du mitkommen oder möchtest du lieber alleine sein?“ Doch Simon ging lieber mit ihm und verbrachte den Rest des Abends zusammen mit Leron. Sie redeten nicht allzu viel. Das war auch nicht nötig. Ihnen reichte es einfach, den anderen bei sich zu wissen und wieder im Reinen miteinander zu sein. Und kaum, dass Leron es sich im Bett bequem gemacht hatte, während sich Simon an ihn kuschelte, waren ihm auch schon die Augen zugefallen und er selbst in einen tiefen Schlaf gefallen, dem ein seltsamer Traum folgte. Es war ein fremdartiger Ort und er spürte deutliche Beklemmung. Zwar war er schon mal hier gewesen, aber trotzdem fühlte es sich unheimlich an. Auch wenn kunstvolle Bilder an der Wand hingen und das Pflegepersonal freundlich lächelte und sehr zuvorkommend war, spürte er, dass dieser Ort von Tod erfüllt war. Das Gebäude selbst war sehr altmodisch eingerichtet und man sah, dass es hier an Geld fehlte. Die Gardinen waren kaputt und fleckig oder hingen nicht mehr richtig an den Stangen, die Sofapolster waren abgenutzt und manche Stühle waren kaputt. Obwohl die Leute hier nett waren, verstand selbst er, dass das hier kein schöner Ort zum Sterben war. Leron schluckte nervös und hielt die Hand des Butlers Anthony fest, der sie hierhergebracht hatte. Sein Blick wanderte zu Michael und Jordan, seine großen Brüder. Obwohl er Angst vor ihnen hatte, überkam ihn Besorgnis als er sah, dass sie beide Tränen in den in den Augen hatten. Schon auf der Fahrt hierher hatte Michael heftig geweint. Kaum, dass ein Anruf gekommen war und Anthony ihnen mit ernster Miene mitgeteilt hatte, sie müssten zum Hospiz kommen weil ihre Mutter im Sterben lag, hatte Michael völlig die Fassung verloren und lautstark gesagt, dass es nicht wahr sein könne. Jordan war ruhiger geblieben, doch auch er war kalkweiß geworden und hatte Anthony geschockt angestarrt. Leron selbst hatte kaum verstanden, was vor sich ging, wusste aber, dass etwas mit ihrer Mutter passiert war. Und nun, da sie im Hospiz waren, in welchem ihre Mutter eingewiesen worden war, überkam ihn Angst vor dem, was er sehen würde. Unsicher richtete er eine Frage an Jordan. „Was ist mit Mommy?“ „Sie stirbt bald“, erklärte sein Bruder mit zitternder Stimme. „Bald wird sie für immer weg sein.“ Schließlich öffnete die Pflegerin, welche sie durch das Gebäude geführt hatte, jenes Zimmer und trat ans Bett der Sterbenden heran. „Mrs. Evans, Ihre Kinder sind hier.“ Langsam drehte sich der Kopf seiner Mutter zu ihnen und ein müdes Lächeln lag auf ihren Lippen. Ihre goldgelben Augen glänzten vor Tränen und sie hob kraftlos die Arme wie sie es immer tat, um sie zur Begrüßung in den Arm zu nehmen. Hier konnte Leron nicht mehr an sich halten. Gemeinsam lief er mit seinen Brüdern zum Bett ihrer Mutter und umarmte sie. Dabei spürte er mit einem leisen Schrecken, wie kalt sie inzwischen war. Ihr Körper war abgemagert, ihr Gesicht eingefallen und totenbleich. Und doch wirkte sie so schön wie sie immer gewesen war. „Meine kleinen Engel“, sprach sie mit heiserer und schwacher Stimme. „Ich darf euch noch ein letztes Mal sehen…“ „Es wird alles gut werden, Mum“, schluchzte Michael heftig und Ströme von Tränen flossen seine Wangen hinunter. „Du musst nicht mehr alleine sein. Wir sind jetzt hier.“ Katherine lächelte und nickte. Doch es sah aus, als würde sie kaum noch mehr etwas wahrnehmen. „Es tut mir leid, dass ich nicht mehr länger für euch da sein kann. Ich wünschte… ich hätte noch länger an eurer Seite bleiben können. Ich habe alles getan um unsere Familie zu beschützen und euch eine gute Mutter zu sein. Leider… leider war ich nicht in der Lage, euch eine bessere Mutter zu sein. Ich… habe wirklich gekämpft… aber jetzt müsst ihr von nun an aufeinander aufpassen, hört ihr? Versprecht ihr mir etwas?“ Sie sah jeden Einzelnen von ihnen bittend an und sie alle drei nickten. Leron hörte den rasselnden Atem seiner Mutter und sah, wie ihr selbst das Sprechen immer schwerer fiel und sie dafür eine ungeheure Kraft aufwenden musste. Sie wandte sich zuerst an Michael und hielt seine Hand. „Michael, bitte pass gut auf deine Brüder auf. Du musst ganz stark sein und darfst nicht böse auf euren Vater sein, okay?“ Michael nickte schluchzend und umarmte seine Mutter noch einmal. Dann trat Jordan hervor, der sein Bestes versuchte, um sich zusammenzureißen. Dennoch rannen Tränen über seine Wangen, die seine Mutter ihm zärtlich wegstrich. „Jordan, du weißt, dass ich nie eine glückliche Familie hatte. Ihr seid alles, was ich mir jemals gewünscht habe und ich bin stolz darauf, dass ich euch habe. Versprich mir, dass du nicht dein ganzes Leben einsam bleibst, sondern dir eine liebevolle Familie schaffst und sie beschützt.“ Doch Jordan antwortete nicht. Er nickte nur und es war offensichtlich, dass er nur deshalb nichts sagte, weil zu befürchten war, dass er die Fassung wieder verlieren würde. Aber dann rang er sich doch noch dazu durch, umarmte seine Mutter und sprach „Ich werde aber nie jemanden so lieben wie dich, Mum.“ Leron hatte das Geschehen schweigend mit angesehen und wusste nicht, wie er das Ganze einzuordnen hatte. Das alles war ihm so fremd und er hatte seine Brüder, die ihn entweder ignorierten oder quälten, noch nie so gesehen. Und ihm dämmerte, dass er seine Mutter das allerletzte Mal sah und dass er sie danach nie wieder sehen würde. Nun kam er zu dem Bett und zärtlich strich diese schwache kalte und magere Hand über seinen Kopf, während die goldgelben Augen seiner Mutter ihn liebevoll aber auch unendlich traurig ansahen. Es lag so viel Schmerz und Kummer darin. „Ich wünschte, ich könnte dich noch aufwachsen sehen“, brachte sie mit immer schwächer werdender Stimme hervor. „Und du bist noch viel zu jung, um das alles hier zu verstehen. Aber versprich mir bitte, dass du nie dieselben Fehler machst wie Mommy, ja? Wenn du eines Tages jemanden findest, den du mehr liebst als alle anderen, dann musst du diese Person beschützen. Mommy war sehr lange Zeit einsam weil sie viele Fehler gemacht hat. Egal was auch passiert, du darfst niemals so werden wie Mommy. Lass dich niemals zu etwas zwingen, was du nicht tun willst, ganz egal wer es dir sagt. Sei schön brav und bitte werde niemals so wie ich… Wenigstens du sollst vollkommen frei von dem Fluch meiner Familie aufwachsen.“ „Mommy“, begann er zu schluchzen und verfiel in ein heftiges Weinen. „Bitte lass mich nicht allein!“ Schlagartig wachte Leron aus diesem Traum auf, als er hörte, wie jemand seinen Namen rief. Er öffnete die Augen und setzte sich auf und bemerkte erst jetzt, dass Tränen über seine Wangen liefen. Hatte er tatsächlich im Schlaf geweint? So etwas war ihm zuletzt passiert als er noch sechs Jahre alt war. Neben ihm saß Simon mit besorgtem Blick und legte einen Arm um seine Schultern. „Leron, was hast du? Du hast plötzlich angefangen im Schlaf zu weinen. Hattest du einen Alptraum?“ Doch der Unternehmer schüttelte den Kopf und versuchte sich wieder zu sammeln, aber der Traum wirkte immer noch stark nach. Bei einem Versuch, tief durchzuatmen, verfiel er fast in ein Schluchzen und immer noch verspürte er diese unendliche Traurigkeit, Hilflosigkeit und Verzweiflung, die er damals verspürt hatte. Dieser Traum war so real für ihn gewesen, als wäre er in der Zeit zurückgereist. Er brauchte einen Moment, um sich selber zu beruhigen und Simon, der seinerseits völlig ratlos war, brachte ihm ein Glas Wasser in der Hoffnung, dass dies vielleicht ein wenig helfen konnte. Leron nahm es dankend an und trank einen Schluck und tatsächlich beruhigte er sich wieder ein bisschen. „Ich hatte nur etwas aus meiner Vergangenheit geträumt. Ich glaube, der Nachmittag im Krankenhaus ist mir näher gegangen als gedacht.“ „Was war das für ein Traum?“, fragte sein Petboy ein wenig unsicher darüber, ob er diese Frage überhaupt stellen durfte. Nachdem Leron sein Glas geleert hatte, stellte er es auf dem Nachttisch ab und dachte wieder an den Traum zurück. „Ich habe von dem Tag geträumt, als meine Mutter im Hospiz gestorben ist.“ „Oh…“, murmelte Simon betroffen und nahm seine Hand. „Willst du darüber reden?“ „Da gibt es nicht viel“, gab Leron zu. „Unser Vater war zu dem Zeitpunkt arbeiten, als Anthony den Anruf von der Pflegeleitung bekam. Eigentlich wollte Mum ihre letzten Tage in ihrem Zuhause verbringen um bei uns zu sein, aber stattdessen wurde sie in ein ziemlich heruntergekommenes Hospiz abgeschoben. Du kannst dir ja inzwischen denken wieso. Jedenfalls ist Anthony dann mit uns dorthin gefahren, damit wir uns von ihr verabschieden konnten. Sie hat mit uns noch geredet und jedem von uns ein Versprechen abgenommen und wenn ich so darüber nachdenke, ergibt jetzt so einiges Sinn.“ „Wieso? Was habt ihr denn versprochen?“ „Michael sollte sich als großer Bruder um uns kümmern. Der Tod von Mum hat ihn am schwersten getroffen, weil er wirklich sehr an ihr gehangen hat. Er hat sie schon fast abgöttisch geliebt und hat Vater dafür gehasst, dass er weder für sie noch für uns da war. Jordan versprach ihr, eine Familie zu gründen. Und ich glaube, dass das der Hauptgrund war, warum er Evelyn damals geheiratet hat obwohl er sich immer wie ein Eisblock verhalten hat. Ich glaube, bei Mums Abschied war es auch das erste und einzige Mal, dass ich wirklich so etwas wie Gefühle bei ihm gesehen habe.“ Hier schwieg Leron und spürte wieder, wie sich seine Brust zusammenschnürte. Er war mit einem Male so überwältigt von seinen Gefühlen, dass er nicht wusste wohin mit ihnen. Simon versuchte ihn zu beruhigen und umarmte ihn. Doch es brachte alles nichts. Mit einem Male kamen ihn wieder die Erinnerungen von damals hoch. Wie seine Mutter geweint hatte, als sie die Diagnose erhalten und wie sie versucht hatte, ihren Kummer vor ihm zu verbergen. Ihr Zusammenbruch und die darauf folgende Einweisung ins Hospiz. Die Diagnose seines Vaters hatte diese alten verborgenen Erinnerungen wieder wachgerufen und diese waren nun wieder so klar und deutlich, als wäre all dies erst kürzlich geschehen. Vor allem aber hatte das Gespräch mit seinem Vater etwas ganz Bestimmtes wieder in ihn wachgerufen, was er längst vergessen hatte. „Ich… ich habe Mum damals versprochen gehabt, dass ich niemals dieselben Fehler mache wie sie. Sie wollte gar nicht, dass ich so werde wie sie. Sie… sie…“ Hieraufhin versagte ihm beinahe die Stimme und er musste noch mal durchatmen, um weiterzusprechen. „Sie hat mir gesagt, dass ich den Menschen, den ich liebe, mit aller Macht beschützen soll.“ „Dann hast du doch dein Versprechen gehalten“, sprach Simon beruhigend. „Du hast mich und auch wenn wir Probleme hatten, kriegen wir das schon wieder hin.“ Doch das war es nicht worauf Leron hinaus wollte. „Die ganze Zeit dachte ich, Mum wäre eine psychopathische Irre, die wahllos Menschen umgebracht hat. Aber… sie wollte uns nur beschützen. Und sie wollte gar nicht, dass ich so wie sie werde. Dabei ist sie mir immer anders erschienen.“ „Das waren Halluzinationen“, versuchte Simon zu erklären, wirkte aber ein wenig unsicher, wie er sich verhalten sollte. „Und die haben nichts mit der Realität zu tun. Hör mal, du bist ziemlich mit den Nerven durch, weil die Diagnose von deinem Vater alte Erinnerungen wach gerufen hat. Und die letzten Tage waren ziemlich anstrengend gewesen. Das Ganze ist so lange her und du hast doch alles richtig gemacht. Du bist nicht alleine und du hast dich behandeln lassen, als es dir schlechter ging. Du kannst wirklich stolz auf dich sein.“ Leron nickte und legte sich wieder hin, wobei er sich die Tränen wegwischte. Daraufhin kuschelte sich Simon wieder an ihn heran und gab ihm einen Kuss. „Das sind bloß die Nerven. Versuch ein bisschen zu schlafen. Du brauchst wirklich etwas Ruhe nach diesem nervenaufreibenden Tag.“ Und da wieder die Erschöpfung über ihn kam, schloss er die Augen, um wieder zurück in den Schlaf zu sinken. Doch da kam ihm eine Frage, auf die er wohl niemals eine Antwort bekommen würde; ob seine Mutter wohl stolz auf ihn gewesen wäre wenn sie sehen könnte, wohin er es gebracht hatte? Oder würde sie enttäuscht sein, wenn sie wüsste, dass er mit seinem Vater Frieden geschlossen hatte und nun dabei war, dessen Lebenswerk weiterzuführen? Kapitel 53: Simons Behandlung ----------------------------- Es war wesentlich ruhiger geworden und da Leron sich aufgrund seiner Erschöpfung und des Stresses nicht in der Lage gefühlt hatte, arbeiten zu gehen, hatte er sich für zwei Tage krankschreiben lassen, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Aber selbst in dieser Zeit war er nicht untätig geblieben. Er hatte viele Gespräche mit Simon geführt und sie beide waren sich wieder ein wenig näher gekommen, nachdem sie sich die letzten Tage fast nur gestritten hatten. Es tat ihnen beiden gut und Simon selbst nutzte diese Zeit seinerseits, um sich selbst so gut wie möglich zu erholen und dann wieder auf die Behandlung zu sprechen zu kommen. Obwohl er sich selbst nach zwei Tagen nicht sonderlich erholt hatte, wirkte er zumindest ein bisschen gesünder als zuvor. Nachdem er Leron noch ein klein wenig bearbeitet hatte, gab er nach und erklärte sich einverstanden, dass Simon sich der Augenbehandlung unterzog. Dies tat er aber auch nur nachdem er noch einmal Rücksprache mit Dr. Dawson gehalten und erfahren hatte, dass Cyphers Behandlung ohne die geringsten Komplikationen verlaufen sei. Ebenso hatte ihm der Augenarzt mitteilen können, dass selbst nach der Behandlung keinerlei Beschwerden aufgetreten seien und das Mittel auch tatsächlich anschlug. Auch wenn Cyphers Augen noch empfindlich auf das Sonnenlicht reagierten und er noch nicht ganz so gut sehen konnte, so war die weiße Schicht auf seinen Augen fast vollständig abgebaut und nur kleine weiße Stellen waren zurückgeblieben. Und auch diese wurden langsam immer kleiner. Zwar haderte Leron immer noch ein wenig mit der endgültigen Entscheidung, weil er immer noch fürchtete, dass irgendetwas Unvorhergesehenes passieren könnte. Insbesondere da Simon immer noch gesundheitlich angeschlagen war. Zwar hatte er kein hohes Fieber, aber er litt dennoch unter starker Müdigkeit und Erschöpfung, obwohl er fast zwölf Stunden geschlafen hatte. Doch der Augenarzt versicherte ihm, dass es keinen Grund zur Besorgnis gab, denn schwere Nebenwirkungen könnten nun ausgeschlossen werden. Also hatte auch für Leron die Sache festgestanden und er vereinbarte einen entsprechenden Termin. Doch so wirklich glücklich fühlte sich der Unternehmer nicht. Ihn beschäftigte da etwas, das mit seinem gestrigen Traum zu tun hatte. Und eine quälende Frage umkreiste seine Gedanken. So saß er grübelnd in der Küche und trank einen Kaffee, den der Butler Anthony frisch aufgebrüht hatte. Aber nach Frühstück war ihm nicht zumute. Simon seinerseits hatte sich zurückgezogen, um ein heißes Bad zu nehmen, von dem er sich erhoffte, dass es seinen Kreislauf ein wenig förderte. Eine Weile hatte er da gesessen und ins Leere gestarrt, bis der alte Engländer sich räusperte und sich die Frage erlaubte „Geht es Ihnen nicht gut, Mr. Evans? Wünschen Sie vielleicht eine Kopfschmerztablette?“ „Nein danke“, murmelte Leron geistesabwesend, während seine Gedanken weiterkreisten. Ich denke nur nach.“ „Geht es vielleicht um Mr. Cavanaugh?“ Hieraufhin wandte Leron den Blick zum Butler, der dies offenbar als stillen Tadel auffasste und mit einem Räuspern ergänzte „Entschuldigen Sie. Es steht mir nicht zu, nachzufragen. Ich bin nur ein wenig besorgt um Sie und Mr. Cavanaugh. Es ist leider keine einfache Zeit für Sie beide und ich sehe, dass es Ihnen und Mr. Cavanaugh nicht gut geht. Noch dazu kam diese traurige Nachricht von Ihrem Herrn Vater. Das ist wirklich sehr belastend.“ Doch auch das war es nicht, was Leron so nachdenklich stimmte. Und da er erkannte, dass er selbst durch Grübeln allein keine befriedigende Antwort erhalten würde, wandte er sich schließlich an Anthony und fragte „Sie sind schon seit knapp 30 Jahren Butler bei uns. Da müssen Sie meine Mutter doch eigentlich gut gekannt haben, oder?“ „Was heißt schon gut gekannt“, erwiderte Anthony und goss Leron noch etwas Kaffee nach. „Privat habe ich sie nie näher kennen gelernt und sie hat noch nie im Vertrauen zu mir gesprochen. Aber als Butler bekommt man so manche Dinge mit, wenn Sie verstehen was ich meine.“ Das genügte Leron schon und so wagte er es, mit ihm darüber zu sprechen. Denn bei Anthony konnte er sich sicher sein, dass er die Wahrheit unverfälscht und unparteiisch sagen würde, ohne irgendetwas zu verschweigen. „Ich habe letzte Nacht von dem Tag geträumt, als wir uns von unserer Mutter verabschiedet haben. Erinnern Sie sich noch daran?“ „Oh ja, das tue ich“, seufzte Anthony und faltete seine Hände. „Ihre Brüder hat es sehr schwer getroffen und Sie selbst waren damals noch ein Kind und haben kaum die Situation verstehen können. Es war ein sehr trauriger Abschied gewesen.“ „Mum sagte mir, dass ich niemals so enden soll wie sie“, fuhr Leron zögerlich fort. „Und sie hatte so traurig dabei ausgesehen. Ehrlich gesagt dachte ich bis vor kurzem noch, dass sie in Wahrheit eine geistesgestörte und sadistische Psychopathin ist so wie Michael. Aber inzwischen weiß ich selber nicht mehr, was ich glauben soll. Und Vater erzählt die Dinge aus seiner Sicht und inwiefern sie der Wahrheit entsprechen, kann ich auch nicht sagen, weil ich mich kaum an damals erinnern kann. Anthony, wer war meine Mutter wirklich? Sagen Sie es mir bitte.“ Hier schwieg der Butler grübelnd und fuhr sich mit einer Hand durch sein lichtes graues Haar. Er musste schon angestrengt nachdenken, denn die Erinnerungen an Katherine Evans lagen viele Jahre zurück und er wollte keine unüberlegten Aussagen treffen. Schließlich aber beendete er sein Grübeln und antwortete „Ihre Mutter war durch ein schweres Leben gezeichnet. Für gewöhnlich war sie eine freundliche und trotzdem schlagfertige Frau und ihre Kinder waren ihr ein und alles. Sie konnte jähzornig werden, aber sie hat auch mit sich gekämpft. Wie ich bereits sagte, habe ich sie im Privaten nie näher kennen gelernt, aber ich habe eine Szene gesehen, die mich zugegebenermaßen damals erschrocken hat.“ „Was ist passiert?“ „Sie führte Selbstgespräche“, erklärte Anthony. „Sie redete mit sich selbst und antwortete auch. Es schien, als wären da zwei Personen in einem Körper. Und wann immer sie alleine zu sein glaubte, stritt sie mit sich selbst. Dabei ging es vor allem um ihre Kinder. Verzeihen Sie, wenn ich vielleicht nicht den genauen Verlauf wiedergeben kann, aber ich weiß noch wie sie zu sich selbst sagte ich werde dich töten, wenn du meine Kinder anrührst. Ihre Mutter war schwer krank und hat bis zu ihrem Tod mit sich selbst gekämpft, um das zu beschützen, was sie geliebt hat.“ „Aber warum hat sie sich dann niemals Hilfe gesucht?“ fragte Leron verständnislos. „Ich meine… selbst damals hatte es doch mit Sicherheit Möglichkeiten gegeben, dass sie sich hätte behandeln lassen können.“ Hier aber lächelte der Butler milde, denn sein Erfahrungsschatz war bei weitem größer als Lerons und als Vater von Kindern hatte er zudem eine ganz andere Sichtweise. „Sie verstehen es vielleicht nicht, weil Sie selbst keine Kinder haben, Mr. Evans“, begann er zu erklären. „Aber wenn man Kinder hat und zudem unter einer unheilbaren und vor allem gefährlichen psychischen Krankheit leidet, entwickelt man Angst davor, sich Hilfe zu suchen.“ „Wie meinen Sie das?“ „Ihre Mutter hat Sie und Ihre Brüder mehr geliebt als alles andere. Sie war eine außerordentlich starke Frau, aber ihre größte Angst war, ihre Kinder zu verlieren. Ihre Mutter wusste selbst, dass sie krank war. Fast jeden Tag kämpfte sie gegen ihre Krankheit an und stritt sich mit ihr selbst, weil sie Angst hatte, dass sie eines Tages ihren Kindern etwas antun könnte. Aber stellen Sie sich mal vor, Sie haben eigene Kinder und die Behörden erfahren, dass Sie schreckliche Dinge tun und unter Wahnvorstellungen leiden. Glauben Sie wirklich, besagte Behörden würden Ihre Kinder bei Ihnen lassen, wenn Sie solch eine Gefahr für sich und andere darstellen?“ Hier musste Leron ihm zustimmen. Kein Jugendamt der Welt würde Kinder bei einer Mutter lassen, die klinisch verrückt war und nicht nur ihren Mann misshandelte, sondern auch Menschen tötete. Man hätte ihr sofort das Sorgerecht entzogen und dafür gesorgt, dass die Kinder von ihr fernblieben. Und nun begann sich Leron die berechtigte Frage zu stellen, was denn die richtige Lösung gewesen wäre. Sich Hilfe zu suchen und damit das einzige Glück verlieren, das man noch hatte, oder aber Tag für Tag mit sich selbst kämpfen um nicht die eigenen Kinder zu verlieren. „Wenn wir nicht gewesen wären, dann hätte sie sich vielleicht behandeln lassen…“ „Sagen Sie das nicht, Mr. Evans!“ erwiderte der Butler energisch. „Sie tragen keine Schuld an der Krankheit Ihrer Mutter und ihrer Entscheidung, sich nicht einweisen zu lassen. Wenn ich mir die Freiheit erlauben darf, meine Meinung zu sagen, dann hätte Ihre Mutter sich von Ihrem Vater trennen und sich bei einem anderen Mann eine helfende Stütze suchen sollen. Zwar hätte es ihre Krankheit nicht geheilt, aber womöglich so manche Symptome gelindert. Und womöglich hätte sie dann weniger Angst gehabt, sich Hilfe zu suchen. Aber wenn Sie meinen persönlichen Rat hören wollen, Mr. Evans: grübeln Sie nicht so viel über die Vergangenheit nach. Wir können sie nicht mehr ändern und Ihre Mutter hätte sicherlich nicht gewollt, dass Sie so viel über ihre Krankheit nachdenken. Man soll ab und zu den Toten gedenken, aber in erster Linie sollte man sich um die Lebenden kümmern. Über Ihre Mutter können Sie jederzeit nachdenken, aber Mr. Cavanaugh braucht Sie jetzt.“ „Da haben Sie wohl Recht“, gab Leron zu und trank seinen Kaffee aus. „Anthony, Sie sind schon so lange im Dienst meiner Familie und ehrlich gesagt habe ich Sie manchmal mehr als eine Vaterfigur angesehen als meinen Vater selbst. Und ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie all die Jahre hier waren und sich gut um Simon kümmern, wenn ich nicht da bin.“ „Es ist mir eine Freude, Mr. Evans“, antwortete Anthony darauf und war sichtlich glücklich über diese Worte. „Und ich hoffe wirklich, dass Sie und Mr. Cavanaugh auch diese Krisen gut überstehen und wieder zueinanderfinden. Liebe ist harte Arbeit und man wächst an den Hindernissen. Aber es werden irgendwann wieder bessere Zeiten kommen, dessen bin ich mir sicher. Und ich sehe, wie sehr Ihnen die Beziehung zu Mr. Cavanaugh gut tut.“ Das heiße Bad und der entspannte Einstieg in den Tag hatte Simon sichtlich gut getan. Obwohl er immer noch angeschlagen wirkte, so sah er deutlich weniger kränklich aus als in den letzten Tagen. Nachdem er mit dem Baden fertig war und angezogen hinunter in die Küche kam, begrüßte er Leron mit einer Umarmung und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Er ahnte nichts von dem Gespräch, welches der Unternehmer mit seinem Butler gehalten hatte und man sprach auch nicht darüber. Obwohl es schon fast Mittagszeit war, machte Anthony dem 21-jährigen das Frühstück fertig, während seinerseits nichts aß und stattdessen die Zeitung überflog. Mit einem liebevollen Vorwurf bemerkte Simon, während er sich Frischkäse auf sein Brötchen strich bevor er Gurkenscheiben darauf legte „Du solltest dir vielleicht mal angewöhnen, morgens zu frühstücken. Nur Kaffee trinken ist nicht gerade gesund.“ „Ach wirklich?“ fragte Leron herausfordernd. „In anderen Ländern scheint es auch zu funktionieren. Ich hatte noch nie wirklich viel von einem ausgiebigen Frühstück gehalten. Ein paar Tassen Kaffee reichen auch. Und? Wie fühlst du dich heute?“ „Ganz gut soweit“, antwortete Simon und biss ein Stück von seinem Brötchen ab. Er war wirklich dankbar für die Mahlzeit, denn er fühlte sich so ausgehungert, als hätte er seit Tagen nichts mehr gegessen. Und vor lauter Hunger hatte sogar schon sein Magen zu schmerzen begonnen. Er kaute gar nicht viel, sondern schlang regelrecht seine erste Brötchenhälfte hinunter und begann sogleich die andere Hälfte zu belegen. „Ich bin zwar noch etwas müde und der Magen hängt mir in den Kniekehlen, aber ansonsten geht es mir gut.“ „Das ist gut“, sagte der Unternehmer und faltete nun die Zeitung zusammen, bevor er sie beiseitelegte. „Dann fahren wir gleich zur Praxis von Dr. Dawson.“ Hieraufhin ließ Simon sein Brötchen sinken und starrte Leron ungläubig an. Er konnte noch gar nicht fassen, dass sein sehnlichster Traum nun zum Greifen nahe war und es trotz jahrelangem Wartens und unzähliger Opfer nun so plötzlich kam. Es war fast zu schön um wahr zu sein und für einen Moment überkam ihn sogar der Zweifel, ob er wirklich wach war oder dies alles vielleicht nur träumte. Er spürte sogar, wie sich wieder Tränen in seinen Augen zu sammeln begannen, aber nicht vor Traurigkeit, sondern vor Glück. Da er nicht wusste wie er mit seinen Gefühlen umgehen sollte, begann er hilflos zu lachen und die Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen. „Es ist schon verrückt… Obwohl ich mein ganzes Leben darauf gewartet habe, kommt das alles so plötzlich. Ich dachte fast schon, dieser Tag würde niemals kommen.“ Leron streichelte ihm zärtlich den Kopf und drückte ihn fest an sich, woraufhin Simon die Umarmung erwiderte. „Es ist alles in Ordnung, Simon. Ich will, dass du glücklich wirst und ich weiß, wie viel dir die Behandlung bedeutet. Du hast genug durchgemacht und ich freue mich auch wirklich für dich.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte der Unternehmer, wie Anthony mit einem gerührten Lächeln die beiden betrachtete, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmete, um das Mittagessen vorzubereiten. Liebevoll strich er durch das lockige dunkelbraune Haar des Jungen, musste aber mit Besorgnis feststellen, dass er sich immer noch kalt anfühlte. Es war glücklicherweise nicht mehr so schlimm wie an jenen Tagen, wo Simon mit hohem Fieber krank im Bett gelegen hatte. Aber er strahlte immer noch eine merkwürdige Kälte aus, die außer ihm nur Hunter bemerkte. Warum nur fühlte sich der Junge so kalt an, wenn er laut Diagnose von Dr. Morris nicht einmal unterkühlt war? Zwar waren sein Puls und seine Körpertemperatur niedrig und auch sein Herzschlag war ein wenig langsamer, aber nichts hatte auf eine ernste Krankheit hingewiesen. Das Ergebnis des Bluttests hatte außer einem Mangel an bestimmten Vitaminen nichts Auffälliges ergeben. Auf näheres Nachfragen hatte Leron erfahren, dass der Vitaminmangel zu einer Volkskrankheit gehörte und vielleicht das geschwächte Immunsystem erklärte, nicht aber den schwachen Puls und die recht niedrige Körpertempratur erklärte. Der Hausarzt konnte nur spekulieren, dass es daran lag, weil sich der Körper vom Fieber noch nicht erholt hatte, aber Leron seinerseits wusste es besser. Irgendetwas stimmte mit Simon nicht und anscheinend konnte selbst ein Arzt nicht genau feststellen, was ihm fehlte. Also hatte er sich an Cyphers Worte zurückerinnert, dass Simons Gesundheit vielleicht von seiner Psyche beeinflusst wurde und er deshalb so geschwächt war, weil er sich in einer depressiven Phase befand. Und so setzte er seine Hoffnung darin, dass es Simon besser gehen würde, wenn er endlich die Behandlung beginnen konnte. Einen Versuch war es immerhin wert und Leron war inzwischen so ratlos, was den Zustand seines Liebsten anging, dass er auch Versuche in diese Richtung machte, um ihm irgendwie helfen zu können. „Wenn du mit dem Frühstück fertig bist, fahren wir los. Aber lass dir ruhig Zeit.“ Doch wenn es nach Simon gegangen wäre, dann hätte er sein Frühstück so hastig wie möglich hinuntergeschlungen, aber das hätte ihm nur auf den Magen geschlagen und ihm noch schlimme Bauchschmerzen beschert. Also zwang er sich zur Ruhe und aß noch ein zweites Brötchen. Obwohl er bis vorhin noch unter solchen Hungerkrämpfen gelitten hatte, dass er vielleicht drei oder vier gegessen hätte, verspürte er vor lauter Aufregung keinen Hunger mehr. Nachdem er noch ein Glas Orangensaft getrunken hatte, eilte er wieder hoch in sein Zimmer, um sich fertig zu machen und beeilte sich dabei so sehr, dass ihm beinahe beim Treppensteigen der Kreislauf versagte und ihm kurzzeitig schwarz vor Augen wurde, sodass er sich am Geländer festhalten musste. Am Ende der Treppe war er völlig außer Atem und wankte mehr oder weniger in sein Zimmer. Doch er blieb nicht stehen und schaffte es mit Mühe in sein Zimmer. Nachdem er die Zähne geputzt, seine Jacke und Schuhe angezogen hatte, ging er wieder nach unten, wo Leron bereits auf ihn wartete. Der Unternehmer schaute ihn besorgt an und sagte „Du bist ziemlich blass. Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?“ Doch Simon winkte nur schwer atmend ab und erklärte „Ich habe mich nur ein klein wenig überanstrengt, das ist alles.“ Da er wohl Sorge hatte, dass der 21-jährige gleich vor Erschöpfung oder bedingt durch seinen schwachen Kreislauf kollabieren würde, nahm er seinen Arm um ihm ein wenig Halt zu geben. Sie gingen gemeinsam nach draußen und ein kalter Herbstwind wehte ihnen entgegen. Es fiel ein leichter Regen und hatte eine fast wohltuende Wirkung auf Simon. Ihm war, als würde die kalte und klare Luft seinen Kreislauf wieder ein wenig fördern, auch wenn das Gefühl täuschte. Gemeinsam gingen sie zur Limousine, wo bereits der Chauffeur wartete. Simon war als würde ihm das Herz bis zum Hals schlagen. Er war so fürchterlich aufgeregt, dass er sich nicht beruhigen konnte und nicht einmal ruhig auf seinem Platz sitzen konnte. Die Autofahrt schien sich ewig hinzuziehen und meistens sah er ungeduldig aus dem Fenster, um zu schauen, ob es noch lange dauerte. Nachdem er so lange gewartet und ausgeharrt und unzählige Opfer gebracht hatte, konnte es jetzt nicht schnell genug für ihn gehen. Es war als wäre all seine Geduld aufgebraucht. Unruhig kaute er auf seiner Unterlippe und musste von Leron beruhigt werden, denn dieser befürchtete, dass Simon sich noch überanstrengen würde. Als sie dann endlich die Praxis des Augenarztes erreicht hatten, war Simon der erste, der noch vor dem Chauffeur ausstieg. Er war ungeduldig wie ein Kind am Weihnachtsmorgen und es konnte ihm nicht mehr schnell genug gehen. Lerons Beschwichtigungen hörte er kaum und so musste der Unternehmer ihn ein wenig energischer zurückhalten. Gerade betraten sie die Arztpraxis, als plötzlich Leron stehen blieb, denn sein Handy begann zu klingeln. Er hielt kurz inne und sah, dass es sein Vater war. Sollte er rangehen oder nicht? Simon, der gemerkt hatte, dass sein Begleiter stehen geblieben war, blieb nun ebenfalls stehen und schaute ihn fragend an. „Was ist?“ „Mein Vater…“, antwortete Leron knapp. „Ich gehe eben kurz ran. Vielleicht ist ja etwas passiert.“ Damit drückte er auf den grünen Hörer und fragte sofort „Hey Vater, was ist los?“ „Du klingst gehetzt“, stellte Lionel am anderen Ende der Leitung fest. „Bist du irgendwo unterwegs?“ „Ich habe einen Termin. Was ist los? Warum rufst du an?“ „Ich habe den Notar bestellt und möchte, dass du zum Krankenhaus kommst, damit wir die Überschreibung so schnell wie möglich über die Bühne bringen können.“ Leron schaute zu Simon, der seinerseits besorgt wirkte, denn er befürchtete, dass sich vielleicht der gesundheitliche Zustand des alten Mannes verschlimmert haben könnte. Der Unternehmer seinerseits rieb sich die Augen und seufzte leise. „Das kann ich gerne machen, aber nicht jetzt. Ich begleite Simon gerade zu einem Termin und der ist sehr wichtig.“ „Und die Zukunft des Konzerns ist es nicht?“ entgegnete Lionel mit einer Gegenfrage. „Ich weiß zwar nicht, was es für ein Termin ist, aber der Junge ist kein Kind und so wichtig kann dieser Termin nicht sein, dass du dafür deine Arbeit vernachlässigst. Du vergisst, in welcher Lage wir uns befinden.“ „Ich habe es nicht vergessen, aber ich halte meine Versprechen und ich kann auch danach noch zum Krankenhaus kommen.“ „Der Notar kommt aber schon gleich und glaubst du, er wird so lange warten? Ich bitte dich, Leron. Komm zur Vernunft und überdenke mal deine Prioritäten.“ Aus irgendeinem Grund kam sich Leron hilflos und zerrissen vor. Auf der einen Seite wollte er unbedingt an Simons Seite sein, wenn dieser mit der Behandlung begann aber konnte er seinem totkranken Vater eine Abfuhr erteilen, nachdem sie sich beide ausgesprochen hatten? Er wusste es nicht und wäre in seiner Ratlosigkeit verblieben, wäre da nicht Simon zu ihm gekommen. Mit einem mitfühlendem Blick legte dieser eine Hand auf Lerons Schulter und sagte „Fahr du ruhig zum Krankenhaus. Ich kann das auch alleine machen.“ Doch sonderlich glücklich fühlte sich der Unternehmer nicht mit dieser Entscheidung. Ihm kam das schlechte Gewissen, denn er wusste, dass er Simon vernachlässigen würde und er fühlte sich, als hätte er diese Rücksichtnahme nicht verdient. „Simon…“ Doch der Angesprochene schüttelte den Kopf und versicherte ihm „Es ist in Ordnung. Es ist sicherlich wichtig für dich, oder? Ich kann nachher mit dem Taxi wieder nach Hause fahren.“ Nur mit Widerwillen gab Leron nach und schloss seinen Liebsten in die Arme, wobei er sich aufrichtig entschuldigte, nicht dabei sein zu können und bestand zumindest darauf, dass Simon später mit der Limousine nach Hause fahren würde. Er selbst fuhr mit dem Taxi. Simon selbst betrat nun allein die Praxis, nun nicht mehr ganz so euphorisch und ungeduldig. Dabei war er nicht einmal traurig darüber, dass Leron zum Krankenhaus gefahren war. Nun gut, er hätte es sich gewünscht, dass dieser bei ihm geblieben wäre, aber er hätte es nicht übers Herz gebracht, darauf zu bestehen, wenn Lerons Vater mit Krebs, zwei Tumoren und einer kaputten Leber im Krankenhaus lag und nicht mehr lange zu leben hatte. Aber er machte sich Gedanken. Er begann sich Sorgen zu machen und geriet wieder in ein tiefes Grübeln, welches all die Freude und allen Enthusiasmus, den er bis dahin verspürt hatte, völlig zerstörte. Und so kam es, dass er mit einer fast schon traurigen Miene das Behandlungszimmer betrat und Dr. Dawson begrüßte. Der Augenarzt war sichtlich besserer Laune und schien äußerst zufrieden zu sein. Immerhin hatte er etwas geschafft, was es zuvor wahrscheinlich noch nicht gegeben hatte und welcher Mensch freute sich nicht über eine Entdeckung, die zudem auch erfolgreich war? Mit einem strahlenden Gesicht drückte er Simons Hand zur Begrüßung und erkundigte sich nach seinem Wohlbefinden. Nachdem der 21-jährige ihm versichert hatte, dass es ihm gut ging, zeigte sich der Augenarzt noch zufriedener und erklärte mit Stolz „Das ist schön zu hören. Die Behandlung von Mr. Grant war auch ein voller Erfolg. Seine Augen haben sich weitgehend normalisiert und das nach nur zwei Tagen. Und wenn bei Ihnen alles genauso gut verläuft, dann dürfte alles auch so schnell passieren." Simon nahm auf dem Behandlungsstuhl Platz, auf dem zuvor schon Cypher gesessen hatte, empfand aber bei Weitem nicht die Angst, die sein älterer Bruder verspürt hatte. Ohne viel zu sagen ließ er Dr. Morris seine Augenlider fixieren, die Augen mit den Tropfen benetzen und spürte nicht einmal einen leisen Anflug von Furcht, als die Nadel zum Einsatz kam. Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte Simon keinerlei Angst vor Spritzen und nahm auch kaum den Stich wahr. Alles verlief schnell und unkompliziert und beinahe so erschreckend einfach, dass sich der 21-jährige für einen Moment erstaunt zu fragen begann, ob das schon wirklich alles war. Er hatte erwartet, dass die Behandlung, auf die er so lange hingearbeitet und gewartet hatte, etwas spektakulärer und aufwendiger sein würde. Und so fragte er verwundert „Das war es schon?“ „Ja, das war es“, bestätigte ihm Dr. Morris, als er ihm die Klammern wieder entfernte, nachdem er seine Augen noch mal mit den Tropfen benetzt hatte. „Sie wundern sich, dass es so schnell ging, nicht wahr? Nun, es war ja auch zum Glück nichts, was einer schweren Operation bedurft hätte. Sie müssen sich jetzt einfach nur etwas Zeit geben. Es dauert ein paar Tage, bis das Melanin vollständig abgebaut ist und Sie müssen sich schonen. Tragen Sie eine Sonnenbrille, wenn Ihre Augen direktem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Nehmen Sie täglich diese Augentropfen für die nächsten zwei Tage um jegliche Reizungen durch die Medikation zu vermeiden. Während dieser Zeit dürfen Sie auch weder Kraftfahrzeuge oder schwere Maschinen bedienen, weil das Sehvermögen deutlich eingeschränkt wird.“ Simon hörte sich die medizinische Belehrung aufmerksam an, ließ sich die Augentropfen mitgeben und bedankte sich bei Dr. Dawson. Da er kaum noch etwas sehen konnte, ging er langsam und bedächtig durch die Praxis, stieg vorsichtig die Stufen hinunter und ließ sich vom Chauffeur in den Wagen helfen, denn er konnte nicht einmal mehr den Griff der Wagentür sehen. Während sie wieder nach Hause fuhren, schweiften seine Gedanken wieder zu Leron und er fragte sich, wie das Gespräch mit seinem Vater wohl verlief. Denn ihn beschlich das Gefühl, dass da noch irgendetwas über sei hereinbrechen würde. Es war keine Gewissheit, sondern nur eine ungefähre Ahnung. Aber er machte sich ernsthaft Sorgen um Leron. Und kaum, dass diese Besorgnis über ihn kam, spürte er, wie er müde wurde und ihn langsam schleichend wieder seine Kräfte verließen, sodass er, kaum nachdem sie wieder zurück zur Villa gefahren waren, ohne die Hilfe des Chauffeurs kaum von seinem Platz aufstehen konnte. Kapitel 54: Der Einbrecher -------------------------- Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend war Leron mit dem Taxi zum Krankenhaus gefahren und ihn plagte das schlechte Gewissen. Warum nur hatte er sich dazu überreden lassen, zu seinem Vater zu fahren anstatt bei Simon zu bleiben? Und wie gerne wäre er wieder zurückgefahren um bei ihm zu sein. Aber konnte er seinen schwer kranken Vater links liegen lassen? Diese ganze Situation war schwierig für ihn und er wusste nicht, was die richtige Entscheidung gewesen wäre. Als er das Krankenhaus erreichte und den Taxifahrer bezahlt hatte, ging er direkt zum Krankenzimmer seines Vaters, wobei er erneut dieses flaue Gefühl in der Magengegend verspürte und ihm sogar schlecht wurde. Lionel saß aufrecht im Bett und sprach mit einem Mann um die vierzig, der aschblondes kurz geschnittenes Haar und kantige Gesichtszüge hatte. Er trug einen schwarzen Anzug und trug eine rahmenlose Brille. Lionel musterte seinen Sohn mit einem leicht strafenden Blick und sagte „Da bist du ja endlich. Darf ich vorstellen? Das ist Richard Kronenberg, mein Notar.“ Leron grüßte den Notar mit einem kräftigen Händedruck und wandte sich dann seinem Vater zu. „Hättest du mir nicht früher Bescheid sagen können, dass dein Notar heute kommt?“ Doch Lionel ließ sich nicht belehren und erklärte, dass er kurzfristig einen Termin bekommen hatte und Leron es sich als zukünftiger Konzernchef angewöhnen musste, angemessen auf solche kurzfristigen Termine zu reagieren und seine Prioritäten zu überdenken. „Ich habe zwar gesagt, dass ich akzeptiere, mit wem du auch immer dein Leben verbringst, aber wenn du den Konzern anständig führen willst, dann musst du dir im Klaren sein, was du willst und du musst auch Verantwortung übernehmen. Vor allem wenn es um notarielle Dinge geht!“ Leron seufzte geschlagen und sagte nichts mehr dazu. Er hatte ohnehin das Gefühl, dass es wohl nichts bringen würde, mit seinem Vater irgendwelche Diskussionen anzufangen. Also schluckte er seine Worte hinunter und versuchte sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Je schneller er hier fertig wurde, desto schneller hatte er diese Formalitäten hinter sich gebracht und konnte wieder zu Simon. „Also du hast den Notar kommen lassen, um die Übertragung der Firma über die Bühne zu bringen. Sind die Unterlagen schon fertig? In dem Fall würde ich sie gerne sehen.“ Hieraufhin reichte Mr. Kronenberg ihm die Dokumente und er begann alles genau durchzulesen. Jeder Paragraph und jeden einzelnen Abschnitt las er sich genau durch, um auch nichts zu übersehen und nicht irgendwann noch unliebsamen Überraschungen zu begegnen. Im Großen und Ganzen klang alles vernünftig. Sein Vater übertrug ihm die Firma mit dem dazugehörigen Anlage- und Umlaufvermögen sowie allen Verbindlichkeiten. Auch Forderungen gegenüber Kunden und sämtliche Verantwortungen. Auch das Eigenkapital wurde ihm überschrieben abzüglich des eingesetzten Kapitals der Gesellschafter. Alles klang vernünftig und legitim, bis er schließlich an einem Punkt hängen blieb, der ihn mehr als stutzig machte. Es war ein Paragraf, der besagte, dass er auf das Recht verzichtete, die Firma an Dritte zu verkaufen. Dieser Paragraf verwirrte ihn und er ließ das Schriftstück sinken. „Wieso soll ich auf das Recht verzichten, die Firma zu verkaufen?“ „Ich will nur sicher gehen, dass du mein Lebenswerk nicht einfach so verkaufst. Du hast schon in der Vergangenheit des Öfteren solche Drohungen verlauten lassen, dass ich mich leider nicht darauf verlassen kann, dass du die Firma nicht bei der nächstbesten Gelegenheit auflöst und liquidierst, wenn ich sie dir überlasse.“ „Aber das ist doch lächerlich“, erwiderte Leron energisch. „Angenommen der unglückliche Fall trifft ein, dass die Firma Verluste macht und sie ist nicht mehr haltbar. Spätestens dann muss ich verkaufen, ganz gleich ob ich will oder nicht. Es macht doch keinen, eine Firma selbst dann zu behalten, wenn sie entweder finanziell nicht mehr tragbar ist oder ich eines Tages nicht mehr in der Lage bin, sie weiterzuführen.“ „Und welche Sicherheit habe ich, dass du meine Firma nicht einfach so verkaufst, weil dir danach ist und du damit zerstörst, was ich mir in jahrelanger harter Arbeit aufgebaut habe?“ Irgendwie hatte Leron das Gefühl, als wäre ein vernünftiges Gespräch mit seinem Vater nicht möglich und als würde er sich mit einem trotzigen Jungen unterhalten. Zwar wusste er, dass sein Vater sehr an seiner Firma hing, aber das hier grenzte schon fast an Verrücktheit. Wurde sein Vater etwa noch verschroben? So etwas konnte er nun wirklich nicht gebrauchen. Vor allem weil er genug andere Sorgen hatte. „Ich habe mein eigenes Unternehmen bis jetzt auch noch nicht verkauft. Und ich muss etwas klarstellen: ich habe nur mit dem Verkauf gedroht, weil du Michael nicht unter Kontrolle bekommen und stattdessen seine ganzen kriminellen Vergehen vertuscht hast. Nenne mir einen Grund, wieso ich die Firma verkaufen sollte, obwohl sie hervorragend läuft?“ Doch Lionel wirkte nicht sonderlich überzeugt und schien sich regelrecht in die Idee hineingesteigert zu haben, sein jüngster Sohn würde einfach die Firma verkaufen. Und allmählich verlor Leron die Geduld mit ihm. Auch wenn sein Vater todkrank war, sah er nicht ein, warum er diesen Zirkus mitmachen sollte. Also versuchte er ihn zur Vernunft zu bringen und erklärte ihm „Solch ein Paragraf ist auch nicht rechtens und das müsstest du selber wissen. Und wie gesagt: nenne mir einen Grund warum ich die Firma einfach so grundlos verkaufen sollte.“ Hieraufhin schwieg Lionel und obwohl er danach aussah, als ob er einen Grund nennen konnte, der Leron zum Verkauf bewegen könnte, schwieg er. Stattdessen beäugte er seinen Sohn misstrauisch und ließ nur ein missmutiges Grummeln vernehmen. „Dann versprichst du mir also, dass du die Firma nicht aus persönlichen Gefühlen oder aus Trotz heraus verkaufen wirst? Schwörst du es?“ „Ich verspreche es“, beschwichtigte Leron ihn. „Vertraust du mir etwa so wenig?“ Wieder schwieg Lionel und Leron versuchte das Ganze mit Gelassenheit zu sehen. Er wollte sich nicht noch mehr ärgern, wo seine Nerven ohnehin schon etwas angespannt waren. Also versuchte er ruhig zu bleiben und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Wenn er diesen Zirkus hinter sich hatte, konnte er wieder nach Hause und sehen wie es Simon denn ging und ob die Behandlung gut verlaufen war. Während Leron mit seinem Vater über die weiteren Details über die Firmenüberlassung sprach und dabei noch viele Diskussionen über sich ergehen lassen musste, war Simon inzwischen wieder zuhause und hatte sich ein wenig hingelegt, da sein Kreislauf sich erheblich verschlechtert hatte. Und da er aufgrund der Augentropfen ohnehin kaum etwas sehen konnte, war da auch nicht viel, was er tun konnte. Also hatte er sich hingelegt und Musik gehört. Zwischendurch war er in einen leichten Schlaf versunken, in welchem er einen seltsamen Traum gehabt hatte, der hauptsächlich aus wirren und unzusammenhängenden verrückten Erlebnissen bestand. Und als er wieder aufgewacht war, konnte er sich sowieso nicht mehr daran erinnern, was er denn eigentlich geträumt hatte, was meist ein Zeichen dafür war, dass er sowieso nicht so wichtig gewesen war. Als er knapp eine Stunde später wieder aufgewacht war, fühlte er sich noch erschöpfter als vorher, aber dann überkam ihn Langeweile und so beschloss er, seinen Bruder anzurufen. Dummerweise konnte er so gut wie gar nichts sehen, weil seine Sicht völlig verschwommen war. Er musste die Handynummer manuell eintragen und verwählte sich mindestens sechs Mal bis er es endlich geschafft hatte. Es dauerte eine Weile, bis er Cyphers Stimme hörte. „Hey Bruderherz, alles okay bei dir oder drückt dir irgendwo der Schuh?“ Wie immer klang Cypher ziemlich gut gelaunt. Das war schon fast beneidenswert. Aber die fröhliche Stimme seines Bruders zu hören, besserte auch seine eigene Stimmung ein wenig und er konnte nicht anders als zu schmunzeln. „Hallo Cypher. Ich komme gerade vom Augenarzt und bin jetzt so ziemlich blind wie ein Maulwurf.“ „Ja davon kann ich ein Lied singen“, seufzte der 25-jährige wehleidig. „Und das Dumme war, dass wir die ganze Zeit Fast Food essen mussten, weil ich nichts sehen konnte und Hunter nicht kochen kann. Inzwischen kann ich keine Pizza und keine gebratenen Nudeln mehr sehen. Und wie schaut es bei dir aus? Kümmert sich Leron liebevoll um dich?“ „Noch nicht“, gab Simon zu. „Er hatte einen Anruf von seinem Vater aus dem Krankenhaus bekommen und ist hingefahren. Es schien ziemlich wichtig zu sein.“ „Hm…“ Der Künstler schien nachzudenken und klang ein wenig skeptisch bezüglich Simons Aussage. Aber dann schlug er schließlich vor „Find ich schon ein bisschen doof, dass er dich versetzt hat. Aber du hast ja gesagt, dass sein Vater schwer krank ist, hätte ich vielleicht auch nicht anders entschieden. Naja, darüber nachdenken macht jetzt auch keinen Sinn. Soll ich nachher mit Hunter vorbeikommen, damit du nicht so einsam bist? Ist immer noch besser als alleine zuhause zu hocken und nichts tun zu können, weil man zu einer Teilzeit-Blindschleiche geworden ist.“ Dem konnte Simon nichts entgegensetzen und er freute sich immer, wenn Cypher und Hunter zu Besuch kamen. So brauchte er sich zumindest nicht langweilen. Aber jetzt sollte er wohl besser Anthony Bescheid sagen, dass Besuch kommen würde. So schlecht wie sein Sehvermögen momentan war, bezweifelte er sogar, dass er Cypher und Hunter erkennen würde, wenn sie vor ihm stehen würden. Also verließ er sein Zimmer wieder, um Anthony zu suchen. Langsam tastete er sich voran, um sich bloß nicht irgendwo zu stoßen. Die nächsten Tage würden definitiv noch schwierig für ihn werden und als er sich so langsam den Flur entlangtastete, überkam ihn eine nervöse Unruhe. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, so vollkommen hilflos zu sein. Und irgendwie überkam ihn gerade in dem Moment, als er langsam Stufe für Stufe hinunterstieg, ein ungutes Gefühl. Es war totenstill in der Villa. Obwohl das eigentlich nichts Ungewöhnliches an sich war, überkam ihn wieder Angst. Das alles erinnerte ihn zu sehr an jenen Tag, als Michael Leron überwältigt und ihn mit dem Taser attackiert hatte. Hastig schüttelte er den Kopf und versuchte den Gedanken schnell wieder zu verdrängen. Es gab keinen Grund, sich um so etwas Gedanken zu machen. Michael war tot und konnte ihm nichts mehr anhaben! Und es gab niemanden, der einen Grund hätte, ihn hier zu überfallen. Zumindest fiel ihm niemand ein, der einen Grund hätte, hier einzubrechen und ihn anzugreifen. Er steigerte sich mal wieder zu sehr in irgendwelche Dinge rein. Also atmete er tief durch und schaffte es unbeschadet die Treppen hinunter. „Anthony?“ rief er und ging zuerst in Richtung Küche. Vielleicht war der Butler gerade dort. „Anthony, wo sind Sie?“ Er hörte, wie der Kühlschrank in der Küche zugeknallt wurde. Hier blieb er stehen und begann sich zu wundern. Hatte der Butler ihn nicht gehört? „Anthony?“ rief er nun lauter und ging langsam weiter in Richtung Küche. Doch er erhielt keine Antwort. Wieso antwortete Anthony nicht? Plötzlich stieß Simon gegen etwas, das auf dem Boden lag. Abrupt blieb er stehen und spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Er schaute zu Boden, konnte aber kaum etwas sehen, weil alles so völlig verschwommen war. Für einen Moment war er wie erstarrt, doch dann überkam ihn ein grausiger Verdacht. Langsam beugte er sich hinunter und tastete nach dem Hindernis, was ihm im Weg lag. Sein Herz setzte einen Schlag aus als er den Stoff von Kleidung ertasten konnte, genauso wie einen Körper. Jemand lag auf dem Boden direkt vor ihm. Entweder bewusstlos oder sogar… Simon konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, als auch schon Schritte näher kamen. Er wich zurück und dachte daran, sich schnell ein Versteck zu suchen, doch in seiner Panik hatte er seinen Orientierungssinn völlig verloren und dass er nicht einmal sehen konnte, wer da gerade aus der Küche kam, machte es nicht besser. „Ah, da bist du ja!“ hörte er jemanden rufen. Die Stimme kam ihn ein wenig vertraut vor und sie wirkte gut gelaunt, aber das machte es nicht besser. „Das hat ja alles schneller geklappt als ich gedacht habe. Trifft sich ja super, ich habe mich eh gelangweilt. Und wo du schon mal hier bist, kannst du ja gleich mitkommen.“ „Wer… wer sind Sie?“ fragte Simon mit zitternder Stimme und wich weiter zurück. „Was haben Sie mit Anthony gemacht?“ „Bleib mal locker, ich habe ihm ja nicht gleich den Schädel eingeschlagen, okay? Und wenn ich du wäre, dann würde ich mich wieder beruhigen und schön brav mitkommen. Ansonsten machst du es nicht mehr sehr lange.“ Er will mich entführen, schoss es Simon durch den Kopf und Panik überkam ihn. Er hat Anthony niedergeschlagen, weil er hinter mir her ist. Aber wer ist der Kerl bloß und was will er von mir? Will er etwa Geld von Leron erpressen? Es hatte keinen Zweck, jetzt über so etwas nachzudenken. Er musste so schnell wie möglich von hier weg, vor allem weg von diesem Verrückten. Simon drehte sich um und rannte los. Wohin er genau rannte, konnte er nicht sehen. Aber Hauptsache war, er entkam diesem verrückten Einbrecher irgendwie. Um Hilfe rufen hatte eh keinen Zweck. Hier würde ihn sowieso niemand hören. Simon stolperte blindlings den Flur entlang in der Hoffnung, irgendwie zur Haustür zu gelangen. Vielleicht hatte er ja eine Chance, wenn er auf die Straße gelangte und dort versuchte, ein vorbeifahrendes Auto anzuhalten und um Hilfe zu bitten. Alles war besser als hier zu bleiben. Er hörte die Schritte seines Verfolgers und nackte Todesangst überkam ihn. „Hey, bleib stehen!“ rief der Einbrecher ihm zu, doch Simon lief weiter. Obwohl er alles nur völlig verschwommen sah, glaubte er schon fast an der Haustür zu sein, als plötzlich der Einbrecher hinter ihm „Sally, halt ihn auf!“ rief. Sally? War da etwa noch jemand? Als Simon um die Ecke bog, wo sich die Haustür befand, tauchte plötzlich ein pechschwarzer Schatten auf und versperrte ihm den Weg. Obwohl er nichts Genaueres sehen konnte, spürte er eine eiskalte und unnatürliche Präsenz und wie er eine Gänsehaut bekam. Zwei kleine rote Lichter leuchteten auf und daraufhin setzte irgendetwas in dem 21-jährigen aus. Selten in seinem Leben hatte er je so eine schreckliche Angst verspürt. Er wollte schreien, doch ein eiskalter Hauch sog ihm regelrecht die Luft aus den Lungen, sodass von seinem Entsetzensschrei nur noch ein ersticktes Röcheln blieb. Ihm wurde augenblicklich schwarz vor Augen und er verlor das Bewusstsein. Mit einem skeptischen Blick sah Azarias auf den bewusstlosen und kreidebleichen Simon, der regungslos auf dem Boden lag. Na das war jetzt nicht so unbedingt gelaufen wie er sich vorgestellt hatte. Kurzerhand kniete er sich vor ihm hin und stupste ihn mit dem Baseballschläger an wie ein Kind, welches mit einem Ast ein totes Tier anstupste um zu schauen, ob es sich vielleicht noch bewegte. Aber da war nichts zu machen. Der arme Kerl war erst mal komplett weggetreten und würde auch so schnell nicht mehr aufwachen. Nicht nach dem Heidenschreck, dem seine Komplizin ihm eingejagt hatte. „Na das hätte wirklich besser laufen können“, murmelte er und seufzte. „Erst erschreckt mich dieser olle Pinguin und dann rennt dieser Blindfisch hier auch noch weg. Also echt mal, Sally. Musstest du gleich so grob zu ihm sein?“ Damit wandte er sich an das kleine Mädchen, vor welchem Simon bewusstlos zusammengebrochen war. Sie war nicht älter als zehn oder elf Jahre und hatte langes, lockiges schwarzes Haar und rubinrote Augen. Es war jenes Mädchen, welches Simon zusammen mit Elion Witherfield am Hause von Lerons Vater getroffen hatte. Als sie den Vorwurf hörte, der an sie gerichtet war, drehte sie sich sofort zu ihm um, verfinsterte den Blick und ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten, als wolle sie sagen „Das Ganze war ja wohl in erster Linie deine Idee! Wer ist denn auch so bescheuert und macht so etwas und glaubt dann auch tatsächlich, dass es funktioniert?“ doch sie sagte nichts. Aber dennoch schien Azarias genau zu wissen, was sie sagen wollte. Mit einem missmutigen Grummeln wischte er sich ein paar Strähnen seines rotbraunen Haares aus dem Gesicht und starrte seine kleine Komplizin mit seinen hellgrünen Augen an. „Ich bin ja auch verrückt, ansonsten hätte ich das ja wohl kaum gemacht, du Genie. So und was jetzt? Wenn Lotta Wind davon kriegt was wir hier angestellt haben, gibt das noch megamäßig Ärger. Aber liegen lassen können wir ihn ja wohl auch nicht. Also… wie wäre es, wenn wir einfach sagen, es war deine Idee?“ Doch hieraufhin verschränkte Sally die Arme und ihre Miene sagte ganz klar „Das kannst du vergessen!“ und sie wirkte alles andere als erfreut über diese Idee. Hier begann Azarias wieder zu überlegen, um einen anderen Weg zu finden, sich aus der Verantwortung zu ziehen. „Na schön. Dann sagen wir halt einfach, der olle Pinguin ist in meinen Baseballschläger gerannt und der Blindfisch hier ist von alleine umgekippt. Klingt doch ganz plausibel, oder? Was meinst du?“ Das Mädchen zeigte ihm lediglich den Vogel um zu verdeutlichen, wie schwachsinnig diese Idee war. Sie schien immer ungehaltener über diese Diskussion zu werden und ihre Augen funkelten gefährlich, doch das schien Azarias gar nicht zu registrieren und so entgegnete er beleidigt „Ich bin unzurechnungsfähig, was hast du denn erwartet was ich mir für tolle Wahnsinnspläne aus dem Hut zaubere?“ Sally sagte nichts dazu, wobei sie nur seufzend den Kopf schüttelte und sich die Handfläche gegen die Stirn schlug. Doch Azarias schien sich seiner Sache sicher zu sein und blieb optimistisch. „Das klappt schon. Und wenn nicht, dann sagen wir halt, dass es Aliens waren. Irgendwas wird schon funktionieren. Aber erst mal sollten wir das Dornröschen hier mal wegbringen. Eigentlich wollte ich ihn ja nach Annatown mitnehmen damit sie ihn dort behandeln können, aber ihn alleine den ganzen Weg nach Ohio zu schleppen ist auch ein bisschen anstrengend. Und zu Lotta gehen ist genauso bescheuert. Wenn die erfährt, dass die ganze Sache aus dem Ruder gelaufen ist, wird sie garantiert böse werden. Also wie wäre es, wenn du mir ein bisschen zur Hand gehst?“ Doch ein Kopfschütteln kam zur Antwort, woraufhin sich das schwarzhaarige Mädchen mit den roten Augen von ihm abwandte. Hieraufhin zog Azarias eine Schmollmiene. „Nur weil du ein Schatten bist, heißt das noch lange nicht, dass du mir nicht wenigstens ein bisschen helfen könntest! Das Ganze ist ja ein Stück weit auch deine Schuld! Erstens hast du ihn ausgeknockt und zweitens hast du es nicht mal für nötig gehalten, einen unzurechnungsfähigen Verrückten wie mich davon abzuhalten, in ein Haus einzubrechen und einem alten Mann den Schädel mit einem Baseballschläger einzuschlagen. Bin mal gespannt wie du Lotta das erklären willst.“ Aber es war nichts zu machen. Sally ließ sich nicht umstimmen und zeigte sich nicht gewillt, ihrem Begleiter auch nur ein Stück weit zu helfen, den Mist auszubaden, den er in erster Linie verzapft hatte. Also gab sich der 22-jährige geschlagen und versuchte den bewusstlosen Simon hochzuhieven, doch er musste schnell feststellen, dass dieser wesentlich schwerer war als erwartet. Und die ganze Strecke zurück nach Annatown mit ihm auf dem Rücken zurückzulegen, konnte er sich auch abschminken. Also irgendwie war sein schöner Plan ganz anders verlaufen als erwartet. Dabei hatte er doch alles richtig gemacht. Er war ins Haus eingestiegen und hatte Simon gesagt dass er mitkommen sollte, wenn er nicht sterben wollte. Der Plan war idiotensicher gewesen. Wieso zum Teufel war dieser Trottel auch vor ihm davongelaufen, anstatt auf ihn zu hören? Wenn er ihn nicht aufgehalten hätte, wäre dieser Blindfisch doch sowieso in das nächstbeste Auto gelaufen und wäre mit Knochenbrüchen im Krankenhaus gelandet. Dieses Mal konnte er ja wohl kaum dafür verantwortlich gemacht werden, dass alles schief gelaufen war. Warum nur hörten die Leute auch nie auf die Worte eines bewaffneten Verrückten? Das Ganze war ihm unverständlich. „Manche Leute sind einfach nur verdammt blöd, nicht wahr Sally?“ Doch die Angesprochene starrte ihn nur mit einem skeptischen Blick aus den Augenwinkeln an und schüttelte den Kopf. Schmollend entgegnete er daraufhin „Ich mag zwar verrückt sein, aber ich bin nicht bescheuert! Der Plan war idiotensicher!“ „…“ „Das mit dem nicht verrücktensicher nimmst du gefälligst zurück!“ Doch bevor sie ihre kleine Auseinandersetzung fortführen konnten, öffnete sich plötzlich die Tür und niemand anderes als Cypher und Hunter standen im Türrahmen. „Was zum…“ war alles, was Cypher hervorzubringen vermochte. Verdutzt starrte Azarias sie an, denn er hatte nicht gerechnet, dass die beiden so schnell hier aufkreuzen würden. Und jetzt war es auch zu spät. „Oh fuck…“ murmelte nur. „Lotta wird mich so was von umbringen…“ Kapitel 55: Heilloses Durcheinander ----------------------------------- Die Zeit schien wie angehalten, als sich die vier einander erstaunt und erschrocken zugleich anstarrten. Sally, die die Einzige zu sein schien, die das Ganze herzlich wenig kümmerte, wirkte relativ desinteressiert und unbeeindruckt von dieser plötzlichen Begegnung. Doch derjenige, der wohl am meisten unter dem Schreck dieses Anblicks zu leiden hatte, der sich bot, war Cypher. Der Anblick seines bewusstlosen Bruders, den ein fremder Junge wegzuschleifen versucht hatte, ließ ihm fast das Herz stillstehen. Zwar konnte er immer noch nicht genau sehen, doch die Situation war für ihn eindeutig und er zögerte nicht, sofort einzugreifen und packte Azarias am Kragen. „Wer bist du und was hast du mit meinem Bruder gemacht?“ Er ließ ihn jedoch nicht ausreden und wandte sich sofort an Hunter, der etwas erstaunt die Augenbrauen hob, jedoch still geblieben war so wie er es meistens war, weil ihm Worte nicht lagen. „Hunter, halt diesen Kerl fest! Ich rufe auf der Stelle die Polizei.“ „Och nee, nicht die Bullen“, nörgelte Azarias und wandte sich an Sally. „Na da siehst du, wohin uns dein schwachsinniger Plan gebracht hat. Nicht nur, dass Lotta mir die Leviten lesen wird wenn sie hiervon spitzkriegt, jetzt kriegen wir auch noch Stress mit den Cops.“ Doch das Mädchen zeigte ihm nur mit einem finsteren Blick den Mittelfinger. Azarias versuchte, sich aus Cyphers Griff zu befreien, doch der Künstler, der einfach nur Angst um seinen Bruder hatte, hielt ihn fest. Doch eine falsche Bewegung ließ ihn plötzlich vor Schmerz aufstöhnen und zusammenkrümmen und das gab Azarias die perfekte Gelegenheit, ihn von sich zu stoßen und zurückzuweichen. Die ganze Situation war drauf und dran, komplett außer Kontrolle zu geraten und er begann langsam zu begreifen, dass er irgendetwas machen musste, um das Missverständnis aufzuklären. Und da Cypher nicht wirklich der beste Ansprechpartner dafür war, wandte er sich stattdessen an Hunter. „Hey Hunter, ich weiß das ist echt ein doofes Timing, aber könntest du deinen Freund mal zurückpfeifen? Nicht, dass er sich noch weiter wehtut mit der Verletzung.“ Stumm nickte der Bildhauer und legte einen Arm um Cypher um ihn zu beruhigen. Es war zwar schon viele Jahre her, aber diese Augen und diesen Ausdruck von kindlichem Wahnsinn darin hätte er unter tausenden wiedererkannt. Na wenigstens erkannte er ihn und er musste sich nicht extra vorstellen, um Hunters Erinnerungen aufzufrischen. Zumindest lief eine einzige Sache nicht komplett schief. „Alles ist gut, Cypher. Das ist Azarias.“ „Azarias?“ Cypher verstand zuerst nicht, begann dann aber langsam zu begreifen, wer dieser rätselhafte Junge war und beruhigte sich langsam wieder. Aber trotzdem wusste er nicht, wie er die ganze Situation einordnen sollte. Also ließ er sich erst einmal darauf ein, dass die Erklärung auf später verschoben wurde und sie sich zuallererst um Simon kümmerten. Hunter trug den Bewusstlosen ins Wohnzimmer und legte ihn auf die Couch. Im Anschluss kümmerte er sich um Anthony, der inzwischen wieder zu sich gekommen war, jedoch eine blutende Wunde am Kopf hatte und sich nicht sonderlich gut fühlte. Da zur Befürchtung stand, dass der rüstige Butler eventuell eine Gehirnerschütterung erlitten hatte, wurde ein Krankenwagen gerufen und Hunter blieb solange bei ihm. Cypher blieb währenddessen bei Simon, Azarias und Sally. Er war immer noch unsicher, wie er die ganze Situation einordnen sollte und verlangte eine vernünftige Erklärung. Ohne große Umschweife fragte er „Warum bist du hier und was hast du mit Simon gemacht?“ Azarias, der es sich im Sessel bequem gemacht hatte, kramte einen Lollipop aus seiner Hosentasche heraus und entfernte das Papier. „Ich wollte Simon nach Annatown holen, aber er wollte nicht. Er ist durchgedreht und panisch weggelaufen. Und da ich Lotta versprochen habe, dass ich keinen Ärger verursache, habe ich Sally gesagt, sie soll ihn aufhalten. Wenn er einfach so auf die Straße gerannt wäre, dann wäre diese blinde Knalltüte vors nächste Auto gelaufen und mit Knochenbrüchen im Krankenhaus gelandet. Aber keine Panik, dem fehlt nichts. Der ist einfach nur bewusstlos. Sally hat ihn nur ausgeknockt, das ist alles.“ „Du wolltest ihn entführen?“ Entnervt seufzte der 22-jährige mit den smaragdgrünen Augen und begann auf seinem Lollipop herumzukauen. „Warum geht man immer davon aus, dass man jemanden entführen will, nur weil man klinisch verrückt und in die Bude eingebrochen ist? Nur um das klarzustellen: ich habe nicht versucht, ihn zu kidnappen. Ich wollte ihn nach Annatown bringen, weil er es nicht mehr lange macht, wenn er hier bleibt. Außerdem wollte er doch sowieso dorthin.“ Stille trat ein und fassungslos starrte Cypher Azarias an. Zwar wusste er, dass es nicht sonderlich gut um Simons Gesundheit stand, aber dass es in Wahrheit so schlecht um ihn bestellt war, dass er sterben würde, hatte er nicht gedacht. Für einen Moment war ihm, als würde er den Boden unter den Füßen verlieren. „Simon wird sterben? Woher willst du das wissen?“ „Weil ich den siebten Sinn besitze“, erklärte Azarias in einer desinteressierten Art als wäre es das normalste auf der Welt. Er zeigte sich auch nicht sonderlich bewegt von Cyphers Fassungslosigkeit und wirkte erstaunlich gelassen trotz dieser düsteren Offenbarung bezüglich Simons Zustand. „Diese besondere Intuition ist eine Gabe, die in der Wyatt-Familie seit Generationen weitervererbt wird. Als Oberhaupt des Clans besitze ich das größte Talent und weiß deshalb mehr als mir gut tut. Und ich weiß, dass dein kleiner Bruder nicht mehr lange durchhalten wird, wenn er hier bleibt. Also dachte ich mir, ich tu ihm den Gefallen und bring ihn nach Annatown. Nur blöderweise hat er nicht so wirklich mitgespielt.“ „Vielleicht weil du in die Villa eingebrochen bist und Anthony niedergeschlagen hast? Da ist es doch kein Wunder, dass er Angst bekommt! Hat dir dein siebter Sinn das nicht gesagt?“ „Ich bin klinisch verrückt“, gab Azarias ein wenig eingeschnappt zurück. „Ich habe zwar eine Gabe, aber ich kann nicht immer zwischen Intuition und Verfolgungswahn unterscheiden, du Intelligenzbolzen. Und großartig Pläne schmieden ist nicht so mein Ding.“ Dem konnte er schlecht was entgegensetzen. Nun wanderte sein Blick zu dem rotäugigen Mädchen mit dem pechschwarzen Haar. Sie hatte bis jetzt noch nichts gesagt und wirkte sehr distanziert. Sie wirkte nicht feindselig, auch wenn sie Hunter zuvor einen sehr hässlichen Blick zugeworfen hatte. Aber er verstand nicht wirklich, was sie hier zu suchen hatte. „Und wer bist du, Kleine? Bist du eine Freundin von ihm?“ „Sally ist meine Komplizin“, erklärte Azarias. „Sie ist quasi meine helfende Hand, wenn sie sich nur nicht zu fein wäre, mir wirklich zu helfen!“ Auf diesen sehr vorwurfsvollen Unterton im letzten Teil des Satzes reagierte das Mädchen mit einem finsteren Blick und verschränkte die Arme, schwieg aber. Obwohl sie wie ein ganz normales Mädchen wirkte, konnte Cypher regelrecht spüren, dass etwas an ihr anders war. Es schien, als wäre sie von einer Art dunklem Schatten umgeben und als würde ihr Körper etwas Kaltes und Unnatürliches ausstrahlen… so als besäße sie keine eigene Körperwärme. Sie schien relativ misstrauisch und verschlossen zu sein und Cypher, der versuchen wollte, eine Bindung zu dem Mädchen aufzubauen, fragte sie „Sag mal Sally, wie alt bist du?“ Doch es erfolgte keine Antwort. Nur Azarias seufzte und erklärte „Lass es sein. Sally kann nicht reden.“ Hier hielt Cypher erstaunt inne. „Ist sie stumm?“ „Natürlich. Oder hast du schon mal einen Schatten reden hören?“ „Ja aber…“ Der Künstler wollte zuerst etwas auf diesen Nonsens erwidern, besann sich aber wieder darauf, dass er hier mit jemandem redete, der in einer Anstalt lebte und unzurechnungsfähig war und beließ es dabei. Ein Gefühl sagte ihm, dass es nicht sonderlich viel brachte, mit einem Verrückten zu diskutieren. Zwar sah er jetzt ein bisschen klarer, nachdem er endlich wusste, mit wem er hier redete und was Azarias‘ Beweggrund war, aber dennoch verwirrte ihn so einiges noch. Er verstand nicht, warum sich Azarias die Mühe gemacht hatte, extra aus einem Kaff in Ohio nach New York zu kommen, nur um Simon nach Annatown zu bringen. Wieso diese Umstände? Warum hatte er nicht einfach am Telefon alles erklärt? Oder konnte es sein, dass dies alles ganz einfach mit der Tatsache erklärt werden konnte, dass Azarias ganz einfach verrückt war und trotz seiner scheinbar besonderen Gabe manchmal nicht wusste, was er da tat? Wenn diese Wahnidee, in die Villa einzubrechen und Simon im Anschluss nach Annatown zubringen, aus seiner instabilen Psyche entsprungen war, konnte dies eine Erklärung auf sein unlogisches Verhalten sein. Das stellte Cypher wiederum vor die Frage, ob es wirklich so klug war, sich auf so einen Menschen zu verlassen. Hunter schien ihm blind zu vertrauen, doch ob das eine gute Entscheidung war, das war eine ganz andere Geschichte. „Und was genau soll jetzt deiner Meinung nach jetzt geschehen?“ „Wir warten, bis Leron wieder zurückkommt und unser Dornröschen aufwacht. Jetzt ist es eh zu spät, die Angelegenheit ohne Außenstehende zu lösen. Und Leron kommt eh bald. Da fällt mir ein, ich sollte Sally besser wieder wegschicken. Wenn noch mehr Cohans hier sind, gibt das noch Ärger.“ „Wieso?“ fragte Cypher stirnrunzelnd und schaute zu dem kleinen Mädchen, welches immer noch ein wenig mürrisch wirkte und die Arme verschränkt hatte. „Mag sie die Cohans nicht?“ Mit einem etwas skeptischen „Hm…“ kaute Azarias wieder auf seinem Lollipop herum und kratzte sich hinterm Ohr. „Sally hat so ihre Probleme mit dieser Familie. Zwar hört sie meistens auf die Clanoberhäupter, aber dummerweise ist sie selbst für einen Schatten sehr eigenwillig. Also Sally…“ Damit wandte er sich an das Mädchen zu, welche ihm einen mürrischen Blick zuwarf. „Danke für deine Hilfe und blablabla. Aber ich will nicht noch mehr Ärger mit Lotta kriegen, wenn es am Ende eine noch größere Sauerei gibt als in den Evil Dead Filmen.“ Das Mädchen schwieg und machte erst keine Anstalten zu gehen. Sie blieb einfach stehen und starrte Azarias mit ihren dunkelroten Augen an. Doch dann nickte sie und ging zur Tür. Dabei rief ihr Azarias noch hinterher „Ich mag zwar verrückt sein, aber wenigstens habe ich niemanden abgemurkst!“ So kalt… es war so kalt. Simon war, als würde flüssiges Eis durch seine Adern fließen und etwas schnürte ihm die Brust zu. Er konnte kaum atmen. Ihm war als wäre die Raumtemperatur mit einem Male in den Minusgradbereich gesunken selbst seine Lunge fühlte sich beim Atmen eiskalt an. Er hielt es nicht mehr aus und zwang sich mit aller Kraft dazu, aus dieser drückenden Ohnmacht zu erwachen. Als seine Augen sich öffneten, war die Welt um ihn herum immer noch völlig verschwommen und er konnte kaum etwas erkennen. Es dauerte, bis ihm wieder bewusst wurde, was passiert war und wie er ohnmächtig geworden war. „Ah, sieh mal an! Dornröschen ist aufgewacht!“ Diese Stimme… Panik überkam Simon, als er sie als jene Stimme wiedererkannte, die dem Einbrecher gehörte, der Anthony niedergeschlagen hatte. Er schrie auf und wollte aufspringen und weglaufen, doch zwei kräftige Hände hielten ihn fest und drückten ihn zurück aufs Sofa. „Simon, beruhige dich. Es ist alles in Ordnung.“ „Nein, lasst mich. Bitte lasst mich gehen. Ich muss hier raus!“ „Simon bleib ruhig. Es passiert dir nichts. Ich bin es!“ Ein dunkler Schatten hatte sich über ihn gebeugt und hielt ihn fest. In seiner Angst registrierte er erst gar nicht, dass es die Stimme von Cypher war. Er hatte einfach nur entsetzliche Angst davor, dass ihm irgendetwas Schlimmes passieren würde und er vollkommen hilflos ausgeliefert war. Tränen sammelten sich in seinen Augen und sein Körper zitterte heftig. „Bitte tut mir nichts“, flehte er und begann heftig zu schluchzen. „Ich tue alles was ihr wollt, aber bitte tut mir nicht weh.“ Nun ließen ihn die beiden Arme, die ihn eisern aufs Sofa gedrückt hatten, los und stattdessen strich ihm eine Hand sanft durchs Haar. „Es wird alles gut, Simon. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin es doch: Cypher.“ „C-Cypher?“ Nun endlich erkannte Simon seine Stimme und beruhigte sich wieder ein wenig. Doch der Schock und die Angst wirkten immer noch nach und er konnte seinen vor Kälte und Angst zitternden Körper nicht unter Kontrolle bringen. „Meine Güte, du bist ja eiskalt“, bemerkte sein Bruder besorgt und legte eine Hand auf seine Wange. Sie fühlte sich glühend heiß an und dennoch wohltuend. Sein ganzer Körper fühlte sich kalt und steif an, als hätte er stundenlang in eisiger Kälte verbracht. Er setzte sich auf, was allerdings nur bewirkte, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde und ihm Übelkeit überkam. „Schon dich lieber ein wenig“, hörte er die Stimme des Einbrechers sagen. „Dein Kreislauf ist komplett im Arsch und wenn du jetzt versuchst, aufzustehen, kippst du sofort um.“ „M-mir ist so kalt…“, brachte Simon hervor und presste die Zähne zusammen. „Was ist hier los? Was wird hier gespielt?“ Cypher wickelte ihn in eine Decke, um ihm somit ein wenig Wärme zu spenden, doch Simon fühlte sich immer noch elend. Sein Kopf war völlig bleiern und auch sein Magen vertrug diesen Zustand nicht sonderlich gut. Cypher legte einen Arm um seine Schultern, um ihm wenigstens ein bisschen Schutz und Geborgenheit zu geben. „Tut mir leid, dass du so einen Schreck erlitten hast. Dieser Junge da ist Azarias Wyatt, Hunters alter Freund. Er wollte mit dir sprechen und anscheinend ist die ganze Situation vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Er wird dir nichts tun und Hunter und ich sind auch da. Leron wird auch bald kommen.“ „Und was ist mit Anthony?“ platzte es aus dem 21-jährigen heraus, als er sich wieder daran erinnerte, dass der Butler regungslos auf dem Boden gelegen hatte. Zu hören, dass der rüstige Butler mit einer Kopfverletzung ins Krankenhaus gebracht worden war, sorgte nicht gerade dafür, dass er sich besser fühlte. Und mit einem Typ, der obendrein noch in dieses Haus eingebrochen war und jemanden niedergeschlagen hatte, fühlte er sich auch nicht wirklich sicher. „Ach Mensch, du siehst noch beschissener aus als beim letzten Mal wo wir uns gesehen haben.“ Hier wurde Simon hellhörig, als Azarias dies sagte. Letztes Mal? Wann hatten sie sich denn getroffen? Bevor er diese Frage stellen konnte, fuhr Azarias fort. „Aber zumindest hat unser kleines Gespräch am Meer zumindest ein bisschen geholfen, nicht wahr? Zumindest hast du dich mit deinem Schatzi aussprechen können, oder?“ Meer? Dann war Azarias also der komische Junge mit den rotbraunen Haaren und den grünen Augen, den er getroffen hatte? „Wieso hast du mir das nicht schon früher gesagt?“ „Weil ich in der Klapse außer der Kunsttherapie sonst keinen interessanten Zeitvertreib habe und mir langweilig war“, gab der 22-jährige mit den smaragdgrünen Augen nonchalant zurück und kicherte. „Und die Sache ist die, dass das ganze Leben stinklangweilig ist, wenn man eine Gabe hat, die einen so ziemlich alles erahnen lässt. Also versuch ich zumindest ein wenig Spaß zu haben.“ Also hatte dieser Verrückte einfach zum eigenen Vergnügen irgendwelche Spielchen mit ihm gespielt? Auf was zum Teufel hatten sie sich da bloß eingelassen? Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend war Leron zur Villa zurückgefahren und war tief in Gedanken versunken. Er verstand einfach nicht, was in seinen Vater gefahren war, dass dieser sich so sehr darauf versteifte, dass der Konzern nicht verkauft wurde. Was war bloß in ihn gefahren? Er verstand es einfach nicht. Zumindest hatte er den ganzen notariellen Kram endlich hinter sich gebracht und alles unter Dach und Fach gebracht. Es hatte aber auch lange genug gedauert, bis diese Diskussion mit seinem starrsinnigen Vater endlich zu einem klärenden Ergebnis gekommen war. Dennoch fühlte er sich einfach nur erschöpft und geschlagen. Er wollte nichts Sehnlicheres, als einfach nur einen ruhigen Abend mit Simon zu verbringen und den ganzen Stress vergessen. Doch daraus wurde nichts, denn kaum bog er die Straße ein, die zur Villa führte, fuhr auch schon ein Krankenwagen an ihm vorbei, der eindeutig aus der Richtung seiner Villa kam. Ein eisiger Schreck durchfuhr den Unternehmer und Angst überkam ihn, dass Simon vielleicht etwas zugestoßen war. Er rief dem Taxifahrer zu, er solle sich beeilen und kaum, dass der Wagen nahe genug der Einfahrt war, drückte Leron dem Fahrer kurzerhand 100$ in die Hand und stieg hastig aus dem Wagen und rannte den restlichen Weg. An der Tür sah er einen groß gewachsenen jungen Mann mit dunkelbraunem Haar stehen, den er sofort als Hunter wiedererkannte. Wieso war er denn hier? Hatte Simon ihn etwa hergerufen? „Hunter!“ Der Bildhauer schaute zu ihm herüber und kam ihn kurzerhand entgegen. Sein Gesicht wirkte wie immer düster und verschlossen und es war unmöglich zu sagen, was gerade in seinem Kopf vor sich ging. Ohne ihm auch nur die Chance einer Erklärung zu geben, fragte Leron sofort „Was ist passiert? Wieso war hier ein Krankenwagen? Ist Simon etwas passiert?“ Hunters Kopfschütteln ließ Leron kurz erleichtert ausatmen, doch trotzdem machte ihm der Krankenwagen Sorgen und so hakte er noch mal nach, bevor er endlich eine Antwort bekam. „Anthony hatte eine Kopfverletzung und deshalb haben wir den Krankenwagen gerufen. Simon ist im Wohnzimmer und…“ Doch Leron hörte sich den Rest der Erklärung gar nicht mehr an und ging an Hunter vorbei. Seine Sorge um den Jungen war einfach zu groß und solange er ihn nicht selber gesehen hatte, würde er keine Ruhe finden. Als er das Wohnzimmer erreicht hatte, sah er Simon eingewickelt in eine Decke auf dem Sofa sitzen. Er war blass wie der Tod und wirkte, als wäre er einer Ohnmacht nahe. Neben ihm saß Cypher, dessen Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt waren. Er hatte schützend einen Arm um seinen jüngeren Bruder gelegt und redete mit jemandem. Doch das interessierte Leron in diesem Moment herzlich wenig. Jetzt zählte nur noch Simon für ihn und alles andere konnte warten. Kaum, dass sich ihre Blicke trafen, wurden Simons Augen groß und etwas Leben kehrte in ihn zurück. Er sprang vom Sofa auf und wollte zu ihm eilen, doch da versagten ihm die Beine und er brach zusammen. Noch im letzten Moment konnte Leron ihn auffassen und erschrak beinahe, denn Simon fühlte sich kalt wie eine Leiche an. „Simon, was ist mit dir? Was ist passiert?“ „Ich hab dir doch gesagt, bleib besser sitzen. Wenn du dich noch schneller umbringen willst, dann mach ruhig weiter so.“ Leron fuhr herum als er diese fremde Stimme hörte und sah einen Jungen ungefähr in Simons Alter in seinem Lieblingssessel sitzen. Seine smaragdgrünen Augen hatten einen Ausdruck von kindlichem Wahnsinn und sein rotbraunes Haar war ähnlich unfrisiert und zottelig wie Simons. Der Kleidung nach zu urteilen schien er nicht gerade aus einer gut situierten Familie zu stammen und eher aus ärmlicheren Verhältnissen zu stammen. „Und wer bist du?“ Mit einem amüsierten Grinsen hob der Junge zum Gruß die Hand. „Ich bin Azarias Wyatt. Nett, dich auch mal persönlich kennenzulernen, Leron. Deinem Alten hast du es ja echt gezeigt. Herzlichen Glückwunsch. Jetzt hast du es ihm endlich heimzahlen können.“ Der Unternehmer runzelte ungläubig die Stirn und verstand rein gar nichts. Azarias Wyatt? Der Name sagte ihm überhaupt nichts und er verstand auch nicht einmal, wovon dieser Junge da überhaupt redete. Und woher nahm er sich die Frechheit, ihn so vertraut anzureden? Mit einem argwöhnischen Blick musterte Leron ihn kurz, dann half er Simon hoch und brachte ihn wieder zurück zum Sofa. Seine Stimmung hatte sich in kurzer Zeit erheblich verschlechtert und er wenn sich die Situation nicht bald aufklärte, würde es noch ein Unglück geben, so viel war sicher. Hunter, der Leron gefolgt war, gesellte sich zu Cypher und nachdem Leron kurz Luft geholt hatte, um sich zu sammeln, wandte er sich an die beiden und verlangte nach einer Erklärung. Nachdem sie kurze Blicke ausgetauscht hatten, begann Cypher so gut wie möglich alles zu schildern. „Azarias ist ein alter Freund von Hunter, der uns helfen wollte. Er ist kurzerhand von Backwater nach New York gekommen um mit Simon zu reden. Dabei gab es einen unglücklichen Zwischenfall…“ „Unglücklichen Zwischenfall?“ hakte Leron nach und zog die Augenbrauen zusammen wobei er Azarias einen misstrauischen Blick zuwarf. „Was genau ist passiert?“ Doch bevor der Künstler darauf antworten konnte, kam Azarias ihm zuvor. „Zu meiner Verteidigung: der olle Pinguin hat mich erschreckt und ich habe mich bloß verteidigt.“ „Er hat Anthony niedergeschlagen und mir gesagt, ich solle mit ihm kommen, wenn ich nicht sterben will“, erklärte Simon und senkte den Blick. Dies war eindeutig zu viel für den 31-jährigen und Wut überkam ihn. Allein diese Worte reichten, um ihn seine Beherrschung vergessen zu lassen und er packte Azarias am Kragen und zerrte ihn hoch. „Du bist hier eingedrungen, hast einen alten wehrlosen Mann niedergeschlagen und Simon bedroht? Was fällt dir ein? Ich sollte die Polizei rufen und dich verhaften lassen! Und da ist es mir herzlich egal ob du ein Freund von Hunter bist!“ Doch Azarias zeigte sich nicht sonderlich beeindruckt von Lerons Wutanfall und grinste einfach nur. „Oh Mann, selbst für einen nicht Vollblütigen hast du echt das gleiche miese Temperament wie der Rest der Cohans. Krieg dich mal wieder ein, ich habe deinem Schnuckiputz ja nichts getan. Ich wollte ihm nur helfen.“ „Indem du ihn zu Tode ängstigst und einen Menschen krankenhausreif schlägst?“ „Reitest du immer so auf alte Kamellen rum?“ Leron war kurz davor, endgültig die Beherrschung zu verlieren und diesem vorlauten Rotzbengel eine reinzuhauen, doch da ging Hunter dazwischen und trennte die beiden voneinander. „Er meint es nicht so“, versuchte der Bildhauer zu erklären. „Azarias ist psychisch krank und…“ „Du meinst wohl verrückt und unzurechnungsfähig“, unterbrach Azarias ihn. „So lautet im Groben meine Diagnose. Ich weiß du bist gerade mega stinkig, weil ich dein Schatzilein erschreckt habe. Aber ich wollte ihm nicht wehtun. Ich wollte ihm nur ein wenig entgegenkommen und ihn nach Annatown holen. Trifft sich doch eh ganz gut. Nachdem er bereits seinen Vater besucht hat, sollte die Familienzusammenführung zum Höhepunkt kommen.“ Augenblicklich erstarrte Leron bei diesen Worten und sah Azarias fassungslos an. Woher zum Teufel wusste er von der Sache mit Simons Vater? Hatte Cypher etwa irgendetwas gesagt? Er schaute fragend zu dem 25-jährigen, doch der schüttelte nur den Kopf um zu signalisieren, dass er nichts damit zu tun hatte. Also woher wusste dieser Bengel es dann? Doch er kam gar nicht dazu, Antworten einzufordern, denn nun war die Katze aus dem Sack und jetzt war es Simon, der sich zu Wort meldete und Klarheit haben wollte. „Vater? Wovon redest du da? Ich kenne meinen Vater nicht einmal!“ „Oh…“ Langsam begann Azarias zu realisieren, was für einen Fauxpas er begangen hatte und kam auch schon gleich mit dem nächsten an. „Dann hat Leron dir also noch gar nichts von deinem Vater erzählt? Oh warte, das sollte er dir ja doch selber sagen… ups…“ Leron war, als würde ihm das Blut aus dem Kopf weichen und er in einen bodenlosen Abgrund fallen. Zum ersten Mal in seinem Leben versagte ihm die Stimme völlig und als er den fassungslosen und enttäuschten Blick in Simons schneeweißen Augen sah, da begann er zu erkennen, was für einen Schaden er mit seiner Entscheidung angerichtet hatte. Noch schlimmer konnte dieser Tag definitiv nicht mehr werden. Kapitel 56: Konsequenzen ------------------------ Leron war, als würde sich ihm der Magen umdrehen als er Simons fassungslosen und unendlich enttäuschten Blick sah. Er hatte ja gewusst, dass es nicht ohne Konsequenzen blieb wenn Simon die Wahrheit herausfand. Doch dieser Blick verriet ihm, dass es noch wesentlich schlimmer war. Seine Brust schnürte sich zusammen und er brachte nicht ein einziges Wort hervor. Tränen sammelten sich in Simons Augen und langsam wich die Fassungslosigkeit aufkeimender Wut. Er ballte die Hände zu Fäusten und stand wieder auf. „Das ist ein Scherz, oder? Sag mir nicht, dass du die ganze Zeit wusstest, wer mein Vater ist.“ Na los, sag doch etwas! Mach endlich den Mund auf und sag verdammt noch mal etwas, dachte Leron und versuchte sich irgendwie dazu zu bringen, aus dieser Starre herauszukommen und eine gescheite Antwort zu geben. Doch er war wie gelähmt und er schaffte es erst nicht, irgendetwas hervorzubringen. Was sollte er denn sagen? Er wusste, dass auch nur ein falsches Wort genügte, um alles vollkommen zu ruinieren. Vielleicht würde Simon es verstehen, wenn er es ihm erklärte, doch er ahnte bereits, dass es nicht der Fall sein würde. Denn der Schaden, der bereits angerichtet war, konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden. „Simon, lass mich das bitte erklären.“ Doch dieser ließ ihn gar nicht erst ausreden und stieß Leron wütend weg, wobei er wahrscheinlich seine ganze Kraft hatte aufbringen müssen. „Du redest hier die ganze Zeit davon, dass ich dir vertrauen soll und dann tust du so etwas? Ich dachte, wir wären ehrlich zueinander und hätten keine Geheimnisse. Du wusstest, wie sehr ich meine leiblichen Eltern kennen lernen will und hast mir trotzdem verschwiegen, dass du längst weißt, wer mein Vater ist? Sag mal, hast du sie noch alle?“ Ja, dafür gab es keine Entschuldigung. Er hatte es die ganze Zeit gewusst und trotzdem verschwiegen. Aber Simon musste doch verstehen, dass er es nicht aus böser Absicht heraus getan hatte. „Ich wollte es dir sagen, wenn es dir wieder besser geht. Du hast schon genug durchgemacht und ich wollte nicht, dass es dir noch schlechter geht.“ „Seit wann entscheidest du denn darüber, ob ich meine Eltern kennen lernen darf oder nicht? Ich bin kein kleines Kind und du bist nicht mein Vater. Ich dachte, unsere Beziehung basiert auf Vertrauen. Ob ich damit leben kann, wer mein Vater ist, das ist doch immer noch meine Sache und du hast nicht das Recht, mir solche Dinge vorzuenthalten.“ Simon redete sich immer weiter in Rage und je wütender und lauter er wurde, desto matter schien auch sein Blick zu werden. Leron konnte regelrecht spüren, was für eine unnatürliche Kälte er ausstrahlte und es bereitete ihm erheblich Sorgen, dass sich der Junge noch völlig verausgaben würde. „Es tut mir leid, Simon! Ich weiß, ich hätte es dir sagen sollen, aber…“ „Aber du hast es trotzdem nicht getan und hast mich die ganze Zeit für dumm verkauft!“ Tränen liefen seine blassen Wangen hinunter und keiner konnte so wirklich sagen, ob er gleich einen Wutanfall oder einen Nervenzusammenbruch erleiden würde. Seine Lippen verloren an Farbe und er musste immer häufiger Luft holen, als würde ihm langsam aber sicher die Luft ausgehen. Dennoch blieb er standhaft um seinem Ärger und seiner Enttäuschung freien Lauf zu lassen. „Weißt du was, Leron? Das war es. Es reicht mir endgültig. Wie soll ich dir denn vertrauen, wenn du immer wieder Geheimnisse vor mir hast oder mich belügst? Ich mach da nicht mehr länger mit. Ich… ah…“ Damit hatte Simon endgültig sein Limit erreicht. Er brach kraftlos zusammen und als Leron ihn auffing, spürte er wieder diese Kälte, die Simon ausstrahlte. „Simon? Hey Simon!“ Doch es kam keine Antwort. Der 21-jährige war noch bei Bewusstsein, doch seine Atmung war flach und er schien völlig erschöpft zu sein. Schnell legte Leron ihn aufs Sofa und versuchte ihm gut zuzureden, doch es kam keine Reaktion. Cypher schaute besorgt zu Hunter. „Wir sollten echt einen Krankenwagen rufen. Das ist doch nicht mehr normal.“ „Zwecklos“, kam es überraschend von Azarias, der sich bis jetzt zurückgehalten und stattdessen einfach das Geschehen beobachtet hatte. Nun ruhten alle Blicke auf ihn. „Genau deswegen wollte ich ihn nach Annatown holen. Dort kann man ihn wenigstens anständig behandeln. Im Krankenhaus dröhnen ihn diese Kittelträger nur mit Chemiebomben zu. Und damit kann seine Krankheit auch nicht geheilt werden.“ Nun erhob er sich aus dem Sessel und kramte in seiner Hosentasche herum. Er holte schließlich ein kleines Plastiktütchen heraus, welches mit einem Clip verschlossen war. Darin befand sich etwas, das wie getrocknete Kräuter und Blüten aussah. Doch es war auf dem ersten Blick schwer zu sagen, was es genau war. Er hielt Leron das kleine Tütchen hin und erklärte „Das allein wird ihn zwar nicht kurieren, aber zumindest wieder ein wenig auf die Beine helfen. Lass es am besten zehn Minuten ziehen und tu dann noch am besten ein Schuss Honig rein. Das sollte seinen Kreislauf wieder auf Vordermann bringen.“ Zuerst war sich Leron nicht wirklich sicher, ob dieser Junge es ernst meinte, oder ihn einfach nur verarschen wollte. Erwartete dieser Spinner wirklich, dass er ihm abkaufte, dass eine Tasse Tee hilfreicher war als ärztliche Hilfe? Der hatte sie ja wohl nicht alle. „Du willst mich wohl verarschen, oder? Du hast schon genug angerichtet. Steck dir deinen Tee sonst wo hin und verschwinde hier, bevor ich die Polizei rufe.“ Doch hier verfinsterte sich plötzlich der Blick des 22-jährigen und etwas Gefährliches blitzte in seinen smaragdgrünen Augen auf. Er trat auf den Unternehmer zu und packte ihn am Kragen. „Pass mal auf, du Schlaumeier: ich bin extra aus Ohio hergekommen und habe den komfortablen Alltag der Psychiatrie verlassen, um deinen kleinen Lover davor zu bewahren, vorzeitig den Löffel abzugeben. Ich war nicht derjenige, der sich dazu entschieden hat, ihm die Wahrheit zu verschweigen. Mir ist es vollkommen schnurz, ob du meine Hilfe willst. Ich bin wegen ihm hier und nicht wegen dir. Und wenn dir etwas an ihm liegt, dann tu was ich dir sage, oder sieh zu, wie er langsam aber sicher vor die Hunde geht.“ Noch immer ärgerte er sich über diese respektlose Direktheit dieses dahergelaufenen Spinners, der mehr Chaos verbreitete als eigentlich nötig war. Und am liebsten hätte er ihn mit einem Fußtritt vor die Tür gesetzt oder am besten noch die Polizei gerufen. Doch da legte plötzlich Hunter eine Hand auf seine Schulter und seine bernsteinfarbenen Augen funkelten ihn ernst an. „Hör auf ihn. Wenn er es ernst meint, ist es auch so.“ „Streiten bringt uns jetzt auch nicht weiter“, pflichtete Cypher ihm bei und nahm das Tütchen selber entgegen. Selbst mit der Sonnenbrille war ihm deutlich anzusehen, dass er langsam genervt war. „Ich gehe den Tee vorbereiten. Wenn sich hier alle gegenseitig die Augen auskratzen, wird es Simon auch nicht besser gehen.“ Damit ging er in die Küche und Azarias, dem offenbar die Lust vergangen war, sich weiterhin mit Leron zu streiten, folgte ihm. So blieben Hunter und Leron alleine bei Simon zurück. Schweigend deckte der Bildhauer ihn zu und sah Leron nicht an. Es verging eine Weile, bis er endlich sein Schweigen brach. „Tut mir leid, dass das passiert ist“, murmelte er leise. „ich wusste nicht, dass Azarias herkommen würde.“ „Wer genau ist er eigentlich?“ „Ein alter Freund. Er ist das Oberhaupt eines alteingesessenen Clans in Annatown. Er besitzt die Gabe, sich Wissen anzueignen und Dinge zu erahnen, die auch zutreffen. Namen, Geheimnisse, alles Mögliche. Die Wyatts nennen es den siebten Sinn. Jeder Mensch besitzt ihn, aber für sie ist er Segen und Fluch weil sie immer richtig liegen.“ „Und wieso ist er hergekommen?“ hakte Leron ungeduldig nach. „Er wollte ganz gezielt zu Simon!“ „Ich habe ihn angerufen. Azarias sagte, er kann uns sagen, wer Cyphers und Simons Eltern sind, wenn er ihre Augenfarbe kennt. Dass er herkommt, war nicht geplant.“ So langsam aber sicher fügten sich die einzelnen Puzzleteile zu einem Bild zusammen und allmählich begann Leron klarer zu sehen. Also war der Grund, warum Azarias hergekommen war und Simon aufgesucht hatte, weil Hunter ihn um Hilfe gebeten hatte? Aber wieso hatte er versucht, Simon gewaltsam nach Ohio zu verschleppen, nachdem er Anthony niedergeschlagen hatte? Etwa, weil er von Simons schlechtem Zustand erfahren hatte und dachte, in Annatown könne man ihm helfen? Doch wieso der Einbruch und das ganze Theater? Als er Hunter diesbezüglich fragte, zuckte dieser unsicher mit den Schultern und erklärte „Azarias ist psychisch krank und hat Wahnideen, in die er sich oft versteift. Manchmal verwechselt er Wahn mit Intuition und tut Dinge, die nicht logisch sind und auch widersprüchlich sind. Er macht es nicht aus böser Absicht. Aber seine Gabe hat ihn wahnsinnig gemacht.“ Leron seufzte und rieb sich die Augen. Das alles war wirklich energieraubend und er wusste nicht, was er jetzt machen sollte. Er traute diesem Bengel nicht und konnte auch nicht wirklich mit dessen eigenwilligem Temperament umgehen. Auch wenn Hunter ihm versicherte, dass Azarias gute Absichten hegte, war es nur allzu offensichtlich, dass dieser auch gefährlich war. Nach einer Weile kam Cypher mit dem aufgebrühten Tee zurück und gab ihn Simon zu trinken. Azarias selbst blieb im Türrahmen stehen und beobachtete einfach nur das Geschehen mit einem schwer zu deutenden Blick. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und schien ein wenig verstimmt zu sein. Schließlich wandte er sich an Leron und erklärte „Er soll sich heute möglichst ausruhen, dann sollte es ihm morgen etwas besser gehen. Meine Fahrgelegenheit kommt gleich, also lasse ich euch Turteltauben und Pappnasen alleine.“ „Du gehst?“ fragte Hunter überrascht. „Hast du eine Bleibe?“ „Ich übernachte im Hotel. Und wenn ich dir noch einen Rat geben darf, Leron: rede nicht um den heißen Brei herum, sondern schenke ihm reinen Wein ein. Und schlaf dich schön aus, denn morgen geht es lustig weiter.“ Leron ahnte Schlimmes und fragte nach, was Azarias damit andeuten wollte, doch dieser ging nicht weiter darauf ein und ging einfach. Cypher und Hunter gingen auch kurze Zeit später, denn sie ahnten, dass sie hier nur störten. Stille war eingekehrt, nachdem die drei gegangen waren. Simon hatte sich langsam aufgesetzt und ein paar Schlucke von dem Tee getrunken, den Cypher ihm gebracht hatte. Er schmeckte süß und würzig. Auch glaubte er den Geruch von Blüten wahrzunehmen. Zwar war er skeptisch, dass ihm das wirklich helfen würde, aber wenigstens schwand diese entsetzliche Kälte in seinem Körper und ihm wurde langsam ein wenig wärmer. Auch dieses unangenehme Schwindelgefühl wich langsam. Doch dafür herrschte unangenehme Stille. Leron stand da mit gesenktem Blick wie ein geschlagener Mann und wirkte schon fast mitleidserregend. Doch Simons Mitgefühl hielt sich arg in Grenzen. „Was muss noch alles passieren, damit du endlich ehrlich zu mir bist?“ fragte er ruhig aber kalt und mit leichter Verbitterung in der Stimme. Er war immer noch unsagbar wütend auf Leron, war jetzt jedoch wesentlich gefasster als vorhin noch. Außerdem fehlte ihm ohnehin die Energie für einen erneuten Wutanfall. „Dass du mich damals angelogen hast, dass du Michaels Bruder bist, das ist eine Sache. Aber mir zu verheimlichen, dass du meinen Vater kennst, obwohl du weißt, wie sehr ich mir wünsche, meine Eltern zu finden, das ist echt das Letzte. Und ich weiß wirklich nicht, ob ich dir das jemals verzeihen kann.“ Es tat ihm weh, so etwas zu sagen. Selbst jetzt, wo er einfach nur wütend und verletzt war, liebte er Leron immer noch. Aber der Vertrauensbruch war weitaus gravierender als beim letzten Mal und er konnte es auch nicht akzeptieren, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wurde und er für seine Fehltritte zurechtgewiesen wurde und Leron mit solchen Aktionen einfach so davonkam. Ganz gleich was seine Beweggründe gewesen waren, er musste verstehen, dass eine Beziehung nicht nur daraus bestand, dass er Ansprüche stellte und sich selbst über gewisse Regeln hinwegsetzte. Auch wenn er Lerons Petboy war, hatte er doch ein Recht darauf, dass Leron ehrlich zu ihm war und ihm solche Dinge nicht verschwieg. „Ist denn nicht schon genug Scheiße passiert? Du hast mich dafür zurechtgewiesen, dass ich dir verschwiegen habe, dass dein Vater mir Geld dafür zahlen wollte, dass ich dich verlasse. Aber ich habe nicht das Recht darauf, wütend zu sein, dass du mich belügst?“ „Ich habe dich nicht belogen“, erwiderte der Unternehmer sofort. „Und du hast allen Grund dazu, wütend auf mich zu sein. Es war falsch und das weiß ich. Aber ich hatte Angst um dich. Ich habe selbst jetzt Angst um dich. Glaubst du etwa ich bin blind und sehe nicht, dass es dir immer schlechter geht? Nicht nur psychisch, sondern auch körperlich. Deine Gesundheit verschlechtert sich immer weiter wegen all dem Stress, dem du ausgesetzt bist und ich habe nur versucht, dich davor zu schützen. Hast du eine Vorstellung davon, wie es mir dabei geht, dich zu sehen, wenn du zusammenbrichst und dabei eiskalt wie eine Leiche bist? Kannst du dir vorstellen, welche Ängste ich ausstehe, dass dich das irgendwann umbringen wird? Verdammt, ich habe mir immer wieder den Kopf darüber zerbrochen und jedes Mal mit einem schlechten Gewissen gekämpft, wenn du darüber gesprochen hast, wie sehr du deine Eltern kennen lernen willst. Und ich wollte es dir auch sagen, aber nicht solange du in so einer schlechten Verfassung bist.“ „Und seit wann läuft das?“ fragte er, ohne sonderlich auf Lerons Erklärung einzugehen, warum er ihm die Wahrheit verschwiegen hatte. In diesem Moment interessierte es ihn auch nicht sonderlich. Er wollte einfach nur Klarheit haben um dann entscheiden zu können, wie er danach handeln sollte… ob er Leron noch eine Chance geben sollte, oder ob es vielleicht besser war, wenn sie vorerst getrennte Wege gingen. Es war eine schwer wiegende Entscheidung und vielleicht etwas drastisch, aber er wollte Leron begreiflich machen, dass es dafür keine Entschuldigung gab und dieser Vertrauensbruch nicht so einfach verziehen werden konnte. Nach all der Rücksicht, die er selbst hatte walten lassen, war es nur fair, wenn er dafür Offenheit und Ehrlichkeit erwarten konnte. Wie sonst sollte ihre Beziehung bestehen bleiben? Leron, der nun selbst blass geworden war, seufzte geschlagen und gestand „Nachdem du mir gesagt hast, wie sehr du deine Eltern kennen lernen willst, habe ich einen Privatdetektiv engagiert. Das war an dem Tag, an dem ich Hunter gebeten hatte, auf dich aufzupassen. Ich hatte damals nicht wirklich geglaubt gehabt, dass ich überhaupt etwas herausfinden würde. Und da ich wusste, wie wichtig dir das war, wollte ich dir keine falschen Hoffnungen machen und dir erst dann davon erzählen, wenn ich etwas Handfestes habe. Ich dachte, wenn der Detektiv etwas herausfindet, würde dir das helfen. Aber es ging dir immer schlechter und wir haben angefangen, uns zu streiten. Und als ich dann erfahren habe, was für ein Mensch dein Vater ist, hatte ich Angst gehabt, du könntest das in deinem jetzigen Zustand nicht verkraften. Also wollte ich warten, bis es dir wieder besser geht, damit du damit umgehen kannst. Ich hatte nicht vor, dir das für den Rest deines Lebens vorzuenthalten. Ich wollte einfach nur auf einen besseren Zeitpunkt warten, weil ich Angst hatte, dein Zustand würde sich weiter verschlimmern.“ „Du kannst nicht immer alles nur auf meine Gesundheit schieben wie es dir gerade passt“, erwiderte der 21-jährige wütend. „Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun.“ „Und ob es das tut!“ widersprach ihm Leron, dieses Mal aber mit deutlichem Nachdruck und schaute ihn direkt an. Er wirkte nicht mehr wie ein geprügelter Hund, den ein schlechtes Gewissen plagte, sondern erschien nun wesentlich gefestigter und überzeugter. „Vielleicht hast du es nicht gemerkt, aber dafür ich: mit deiner Gesundheit ging es erst so bergab, seit es dir psychisch so schlecht geht. Und je mehr Stress du ausgesetzt bist, desto mehr verschlechtert sich auch deine Gesundheit.“ Wieder trat Schweigen ein und Simon musste über Lerons Worte nachdenken. Natürlich klang es bescheuert, alles bloß damit zu erklären, dass allein die Depression ihn derart krank machte. Aber vielleicht stimmte es ja tatsächlich und sie hatte die Verschlechterung seiner körperlichen Verfassung begünstigt. Doch selbst wenn das stimmte, war es trotzdem falsch was Leron getan hatte. Nachdem er noch einen Schluck von seinem Tee getrunken hatte, beendete er sein Schweigen und schaute zu Leron auf, ohne jedoch sein Gesicht erkennen zu können. „Es ist nicht so, als würde ich es nicht verstehen, warum du mir das verheimlichst hast“, begann er zögerlich. „Ich weiß, dass ich dir viele Sorgen bereitet habe und du auch noch wegen deinem Vater viele Probleme hast. Aber trotzdem ist das kein Grund, dass du solche Geheimnisse vor mir hast. Vor allem wenn es auch noch meine eigene Familie betrifft. Glaubst du etwa im Ernst, ich würde erwarten, dass ich die absolut perfekte Vorzeigefamilie habe? Natürlich ist mir klar, dass meine Eltern vielleicht drogenabhängige Schwerkriminelle sein könnten. Vielleicht ist meine Mutter ja auch eine Straßennutte. Wenn meine Familie perfekt wäre, dann wäre ich nicht als Baby in einem Müllcontainer entsorgt worden.“ Leron nickte und senkte geschlagen den Blick. „Es tut mir wirklich leid. Ich wollte dir niemals wehtun.“ Zwar konnte Simon Lerons Gesicht nicht sehen, hörte aber wie unendlich bestürzt er war und tief verletzt war. Er war immer noch wütend, aber andererseits konnte er es auch nicht ertragen, Leron in diesem Zustand zu sehen. Das alles war eine Verkettung unglücklicher Ereignisse und er wusste, dass der Unternehmer momentan genug Probleme hatte. Immerhin hatte er erst vor kurzem erfahren, dass sein Vater todkrank war und nur noch ein paar Monate zu leben hatte. Und das, nachdem bereits seine Brüder vor ein paar Wochen verstorben waren. Obwohl er allen Grund hatte, wegen dieses Vorfalls sauer zu sein, brachte er es nicht übers Herz, Leron völlig die kalte Schulter zu zeigen. „Ich denke, wir beide sollten heute erst mal auf Abstand bleiben und morgen sehen wir weiter. Aber jetzt sag schon: wer ist denn jetzt mein Vater?“ Nun trat Leron näher und setzte sich zu Simon aufs Sofa. Während der 21-jährige seinen Tee trank, hörte er aufmerksam zu, als Leron ihm erzählte, was er von dem Privatdetektiv erfahren hatte. Er erzählte ihm von Alan Henderson, der minderjährige Mädchen mit einer Agentur geködert und sie dann zum Sex gezwungen hatte und wie er eines der Models, welches er geschwängert hatte, schließlich überfahren hatte. Simon brauchte eine Weile, um das zu verdauen. Er war sich natürlich im Klaren gewesen, dass ihn nichts Gutes erwarten würde, aber trotzdem war es trotzdem ein starkes Stück, dass sein Vater jemand war, der sich an minderjährigen Teenagern vergangen und sie zur Prostitution gezwungen hatte. Und das auch noch unter dem Deckmantel einer Agentur. So langsam verstand er nun, wieso Leron gezögert hatte, ihm davon zu erzählen. Das war in der Tat nicht gerade die Art von Vater, die man gerne haben würde. „Also das heißt, dass meine Mutter eine von den Models war, die er zum Sex gezwungen hat“, schlussfolgerte er und schluckte schwer. „Und… wer ist meine Mutter?“ „Das hat der Privatdetektiv noch nicht herausfinden können“, antwortete Leron mit einem Kopfschütteln. „Die wahrscheinlich effektivste Methode wäre, diesen Henderson im Gefängnis zu besuchen und auszufragen.“ Ja, das schien in der Tat die beste Option zu sein. Simon dachte noch weiter nach und kam schließlich zu einem Entschluss: „Wenn ich wieder einigermaßen sehen kann, will ich ihn im Gefängnis besuchen gehen.“ „Ist das dein Ernst?“ fragte Leron fassungslos. „Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee wäre? Und glaubst du, dass du das auch schaffst?“ Doch Simon war sich seiner Sache sicher und erklärte „Ich bin mir sicher. Auch wenn dieser Kerl der wahrscheinlich mieseste Wichser ist, will ich ihn sehen. Ich muss mir selbst ein Bild davon machen, was für ein Mensch mein Vater ist. Einfach nur zu hören, wer er ist, ist nicht dasselbe, als würde ich ihn persönlich treffen. Mir geht es nicht darum, Eltern zu finden, die sich um mich kümmern. Ich bin bereits erwachsen und ich bin mein bisheriges Leben ohne Familie ausgekommen. Ich will einfach nur wissen, woher ich komme und wer meine Erzeuger sind, damit ich mit diesem Thema endlich abschließen kann. Natürlich wünscht sich ein Teil von mir, dass ich eine Beziehung zu meinen Eltern aufbauen kann. Aber selbst wenn es nicht klappt, was würde ich dabei schon großartig verlieren? Mein Leben würde sich nicht großartig dabei verändern, wenn ich mich nicht mit ihnen verstehen sollte.“ Simon war insgeheim erstaunt darüber, wie ruhig und gefasst er darüber sprechen konnte, ohne gleich wieder so emotional zu werden wie zuvor. Und auch sonst fühlte er sich nicht mehr so kalt und erschöpft wie vorhin. Zwar war er immer noch müde und ein Teil von ihm wollte sich am liebsten wieder den negativen Gefühlen hingeben, aber es hielt sich deutlich in Grenzen. Woher kam das bloß? Cypher hatte ihm zwar gesagt, der Tee würde ihm helfen, damit es ihm wieder besser ging, aber dass es so gut helfen würde, hätte er nicht gedacht. Was war das überhaupt für ein Tee? Nun, das konnte ihm auch eigentlich egal sein. Fürs Erste gab es andere Sachen, die wichtiger waren. „Für heute werde ich alleine schlafen. Aber wir können morgen weiterreden. Wie gesagt: ich bin noch sauer auf dich. Aber… ich kann dich verstehen, warum du es mir nicht gesagt hast. Wenn ich in dieser Situation gewesen wäre, dann hätte ich auch Probleme gehabt, eine Entscheidung zu treffen. Und ich denke, es tut uns vielleicht beiden gut, wenn wir uns für heute ein wenig Abstand und Ruhe gönnen.“ Man konnte deutlich hören, wie erleichtert Leron war, als er das hörte. Er hatte anscheinend schon mit dem Schlimmsten gerechnet nach diesem massiven Vertrauensbruch. Aber Simon wusste, dass er es nicht aus Böswilligkeit getan hatte. Er war ja auch nicht sofort mit der Sprache herausgerückt, als Lionel ihn erst mit Geld bestochen und dann daraufhin erpresst hatte, nur damit er mit Leron Schluss machte. Also wäre es nicht fair gewesen, wenn er so eine drastische Maßnahme wählte und sich von ihm trennte. Außerdem hatte Leron momentan genug durchzustehen, da konnte er ihn nicht alleine lassen. Also erschien ihm dies als die fairste Methode, seine Konsequenzen aus Lerons Handeln zu ziehen, ohne gleichzeitig unfair zu werden. Er war selber dafür bestraft worden, dass er nicht von Anfang an mit offenen Karten gespielt hatte. Da war es doch nur gerecht, wenn er nun seinerseits das Gleiche tat. Er mochte zwar Lerons Petboy sein und laut Vertrag hatte er sich ihm zu unterwerfen. Aber das bedeutete nicht, dass er sich alles gefallen lassen musste und das musste auch Leron kapieren. Also stand er auf und schickte sich an, das Wohnzimmer zu verlassen um in sein Zimmer zu gehen. Er blieb aber noch im Türrahmen stehen und drehte sich noch einmal um. „Kannst du mir Bescheid sagen, wenn du etwas Neues über Anthony weißt?“ „Das mache ich“, versprach der Unternehmer mit müder aber dennoch erleichterter Stimme. „Ruh dich erst mal gut aus, Simon. Und hör mal: ich möchte, dass du weißt, dass ich dich wirklich liebe und dich niemals aus böswilliger Absicht belügen oder täuschen würde. Ich habe mich einfach nur verdammt ratlos gefühlt.“ „Das weiß ich“, versicherte Simon und nickte. „Und ich liebe dich wirklich. Aber du musst mir auch das Recht zusprechen, meine Konsequenzen daraus zu ziehen, wenn du mit meinem Vertrauen spielst. Ich mag zwar der devote Partner in unserer Beziehung sein, aber ich erwarte trotzdem eine gewisse Gleichberechtigung, was Ehrlichkeit und Vertrauen angeht.“ Und damit ließ er ihn alleine zurück und ging rauf in sein Zimmer. Kaum, dass er sich in sein Bett gelegt hatte, fiel er in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Kapitel 57: Ein Friedensangebot ------------------------------- Selten hatte Simon einen derart erholsamen Schlaf gehabt wie in dieser Nacht und sich beim Aufwachen fast schon glücklich und zufrieden gefühlt. Wenn auch nicht vollständig erholt, fühlte sich der 21-jährige mit den dunkelbraunen Locken wesentlich besser und streckte gähnend, als er sich aus dem Bett erhob. Sein Kreislauf hatte sich deutlich erholt und auch diese lähmende Müdigkeit, unter der er seit Tagen gelitten hatte, war kaum noch spürbar. Zwar bezweifelte er, dass er für einen Marathon genug Energie haben würde und glaubte auch, dass es höchstwahrscheinlich nicht gut ausgehen würde. Aber es war dennoch eine deutliche Verbesserung seiner körperlichen Befindlichkeit bemerkbar und das verbesserte auch gleichzeitig seine gute Laune. und er erinnerte sich, dass er gestern kaum etwas gegessen hatte. Und das rächte sich jetzt anscheinend. Also verließ er kurzerhand das Zimmer und ging nach unten in Richtung Küche. Sein Sehvermögen hatte sich inzwischen deutlich gebessert und er konnte inzwischen Objekte erkennen, jedoch war seine Sicht immer noch etwas unscharf und zum Lesen reichte das definitiv nicht. Aber wenigstens war er nicht völlig hilflos. Als er das Ende der Treppe erreichte, wehte ihm schon ein verführerischer Duft von Speck und Spiegelei entgegen und er dachte zunächst, dass es Anthony war, doch dann fiel ihm wieder ein, dass dieser gestern ins Krankenhaus gebracht wurde und vielleicht erst mal krankgeschrieben war. Oder konnte es sein, dass es Leron war? Aber der aß doch nie Frühstück. Also wer war es dann? Simon betrat die Küche und sah einen Jungen in seiner Größe, der genauso unfrisiertes Haar hatte und Kleidung trug, die ihm etwas zu groß war. Seine Jeanshose war verwachsen und viel zu lang für ihn und seine Sneakers hatten auch schon bessere Tage gesehen. Zwar konnte er sein Gesicht nicht allzu deutlich sehen, aber dennoch erkannte er ihn als den Jungen wieder, den er an der Küste getroffen hatte. Was wollte er hier? Simon blieb wie erstarrt stehen, als Azarias sich zu ihm umdrehte. „Guten Morgen, Dornröschen. Du siehst ja wesentlich besser aus als gestern. Hätte nicht gedacht, dass die Kräutermischung so gut wirkt.” Instinktiv überkam ihn Angst, als er wieder diese Stimme hörte, die ihn gestern fast zu Tode geängstigt hatte. Zuerst dachte er instinktiv daran, wegzulaufen, doch er zögerte noch. „Wieso bist du hier?” wollte er wissen und blieb weiterhin im Türrahmen stehen, sofort zur Flucht bereit, sollte Azarias versuchen, ihn anzugreifen. „Und wie bist du hier überhaupt reingekommen?” „Ich habe gestern echt Ärger gekriegt, weil ich es übertrieben habe”, begann Azarias zu erklären und belud nun einen Teller mit Essen und stellte ihn auf den Tisch. „Ich wollte dir keine Angst machen und dass ich dem Alten eins über die Rübe gedonnert habe, war nicht Teil des Plans. Also bin ich hergekommen, um dir Frühstück zu machen. So als kleine Entschuldigung und als Friedensangebot. Ich will nicht, dass da irgendwelche negativen Spannungen zwischen uns sind. Immerhin hatte ich ja versprochen gehabt, dir zu helfen.” Simon war etwas skeptisch, was nach den gestrigen Ereignissen auch durchaus berechtigt war. Noch immer hatte Azarias nicht gesagt, wie er hier so einfach hereinkommen konnte, obwohl Leron doch nach dem Vorfall mit Michael eine Überwachungsanlage installiert hatte. „Und wie bist du einfach so hier reinspaziert?” „Ich weiß halt wie”, antwortete Azarias nonchalant. „Mein siebter Sinn verrät mir alles Mögliche. Sowohl, dass du mich für einen psychopathischen Einbrecher hältst und dein Schatzi in mir nur einen geisteskranken Rotzbengel sieht, als auch dass du seit gestern Morgen nichts mehr gegessen hattest und nun ausgehungert wie sonst was bist. Iss ruhig! Dein Körper braucht viel Kraft, um so viel negative Energie zu verarbeiten, die du aufgestaut hast.” Und wie aufs Stichwort begann Simons Magen laut zu knurren und ein flaues Gefühl überkam ihn. Er brauchte jetzt wirklich etwas zu essen. Also widmete er sich dem Frühstück, das Azarias gemacht hatte. Dieses bestand aus Spiegelei, gebratenem Speck, Toast, Waffeln und Tee. Dabei fiel ihm jedoch auf, dass das Spiegelei ein etwas eigentümliches Muster hatte. Er musste schon genau hinsehen um zu erkennen, was das für Muster waren und fragte dann verwirrt „Hast du das Spiegelei im Waffeleisen gemacht?” „Nicht nur das Spiegelei, sondern auch den Speck und die Waffeln”, erklärte der 22-jährige stolz. „Ich mache so ziemlich alles im Waffeleisen. Das ist so ziemlich das einzige Gerät, das ich in der Anstalt in meinem Zimmer haben darf und deshalb mache ich damit alles Mögliche. Aber keine Sorge, es schmeckt trotzdem! Mein Lieblingsgericht sind immer noch Waffleburger.” Ich habe ja schon einigen Foodtrends gehört, aber Waffling klang schon immer verrückt, dachte sich Simon und aß sein Frühstück. Er musste zugeben, dass es wirklich gut schmeckte, trotz der Tatsache, dass alles aus dem Waffeleisen kam. Vor allem war es eine wahre Wohltat, endlich wieder etwas im Magen zu haben, nachdem er schon das Gefühl hatte, schon seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen zu haben. Schließlich gesellte sich Azarias zu ihm und nahm auf einem der Stühle Platz. „Ich wollte dir echt keinen Schreck einjagen oder dir wehtun. Ehrlich gesagt hatte ich den Schläger mitgebracht, weil ich erst gefürchtet hatte, du und dein Bruder könnten Cohans sein.” Stirnrunzelnd hob Simon den Blick und starrte ihn ungläubig an. „Wie kommst du denn auf so etwas? Wenn Cypher und ich Cohans wären, dann würden wir ja Inzestbeziehungen führen.” „Ach das hat manche von denen auch nicht wirklich von der Fortpflanzung abgehalten”, winkte Azarias ab. „Bei manchen Zweigfamilien wird mehr Inzest betrieben als In Game of Thrones! Nein, der Punkt ist der, dass ich noch nie den Fall erlebt habe, dass du und Cypher als zwei individuelle Personen existiert haben. Eigentlich müsstet ihr eine Person sein und dein Name wäre quasi Simon Cohan alias “Der Eyeball-Killer von Annatown”. Vielleicht ist das aber auch nur wieder eine meiner Wahnideen und ich habe mich da bloß reingesteigert und mich total in etwas verrannt. Passiert mir recht häufig.” „Ich ein Killer?” Simon hätte sich fast am Speck verschluckt, als er das hörte. „Das ist doch verrückt!” „Wenn mein Gefühl von eines Metauniversums mit unendlich vielen Realitäten stimmt, in denen es unzählige verschiedene Versionen von uns gibt, dann ist es weniger verrückt, dass du in einer alternativen Realität ein Cohan bist und als Serienkiller Leuten die Augäpfel klaust. Wenn es nur eine Wahnidee sein sollte und ich liege falsch, dann entschuldige ich mich dafür, dass ich in der Annahme gewesen war, du könntest ein Killer sein, der mir die Augäpfel entfernen und mich dann der Vogelscheuche überlassen würde. Mein siebter Sinn ist zwar der mächtigste von allen in meiner Familie, aber wenn du einen ziemlichen Knacks im Oberstübchen hast so wie ich, hilft dir das leider selten. Vor allem macht es dein Leben nicht erträglicher, wenn du weißt, dass du nur einer von vielen deiner Art bist und es keine Rolle spielt, wann du den Löffel abgibst, weil dann einfach ein Ersatz geboren wird, der genauso ist wie du.” Im Vergleich zu dem hoffnungslosen Durcheinander von gestern schien Azarias wesentlich klarer bei Verstand zu sein. Ja er schien sogar richtig tiefgründig zu denken. Irgendwie kam es Simon so vor, als gäbe es zwei verschiedene Seiten von Azarias. Aber wie sollte er ihn einschätzen? War er gefährlich oder konnte man ihm wirklich vertrauen? Hunter jedenfalls schien ihm zu vertrauen. „Ich werde echt nicht aus dir schlau. Gestern hast du dich aufgeführt, als wärst du eine Mischung aus der Joker und der verrückte Hutmacher. Und jetzt bist du total anders.” „Liegt vielleicht daran, weil ich gestern vergessen habe, meine Pillen zu nehmen”, vermutete der 22-jährige schulterzuckend. „Das passiert mir ziemlich oft. Und außerdem ist es echt anstrengend für mich, mit so vielen Menschen auf einmal klarzukommen. Versuch mal zig Apps auf einem Smartphone mit wenig Arbeitsspeicher zu öffnen. Irgendwann bleibt das Gerät hängen und alles stürzt ab. Ich lebe nicht umsonst freiwillig in der Anstalt. Dort bin ich wenigstens vor solchen Reizüberflutungen geschützt. Ach ja, vergiss deinen Tee nicht. Jetzt, da die Diagnose eindeutig ist, ist das die beste Medizin, die du im Moment kriegen kannst.” Simon griff nach der Tasse und trank einen Schluck. Er konnte nicht wirklich sagen, was das für ein Tee war und wieder nahm er diesen Duft von Blumen wahr. „Was ist das eigentlich für eine Sorte?“ „Ein ganz spezieller, der nur in Annatown von nur zwei Familien hergestellt wird. Es ist quasi homöopathische Medizin. Aber das allein wird nicht ausreichen, um deine Krankheit zu kurieren. Wenn du deinen Vater besucht hast, musst du nach Annatown kommen.“ „Und warum genau?“ „Na weil dir dort am besten geholfen werden kann. Deine Familie kommt aus Annatown und dort ist deine Krankheit nicht unbekannt. Dort gibt es quasi Spezialisten.“ Ein kleines Kaff in Ohio hat bessere Spezialisten als New York? Simon hatte da so seine Zweifel, aber wenn es wirklich eine Möglichkeit für ihn gab, wieder gesund zu werden, dann sollte er diese Chance nutzen. Aber etwas verwirrte ihn. Wie konnte es eigentlich sein, dass Azarias so viel wusste? In einer Welt, in der alles mit Logik und Wissenschaft zu erklären war, klang es eher unwahrscheinlich, dass tatsächlich eine Gabe existierte, die einem Menschen erlaubte, alles richtig zu erahnen. So etwas wie Wahrsagerei gab es doch überhaupt nicht. Als hätte Azarias seine Gedanken erraten, erklärte dieser „Intuition ist kein Hexenwerk. Jeder Mensch besitzt diese Fähigkeit. Aber die Familie Wyatt hat das außerordentliche Talent, immer richtig zu liegen. Es ist ein Segen, aber vor allem auch ein Fluch.“ „Wieso das denn?“ fragte der 21-jährige ungläubig. „Wenn ich immer richtig liegen würde, hätte ich als Kind die besten Noten in der Schule gehabt und ich könnte jedes Mal die Lottozahlen richtig raten. Ich hätte fürs ganze Leben ausgesorgt.“ „Ja aber das Leben verliert seinen Reiz“, erwiderte Azarias missmutig und begann sich nun selbst etwas zu Essen zu machen. „Du kannst kein Buch lesen, ohne gleich zu Beginn zu wissen, wie es enden wird. Du kannst keinen spannenden Film genießen, weil du genau weißt, wie er enden wird, bevor du ihn überhaupt angeschaut hast. Weihnachtsfeste und Geburtstage verlieren an Reiz, weil du jede Überraschung erahnst und du weißt, was dein Geschenk sein wird. Dein ganzes Leben wird vorhersehbar und besonders schlimm wird es, wenn du sogar erahnst, wann jemand stirbt und du es nicht verhindern kannst.“ Simon versuchte es sich vorzustellen. Ein Leben, in welchem er alles erahnen konnte, was passieren würde. Natürlich hätte er solch eine Gabe gerne, um immer die richtigen Entscheidungen zu treffen und nie falsch zu liegen. Aber es hörte sich in der Tat ziemlich eintönig an, wenn man nicht einmal positiv überrascht werden konnte. „Ist das der Grund, warum du krank bist? Hunter sagte, dass dich deine Gabe verrückt gemacht hat.“ „Das ist etwas kompliziert… Es liegt eher daran, weil ich Azarias bin.“ Azarias begann nun Speck im Waffeleisen zu braten und schwieg eine Weile. Simon selbst konnte nicht sonderlich viel mit dieser rätselhaften Erklärung anfangen und wartete darauf, dass er die ganze Geschichte zu hören bekam. Und als er sein eigenes Frühstück endlich fertig hatte, gesellte sich der 22-jährige zu ihm und versuchte die Umstände zu erklären, die zu seiner instabilen Psyche geführt hatten. „In Annatown gibt es fünf uralte Clans, die alle ein eigenes Oberhaupt haben. Ich bin derzeit das Oberhaupt des Wyatt-Clans und der Nachfolger meines Opas Azarias.“ „Du wurdest nach deinem Großvater benannt?“ „Jedes geborene Oberhaupt wird Azarias genannt. Es ist eine Tradition in unserer Familie, die Jahrhunderte zurückgeht. Wenn das Leben eines Azarias sich dem Ende zuneigt, dann wird ein neuer geboren. Dieser besitzt die gleiche Gabe, so ziemlich die gleichen Charaktereigenschaften und dieselbe Geisteskrankheit. Es ist quasi so, als würde „Azarias Wyatt“ immer wieder neu geboren werden. Das heißt also: wenn ich sterbe, wird einfach ein neuer Azarias geboren werden, der genauso begabt und verrückt ist wie ich. Ich bin also nur einer von vielen und werde mein ganzes Leben lang nur einer von vielen sein. Mein Schicksal war schon vor meiner Geburt an bestimmt gewesen und wenn ich jetzt einfach den Löffel abgebe, wird es nicht den geringsten Unterschied machen, weil ich nur einer von vielen bin und nichts an mir wirklich einzigartig ist. Und die Tatsache, dass meine Existenz eines der berühmten Annatown Mysterien ist, macht es nicht sonderlich erträglicher…“ Einer unter vielen… Dann war das also der Fluch, von dem er geredet hatte? Nicht nur allein die negativen Eigenschaften seiner Gabe und seine Geisteskrankheit, sondern die Tatsache, dass er bloß eine Reihe von vielen Azarias Wyatts war und er somit kein Individuum war? Das klang in der Tat wie ein Fluch. „Und… woher kommt es, dass deine Familie diese Gabe hat, dass sie immer richtig liegt?“ „Keine Ahnung“, antwortete Azarias und begann sein Spiegelei zu essen, welches er im Gegensatz zu Simon ohne Speck verzehrte. „Selbst ich kann das Geheimnis nicht ergründen. Es existieren lediglich Legenden über den Ursprung der fünf Clans. Die Cohans zum Beispiel stammen ursprünglich aus Norwegen und waren einst ein Wikingerclan, bevor sie lange vor Christoph Columbus nach Amerika segelten und dort sesshaft wurden. Und die Wyatts haben ihren Ursprung in Israel und stammen angeblich vom Hohepriester Azariah ab. Der Legende nach soll Azariah nach Erleuchtung gestrebt haben und Gott verlieh ihm daraufhin die Weisheit der Handwerkskunst und die Gabe, mit seinen Ahnungen immer richtig zu liegen, um seinen Segen somit seinem Volk teilhaben zu lassen. Aber Azariah wollte mehr als das. Er wollte alles wissen und soll dabei die verbotene Wahrheit jenseits aller Wahrheiten erkannt und Gottes Zorn erweckt haben. Und daraufhin wurde er mit Wahnsinn bestraft und der Segen wurde zu einem Fluch für ihn und seine Familie. Zumindest ist es das, woran meine Familie glaubt. Jedenfalls wurde der Name Azariah seit Anbeginn weitergegeben. Aber durch irgendwelche Dialekte und Übersetzungsfehler wurde aus Azariah irgendwann Azarias. Genauso wie aus Cohen irgendwann Cohan wurde.“ Leron war nach einer etwas unruhigen Nacht aufgewacht, nachdem er stundenlang wachgelegen und gegrübelt hatte. Er hatte die ganze Zeit an die gestrige Diskussion mit Simon denken müssen und wie dieser tatsächlich kurz davor gewesen war, ihn zu verlassen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass seine Entscheidung solch schwer wiegende Konsequenzen haben könnten und ihm wurde klar, dass er etwas tun musste, um die Beziehung zu retten, wenn er Simon nicht verlieren wollte. Und dann musste auch noch alles zu einem Zeitpunkt passieren, der ohnehin schon kritisch war. In wenigen Tagen würde die Überschreibung der Firma Evans Energy abgeschlossen sein und dann würde er der neue Konzernleiter werden, was ohnehin schon äußerst stressig und zeitaufwendig sein würde. Rein theoretisch könnte er einen Stellvertreter ernennen, der seine Interessen vertrat, sodass er sich auch um einige andere Dinge kümmern konnte, aber das war auch nicht mal eben schnell gemacht, sondern erforderte sorgfältige Planung. Ach, das alles war schon schlimm genug und dieses seltsame Verhalten seines Vaters gab ihm ebenso Rätsel auf. Es schien so, als hätte sich alles abgesprochen, um seine Belastbarkeit auf die Probe zu stellen. Zumindest war es tröstlich, dass Anthonys Verletzung nicht allzu schlimm gewesen war. Er hatte eine Gehirnerschütterung davongetragen und war für ein paar Tage krankgeschrieben, damit er sich davon erholen konnte. Zumindest hatte er schon mal eine Sorge weniger. Jetzt musste er nur noch die Beziehung zu Simon retten und sein Vertrauen wiedergewinnen. Das war jetzt am wichtigsten. Nachdem Leron sich im Badezimmer frisch gemacht hatte, ging er zur Küche, hielt jedoch auf dem Flur inne, als er Stimmen hörte. Es war Simon, der mit irgendjemandem redete. Und diese andere Stimme kam ihm verdächtig vertraut vor. Leron ahnte Schlimmes und wurde auch sofort bestätigt, als er Azarias am Tisch sitzen und mit Simon reden sah. Sofort schauten ihn die grasgrünen Augen des Jungen an und ein breites Grinsen folgte. „Ah, da bist du ja. Kaffee steht schon bereit. Kannst dich gerne dazusetzen, wenn du willst.“ „Was zum Teufel machst du hier?“ rief der Unternehmer sofort und ging sofort zu Simon, der mit dem Rücken zu ihm saß und legte eine Hand auf seine Schulter. „Hat er dir irgendetwas angetan?“ „Nein, keine Sorge“, beschwichtigte dieser ihn. „Azarias ist hergekommen, um sich für das ganze Theater zu entschuldigen, das er gestern veranstaltet hat. So wie sich das anhörte, hatte er sich nicht im Griff, weil er vergessen hatte, seine Medikamente zu nehmen.“ „Und du glaubst solch eine fadenscheinige Ausrede?!“ „Äh… ich sitze zufällig direkt in Hörweite und du müsstest sehr gut wissen, wie schnell man Rückfälle kriegt, wenn man vergisst, seine Tabletten zu nehmen.“ Entnervt seufzte Leron und dachte darüber nach, diesen vorlauten Rotzbengel schnellstmöglich vor die Tür zu setzen. „Was willst du eigentlich hier?“ „Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich den Alten niedergeschlagen und Simon erschreckt und dann auch noch versehentlich das mit seinem Vater ausgeplaudert habe. Zu meiner Verteidigung: ich hatte zuerst befürchtet, ein psychopathischer Serienmörder will mir die Augen rausreißen und ich kann ja wohl schlecht wissen, welche Geheimnisse ihr voreinander habt. Aber ich habe mich danebenbenommen und entschuldige mich hiermit.“ Doch das kaufte der Unternehmer ihm nicht ab. Nichts an diesem Kerl wirkte auch nur im Geringsten danach, als würde er auch nur so etwas wie einen Funken Reue empfinden für das, was er getan hatte. Stattdessen wirkte es eher danach, als würde er es sagen, weil man ihn dazu gedrängt hatte. „Ich brauche keine Entschuldigung von jemandem, der es nicht einmal ehrlich meint.“ „Ich versuche wenigstens höflich zu sein“, kam es beleidigt zurück. „Und was ist denn schon dabei, dass ich den Opa niedergeschlagen habe? Er hat mich erschreckt! Was ist denn schon großartig dabei.“ Er spürte, wie die Wut wieder hochkochte und wollte Azarias endgültig rausschmeißen, doch da ging überraschend Simon dazwischen. „Lass es sein, Leron. Er hat doch selbst gesagt, dass er unzurechnungsfähig ist. Also versteht er gar nicht, dass das, was er getan hat, falsch ist.“ Doch so wirklich wollte er es trotzdem nicht glauben. Er hielt weiterhin an seiner Überzeugung fest, dass Azarias das alles nur vorspielte, um sich eventuellen Konsequenzen zu entziehen. Dieser Junge tauchte hier einfach so auf, verursachte ein totales Durcheinander und spielte sich hier auf, als hätte er hier das Sagen. So viel Unverschämtheit hatte er selten erlebt. „Oh Mann, ihr Cohans habt aber auch alle echt eine verdammt angriffslustige Ader“, kam es von dem 22-jährigen, als hätte er seine Gedanken verloren. „Genau deshalb hasse ich es, mit euch zu diskutieren. Ihr seid nicht nur ein misstrauisches Völkchen, sondern auch noch verdammt stur. Nur um das klarzustellen: mein Hauptziel ist es, Simon zu helfen und ich bin hier, um das wegen gestern wieder geradezubiegen und weil ich dich vorwarnen will, dass du heute Besuch bekommst.“ „Besuch?“ fragte Leron überrascht und schüttete sich eine Tasse Kaffee ein. „Und wer ist es?“ „Lotta Muldaur. Sie will mit dir über ein paar Familienangelegenheiten sprechen, aber mehr verrate ich lieber nicht. Ich will nicht schon wieder Ärger kriegen… Naja, ich habe meinen Job getan und gehe jetzt besser. Ihr beide wollt ja sowieso noch miteinander reden. Ach, bevor ich es noch vergesse: ich wollte dir das hier noch geben, Simon.“ Damit kramte Azarias einen etwas zerknickten Umschlag heraus und reichte ihn Simon und verabschiedete sich dann. Als er gegangen war, atmete Leron geräuschvoll aus und spürte eine gewisse Erleichterung, dass dieser ungebetene Besucher endlich gegangen war. Dieser war aber auch verdammt anstrengend. Nun konnte er sich endlich Simon widmen und mit ihm reden. „Wie geht es dir eigentlich? Fühlst du dich schon etwas besser?“ Ein Nicken kam zur Antwort und Simon begann von seiner gestrigen Behandlung zu erzählen, die in all der gestrigen Aufregung völlig in den Hintergrund gerückt war. Er war erleichtert zu hören, dass alles gut verlaufen war und wollte natürlich sehen, ob es schon erste sichtbare Fortschritte gab und sah sich Simons Augen genauer an. Und tatsächlich waren bereits Teile der Iris sichtbar und er konnte auch schon die Pupille erkennen. Zwar waren sie immer noch von einem blassen Schleier getrübt, aber Simons Augen wirkten bereits jetzt schon wesentlich natürlicher. Es war allerdings noch nicht feststellbar, was für eine Farbe sie hatten. Es konnte ein grau oder ein helles blau sein. Dies besserte Lerons Stimmung erheblich. Er hatte sich schon fast Sorgen gemacht, es würde nicht funktionieren oder es könnten Komplikationen auftreten. Aber es schien alles ganz normal zu verlaufen. „Und?“ wollte Simon wissen. „Wie sieht’s aus?“ „Sehr gut“, antwortete Leron und konnte nicht anders, als zu ihm zu gehen und ihn fest in den Arm zu nehmen. Zwar konnte der Junge noch nicht gut genug sehen um diese feinen Veränderungen festzustellen, aber dafür konnte er es sehen und sich für Simon freuen, dass sich sein sehnlichster Wunsch endlich erfüllte. „Es fehlt nicht mehr viel. Ich kann bereits die Pupillen und die Iris sehen. Vielleicht geht der Rest ja schnell und dann wissen wir auch deine Augenfarbe.“ Simon strahlte übers ganze Gesicht als er diese Nachricht hörte und für diesen Augenblick waren der Streit und all der Ärger vergessen und sie beide waren einfach nur glücklich. Und vor allem Leron war glücklich. Nach all den Dingen, die passiert waren und die Simon so sehr zugesetzt hatten, hatte er so etwas wirklich gebraucht. Und er hatte es mehr als verdient, dass ihm auch etwas Gutes widerfuhr. Der Junge hatte sein ganzes Leben lang genug durchgemacht und genug Opfer auf sich genommen, um sich seinen Traum zu erfüllen. „Ich kann es immer noch nicht glauben…“ Simon löste sich von ihm und wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. „Es fühlt sich immer noch wie ein Traum an.“ „Das glaube ich dir sofort“, stimmte Leron zu. Um ehrlich zu sein war es auch für ihn sehr ungewohnt, Simon mit diesen Augen zu sehen. Er hatte sich schon an diese unmenschlichen weißen Augen gewöhnt, die so leer und ausdruckslos gewirkt hatten. Und eigentlich hatte er sich auch nie so wirklich daran gestört. Zugegeben, beim ersten Mal war er schon erschrocken gewesen, aber er hatte sich ja nicht wirklich in Simons Augen verliebt. Er hatte eine Art besondere Verbindung zu ihm gespürt und hatte ihn seitdem so geliebt wie er war. Aber er wusste, wie sehr Simon selber unter diesen unnatürlichen Augen zu leiden hatte und es machte ihn glücklich zu sehen, dass sich die harte Arbeit und all die Opfer endlich für ihn bezahlt machten. „Wie wäre es, wenn wir das feiern, hm?“ Für einen Moment schien Simon überzeugt zu sein, doch Leron konnte ihm ansehen, dass er lieber etwas anderes machen würde. Etwas, das ihm wesentlich dringender erschien. Und es brauchte nicht einmal Worte der Erklärung um zu wissen, woran Simon gerade dachte. „Du willst zuerst deinen Vater sehen, richtig?“ Ein Nicken kam zur Antwort und der 21-jährige schaute auf den Umschlag, den Azarias da gelassen hatte. „Es lässt mir einfach keine Ruhe, Leron. Ich will wissen, wer meine Erzeuger sind und warum ich damals einfach wie Abfall weggeworfen wurde… ob es meine Mutter oder mein Vater war. Und auch wenn dieser Alan Henderson ein krimineller Perverser ist, der sich an Mädchen vergangen hat, will ich ihn zumindest ein einziges Mal persönlich sehen. Dann habe ich endlich Ruhe und kann mich auf andere Dinge konzentrieren.“ Insgeheim hatte Leron das schon befürchtet. Und er konnte es ihm nicht einmal verdenken. Wahrscheinlich würde es ihm nicht anders ergehen, wenn er dieses Problem hätte. Und er wusste, dass er nicht in der Position war, Simon davon abzuraten. Nach dem gestrigen Streit war es das Beste, wenn er ihn so gut es ging unterstützte. „Nun gut, das hat natürlich erst einmal Vorrang. Soll ich mit dir kommen?“ Doch sein Petboy lehnte ab und erklärte „Du bekommst doch eh nachher Besuch. Ich rufe Cypher an und fahre mit ihm zusammen. Ich denke mal, er will unseren Vater vielleicht auch kennen lernen. Aber bevor ich es vergesse…“ Nun begann er den Umschlag zu öffnen, den Azarias ihm da gelassen hatte und fischte einen Brief heraus. Da er nicht wirklich entziffern konnte, was geschrieben stand, reichte er ihn Leron, damit er ihn vorlas. Der Unternehmer nahm das Schreiben entgegen und hob die Augenbrauen, als er das Geschriebene sah. Er hatte selten in seinem Leben eine derart chaotische und krakelige Handschrift gesehen und er hatte schon einige unleserliche Schreiben entziffern müssen. Meine Güte, dachte er sich und schüttelte den Kopf. Das sieht ja aus als hätte das ein Kind geschrieben. Er überflog den Brief kurz und versuchte die unleserlichen Stellen mit großer Mühe zu entziffern, aber das war kein sonderlich leichter Job. „Und?“ wollte Simon ungeduldig wissen. „Was steht drin?“ „Ich kann diese Sauklaue ziemlich schwer lesen“, gestand Leron und musste manches Wort mehrfach lesen, um es zu erkennen, was es bedeutete. Hallo Simon! Sorry noch mal wegen dem ganzen Theater gestern. Da du ja deinen Vater besuchen willst, habe ich dir mal die Adresse von dem Gefängnis aufgeschrieben. Die hast du ja noch nicht: Alan Henderson sitzt im Metropolitan Correctional Center, 150 Park Row NY. Besuch ihn am besten gegen 13 Uhr, da erwischst du ihn am besten. Dein Besuch ist auch schon angemeldet. Ich war so frei. PS: Falls du deine Mutter kontaktieren willst: ihr Name ist Rose Witherfield und sie lebt in Annatown in Ohio auf der Evergreen Farm. Ihre Nummer habe ich gleich mit aufgeschrieben. Sie weiß noch nichts da ich dachte, du willst es ihr selber sagen. Bleib frisch! Azarias Simon schluckte schwer und wirkte nun deutlich nervöser. Und Leron konnte es ihm nicht wirklich verübeln. Das alles geschah wirklich sehr schnell. Nach 21 Jahren der Ungewissheit wusste er nun die Namen seiner leiblichen Eltern und konnte nun mit ihnen in Kontakt treten. Aber das gehörte auch dazu und da musste er jetzt durch. Aber dann hatte er wenigstens feste Gewissheit über seine Herkunft und konnte endlich nach vorne sehen. Kapitel 58: Blutsverwandtschaft ------------------------------- Es regnete in Strömen und es war außerordentlich kalt, als Simon zusammen mit Cypher zum Gefängnis fuhr, welches Azarias in dem Schreiben genannt hatte. Nachdem er seinen Bruder angerufen und ihm alles erzählt hatte, war dieser mit Hunter zur Villa gefahren, um ihn abzuholen. Natürlich wollte der 25-jährige Künstler seinen biologischen Vater genauso sehr kennen lernen wie Simon und ließ sich nicht sonderlich von der Geschichte um diesen Alan Henderson aus der Ruhe bringen. Er hatte auch genau die richtige Einstellung zu der ganzen Sache und sagte einfach, dass er keinen Vater brauchte, weil er bereits erwachsen war und er glücklich mit den Menschen in seinem Leben war, die er hatte. Also war es auch kein großer Verlust für ihn, seinen Erzeuger aus seinem Leben rauszuhalten. Eigentlich dachte Simon genauso, aber dennoch war er nervös. Während der Fahrt hatte er gedankenverloren aus dem Fenster gesehen, ohne jedoch wirklich viel zu sehen und hatte Cyphers Musik gelauscht, die während der Fahrt lief. Und aus irgendeinem Grund ließ ihn Alice Coopers Song „Poison“ schon fast melancholisch werden und er musste an seine Kindheit zurückdenken, in der seine einzigen Freunde seine Murmeln und seine Musik waren. Cypher hingegen ging mit diesem Song regelrecht auf und sang lauthals mit so als wäre er auf dem Weg zu einer Party und nicht zu einem Gefängnisbesuch. Er schien richtig gute Laune zu haben und irgendwie beneidete Simon ihn dafür. Als sie das Gefängnis erreichten, setzte Hunter sie ab, damit sie schon mal hineingehen konnten, während er draußen im Auto warten würde. Immerhin war das eine Familienangelegenheit und es hätten ihn ohnehin keine zehn Pferde dort hineingebracht. Da sie keinen Regenschirm dabei hatten, beeilten sie sich, so schnell wie möglich aus dem Regen herauszukommen und betraten die Vollzugsanstalt. Es war kalt und steril und die Wände waren so grau wie der Boden. Sie gingen sich anmelden, gaben alle metallischen Gegenstände ab und passierten die Sicherheitsschleuse. Ein uniformierter Wachmann, der mit einem Schlagstock bewaffnet war, empfing sie an der Tür und führte sie in den Besucherraum. Es war ein etwas kleiner Raum, in welchem es außer einem Tisch und ein paar Stühlen nichts gab. Nur ein vergittertes Fenster bot einen Blick in die Freiheit und Simon fühlte sich mehr als unwohl an diesem Ort. Es war beklemmend und derart eingesperrt zu sein war beängstigend. Zum Glück gehörte er nicht zu den Gefangenen. Sie setzten sich beide an den Tisch und warteten. Der 21-ährige versuchte, wieder ruhiger zu werden und atmete tief durch, in der Hoffnung, dass dies auch seine Nervosität linderte. Cypher, der weitaus weniger mit Aufregung zu kämpfen hatte, klopfte seinem jüngeren Bruder auf die Schulter und sprach ihm gut zu. „Das wird schon werden. Wenn du dich unwohl fühlst oder gehen willst, sag mir ruhig Bescheid, okay?“ Simon nickte nervös und begann sich aus lauter Unruhe die Hände zu reiben und sich immer wieder in diesem kalten und sterilen Besucherraum umzusehen. Als dann aber die Stille jäh vom geräuschvollen Öffnen der Metalltür zerrissen wurde, zuckte Simon erschrocken zusammen und hatte erst das Gefühl, ihm würde gleich das Herz stehen bleiben. Sofort wandte er seinen Blick zur Tür um zu sehen, wer da reinkam. Es war ein Gefängniswärter und ihm folgte ein knapp 53-jähriger Mann in orangefarbenem Gefängnisoverall. Er war untersetzt und war knapp 1,80m groß. Sein Haar war bereits licht geworden und unfrisiert. Zwischen all den dunkelgrauen und teilweise schon silbrig weißen Strähnen konnte man seine dunkelbraune Haarfarbe noch erkennen. Sein Gesicht erinnerte Simon unfreiwillig ein wenig an Marlon Brando aus dem Film Der Pate, wenn gleich es nicht das gleiche Charisma besaß. Stattdessen wirkte dieser Mann wie jemand, der bereit war, jedem in den Rücken zu fallen, wenn sich ihm die Gelegenheit bot. Seine Augen waren von einer unbestimmten Farbe und milchig trüb. Es schien so, als wären sie von einer Art durchsichtigen weißen Schleier bedeckt. Simon wagte es kaum zu atmen und das Schlucken fiel ihm schwer. Dieser Mann war sein Erzeuger… und von ihm hatten er und Cypher diesen Gendefekt geerbt. Misstrauisch beäugte Alan Henderson die beiden und legte seine Hände auf den Tisch, wobei die Ketten der Handschellen leise klapperten. „Wer seid ihr zwei und was zum Teufel wollt ihr von mir?“ Simon öffnete den Mund um etwas zu sagen. Doch er schaffte es gar nicht erst, auch nur ein Wort hervorzubringen. Also übernahm Cypher für ihn, der zwar auch ein wenig aufgeregt schien, aber einen etwas mehr entspannten Eindruck machte. „Guten Tag, Mr. Henderson. Mein Name ist Cypher Grant und das ist mein Bruder Simon Cavanaugh. Wir sind hier weil wir erfahren haben, dass Sie unser biologischer Vater sind und deswegen wollten wir Sie kennen lernen.“ Nun hoben sich die ebenso ergrauenden Augenbrauen skeptisch und der Inhaftierte sah die beiden Brüder eindringlich an und stieß dann ein ungläubiges Lachen aus. „Wollt ihr mich verarschen? Ich habe keine Kinder! Ihr habt euch da offenbar in etwas verrannt.“ „Sagt Ihnen der Name Rose Witherfield etwas?“ fragte Simon, der nun endlich seine Starre überwunden hatte und sich endlich wieder gefasst hatte. Und nun wollte er auch nicht wirklich Zeit damit verschwenden, mit einem Kriminellen ewig zu diskutieren, ob dieser nun wirklich sein Erzeuger war oder nicht. Es schien auch zu klappen, denn kaum, dass der Name fiel, regte sich etwas in dem eingefallenen Gesicht und die Augen glommen auf, als der alte Hass wieder zum Leben erwachte. „Rose…“, sagte Henderson langsam und gedehnt und seine Augen weiteten sich. „Dieses Miststück also…“ „Was ist damals zwischen Ihnen passiert?“ hakte Simon sofort nach und konnte sich nun nicht mehr bremsen. „War sie eines Ihrer Models gewesen?“ Alan Henderson zog nun die Arme vom Tisch und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Ein widerwärtiges Grinsen zog sich über sein Gesicht und enthüllte dabei seine Zähne, die nicht sonderlich gepflegt aussahen. „Ihr wollt also mehr ober Rose erfahren? Na schön, dann erzähle ich es euch. Ich habe ja eh nichts Besseres zu tun. Also dann sperrt mal schön die Lauscher auf: ich habe Rose damals aus einem kleinen Kaff in Ohio gefunden. Zwar kriegt man schnell und einfach schöne Mädchen in den Großstädten, aber das Problem ist, dass man schnell nach ihnen sucht. Und sie sind bei weitem nicht so naiv wie die vom Lande. Und Rose war sowohl schön als auch naiv. Und mit 13 Jahren war sie damals auch nicht sonderlich verbraucht und genau mein Typ.“ Simon wurde schlecht bei diesem Gedanken und auch Cypher konnte es kaum glauben und fragte fassungslos „Sie haben mit 13-jährigen Mädchen geschlafen?“ „Ich stehe halt nicht sonderlich auf erwachsene Frauen“, gab Henderson schulterzuckend zurück, ohne dabei die geringste Reue zu empfinden. Es schien nicht einmal ein großes Problem für ihn zu sein, so etwas offen zuzugeben. „Und es ist ja nicht so, als hätte ich sie vergewaltigt. Rose wollte ja unbedingt mitkommen. Sie kam aus einem kleinen Kaff auf dem Lande und wollte mehr als bloß das. Sie träumte davon, mal ganz groß rauszukommen und berühmt zu werden. Ich sagte ihr, Marilyn Monroe war auch Schönheitsikone und Star gewesen und wenn sie es richtig anstellt, könnte sie genauso berühmt werden. Sie hätte ja bei ihrer Familie bleiben können, aber stattdessen hat sie sich dazu entschieden, von zuhause wegzulaufen und zu mir nach New York zu kommen. Ich habe ihr also bloß einen Gefallen getan. Ich habe ihr eine Modelkarriere verschafft und sie hat die Großstadt kennen gelernt. Und ich habe ihr gezeigt, wie es in der Branche so zugeht. Ich habe trotz allem meine Arbeit in der Agentur ernst genommen.“ „Gehörte der Sex etwa auch dazu und dass Sie den Zuhälter für diese Mädchen gespielt haben?“ erwiderte Simon, der es sich schwer vorstellen konnte, dass ein 13-jähriges Mädchen so einfach mit ihm ins Bett ging. Zumindest hoffte er, dass wenigstens seine biologische Mutter nicht so schmierig war wie dieser Henderson. Das Grinsen schwand aus dem Gesicht des Insassen und er blitzte Simon argwöhnisch an. „Wenn du die ganze Geschichte hören willst, dann unterbrich mich gefälligst nicht. Säße ich nicht im Knast, dann hätte ich dir für deine vorlaute Klappe schon längst eine geklebt! Und lass mich mal eines klarstellen: irgendwie musste ich meine Agentur ja finanzieren. Wenn keine Aufträge reinkamen und das Geld knapp wurde, dann mussten die Mädels halt ran. Ich bin immerhin nicht die Wohlfahrt und ich habe die Mädchen zum Arbeiten zu mir geholt und nicht, damit sie sich auf meine Kosten ein schönes Leben machen können. Wenn dir das nicht passt, dann ist das nicht mein Problem. So läuft das Geschäft halt.“ Simon rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum, um eine bequemere Position zu finden. Dieser Kerl, der ihm gegenübersaß, widerte ihn einfach nur an und erinnerte ihn nur allzu sehr an die Freier, die er während seiner Zeit auf dem Straßenstrich als Kunden hatte. Und ihm drehte sich der Magen bei der Vorstellung um, dass dieser schmierige Päderast jahrelang so erfolgreich mit seiner Agentur war, die im Grunde eigentlich nur dazu diente, seine kranken Machenschaften zu verschleiern. „Was genau ist passiert, nachdem Rose zu ihrer Agentur kam?“ „Die Agentur lief gut und ich habe richtig Geld mit den Mädels gemacht“, verkündete Henderson stolz, doch der Stolz wich schnell dem Zorn, als er fortfuhr „Aber Rose hatte angefangen, Probleme zu machen. Sie kam eines Tages zu mir und sagte, sie sei schwanger von mir. Ich bin fast vom Glauben abgefallen! Sie wollte wieder zurück nach Hause zu ihrer Familie nach Ohio und ihre Modelkarriere aufgeben. Das konnte ich natürlich nicht zulassen. Selbst diese Landeier hätten eins und eins zusammengezählt und ich hätte Ärger mit der Polizei gekriegt und nicht nur meine Agentur hätten sie dicht gemacht, ich hätte auch noch die Polizei an der Backe gehabt! Also habe ich sie unter Druck gesetzt und ihr gesagt, sie solle das Kind weggeben. Andernfalls würde ihre Familie spitzkriegen, dass sie sich für ältere Männer prosituiert, um Karriere als Model zu machen. Danach hat sie Ruhe gegeben und gespurt und das Kind weggegeben.“ Simon warf Cypher einen Blick zu, der sofort seine Schlüsse zog und mit einem bedächtigen Nicken murmelte „Also hat sie mich damals vor dem Kloster ausgesetzt, weil sie unter Druck gesetzt worden war. Verstehe… Aber was ist mit Simon? Er war damals in seinem Müllcontainer gefunden worden. Wieso wurde er nicht auch im Kloster oder in einem Waisenhaus abgegeben?“ Hier veränderte sich Hendersons Blick und eine Mischung aus Erstaunen und Ungläubigkeit zeichnete sich in seinem Gesicht ab, als er seinen jüngeren Sohn anstarrte. „Also du bist… Scheiße und ich dachte echt, du wärst verreckt.“ Simons Magengegend schnürte sich bei diesen Worten zusammen und ein Gefühl von Übelkeit überkam ihn. Was sollten diese Worte bedeuten? Hatte seine Mutter etwa beabsichtigt, ihn zu töten? Oder wollte Henderson ihn etwa umbringen? „Was… was meinen Sie damit?“ Das Gesicht des Verurteilten verzerrte sich vor Wut und er knallte die Hände auf den Tisch, beugte sich vor und starrte ihn mit solch einem Hass und einer unbändigen Wut an, als wolle er Simon mit einem bloßen Blick töten. „Dieses kleine Flittchen hat versucht, den Spieß umzudrehen! Keine Ahnung, wer ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hat. Knapp vier Jahre lang hat sie alles getan, was ich ihr gesagt habe, als sie dann wieder schwanger geworden war, da hatte sie plötzlich nicht mehr gewollt. Nein, sie kam zu mir und hat gesagt, sie würde zur Polizei gehen und alles ausplaudern und mich hinter Gittern bringen. Egal, was ich ihr auch geboten habe, sie wollte nicht mehr hören. Also bin ich ihr zuvorgekommen. Ich habe versucht, sie umzubringen, als sie aus dem Krankenhaus kam, aber das verdammte Miststück war immer noch am Leben, als ich sie mit dem Wagen erwischt habe. Und ich konnte doch nicht zulassen, dass sie mich ruiniert, nur weil sie zu blöd war, ihre Schwangerschaft rechtzeitig zu bemerken und das Kind abtreiben zu lassen. Ich musste die Beweise verschwinden lassen. Also habe ich mir ihr Balg geschnappt, bin abgehauen und habe es irgendwo in einer Hintergasse auf den Müll geworfen. Es hatte sowieso nicht mehr geschrien und ich dachte echt, es wäre verreckt. Tja, letzten Endes hat diese Aktion auch nicht viel gebracht. Ich dachte, wenn ich mit einem anderen Wagen fahre als meinen, dann würde ich nicht auffliegen. Aber dummerweise hat mich ein Streifenpolizist aufgehalten und alles ist aufgeflogen. Und nun sitze ich hier seit knapp 21 Jahren und werde noch den Rest meines Lebens hier verbringen.“ Nun endlich fügte sich langsam das Bild zusammen und Simon begann zu begreifen. Dann war seine Mutter also jenes Mädchen, das Henderson damals überfahren hatte. Also war sie damals gar nicht gestorben, sondern hatte den Mordversuch überlebt und sie war es gar nicht gewesen, die ihn in den Müllcontainer geworfen hatte. Es war Henderson gewesen, der die Beweise verschwinden lassen wollte, um zu verhindern, dass ans Tageslicht kam, dass er Sex mit den Models aus seiner Agentur hatte. Seine Mutter war jahrelang von diesem Widerling zum Sex gezwungen worden, weil er sie und all die anderen Models erpresst hatte. Fassungslos schüttelte er den Kopf und konnte es kaum glauben. „Sie sind echt das Allerletzte!“ „Hey, ich bin bereits verurteilt worden“, erwiderte Henderson ohne den geringsten Anflug von Reue oder Schuldgefühlen. „Also reg dich mal nicht so auf. Eure Mutter ist von zuhause weggelaufen und wollte unbedingt eine Berühmtheit werden. Was kann ich denn dafür, wenn sie so dumm und naiv ist? Ich habe sie nicht gezwungen, zu meiner Agentur zu kommen. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen und sie hat mich regelrecht darum angebettelt, dass ich ihr Manager werde. Ich habe ihr nur einen Gefallen getan und wenn sie keine Ahnung davon hat, wie es in dieser Branche läuft, dann ist das ihre eigene Schuld.“ Nun reichte es Simon endgültig. Er konnte einfach nicht mehr ruhig sitzen bleiben und sich dieses selbstgerechte Geschwafel anhören und war drauf und dran, diesem Henderson ins Gesicht zu schlagen, doch da hielt Cypher ihn zurück. Doch auch er wirkte danach, als würde er ihm am liebsten eine reinhauen. „Lass es gut sein, Simon. Dieser Arsch ist es nicht wert, dass du wegen ihm Ärger bekommst.“ „Tut mir leid, dass ihr die Wahrheit nicht vertragen könnt“, meinte Henderson mit einem selbstgefälligen Grinsen. „Für so etwas braucht es immer zwei. Aber zumindest war sie verdammt gut im Bett, das muss man ihr lassen. Sie hätte dankbar sein sollen, dass ich sie mit 18 Jahren überhaupt noch rangelassen habe.“ „Sie sind echt das Allerletzte“, gab Cypher angewidert zurück. „Na wenigstens haben Sie Ihre gerechte Strafe gekriegt und sitzen für den Rest Ihres Lebens hinter Gittern. Zumindest sind die Mädchen vor einem Päderasten sicher.“ Da kein weiterer Grund mehr bestand, noch hierzubleiben, erklärten Cypher und Simon ihren Besuch für beendet und Henderson wurde vom Wärter aus dem Raum geführt und zurück zu seiner Zelle gebracht. Daraufhin kam ein weiterer Wärter, der sie zurück zur Sicherheitsschleuse geleitete und dort ihre Sachen wiedergab, die sie für die Dauer ihres Besuches zurücklassen mussten. Sie verließen das Gefängnis und atmeten die frische Luft ein und spürten den kühlen Wind auf ihrer Haut. Simon war heilfroh, endlich wieder draußen zu sein. Nicht nur, dass diese Gefängnisatmosphäre mehr als beklemmend und trist gewesen war, auch dieser Henderson war auch noch mal eine Klasse für sich gewesen. Selten hatte er so einen widerwärtigen Menschen getroffen wie ihn. Aber wenigstens hatte er ihn jetzt persönlich getroffen gehabt und konnte mit diesem Kapitel nun komplett abschließen. Mit so einem Menschen brauchte man ohnehin keinen Kontakt zu haben. „Oh Mann“, seufzte Cypher und fuhr sich durch sein langes schwarz gefärbtes Haar mit den feuerroten Spitzen. „Es heißt ja, dass man sich die Familie nicht aussuchen kann, aber bei diesem Arsch bin ich echt froh, dass ich im Kloster aufgezogen wurde.“ Dem konnte Simon nur zustimmen. „Ja, alles ist besser als der.“ „Und was machen wir jetzt?“ hakte sein älterer Bruder nach. „Azarias hat dir ja die Nummer unserer Mutter gegeben, oder? Sollen wir nachher bei ihr anrufen?“ Doch hier zögerte Simon und war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob das wirklich eine gute Idee war. Seinen Vater im Gefängnis zu besuchen war eine Sache. Aber die Mutter zu kontaktieren, die ungewollt schwanger geworden und dann auch noch jahrelang von so einem widerwärtigen Kerl zum Sex gezwungen und fast umgebracht worden war, das war eine ganz andere Hausnummer. Was wenn sie nach all den Jahren ein neues Leben aufgebaut und eine neue Familie hatte? Was, wenn sie bloß wieder an traumatische Dinge erinnert werden würde, wenn sie von den Söhnen ihres Peinigers angerufen werden würde? „Ich… ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, antwortete er unsicher. „Was, wenn wir nur unangenehme Erinnerungen wachrufen, wenn sie Kontakt zu ihr aufnehmen? Nach allem, was sie durchlebt hat, glaube ich kaum, dass sie wirklich Interesse daran hat, die Kinder jenes Mannes kennenzulernen, der sie jahrelang zum Sex gezwungen hat.“ „Woher willst du das wissen?“ wollte Cypher wissen, der anscheinend schon seinen eigenen Entschluss gefasst hatte. „Vielleicht will sie uns ja kennen lernen. So wie sich das für mich anhörte, wollte sie uns gar nicht weggeben und hat es nur unter Druck getan. Und sie hat dich ja nicht einmal weggeben. Vielleicht weiß sie ja nicht einmal, dass du lebst. Also ich denke, wir sollten es zumindest versuchen. Was haben wir denn großartig zu verlieren.“ „Wir nicht, aber was wenn wir ihr Leben ruinieren, wenn wir Kontakt zu ihr aufnehmen?“ „Inwiefern denn ruinieren? Laut Azarias‘ Information ist sie wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und selbst wenn sie eine neue Familie haben sollte, was sollte das denn großartig ändern? Es liegt nicht an uns, sondern an ihr, dass sie offen und ehrlich über ihre Vergangenheit mit Henderson ist. Wir können gar nichts für das, was damals passiert ist. Und ich finde, sie hat ein Recht darauf zu erfahren, dass du damals nicht gestorben bist, sondern dass du überlebt hast. Vielleicht zerbricht sie sich ja auch seit Jahren den Kopf darüber, was mit ihrem zweiten Kind passiert ist, als sie unter die Räder gekommen ist. Wir müssen ja nicht direkt mit der Tür ins Haus fallen und direkt am Telefon sagen Hallo, ist da Rose Witherfield. Hier sind Cypher Grant und Simon Cavanaugh, wir sind die Söhne, die Sie mit Alan Henderson gezeugt haben. Wenn wir es behutsam angehen, sollte doch nichts schief gehen.“ Eigentlich hatte Cypher Recht, aber trotzdem war er unsicher, ob er das wirklich tun sollte. Aber warum fiel es ihm so schwer, sich dazu zu überwinden, mit seiner leiblichen Mutter in Kontakt zu treten, obwohl er bei Henderson überhaupt keine Probleme gehabt hatte? Irgendwie verstand er sich selber nicht. Da es immer noch in Strömen regnete, hatten sie beschlossen, das Gespräch später fortzusetzen und somit waren sie zum Wagen geeilt und fuhren zur alten Fabrik, wo Cypher und Hunter wohnten. Da Leron höchstwahrscheinlich gerade mit seinem Besuch beschäftigt war, wollte Simon ihn lieber alleine lassen. Außerdem musste er sich mit Cypher überlegen, ob sie jetzt nun Kontakt zu Rose Witherfield aufnehmen sollten und wenn ja, wie sie es anstellen sollten. Als der Wagen das Ziel erreicht hatte, sahen sie bereits, dass jemand vor der Tür stand und anscheinend wartete. Simon, der nicht genau erkennen konnte, wandte sich an Hunter und fragte ihn „Ist das Azarias?“ Der Bildhauer folgte seinem Blick und antwortete „Nein, es ist Ezra.“ „Ezra?“ fragte Cypher überrascht. „Was will er denn bei diesem Sauwetter hier? Kommt, steigen wir aus. Wahrscheinlich hat er wieder eine halbe Ewigkeit vor der Tür gewartet.“ Die drei stiegen aus dem Wagen und gingen in Richtung Eingangstür. Ezra, der zwar einen Schirm dabei hatte, war trotzdem ziemlich durchnässt und schien zu frieren. Mit einem missmutigen Blick bedachte er die Ankömmlinge und fragte „Wo wart ihr denn?“ „Wir waren unseren Erzeuger besuchen“, antwortete Cypher und schloss die Tür auf. „Und was ist mit dir? Wie lange wartest du hier und wieso hast du uns nicht angerufen, dass du kommst?“ Doch hier zuckte der 16-jährige nur mit den Schultern und meinte, er hätte sein Handy nicht finden können und er wollte unbedingt zu Besuch kommen. Cypher besprach sich kurz mit Hunter und bat ihn, sich um den ungeplanten Gast zu kümmern, während er mit Simon sprechen wollte. Also ging der 24-jährige Bildhauer mit Ezra in Richtung Bad, um ihm ein paar Handtücher zu geben, während Simon und Cypher ins Wohnzimmer gingen, um in Ruhe reden zu können. Um sich ein wenig aufzuwärmen, machte Cypher einen Orangentee fertig und servierte dazu ein paar Kekse. Sie machten es sich auf der Couch gemütlich und gedankenverloren starrte Simon auf seine Tasse. „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Irgendwie hatte ich kein Problem damit, Henderson zu besuchen. Aber… aus irgendeinem Grund habe ich Schiss, unsere Mutter anzurufen.“ „Also ich kann dich verstehen“, gab Cypher zu und gab etwas Kandiszucker in seinen Tee. „Bei Henderson bestand ja auch nicht die Sorge, unsere Existenz könnte sein Leben aus der Bahn werfen. Immerhin sitzt er im Knast und wird auch den Rest seines Lebens dort verbringen. Und Rose ist nicht gerade unter den glücklichsten Umständen schwanger geworden. Und ich kann deine Sorge verstehen, dass sie sich ablehnend uns gegenüber verhalten könnte, wenn wir ihr sagen, dass wir ihre Söhne sind. Aber wir wissen nicht, ob das auch wirklich der Fall sein wird. Klar wird das erst mal ein Schock für sie sein, aber vielleicht will sie uns kennen lernen. Weißt du, als ich während meiner Depression in der Klinik war, da habe ich oft alle möglichen Ängste bezüglich meiner Existenz und meiner Zukunft gehabt. Aber ich habe einen Trick gelernt, wie ich solchen Situationen begegnen kann, ohne den Kopf zu verlieren.“ „Und wie?“ „Ich habe die Dinge aus einer objektiven Sicht betrachtet und mich ganz nüchtern gefragt, was das allerschlimmste ist, was passieren könnte. Wenn du dich damit nicht auseinandersetzt, dann malst du dir schnell alle möglichen Horrorszenarien aus und steigerst dich schnell in deine Ängste und Unsicherheiten hinein. Aber wenn du dir vor Augen hältst, wie das Worst Case Szenario aussieht, dann wirkt es weniger beängstigend. Nimm dir dein jetziges Problem als Beispiel: was wäre denn das allerschlimmste, was dir passieren würde, wenn wir Rose Witherfield anrufen und ihr sagen, dass sie unsere leibliche Mutter ist? Das Worst Case Szenario wäre, dass sie uns nicht kennen lernen will und keinen Kontakt will. Und was ändert es an deinem Leben? Du hast immer noch mich als deinen Bruder und du hast Leron, der für dich sogar einen Löwen mit bloßen Händen töten würde. Im Grunde genommen verlierst du rein gar nichts. Du kannst nur dazugewinnen. Mehr oder weniger ist das eigentlich nicht.“ Ja, da hatte er nicht ganz Unrecht und im Grunde genommen hatte er eigentlich bereits Menschen, die sein Leben bereicherten. Wahrscheinlich hätte die Situation anders ausgesehen, wenn er Leron nicht getroffen hätte, aber jetzt hatte er immerhin Menschen, denen er sich anvertrauen konnte. Er hatte eine Liebesbeziehung mit Leron, er hatte einen großen Bruder und Hunter hatte auch gezeigt, dass er als treuer Freund für ihn da war. Sein Leben war um vieles reicher geworden, seit er bei Leron lebte und er würde nichts davon verlieren, nur weil er versuchte, zu seiner leiblichen Mutter Kontakt aufzunehmen. Also atmete er tief durch und versuchte sich ein wenig zu beruhigen. „Also gut… dann lass es uns versuchen.“ „Das ist die richtige Einstellung!“ lobte Cypher gut gelaunt und klopfte seinem kleinen Bruder freundschaftlich auf die Schulter, als er aufstand um das Telefon zu holen. „Wie sollen wir das machen? Willst du anrufen oder soll ich das machen?“ Simon überlegte kurz. Er wusste ja nicht einmal, was er sagen sollte, wenn er tatsächlich seine leibliche Mutter an den Hörer bekam. Ganz zu schweigen davon, dass er vielleicht vor lauter Aufregung kein Wort hervorbringen würde. Es war ihm ja schon im Gefängnis schwer gefallen, das Gespräch mit seinem Vater zu beginnen. Cypher hingegen hatte sofort die Initiative ergriffen und es war ihm auch nicht schwer gefallen, die richtigen Worte zu finden. Also wäre es eigentlich die vernünftigste Entscheidung, Cypher diese Aufgabe anzuvertrauen. Aber andererseits konnte er sich ja nicht immer bloß auf andere verlassen, sondern musste auch mal selber die Initiative ergreifen. Also antwortete er mit „Ich mache es!“ Der 25-jährige Künstler nickte und reichte ihm das Telefon. „Okay, dann überlasse ich es dir. Und mach dir keinen Stress. Atme tief durch, entspann dich und bleib ganz locker. Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, helfe ich dir einfach.“ „Und wie soll ich ihr am besten sagen, dass wir ihre Söhne sind?“ fragte Simon unsicher und spürte, wie sein Herz vor Aufregung schneller schlug. „Wie bringe ich es ihr am besten bei?“ „Stell dich ganz normal mit deinem Namen vor und sag, dass du in New York lebst. Frage sie, ob sie sich vielleicht noch an ihre Zeit in New York erinnert. Sie wird dann garantiert nachhaken, warum dich das interessiert und dann kommst du darauf zu sprechen, dass sie zwei Kinder hat und dass sie eines davon weggegeben und das andere verloren hat. Sprich alles ganz langsam und vorsichtig an, damit sie nicht völlig überfallen wird und dann kannst du ihr sagen, dass du ihr Sohn bist.“ Okay, das klang doch soweit nach einem guten Plan. Nachdem Simon tief Luft geholt hatte und Cypher für ihn die Nummer auf dem Telefon gewählt hatte, drückte der 21-jährige die Taste mit dem grünen Hörer und wartete, während das monotone Signal des Verbindungsaufbaus ertönte. Es dauerte knapp vierzig Sekunden, bis endlich jemand den Hörer abnahm. Doch es war keine weibliche Stimme. Nein, es war die Stimme eines Mannes. „Hier ist Scott Witherfield, wer spricht da?“ Scott? Witherfield? War das etwa vielleicht Roses Ehemann? Oh Gott, was sollte er jetzt bloß tun? Simon stand kurz vor einer Panik und versuchte etwas hervorzubringen, doch ihm versagte mit einem Male die Stimme und alles was er hervorbrachte, war nur ein „Äh… ah…“ aber mehr auch nicht. „Hallo? Wer spricht denn da?“ fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung und wurde ein wenig ungehaltener. Das machte die Sache auch nicht gerade leichter für Simon. Da er merkte, dass er kein Wort mehr hervorbringen würde, drückte er hastig Cypher das Telefon in die Hand, damit er die Situation rettete. Dieser räusperte sich kurz und setzte ein freundliches Lächeln auf. „Schönen guten Tag, Mr. Witherfield. Hier spricht Cypher Grant, ich rufe aus New York an. Entschuldigen Sie vielmals die Störung, aber wäre es möglich, dass ich mit einer Dame namens Rose Witherfield sprechen könnte?“ „Tut mir leid, aber meine Frau ist gerade beschäftigt und kann nicht ans Telefon. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ „Entschuldigen Sie, aber das ist eine private Angelegenheit und da würde ich gerne lieber mit Ihrer Frau persönlich darüber sprechen. Wann wäre sie denn wieder erreichbar?“ „Ich schätze mal in einer Stunde. Am besten schreibe ich mir mal die Nummer auf, dann kann sie sich bei Ihnen zurückmelden.“ „Okay, vielen Dank Mr. Witherfield. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“ Damit war das Gespräch beendet und ein eventuelles Desaster abgewendet. Erleichtert atmete Simon aus und war froh, dass Cypher es geschafft hatte, so schnell und elegant die Situation zu retten. Aber sonderlich besser fühlte er sich auch nicht. Seine leibliche Mutter hatte also einen Ehemann… und vielleicht sogar Kinder. Na hoffentlich führte ihre Aktion nicht dazu, dass sie aus Versehen eine Familie entzweiten, nur weil sie sich in das Leben ihrer Mutter drängten. Kapitel 59: Angst und Freude ---------------------------- Die Wartezeit zog sich quälend langsam hin und Simon begann nervös auf seinen Fingernägeln zu kauen. Oh Gott, dachte er sich und hatte das Gefühl, jeden Moment an die Decke zu gehen. Ihre leibliche Mutter würde sie bald zurückrufen. Nicht wissend, was ihr bevorstehen würde. Was, wenn sie ihnen gar nicht glaubte und es nur für einen makabren Scherz hielt? Was, wenn ihr Mann Verdacht glaubte, sie hätte Geheimnisse vor ihm und sie hätten dann mit ihrer Aktion eine Ehe ruiniert? Cyphers gut gemeinter Ratschlag, das alles wesentlich entspannter zu sehen, war leider zwecklos, denn Simon war vollkommen durch mit den Nerven und stand unter Strom. Der entscheidende Schritt war getan und es gab kein Zurück mehr. Ganz gleich ob es die richtige Entscheidung war oder nicht, sie hatten den Stein ins Rollen gebracht und nun hieß es, zu warten und zu hoffen dass alles gut wurde und es keine negativen Konsequenzen nach sich zog. Cyhper, der alles wesentlich lockerer sah, ließ leise Musik laufen, um die Stimmung etwas zu lockern. „Du brauchst dir nicht so einen Stress zu machen”, versuchte sein älterer Bruder ihn zu beruhigen. „Es läuft doch alles gut. Rose wird uns nachher zurückrufen und dann erklären wir ihr alles ganz in Ruhe. Es wird alles ganz undramatisch ablaufen und wenn wir Glück haben, dann will sie Kontakt mit uns. Und wenn nicht, dann ist das auch kein allzu großer Verlust und unser Leben geht weiter. Kein Grund also, hier Panik zu schieben.” „Ich weiß auch nicht, warum ich so nervös bin”, murmelte Simon und versuchte, sich mit ein bisschen Orangentee zu beruhigen, aber auch das half nicht sonderlich. „Natürlich hast du Recht und wir haben beide nichts zu verlieren. Aber aus irgendeinem Grund bin ich total aufgeregt und finde keine Ruhe.” „Hm… klingt ganz danach als willst du unbedingt Kontakt mit unserer Mutter, weil du eine richtige Familie willst. Liege ich da richtig?” Unsicher zuckte Simon mit den Schultern, aber im Grunde genommen lag Cypher gar nicht mal so verkehrt. Obwohl er eigentlich nur herausfinden wollte, wer seine Erzeuger waren und warum sie ihn nicht großgezogen hatten, so hatte er sich natürlich auch erhofft gehabt, dass er in Kontakt mit ihnen bleiben und vielleicht sogar eine Art Familienbeziehung zu ihnen aufbauen konnte. Bei Henderson war es anders gewesen. Als er erfahren hatte, was dieser alles verbrochen hatte und dass dieser bis zu seinem Lebensende im Gefängnis sitzen würde, war ihm sofort klar gewesen, dass er zu diesem Menschen keinen Kontakt haben wollte. Einen solchen Menschen brauchte auch niemand in seinem Leben. Aber bei Rose war es etwas anderes. Sie hatte sie beide gar nicht abgeben wollen und war gewillt gewesen, sie großzuziehen, trotz der Tatsache, dass sie noch so jung gewesen und dieser Henderson ein widerlicher Päderast war und ihr schlimme Dinge angetan hatte. Also bestand doch eine leise Hoffnung, dass sie mit ihnen Kontakt haben wollte, oder? Zumindest erhoffte sich Simon dies. Aber dann musste er wieder an die Tatsache denken, dass Rose inzwischen geheiratet hatte. Was wenn sie inzwischen auch Kinder mit ihrem Mann hatte und in einer glücklichen Familie war? Konnte es dann vielleicht sein, dass sie keinen Kontakt wollte, weil sie glücklich mit ihrem jetzigen Leben war? Oder noch schlimmer: was, wenn sie sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, dass sie noch zwei andere Kinder hatte? All diese Fragen schwirrten in seinem Kopf herum und diese Ungewissheit war unerträglich. Er wollte so sehr den Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen und hatte dennoch solche Angst davor, zurückgewiesen zu werden. Cypher als großen Bruder zu haben war schön und es machte ihn wirklich glücklich, dass sie sich gefunden hatten. Aber Kontakt mit den eigenen Eltern zu haben, die man nie kennen gelernt hatte, das war etwas ganz anderes. Und insgeheim wünschte er sich einfach, dass ihm auch das Glück vergönnt war, Kontakt mit seiner Mutter zu haben. Schließlich erhob sich Cypher und meinte „Ich geh mal kurz nach Ezra schauen um sicherzugehen, dass auch alles in Ordnung bei ihm ist”, woraufhin er das Wohnzimmer verließ. Somit war Simon alleine mit seinen Gedanken und die Musik, die über die Stereoanlage lief, half auch nicht wirklich dabei, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Unruhig stand er auf und durchschritt das weitläufige Wohnzimmer. Er betrachtete die schweren und in sorgfältiger Arbeit gemeißelten Figuren, die Hunter angefertigt hatte, sowie die realistisch wirkenden und äußerst makaber wirkenden Kunstorgane in den Gläsern, die Cyphers Werk waren. Beide waren hart arbeitende Künstler und man konnte sehen, dass viel Talent und Können dahintersteckte. Und was war mit ihm? Er hatte sich jahrelang Geld auf dem Straßenstrich verdient und hatte nichts erreicht, worauf er wirklich stolz sein konnte. Also was sollte er denn über sich großartig erzählen, wenn Rose ihn fragen sollte, was er denn so machte? Ihr sagen, dass er sich momentan von einem Millionär durchfüttern ließ, konnte er wohl schlecht. Und wenn er ihr sagte, dass er aufgrund seiner Augenanomalie nie eine Ausbildungsstelle oder einen Job bekommen hatte, würde ihr wahrscheinlich nur ein schlechtes Gewissen bereiten. Aber vielleicht machte er sich auch wirklich nur viel zu viele Gedanken und er sollte das alles ganz entspannt sehen, so wie Cypher. Vielleicht waren seine ganzen Sorgen ja völlig unbegründet und es würde alles hervorragend laufen. Und außerdem würde Cypher das schon alles irgendwie hinkriegen. Er war ohnehin besser darin, mit solchen Situationen umzugehen. Da sollte er besser ihm das Reden überlassen. Doch seine Gedanken wurden jäh unterbrochen als plötzlich das Telefon zu klingeln begann. Erschrocken zuckte Simon zusammen und sah sich hastig um. Doch Cypher war nirgends in Sicht. „Cypher, das Telefon klingelt!” Aber es kam niemand und wahrscheinlich hörte sein Bruder ihn nicht einmal. Simon versuchte mit Mühe, die Nummer auf dem Display zu entziffern um festzustellen, ob er sie vielleicht kannte. Und ein eisiger Schreck durchfuhr ihn als er erkannte, dass es die Nummer war, die Rose Witherfield gehörte. Ach herrje, was sollte er denn jetzt tun? Durch die ganze Fabrik rennen und nach Cypher suchen? Sollte er warten, bis es zu klingeln aufhörte oder sollte er selbst rangehen? Aber wenn er es klingeln ließ, dann würde sie vielleicht nicht mehr anrufen und denken, irgendjemand erlaubte sich einen Scherz mit ihr und er hätte die einzige Chance verpasst- Aber wenn er ranging, würde er wahrscheinlich vor lauter Aufregung nur unverständliches Gebrabbel hervorbringen. Der 21-jährige schluckte schwer und entschied sich letztendlich für die dritte Option. Jetzt war einfach die perfekte Gelegenheit dafür, mit ihr zu sprechen, ohne dass irgendetwas dazwischen kam. Und er schaffte das! Er musste sich einfach nur zusammenreißen und Cyphers Ratschlag befolgen, dann sollte doch alles gut gehen. Noch einmal holte er tief Luft, um sich zu beruhigen, dann wählte er den grünen Hörer und meldete sich. „Hallo?” Simon schlug sich die Hand vor die Stirn. Was war das denn bitteschön? Er meldete sich nicht mal mit Namen und stammelte nur ein stumpfsinniges Hallo? Oh Mann, jetzt musste er diese missglückte Begrüßung irgendwie wieder auf die richtige Spur bringen, doch dazu kam er nicht mehr, denn da kam ihm sein Gesprächspartner zuvor. „Schönen guten Tag”, grüßte eine Frauenstimme und augenblicklich rutschte ihm das Herz in die Hose und ihm war, als würde ihm alles Blut aus dem Kopf weichen. „Rose Witherfield hier. Spreche ich mit Mr. Cypher Grant?” Verdammt, warum muss sie ausgerechnet jetzt anrufen, schoss es Simon durch den Kopf. Es ist ja noch nicht einmal eine Stunde vergangen! Für einen Moment befürchtete er, gleich wieder nur hilfloses Gestammel von sich zu geben, wenn ihm nicht gleich etwas Gescheites einfiel. Sollte er ihr sagen, sie solle später noch einmal anrufen? Dabei war dies doch die perfekte Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. „Tut mir leid, aber mein Bruder ist gerade leider nicht da.” „Oh, ach so”, kam es zur Antwort und klang sehr verwirrt und Simon fragte sich, wie er es jetzt am besten angehen sollte. Natürlich hatte Rose erwartet, mit Cypher zu sprechen und nun hatte sie jemand vollkommen anderes am Apparat und sie hatte nicht einmal eine Ahnung, was man überhaupt von ihr wollte. „Und mit wem spreche ich jetzt?” „S-Simon Cavanaugh. Ich… also… ich bin der jüngere Bruder von Cypher.” „Ah verstehe”, meinte sie, war aber immer noch sehr zögerlich und irritiert. Ihr alles zu erklären, ohne direkt mit der Tür ins Haus zu fallen, war nicht so einfach, wie es sich von Cypher angehört hatte. Ach verdammt, er musste sich irgendwie zusammenreißen. „Könnten Sie mir vielleicht sagen, was Mr. Grant mit mir besprechen wollte?” fragte Rose und klang ein wenig ungeduldig. „Ehrlich gesagt sagt mir der Name nichts und ich weiß wirklich nicht, was jemand aus New York von mir will. Ich lebe in Ohio auf dem Land! Sind Sie vielleicht eine Werbeagentur oder machen Sie bloß irgendwelche telefonischen Umfragen? Wenn Sie irgendetwas verkaufen wollen, dann muss ich leider ablehnen. Wir haben alles, was wir benötigen und wir sind auch nicht an Gewinnspielen interessiert.” Scheiße, was soll ich jetzt sagen? Ich muss dieses Missverständnis aufklären. Aber wie soll ich das denn tun, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen?, fragte sich Simon und spürte, wie seine Hände langsam schwitzig wurden. Rose wurde langsam aber sicher ungeduldig und klang auch, als wäre sie ein wenig ungehalten. Irgendwie musste er die Situation retten und es ihr erklären. Stellte sich nur die Frage, wie er es am besten angehen sollte. Hier fiel ihm aber wieder ein, was er mit Cypher besprochen hatte. Ja genau! Sein Bruder hatte ihm doch Schritt für Schritt erklärt, wie er das Gespräch am besten beginnen sollte. „Nein, wir sind keine Werbefirma. Also… die Sache ist ein wenig schwierig zu erklären.” „Okay…” kam es verwirrt und auch ein wenig skeptisch zurück. Er musste jetzt ganz langsam erklären, worum es ging, ansonsten würde Rose noch den falschen Eindruck von ihnen bekommen. Also versuchte er sich so gut wie möglich an Cyphers Leitfaden zu halten. „Sagen Sie, können Sie sich vielleicht noch an Ihre Zeit in New York erinnern?” Eine kurze Zeit lang herrschte Stille und zögerlich antwortete Rose „Ich habe vor einigen Jahren in New York gearbeitet”, gefolgt von einer sehr misstrauischen Frage: „Wieso interessiert Sie das?” „Sie… Sie haben damals in New York gelebt und auch Kinder gehabt, richtig?” Simon hatte das Gefühl, als würde sich ein dicker Kloß in seinem Hals bilden. Er konnte sich nicht den Grund dafür erklären, aber es schien, als würde plötzlich ein Schalter bei ihm umgelegt werden und er gleich zu weinen beginnen. „Es waren zwei Jungen. Einen davon haben Sie damals vor den Türen eines Klosters ausgesetzt, weil Sie damals in einer Notlage waren. Und dann hatten Sie noch ein Kind aber das haben Sie verloren… und… ich… wir...” Simon versagte die Stimme und er konnte kaum noch atmen. Seine Kehle schnürte sich zusammen und er wurde von einer Mischung aus Schmerz und Furcht überwältigt. Er wollte es so gerne sagen. Alles, was er einfach nur sagen wollte war „Wir sind deine Söhne, Rose!” aber die Angst vor der Reaktion hielt ihn zurück. Er verfiel in ein hilfloses Schweigen und auch am anderen Ende der Leitung trat nun Stille ein. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit und Simon konnte nicht einmal sagen, wiese Stille nun bedeutete. Er hörte erst Geräusche im Hintergrund, doch Rose selbst schwieg. Erst eine gefühlte halbe Minute später murmelte sie „Oh Gott…” und ihre Stimme klang zutiefst erschüttert und bewegt. Simon glaubte sogar, sie kurz aufschluchzen zu hören. Sie weiß es, realisierte er langsam. Sie weiß, wer da am Telefon mit ihr spricht. „Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie damit belästige. Aber… Cypher und ich… wir sind Ihre Söhne.” Ein schweres Atmen war am Ende der Leitung zu hören. Nun war sich Simon sicher, dass sie tatsächlich weinte und ihn überkam die Sorge, dass sie weinte, weil sie wieder an das schreckliche Martyrium denken musste, das sie mit Sicherheit hatte durchleiden müssen. Und für einen Moment überlegte er sogar, ob es nicht besser wäre, das Gespräch sofort zu beenden und sie ein für alle Male in Ruhe zu lassen. Mit Sicherheit hatte sie schon genug durchgemacht und brauchte nicht noch mehr Kummer. „Tut mir leid, dass ich Sie damit belästige. ich wollte Ihnen keine Probleme bereiten. Vielleicht ist es besser, wenn…” „Nein, es ist schon in Ordnung”, rief Rose sofort, da sie wohl ahnte, dass er drauf und dran war, aufzulegen. „Es ist nur… ich kann einfach nicht glauben, dass das wirklich passiert. Nach all den Jahren hätte ich mir nie zu träumen gewagt, dass ich jemals… meine Kinder...” Sie schaffte es nicht, den Satz zu beenden und begann zu schluchzen. Simon spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte und ihm die Tränen kamen. Er hatte alles erwartet gehabt. Dass Rose sich nicht daran erinnern könnte, dass sie zwei Kinder hatte oder dass sie sich ablehnend verhalten würde, weil sie jetzt eine richtige Familie hatte, mit der sie glücklich war. Aber dass sie so bewegt darüber war, einen Anruf von ihnen zu bekommen, damit hätte er im Leben nicht gerechnet. Und es erfüllte ihn mit solch einem unbeschreiblichen Gefühl des Glücks, dass seine leibliche Mutter zu Tränen gerührt über seinen Anruf war. „Damit ich es richtig verstanden habe…”, fuhr Rose fort, nachdem sie sich halbwegs gefasst hatte. „Cypher Grant und du… ihr seid beide meine Söhne?” Sie schien kaum glauben zu können, dass sie auch noch von ihrem zweiten Sohn kontaktiert werden würde. Wahrscheinlich dachte sie ebenso wie Henderson, dass er damals gestorben war. „Ja”, bestätigte Simon und musste sich selbst die Tränen aus den Augenwinkeln wischen. „Cypher ist mein älterer Bruder und wurde damals vor einem Kloster ausgesetzt. Ich selbst bin damals von zwei Passanten in einem Müllcontainer gefunden worden und danach bin ich im Waisenhaus aufgewachsen. Mein Bruder und ich haben uns erst vor ein paar Wochen gefunden und wussten auch lange Zeit nichts voneinander.” „Ein Müllcontainer?” fragte Rose fassungslos. „Oh mein Gott. Wie ist das passiert und wer hat das getan?” Anscheinend wusste sie von nichts. Offenbar hatte sie entweder gedacht, er wäre bei dem Mordanschlag gestorben oder er wäre von jemandem mitgenommen worden, während sie schwer verletzt auf der Straße gelegen hatte. Also versuchte Simon es ihr zu erklären. „Alan Henderson, also mein biologischer Vater, hat mich damals mitgenommen und in den Müllcontainer geworfen um zu verhindern, dass die Polizei ihn wegen der Geschichte mit der Agentur drankriegt. Cypher und ich haben ihn im Gefängnis besucht und erfahren, was er getan hat. Wir wissen, dass du uns nicht abgeben wolltest und er dich und die anderen Mädchen unter Druck gesetzt hat. Es… es tut mir leid, dass wir wieder diese alten Wunden aufreißen müssen.” „Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen!” erwiderte Rose und ihre Stimme war immer noch sehr emotional. „Ich habe viele Fehler in meinem Leben gemacht, aber ihr tragt keine Schuld daran. Nein, ich muss mich entschuldigen. Wäre ich damals nicht so naiv und unvorsichtig gewesen, dann hätte ich wenigstens für euch da sein können. Aber ich bin so froh, dass ich nach all den Jahren endlich ein Lebenszeichen bekomme. Seit dem Unfall damals habe ich mich immer wieder gefragt, was aus dir geworden ist und wo du bist. Aber niemand wusste etwas und ich dachte, du wärst tot.” Stille trat ein und Simon konnte immer noch nicht fassen, dass dies hier wirklich passierte. Es fühlte sich so an, als befände er sich in einem Traum, aus dem er jederzeit wieder aufwachen konnte. Aber das passierte jetzt gerade wirklich und er redete mit seiner leiblichen Mutter, die mit ihm Kontakt haben wollte. Schließlich fragte Rose „Wie habt ihr mich überhaupt gefunden und woher habt ihr meine Handynummer?” „Als Cypher und ich uns gefunden und einen DNA-Test durchgeführt hatten, hat Leron, also mein Freund, einen Privatdetektiv angeheuert. Und der hat wohl Kontakt zum FBI und konnte herausfinden, dass Alan Henderson unser leiblicher Vater war. Von dir wussten wir aber zuerst nichts bis ein Freund von uns Azarias Wyatt angerufen hat. Und der hat mir heute Morgen deinen Namen und deine Nummer gegeben.” „Azarias?” fragte Rose und wusste offenbar zuerst gar nichts mit dem Namen anzufangen. Also erklärte Simon ihr „Er kommt ebenfalls aus Annatown und sagte, er sei das Oberhaupt des Wyatt-Clans uns könnte uns helfen. Also ist er nach New York gekommen.” Ein überraschtes und auch etwas ungläubiges kurzes Lachen war zu hören. „Die Wyatts sind auch immer für eine Überraschung gut. Jesse, der Freund meiner Nichte, sagte mir zwar bei einem Besuch, dass einer seiner Verwandten irgendetwas ausheckt und ich wohl eine ziemliche Überraschung erleben dürfte, aber dass er tatsächlich so etwas im Sinn hatte, damit hätte ich im Leben nicht gerechnet.” „Wir waren auch sehr überrascht, als er plötzlich bei mir im Haus stand. Es hat ein ziemliches Durcheinander gegeben, aber letzten Endes war es das alle Male wert gewesen. Und ehrlich gesagt bin ich froh darüber, dass ich doch noch mit dir gesprochen habe. Ehrlich gesagt, hatte ich ziemlich Schiss gehabt.” „Das kann ich gut verstehen”, gestand Rose. „Ehrlich gesagt erging es mir auch nicht anders. Nach dem Unfall war nichts mehr für mich, wie es einmal war und mein Leben war ein riesiger Scherbenhaufen. Zu dem Zeitpunkt war ich nicht in der Lage, für euch zu sorgen und als ich dann endlich mein Leben wieder im Griff hatte, waren die Jahre auch schon ins Land gezogen. Und da ist mir klar geworden, dass ich die wichtigsten Jahre eures Lebens bereits verpasst hatte. Ich hatte versucht euch zu finden, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern, wo ich meinen ersten Sohn abgegeben hatte und niemand wusste etwas über deinen Verbleib. Von Alan habe ich nichts erfahren und niemand wusste etwas über deinen Verbleib. Und je mehr Zeit verstrichen war, desto mehr Angst bekam ich davor, euch eines Tages zu sehen. Und auch die Ungewissheit wurde unerträglicher.” „Wieso? Etwa weil wir so werden könnten wie Henderson?” „Nein!” rief Rose sofort und versuchte es verständlich zu erklären. „Ich hatte Angst gehabt, dass ihr glaubt, ich hätte euch verlassen, weil ich euch nicht gewollt habe. Ehrlich gesagt kann ich es euch nicht verdenken. Ihr beide seid inzwischen erwachsen und ich war nie bei euch. All die Jahre habe ich mit diesen Ungewissheiten gelebt. Meine Bemühungen, euch zu finden, waren ohne Ergebnis geblieben und immer mehr Zeit verstrich. Ich konnte euch nicht einmal aufwachsen sehen und die wenigen Spuren, die ich damals hatte, waren schon lange kalt und führten ins Nichts. Es tut mir so unendlich leid, dass ich nicht für euch da war. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen, aber das kann ich nicht. Alles, was ich tun kann ist, jetzt für euch da zu sein. Das heißt… wenn ihr es auch wirklich wollt.” All die Jahre hat sie wirklich versucht uns zu finden, dachte Simon und konnte es kaum glauben. Es fühlte sich wie ein Traum an und als würden all die Jahre der Einsamkeit und Trostlosigkeit nur eine verblassende Erinnerung und als könnte er noch mal ein ganz neues Leben anfangen. „Cypher und ich wollen dich auf jeden Fall kennen lernen! Natürlich ist es schade, dass wir uns nicht schon früher gefunden haben, aber es ist doch immer noch besser, als hätten wir uns nie gefunden.“ Dem konnte Rose nur zustimmen. Es schien zunächst, als wollte sie etwas sagen, doch da waren plötzlich Stimmen im Hintergrund zu hören, woraufhin Rose rief „Jetzt nicht, Daniel. Ich telefoniere noch gerade!“ Doch die Stimme, die dem Klang nach einem Jugendlichen gehörte, redete weiter und es klang danach, als wäre es etwas Ernstes. Schließlich meinte Rose „Warte noch einen Augenblick, okay? Ich komme sofort!“ Und daraufhin kehrte sie zu ihrem eigentlichen Gesprächspartner zurück. „Tut mir wirklich leid, aber ich habe hier gerade einen Notfall. Wäre es in Ordnung, wenn ich morgen Nachmittag so gegen 15 Uhr zurückrufe? Ich weiß nicht, ob ich heute so schnell wieder zum Telefonieren komme.” „Äh… ja klar!” rief Simon. „Also diese Nummer hier ist die Telefonnummer von Cypher. Aber ich kann dir auch noch mal meine Handynummer geben.” „Das wäre super. Dann rufe ich morgen Nachmittag an. Wir sollten aber auch ein persönliches Treffen ausmachen. Ich möchte euch gerne persönlich kennen lernen und meine Familie mit Sicherheit auch. Ihr könntet nach Annatown kommen und unsere Farm besuchen. Ihr könntet dann den Rest eurer Familie kennen lernen. Ich denke mal, dass sich da auf jeden Fall eine Lösung finden lässt. Was denkst du?” Simon war begeistert von dem Vorschlag und nahm das Angebot dankend an. Er gab Rose noch seine Handynummer und verabschiedete sich. Damit war das Telefonat vorbei. Simon atmete tief aus, als er den Hörer beiseitelegte und lehnte sich zurück. Mit einem Mal fiel die ganze Anspannung und Nervosität von ihm ab und er fühlte sich einfach nur erleichtert und befreit. „So entspannt wie du aussiehst, könnte man den Eindruck haben, du hättest den besten Sex deines Lebens gehabt”, kam es scherzhaft von Cypher und Simon zuckte bei seinen Worten erschrocken zusammen, denn er hatte gar nicht bemerkt, dass sein Bruder wieder zurückgekommen war. Zu seiner Überraschung saß sein Bruder genau neben ihm und lächelte fröhlich. Wieso war er denn plötzlich wieder hier und seit wann? „Das hast du super hingekriegt. Ich wusste doch, dass du es schaffst.” „Cypher! Seit wann bist du wieder hier?” fragte Simon überrascht und fuhr beinahe auf, weil alles so plötzlich kam. „Ich habe dich rufen hören und bin wieder zurückgekommen. Aber da warst du schon am Telefonieren gewesen und da wollte ich dich nicht unterbrechen. Und? Wie war es denn so?” Simon berichtete, was er mit Rose besprochen hatte und wie sie verblieben waren. Zuerst hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er Cypher gar nicht bemerkt hatte und dieser keine Chance bekommen hatte, selber mit Rose zu reden. Aber er war nicht nachtragend und sah es ganz gelassen. Immerhin würden sie ja morgen noch mal die Gelegenheit bekommen, ganz in Ruhe mit ihr zu sprechen. Schließlich aber geriet der Künstler kurz ins Nachdenken und meinte „Jetzt verstehe ich auch, was Azarias damit meinte, dass du sowieso nach Annatown wolltest. Offenbar hatte er geahnt gehabt, dass Rose uns anbieten würde, in ihre Heimatstadt zu kommen. Na das trifft sich doch wunderbar. So bekommen wir auch einen kleinen Tapetenwechsel und können unsere Verwandtschaft kennen lernen. Ist doch auch eine coole Sache!” Das auf jeden Fall. Und nach dem positiven Gespräch mit Rose war Simon umso motivierter, so schnell wie möglich nach Annatown zu reisen und seine Mutter persönlich kennen zu lernen. Blieb nur zu hoffen, dass Leron es irgendwie arrangieren konnte, mit ihm zu kommen. Jetzt, da sein Vater ihm den Konzern überschrieben hatte, hatte er mit Sicherheit einiges um die Ohren. Dabei begann er sich zu wundern, wer wohl sein Besuch war und ob es vielleicht wieder mit seinem Vater zu tun hatte. Na hoffentlich ging alles gut. Kapitel 60: Eine alte Tragödie ------------------------------ Eine drückende Stille und Einsamkeit herrschte in der Villa. Obwohl Leron es eigentlich gewohnt war, alleine zu sein, fühlte er sich dennoch sehr unwohl. Irgendetwas fehlte hier. Und schnell wurde ihm klar, was es war: Simon. Immer, wenn er von einem harten Arbeitstag nach Hause kam oder morgens aufwachte, da war der Junge stets da gewesen. Und nun, da sowohl er als auch Anthony nicht hier waren, bemerkte er erst, wie sehr es ihm zu schaffen machte, dass er alleine war. Egal womit er sich abzulenken versuchte, seine Gedanken schweiften immer wieder zu Simon. Zwar beruhigte es ihn, dass Cypher und Hunter bei ihm waren, aber er machte sich dennoch Sorgen. Immerhin war er noch angeschlagen und brauchte Ruhe von all dem Stress, der ihm widerfahren war. Erst gestern war er kollabiert und so kalt wie eine Leiche gewesen und er bezweifelte, dass er sich fit genug fühlte, um auch wirklich den Gefängnisbesuch durchzustehen. Nun gut, er hatte einen wesentlich besseren Eindruck gemacht und er hatte sich nicht mehr ganz so kalt angefühlt, aber kein Mensch erholte sich so schnell wieder und ganz gleich woran Simon auch litt, für ihn stand fest dass es eine besorgniserregende Krankheit war, die einer dringenden Behandlung bedurfte. Bis er nicht eine erfolgreiche Behandlung für Simons Krankheit gefunden hatte, würde er sein möglichstes versuchen, um ihn vor Stress und seelischer Belastung zu schützen. Denn selbst ein Blinder hätte gemerkt, dass es der seelische Stress war, der Simon so krank machte. Und seine schlimmste Befürchtung war, dass sich der Zustand des Jungen wieder drastisch verschlechtern würde, wenn er auf seinen leiblichen Vater traf. Leron selbst wusste nicht, was für ein Mensch dieser Alan Henderson war, aber seine Taten sprachen ja wohl für sich. Und solche Menschen taten Simon nicht gut und im schlimmsten Fall könnte es nur wieder schlimme Erinnerungen vom Straßenstrich wachrufen und bei seiner schlechten Verfassung befürchtete Leron sogar das Schlimmste. Nachdem er seine Medikamente eingenommen und seine Tasse Kaffee ausgetrunken hatte, begann er die Küche aufzuräumen. Dabei fiel ihm ein, dass er noch Anthony anrufen musste um sich zu erkundigen, wie es ihm ging. Gestern Abend hatte er zwar einen Anruf von dessen Sohn Dean bekommen und erfahren, dass Anthony drei Tage lang krankgeschrieben war, da ihm die Gehirnerschütterung doch ein wenig zusetzte. Er war ja auch nicht mehr der Jüngste und Leron überlegte, ob er Anthony vielleicht nahelegen sollte, kürzer zu treten. Auf längere Sicht musste er ohnehin bald nach einem Nachfolger Ausschau halten. Anthony hatte bald das Rentenalter erreicht und sich einen ruhigen Lebensabend mehr als verdient. Es hatte bereits Überlegungen gegeben, ob Anthonys Sohn Dean die Nachfolge antreten würde, da dieser auch großes Interesse gezeigt hatte, als Butler für ihn zu arbeiten. Doch Leron wollte nichts überstürzen und alles sorgfältig planen. Also hatte er fürs Erste vereinbart, dass der Kandidat morgen herkommen und als Anthonys Vertretung arbeiten würde, solange dieser noch krank war. Danach konnte er immer noch seine Meinung ändern. Doch das war nur die kleinste seine Sorgen. Nein, seine größten Sorgen waren Simon und der Konzern. Er wollte für Simon da sein und ihm helfen, vor allem nachdem ihre Beziehung gestern auf der Kippe stand weil er nicht ehrlich zu ihm gewesen war. Doch nun war er offiziell neuer Inhaber des Konzerns und dieser benötigte eine führende Hand. Seit die Klatschpresse Wind davon bekommen hatte, dass es eine Verbindung zwischen den inzwischen 42 gefundenen Toten und seinem Vater gab und gegen ihn ermittelte, hatte der Konzern einige Aufträge verloren und es stand schlecht um die Zukunft Evans Energy. Und irgendetwas musste er sich einfallen lassen, um die Krise abzuwenden, wenn er nicht zulassen wollte, dass der Konzern den Bach runterging. Aber wie sollte er diese beiden Dinge unter einen Hut bringen und seine Beziehung mit Simon retten, wenn er gleichzeitig auch noch den Konzern retten musste? Es schien auf dem ersten Blick nahezu unmöglich zu sein, solange er sich nicht zweiteilen konnte. Es klingelte schließlich an der Tür und Leron fuhr auf. War Simon etwa schon wieder zurück? Aber der hatte doch einen Schlüssel. War das vielleicht sein geheimnisvoller Besuch, den dieser Spinner Azarias angekündigt hatte? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Leron eilte hinaus auf den Flur und ging zur Haustür. Wieder klingelte es und er konnte bereits Stimmen von draußen hören. Als er die Tür öffnete, stand Azarias auf der Matte und hatte die Hand erhoben, als wolle er klopfen. Den Blick hatte er aber auf seine Begleitung hinter ihm gerichtet. „Warum müssen wir eigentlich uns die Umstände machen und anklingeln? Wir kommen doch auch so in die Villa! Das geht wesentlich schneller” „Weil es der Anstand erfordert, dass wir genauso um Einlass bitten wie jeder Mensch es tut! Und wir sind keine Einbrecher, sondern Besucher und Besucher klingeln an.” Leron war für einen Augenblick erstarrt und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen als er sah, wen Azarias da mitgebracht hatte. Eine Frau von vielleicht 35 oder 36 Jahren mit langem schwarzem Haar und rubinroten Augen stand hinter Azarias und hatte ihren Blick direkt auf Leron gerichte. Sie trug ein elegantes schwarzes Kleid und ein fliederfarbenes Tuch um ihre Schultern. Eine Art düstere Aura umgab sie wie ein schwarzer unsichtbarer Schatten, der bei einem Menschen Beklemmung auslöste. Und ihre dunkelroten Augen wirkten so unnatürlich auf ihn wie damals schon die goldgelben Augen seines ältesten Bruders. Doch das wirklich Verstörende war nicht etwa ihre Ausstrahlung. Nein, sie sah haargenau so aus wie jene Frau, die er bei seinem Rückfall gesehen hatte, als er sich mit einer Halluzination gestritten hatte, welches die Form seiner Mutter angenommen hatte. Aber wieso war sie denn jetzt auf einmal hier? War es wieder nur eine Halluzination oder passierte das hier gerade wirklich? Er hatte doch seine Medikamente genommen, also konnte sie unmöglich ein Produkt seiner psychischen Krankheit sein. „Hallöchen Leron!” grüßte Azarias ihn breit grinsend und hob zum Gruß die Hand. „Da bin ich wieder. Darf ich vorstellen? Das ist Lotta Muldaur, das Oberhaupt der Kinsley-Familie.” „Ehemaliges Oberhaupt”, korrigierte sie ruhig aber dennoch bestimmt und reichte Leron die Hand. Sie trug einen silbernen Ring an ihrem Ringfinger und ihre Hand wirkte so zart wie die einer Puppe. Ein freundliches Lächeln lag auf ihren Lippen, doch etwas in ihm widerstrebte es, sie auch nur in irgendeiner Art und Weise zu berühren oder auch nur zu nahe zu kommen. Diese merkwürdige Aura, die sie umgab, ließ ihn erschaudern und ihm war, als würde sie eine tief verborgene Urangst in ihm wecken. Dennoch zwang er sich dazu, höflich zu sein und schüttelte ihr die Hand zum Gruß. Kaum, dass sich ihre Hände berührten, durchjagte ein eisiger Schauer seinen gesamten Körper und für einen Moment überkam ihn Angst vor ihr, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab. „Guten Tag”, grüßte Lotta mit einem etwas fremden aber dennoch aufrichtigen Lächeln. „Entschuldige die Störung. Aber es geht um ein paar wichtige familiäre Dinge, die ich mit dir besprechen muss.” „Familiäre… was?” Leron war vollkommen verwirrt und wusste nicht, was das Ganze zu bedeuten hatte. Er starrte Lotta ratlos an und stand für einen Moment völlig neben der Spur. Azarias, der völlig außen vor war, seufzte gelangweilt und versuchte das Ganze ein wenig zu beschleunigen. „Lotta kennt deine Mutter und will deshalb mit dir sprechen. Nein, sie ist kein Hirngespinst und ja, du hast sie schon einmal gesehen. Können wir den Stare Contest beenden und reinkommen? Es regnet hier draußen wie hulle und meine Socken sind total durchnässt.” Sie kennt meine Mutter?, wunderte sich der 31-jährige stirnrunzelnd und ließ die beiden eintreten. Aber das war doch nicht möglich. Diese Frau mit den rubinfarbenen Augen war vom Aussehen her doch allerhöchstens 35 Jahre alt, zudem hatte er noch nie von ihr gehört. Woher also wollte sie seine Mutter kennen? Nachdem Leron sie ins Wohnzimmer geführt und die beiden ungewöhnlichen Besucher Platz genommen hatten, bot er der Höflichkeit halber Getränke an, doch sie lehnten ab und so setzte er sich nun ebenfalls und sein Blick blieb an Lotta haften. Sie war eine sehr schöne und elegante Frau, allerdings wirkte sie ebenso geheimnisvoll wie unnatürlich. Eine fremdartige Dunkelheit umgab sie und es schien, als würde sie selbst die Dunkelheit verkörpern. Sie war ihm unheimlich, obwohl nüchtern betrachtet nichts Furchterregendes an ihr zu erkennen war. Und sie besaß weitaus mehr Zurückhaltung und Anstand als Azarias, wobei es ihm recht befremdlich war, dass sie ihn ebenso duzte. „Also Sie sagen, Sie kennen meine Mutter? Woher denn genau?” „Ich lebe in Annatown, der Heimatstadt deiner Mutter und habe sie schon gekannt, als sie noch ein Kind war. Ich habe ihr damals geholfen, nach New York zu kommen und sich dort ein neues Leben aufzubauen, nachdem sie Annatown und ihre Geschwister verlassen hatte. Und ich habe sie ebenso an ihrem Sterbebett besucht. Ich würde nicht unbedingt sagen, dass wir jemals so etwas wie eine innige Beziehung zueinander hatten, aber ich hatte mich in gewisser Weise für sie verantwortlich gefühlt. Genauso wie ich mich jetzt für dich verantwortlich fühle”, erklärte Lotta und faltete ihre Hände auf dem Schoß. Leron brauchte einen Moment, um diese Information sacken zu lassen und zu realisieren, was das bedeutete. Und je mehr er darüber nachdachte, desto weniger Sinn ergab es. Lotta wollte seine Mutter schon als Kind gekannt haben? Aber seine Mutter war im Jahr 1947 geboren worden. Selbst wenn Lotta im selben Jahr geboren war wie sie, dann musste sie 70 Jahre alt sein. Und sie sah nie und nimmer danach aus, als wäre sie so alt. „Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, aber Sie sehen nicht danach aus, als hätten Sie meine Mutter schon von klein auf gekannt.” „Man sollte die Dinge nicht immer nach ihrem Äußeren beurteilen”, erklärte Lotta, ohne jedoch eine klare Antwort zu geben. „Annatown ist ein Ort, der seiner eigenen Zeit und seinen eigenen Regeln folgt. Und meine Person tut in dieser Angelegenheit ohnehin nichts zur Sache. Fakt ist, dass ich deiner Mutter an ihrem Sterbebett ein Versprechen gegeben habe. Und ich halte stets mein Wort, egal wem ich es gebe. Und genau deswegen bin ich hier.” Ein Versprechen? Unwillkürlich musste Leron wieder an den Tag zurückdenken, an dem er und seine Brüder ihre sterbende Mutter im Hospiz besucht hatten. Unter Tränen hatte sie ihnen allen ein Versprechen abgenommen, damit sie in Frieden sterben konnte. Und dieser Frau hatte sie auch eines abgenommen? Aber wieso? Azarias wandte sich seiner Begleiterin zu und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich habe das Gefühl, als versteht er so rein gar nichts. Offenbar hat Katherine ihnen nie etwas gesagt. Naja, er war ja auch klein gewesen. Und sein alter Hert hat ihm erst recht nichts gesagt.” „Was gesagt?” hakte Leron nach und wurde langsam unruhig. „Wovon sprecht ihr?” „Tut mir leid. Anscheinend muss ich ganz von vorne beginnen, damit du den ganzen Sachverhalt verstehst”, entschuldigte Lotta sich und versuchte, die ganze Geschichte so einfach wie möglich zu erklären, um es verständlich zu halten. „Zuerst sollte ich dir die Hintergründe erläutern, damit du die Umstände besser verstehst: Annatown ist nicht so wie die meisten gewöhnlichen amerikanischen Städte. Es ist eine Stadt, die sich im Privatbesitz von fünf Familien befindet, die auch als die Gründerclans bekannt sind. Diese fünf Clans sind die Kinsleys, Witherfields, Wyatts, Ronoves und Cohans. Sie alle kamen vor langer Zeit aus Europa. Die Cohans waren die ersten und kamen aus Norwegen über Umwege nach Amerika. Die anderen Familien flohen während der Zeiten der Pest und der Hexenverfolgungen aus Deutschland und England, um woanders in Sicherheit leben zu können. Gemeinsam kauften sie von einem Indianerstamm ein großes Stück Land und gründeten Annatown. Und lange Zeit herrschte Frieden und harmonischer Einklang zwischen den Clans. Zumindest bis zu einem unglückseligen Vorfall, der den Frieden endgültig zerstörte und eine jahrhundertelange Clan-Fehde nach sich zog.” „Madeline Witherfield, das damalige Oberhaupt des Witherfield-Clans, war mit Howard Cohan, dem Oberhaupt seines Clans verlobt und dieser ist urplötzlich verrückt geworden und soll sie dabei umgebracht haben”, fuhr Azarias fort. „Und da Madeline die Schwester des Kinsley-Oberhauptes war, haben die Kinsleys einen Rachefeldzug gegen die Cohans gestartet und über 400 Jahre lang haben die Clans unzählige Blut-Fehden geführt. Man sagt, dass der Wahnsinn daher rührt, weil die Kinsleys die Cohans für den Mord an Madeline Witherfield verflucht haben. Der eigentliche Auslöser der Clan-Fehde war nicht allein der Mord an Madeline, sondern die Tatsache, dass niemand beweisen konnte, dass Howard sie auch wirklich umgebracht hatte. Aber da Madeline keinerlei Feinde in der Stadt hatte, glaubte man natürlich, dass der verrückt gewordene Howard Cohan dahintersteckt und so haben sie ihn kaltgemacht.” „Die Beziehung zwischen den Clans war über die Jahrhunderte hinweg extrem angespannt”, erklärte nun wieder Lotta weiter. „Die Cohans waren lange Zeit als stolzer Clan von furchtlosen Kriegern respektiert, aber sie alle verfielen nach und nach dem Wahnsinn und verübten Gräueltaten an den Kinsleys und den anderen Clans, ebenso wie die Kinsley den Cohans grausame Dinge antaten. Die Witherfields, die an der Unschuld Howard Cohans festhielten, versuchten vergeblich den Frieden wiederherzustellen und die anderen Clans wurden irgendwann mit hineingezogen. Während die Ronoves sich mit den Kinsleys zusammenschlossen, verbündeten sich die Wyatts mit den Witherfields und diese standen hinter den Cohans. Das Blutvergießen nahm lange Zeit kein Ende und setzte sich bis vor knapp zwanzig Jahren fort, bis endlich ein neuer Friedenspakt geschlossen wurde. Lange Zeit waren die Cohans aufgrund ihres Wahnsinns und des vermeintlichen Verbrechens ihres damaligen Oberhauptes ausgegrenzt, verfolgt und ermordet worden. Ein solches Leid war auch damals deiner Mutter widerfahren. Der Hass und der Argwohn ihrer Mitmenschen und die Gleichgültigkeit der Leute gegenüber den entsetzlichen Missständen in den einzelnen Familien des Cohan-Clans haben viele Leben ruiniert und erst diesen Wahnsinn hervorgebracht, unter den so viele Cohans leiden.” „Also wollt ihr mir sagen, der Wahnsinn meiner Familie ruht daher, weil die Leute sie dazu getrieben haben?” fragte Leron und wunderte sich, warum er gerade einen Crashkurs über die Geschichte einer Stadt bekam, wenn es doch eigentlich um seine Mutter ging. Oder wollten die beiden ihm allen Ernstes weismachen, dass irgendeine uralte Fehde derart eskaliert war, dass sie dazu führte, dass seine Familie mütterlicherseits wahnsinnig wurde? Das alles klang doch ziemlich weit hergeholt. Sein Blick schweifte abwechselnd zu Azarias, der sich nun mit einem Gummiband beschäftigte, das er aus seiner Hosentasche geholt hatte, und dann wieder zu Lotta, deren Blick immer noch auf ihm ruhte. „Es spielen viele Faktoren eine Rolle”, versuchte sie zu erklären. „Die Cohans hatten schon von Beginn an eine Art Grundaggression. Sie waren nicht nur anhand ihrer Körpergröße furchterregend, sie haben nie den Geist ihrer Wikinger-Vorfahren verloren und zeichneten sich durch Streitlust, Impulsivität aber auch durch enorme Kraft und Resistenz gegen unheilvolle Mächte aus. Der Grund für ihre Geisteskrankheiten hat unterschiedliche Ursachen. Einmal spielt die genetische Historie eine entscheidende Rolle: ein von mir beauftragtes Forschungsinstitut konnte in Erfahrung bringen, dass eine genetisch vererbbare Mutation einen Dopaminüberschuss im Körper verursacht, die zu psychischen Krankheiten und erhöhtem Stress führt und auch Psychosen verursacht. Diese genetische Mutation wird wahrscheinlich seit langer Zeit innerhalb des Cohan-Clans weitervererbt. Ein weiterer Faktor für die psychische Instabilität spielt Inzucht, was leider bei dieser Familie in den letzten Jahrzehnten allzu häufig geschehen ist und zu psychischen Krankheiten geführt hat. Und letztendlich spielt auch die Umwelt eine große Rolle. Im Grunde genommen kommen viele Negativfaktoren zusammen, die zu dieser Tragödie geführt haben. Dass ein Fluch dahintersteckt, ist nur eine alte Legende. Im Falle deiner Mutter war es das Cohan-Erbe und der Einfluss ihrer Umwelt. Sie ist damals in unvorstellbaren Zuständen groß geworden und hat nichts anderes erfahren als Schmerz, Hass und Ablehnung. Von ihrer Familie war sie gehasst worden und von den Menschen um sie herum als Kind einer geisteskranken Familie von Mördern abgestempelt worden. Die Cohans hatten es allesamt schwer in Annatown und der Einfluss der Kinsleys führte dazu, dass niemand von ihnen eine Chance auf ein geregeltes Leben bekam. Von den Menschen wurden sie als Monster gebrandmarkt noch ehe sie überhaupt verstanden hatten, was es überhaupt bedeutet, verrückt zu sein. Der Hass und die Vorurteile der Menschen von Annatown haben sie zu Monstern erzogen. Das war auch der Grund, warum ich damals wollte, dass deine Mutter Annatown verlässt. Ihr ganzes Leben lang hat sie sich tapfer dagegen gewehrt, so zu enden wie der Rest ihrer Familie und sie wollte beweisen, dass sie es schaffen konnte, ein besserer Mensch zu werden und dass die Leute mit ihren Behauptungen falsch liegen, dass alle Cohans Mörder seien. Aber selbst nachdem sie Annatown weit hinter sich gelassen hatte, konnte sie nie dem Schatten ihrer Vergangenheit entkommen und die schrecklichen Erlebnisse ihrer Kindheit verschlimmerten ihre Psychose nur und verfolgten sie bis in den Tod.” Leron schüttelte fassungslos den Kopf und konnte es kaum glauben. Wenn das wirklich stimmte, was Lotta da sagte, dann war der Grund für die Geisteskrankheit seiner Mutter also gar nicht eine Vererbung gewesen, sondern eine Art körperliche Mutation, die Hormonprobleme verursachte und dann noch die Schikane und Misshandlungen ihrer Mitmenschen? Er hatte ja mit vielem gerechnet aber mit so etwas garantiert nicht. All die Jahre hatte er gedacht, dass die Geisteskrankheit selbst weitervererbt wurde. Immerhin war es längst erwiesen, dass Depressionen und Schizophrenie auch genetisch vererbbar sein konnten. Aber hier war es anscheinend eine simple genetische Mutation, die dazu geführt hatte, dass sowohl er als auch Michael schon Geburt an aggressiver und streitlustiger waren als andere Menschen. Aber wie erklärte es, dass nur Michael so extrem gewalttätig und jähzornig gewesen war, obwohl er doch in einem normalen Umfeld aufgewachsen war? Als er diese Frage an Lotta stellte, konnte sie nur spekulieren. „Ich befürchte, dass es die Folgen des Inzuchts sind, die Katherine zwar selbst nicht geerbt hat, aber dafür ihr Bruder Nigel und ihr ältester Sohn Michael. Katherines Urgroßeltern waren Geschwister und es ist möglich, dass dies die Psychose deines ältesten Bruders noch weiter begünstigt hat. Jedenfalls weißt du jetzt nun die wichtigsten Hintergründe zu den Verhältnissen, in denen die Cohans all die Jahre leben mussten. Ich hatte damals erkannt, dass deine Mutter einen starken Willen besaß. Sie ertrug die Misshandlungen ihrer Familie und die Feindseligkeiten der Leute, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Ich sah Hoffnung für den Cohan-Clan und sagte ihr, sie solle Annatown schnellstmöglich verlassen und woanders ein neues Leben beginnen. Es gelang mir zwar, sie aus Annatown rauszubringen, aber ich konnte ihr nicht die seelischen Narben nehmen. Sie blieb stark und schaffte es sogar, sich ein geregeltes Leben aufzubauen. Aber alles änderte sich, als sie deinen Vater Lionel kennen lernte.” Stille trat ein und Leron dachte über all das nach, was Lotta ihm gesagt hatte. Zwar begann sich langsam alles ins Bild zu fügen und er begriff nun auch, dass die Fehde zwischen den Clans dazu geführt hatte, dass Menschen wie seine Mutter in diese Sache mit hineingezogen wurden und die Konsequenzen erleiden mussten, obwohl sie nichts verbrochen hatten. Aber eine Sache machte überhaupt keinen Sinn. Azarias hatte doch gesagt, sie sei das Oberhaupt des Kinsley-Clans oder besser gesagt das ehemalige Oberhaupt. Warum sollte jemand, der ein geschworener Feind des Cohan-Clans war, seiner Mutter helfen? „Wieso helfen Sie mir und meiner Mutter, wenn Sie doch eigentlich zu den Kinsleys gehören?” „Ich habe meinen Titel als Oberhaupt und den Namen meiner Familie abgelegt eben weil ich diese Clan-Fehde nicht unterstützen wollte”, erklärte Lotta und ein leichter Anflug von Groll und Bitterkeit war in ihren Gesichtszügen zu erkennen. „Ich hatte meiner Schwester versprochen gehabt, meinen Schwager zu beschützen weil ich wusste, dass er ein guter Mensch war. Ich bin für ihn eingetreten, als er verurteilt wurde und habe seine Strafe verbüßt, um mein Versprechen zu halten. Doch anstatt ihr Wort zu halten, hat meine Familie ihn kaltblütig ermordet und den Cohans die ewige Feindschaft geschworen. Sie haben nicht nur die Cohans betrogen, sondern auch ihr eigenes Oberhaupt. Also legte ich meinen Titel und meinen Namen ab und nahm den Familiennamen meines Mannes an. Seither bin ich bemüht, Mitgliedern aller Clans zu helfen, die meine Hilfe brauchen und vor allem ist es mein Ziel, den Cohans zu helfen, wieder in die Gemeinschaft von Annatown integriert zu werden und die Clan-Fehden ein für alle Male zu beenden. Und ich möchte mein Versprechen bei Katherine einlösen.” Schon wieder war von diesem Versprechen die Rede. Und immer noch wusste Leron nicht, warum seine Mutter ausgerechnet Lotta gefragt hatte. Etwa, weil diese so einen großen Einfluss zu besitzen schien? Selbst wenn dem so war, warum sollte eine von der Cohan-Familie, die offensichtlich ein Opfer der Feindseligkeiten der Kinsley-Familie gewesen war, ein ehemaliges Oberhaupt eben jener Familie um diesen Gefallen bitten? Als könnte Azarias seine Gedanken lesen, erklärte dieser „Deine Mutter hatte Lotta so einiges zu verdanken und sie wusste, dass Lotta niemals ihr Wort bricht. Und sie hat dich beschützen wollen weil sie ganz genau wusste, was dein Vater mit euch dreien im Schilde führte.” Sprach sie etwa auf die Pläne seines Vaters an, seine Brüder auszutricksen und ihn zum Erben zu ernennen? Aber das wusste er doch schon und so dramatisch war es ja auch nicht gewesen, dass ein Besuch aus Ohio unbedingt nötig gewesen wäre. Also wenn es nur deswegen war, dann hätte sich diese Lotta Muldaur ihren Besuch auch getrost sparen können. „Ich weiß schon längst, dass mein Vater Jordan und Michael ausgetrickst hat weil er von Anfang an mich als seinen Erben wollte. Und was ist denn so Schlimmes dabei?” Doch Lotta schüttelte nur den Kopf und schien da etwas ganz anderes im Sinn zu haben. „Nein”, sagte sie. „Ich spreche davon, dass dein Vater seine Krankheit benutzt, um dich zu manipulieren und dazu zu bringen, den gleichen Weg zu gehen wie er um nicht nur das zu bekommen was er will, sondern auch weil er selbst jetzt noch den unstillbaren Drang verspürt, sich an Katherine zu rächen, indem er ihr letztes lebendes Kind gegen sie aufbringt und ihr somit das zerstört, was sie zu beschützen versuchte. Und dabei ist er nicht nur bereit, seine Diagnose zu benutzen um dein Mitgefühl auszunutzen, sondern auch die Wahrheit zu verdrehen und seine eigenen Fehltritte zu verschweigen, um dich auf seine Seite zu ziehen und gegen deine Mutter aufzubringen. Und ich bin hier um zu verhindern, dass er damit erfolgreich durchkommt und dich zu seiner Marionette macht und dich noch unglücklich macht.” Kapitel 61: Die ganze Wahrheit ------------------------------ Leron wusste nicht, wie ihm geschah und hatte das Gefühl, als würde sich alles in seinem Kopf drehen. Als wäre der gestrige Tag nicht schon ereignisreich genug gewesen, kam jetzt auf einmal eine alte Bekannte seiner Mutter an und hielt ihm nicht nur einen Vortrag über eine uralt Clan-Fehde in ihrer Heimatstadt. Nein, sie erzählte ihm auch noch, dass sein Vater ihn immer noch zu manipulieren versuchte und nicht mal davor zurückschreckte, seine eigene Krankheit dafür zu benutzen. Aber woher wusste sie das alles und wieso kam sie damit erst jetzt an? Sein Blick wanderte zu Azarias, der immer noch mit seinem Gummiband beschäftigt war, da ihm offenbar langweilig geworden war. „Weißt du irgendwas über meinen Vater, was ich nicht weiß?” „Eine ganze Menge”, meinte der 22-jährige, ohne jedoch den Blick zu heben. „Dass er ein misogynischer kaltschnäuziger und selbstgerechter Heuchler ist und dass er die Tatsache ausnutzt, dass du wegen seiner Erkrankung mit ihm Frieden schließen willst, damit er die Beziehung zwischen dir und Simon beenden kann.” „Und hast du vielleicht irgendwelche Beweise für diese Anschuldigungen?” fragte Leron und wusste nicht, ob er jetzt wütend sein sollte oder nicht. Auf der einen Seite war seinem Vater zuzutrauen, dass er unbedingt versuchte, seinen Willen durchzusetzen, aber er wollte nicht glauben, dass er selbst jetzt, nachdem sie sich endlich ausgesprochen hatten, immer derselbe kaltherzige Geschäftsmann ohne Nächstenliebe war. Kein Mensch konnte so abgebrüht sein, dass ihm selbst seine Krebserkrankung nicht zu schade war. „Ich weiß selbst, dass er ein mieser Vater ist, aber meine Mutter hat ihm das Leben zur Hölle gemacht und der Konzern ist das Einzige, was ihm geblieben ist. Wir haben uns ausgesprochen und er selbst hat zu mir gesagt, dass ich nicht so werden soll wie er.” „Und wer hat dich unbedingt ins Krankenhaus bestellt, damit du nicht bei Simons Behandlung dabei sein kannst?” hakte Azarias nach und schaute Leron mit seinen grasgrünen Augen eindringlich an. „Und wer hat so verzweifelt darauf beharrt, dass du den Konzern unbedingt behältst, egal was passiert?” Leron verstummte und fühlte sich plötzlich nicht mehr so sicher in seinen Ansichten. Zwar versuchte er immer noch daran zu glauben, dass wenigstens ein Funken von Menschlichkeit in seinem Vater steckte, aber es wurde immer schwieriger, daran festzuhalten. Das blieb Azarias nicht verborgen und er fuhr fort. „Als Lotta und ich nach New York geflogen sind, hat sie deinen alten Herrn im Krankenhaus besucht und an seine Ehrlichkeit appelliert. Sie hat ihm eine Frist von drei Tagen gesetzt, damit er dir die Wahrheit sagt, warum deine Mutter sich nie Hilfe gesucht hat und warum sie auch Michael nie in Behandlung gegeben hat obwohl sie wusste, dass er genauso krank war. Aber er hat dir rein gar nichts gesagt, nicht wahr? Er hat einfach nur versucht, dich weiter zu manipulieren, damit du seinen Konzern nicht verkaufst.” Die Wahrheit über seine Mutter? Gab es da wirklich etwas, das Lionel ihm verschwiegen hatte? Er hatte gedacht, dass seine Mutter nicht in Behandlung begeben hatte, weil sie Angst hatte, ihre Kinder nie wieder zu sehen. Zumindest war es das, was Anthony vermutet hatte und der hatte Katherine fünf Jahre lang gekannt. Doch nun sollte etwas ganz anderes dahinterstecken? Auf der einen Seite wollte er natürlich mehr wissen, aber auf der anderen Seite wusste er nicht, ob er das auch wirklich alles verkraften konnte. Es reichte doch schon, dass er erfahren hatte, dass seine Mutter eine psychisch kranke Serienmörderin war. Was könnte es denn noch geben, was er noch nicht wusste? „Was ist zwischen meinen Eltern passiert?” „Du weißt ja bereits, dass dein Vater eine Affäre mit einer Kellnerin namens Lucy Witherfield hatte”, begann Lotta, wurde aber dann von einem etwas gereizten Leron unterbrochen. „Ja davon weiß ich bereits. Mum ist durchgedreht, weil sie rasend eifersüchtig war und daraufhin hat mein Vater sie verlassen und hat etwas mit einer anderen Frau angefangen. Und nachdem Mum Michael zur Welt gebracht hatte, brachte sie Lucy um und zwang meinen Vater, wieder zu ihr zurückzukommen.” Lotta verzog keine Miene und ihr Blick war seltsam fremd und es war schwer zu sagen, was ihr gerade durch den Kopf ging. Sie wartete geduldig, bis Leron fertig war und setzte dann wieder zum Reden an. „Das entspricht nicht gänzlich der Wahrheit”, erklärte sie. „Es stimmt, dass Katherine unter Eifersucht litt weil Lionel kaum zuhause war und sich nicht um sie gekümmert hat. Als dein Vater damals ins Energiegeschäft einstieg, hatte Katherine ihm mit ihrem eigenen Geld finanzielle Hilfe geleistet und hat ihn unterstützt wo sie konnte. Aber sie war mental labil. Nicht nur aufgrund ihrer Krankheit, sondern auch bedingt durch die Schwangerschaft. Sie wurde ihm zu anstrengend, also suchte er sich eine Geliebte. Seine Affäre mit Lucy Witherfield begann bereits vor Katherines Schwangerschaft. Deine Mutter begann Verdacht zu schöpfen und versuchte ihn zur Rede zu stellen. Er stritt alles ab und täuschte sie über Monate hinweg und vernachlässigte sie bis Katherine ein Telefonat zwischen ihm und Lucy belauschte. Sie stellte ihren untreuen Ehemann erneut zur Rede, doch er gab ihr die Schuld und sagte, er könne eine labile Ehefrau nicht gebrauchen und er hätte sie nur ihres Aussehens und ihres Geldes wegen geheiratet. Es kam zu einem Streit und Katherine schlug ihn daraufhin mit der Weinflasche nieder. Durch den Stress erlitt deine Mutter vorzeitige Wehen, aber er ließ sie zurück, ohne einen Krankenwagen zu rufen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte ihr Kind verloren.” Leron spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte und er konnte nicht glauben, was er da hörte. Sein Vater hatte zwar die Affäre zugegeben gehabt, aber es war nie die Rede davon gewesen, dass er schon eine hatte, als er noch mit seiner Frau zusammen war. Ganz zu schweigen davon, dass er sie derart provoziert hatte, dass sie ihn daraufhin in einer Kurzschlussreaktion mit einer Weinflasche schlug. Stattdessen hatte sein Vater ihm erzählt, dass sie ausgerastet sei, weil sie paranoid und rasend eifersüchtig gewesen sei. Und dann hatte er auch noch beinahe den Tod seines ersten Kindes verschuldet, weil er seiner hochschwangeren Frau keinen Krankenwagen rufen wollte? Er wusste zwar, dass sein Vater ziemlich kaltherzig sein konnte, aber das schlug dem Fass doch den Boden aus. „Also dann hat er meine Mutter verlassen wollen, nur weil sie hormonelle Stimmungsschwankungen hatte und sich einsam gefühlt hat?” „Das fasst es kurz und knapp zusammen”, stimmte Lotta kopfnickend zu. „Diese Worte und die Erkenntnis, dass Lionel sie nie geliebt hatte und sich nicht für sie interessierte, brach Katherine das Herz und brachte sie endgültig an ihr Limit. Sie hatte Lionel aufrichtig geliebt und viele Opfer für ihn gebracht, um sich ihren Traum von einer glücklichen Familie erfüllen zu können. Doch die Affäre und Lionels herablassende Worte zerstörten ihre Hoffnungen und sie sann auf Rache für das erlittene Unrecht. Und so tötete sie ihre Konkurrentin und erpresste deinen Vater. Sie verfiel immer mehr ihrem Wahnsinn und begann Stimmen zu hören, die sie dazu drängten, schreckliche Dinge zu tun. Manchmal gelang es ihr, die Stimme in ihrem Kopf zu ignorieren. Aber manchmal verlor sie die Kontrolle und war nicht mehr sie selbst. Es ging sogar so weit, dass die Stimme ihr befahl, ihre eigenen Kinder zu töten. Obwohl Katherine einen Groll gegen Lionel hegte, hatte sie immer noch Gefühle für ihn und bat ihn um Hilfe. Sie hoffte, dass sie sich aussprechen und eine Lösung finden könnten.“ „Und er war nicht interessiert?“ fragte Leron, doch ihn beschlich das Gefühl, als würde da weitaus mehr dahinterstecken. Zuerst sah es aus, als wollte Azarias darauf antworten, doch ein leises Räuspern von Lotta änderte augenblicklich seine Meinung und er hüllte sich lieber in Schweigen. „Lionel hat sich bereit erklärt, unter bestimmten Bedingungen zu ihr zurückzukehren. Erstens: Katherine gibt ihre Kinder zur Adoption frei und zweitens: sie stimmt einer Lobotomie zu.“ „Eine Lobotomie?“ fragte er ungläubig und schüttelte den Kopf. Zwar wusste er, was eine Lobotomie war, aber war das nicht eine ziemlich veraltete Behandlungsmethode aus den 40ern? „Gab es denn keine anderen Behandlungsmethoden?“ „In den 60ern und 70ern hatte man leider noch nicht das psychiatrische Verständnis, was man heute hat“, gestand Lotta mit Bedauern. „Und leider wurden selbst zu dieser Zeit Lobotomien durchgeführt. Lionel hat deine Mutter unter Druck gesetzt, diese Behandlung an sich durchführen zu lassen.“ „Er hat ihr gesagt, dass eine Lobotomie die einzige Methode sei, ein unheilbar krankes Hirn zu kurieren“, ergänzte Azarias mit einer Spur von Verachtung im Unterton. „Und wenn sie sich nicht behandeln lässt, dann wird man sie wegsperren und ihr die Kinder wegnehmen. Das wäre weniger bösartig, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass die Schwester deines alten Herrn selbst lobotomiert und danach zum Pflegefall wurde und er darauf spekulierte, dass deine Mum genauso endet, damit er sie in eine Anstalt abschieben und euch ebenfalls loswerden konnte. Und da er deiner Mum solche Angst gemacht hatte, da hatte sie zu viel Schiss gehabt, sich überhaupt Hilfe zu suchen. Und als dein ältester Bruder auffällig wurde, hatte sie Angst, dass ihn dasselbe erwarten würde, wenn sie ihn in Behandlung gibt.“ Also hatte sie tatsächlich Angst gehabt, dachte Leron und hatte das Gefühl, das alles hier konnte nicht noch schlimmer werden. Zwar musste er zugeben, dass seine Mutter trotzdem hätte versuchen können, sich Hilfe zu suchen. Aber wenn sein Vater sie tatsächlich so manipuliert hatte, dass sie wirklich glaubte, es gäbe keine vernünftigen Behandlungsmethoden außer der, sich einweisen zu lassen oder sich lobotomieren zu lassen, dann konnte er ihre Angst gut nachvollziehen. Wenn er derart mit dem Rücken zur Wand stehen würde und mit diesen Ängsten zu kämpfen hatte, vor allem wenn er auch noch Kinder hatte, dann würde er vielleicht genauso ratlos sein. Aber warum das alles? „Wieso haben sie sich dann nicht einfach voneinander getrennt? Bei allem, was ich von diesen Geschichten lerne ist, dass meine Eltern die wahrscheinlich ungesundeste Beziehung hatten, die man sich vorstellen kann. Warum konnten sie sich nicht einfach scheiden lassen und allen Beteiligten diesen ganzen Alptraum ersparen?“ „Deine Mutter hat sich eine Familie gewünscht, weil jene, in der sie aufgewachsen ist, lieblos und grausam war. Und mit den Jahren, als sich ihr Zustand immer weiter verschlechtert hat, ist ihr Wunsch zu einer krankhaften Obsession geworden und sie wollte nicht, dass ihre Kinder ohne Vater aufwachsen. Außerdem waren die damaligen Verhältnisse für alleinerziehende Mütter sehr schlecht“, erklärte Lotta. „Gesellschaftlich waren sie schlechter gestellt und nachdem deine Mutter all ihr Geld in Lionels Firma investiert hatte, um ihn zu unterstützen, hatte sie keine finanziellen Rücklagen, um alleine für euch zu sorgen. Und wie bereits gesagt: sie war so besessen von ihrem Wunsch nach einer perfekten Familie, dass sie nicht mehr in der Lage war, objektive Entscheidungen zu treffen. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht weiterhin versucht hätte, Hilfe zu suchen. Sie ist zu Selbsthilfegruppen gegangen und hat sogar Hilfe bei kirchlichen Institutionen gesucht. Aber sie wurde leider abgewiesen und sie hatte zu große Angst davor, sich professionelle Hilfe zu suchen.“ Leron atmete tief durch und faltete die Hände. Er dachte über alles nach, was sein Vater ihm bezüglich zu seiner Mutter gesagt hatte und was er soeben erfahren hatte. Und obwohl er eigentlich nicht sonderlich überrascht sein sollte, dass sein Vater schon damals so kaltherzig und manipulativ gewesen war, hätte er trotzdem nie gedacht, dass dies so weitreichende Konsequenzen hatte. Und nun begann er auch zu verstehen, was seine Mutter damit wirklich bezweckt hatte, als sie ihm das Versprechen abgenommen hatte, niemals so zu werden wie sie und dass er nie dieselben Fehler machen sollte wie sie. Katherine hatte zum Schluss erkannt gehabt, dass ihre Obsession von einer perfekten Familie nur dazu geführt hatte, dass sie in einer Hölle gefangen gewesen war, die sie sich selbst geschaffen hatte. Sie hatte am Sterbebett erkannt gehabt, dass sie auch andere Optionen gehabt hätte und sie wollte nicht, dass er sich zu irgendetwas drängen ließ. So viele Dinge waren in seiner Familie schief gelaufen. Wäre sein Vater von Anfang an ehrlich gewesen und hätte für klare Verhältnisse gesorgt, dann hätten manche Dinge gar nicht so eskalieren müssen. Und hätte er seiner Mutter nicht solche Angst gemacht und ihr eingeredet, die einzige Behandlungsmethode wäre eine Lobotomie, hätte sie sich vielleicht in professionelle Behandlung gegeben. So viele Fehler hätten vermieden werden können, wenn sein Vater nicht so stur und egoistisch und seine Mutter nicht so paranoid gewesen wäre. Selbst die Geschichte um die Clan-Fehde von Annatown hatte gezeigt, welch weitreichende Konsequenzen diese Starrsinnigkeit haben konnte. Aber eines stand mit Gewissheit fest: dieses Mal war sein Vater endgültig zu weit gegangen. Dass er ein furchtbarer Ehemann und Vater gewesen war, das war eine Sache. Aber dass er ihn so schamlos belogen und die Wahrheit über seine Mutter verdreht und sich als das Opfer dargestellt hatte, obwohl er offenbar erheblich an ihrem seelischen Absturz beteiligt war, das war zu viel. Und dass er auch noch so schamlos seine Krankheit benutzte, nur weil er unbedingt einen Nachfolger haben wollte, schlug dem Fass endgültig den Boden aus. Wäre er nicht so geschockt darüber gewesen, dass sein Vater noch kaltherziger und manipulativer war als gedacht und dass selbst diese Reue über die Vergangenheit nur gespielt war, dann wäre er sofort zum Krankenhaus gefahren und hätte den schlimmsten Ausraster seines Lebens gehabt. Wie tief konnte ein Mensch eigentlich sinken? Allmählich begann er sogar zu glauben, sein Vater hätte einen Eisblock an der Stelle, wo andere Menschen für gewöhnlich ein Herz hatte. War dieser Mensch überhaupt zu Gefühlen imstande? „Dieser verdammte…“ Er fuhr sich durchs Haar und versuchte, ruhig zu bleiben. Doch es kostete ihn erhebliche Mühe. Lottas Blick nahm etwas Besorgtes an als sie sah, wie er mit sich zu kämpfen hatte. „Es steht nicht in meiner Absicht, dich gegen deinen Vater aufzuhetzen oder dich zu irgendetwas zu drängen. Ich möchte nur verhindern, dass du vom Schatten deiner Mutter oder deinem Vater manipuliert wirst. Deine Mutter bat mich dafür zu sorgen, dass du dein eigenes Leben lebst und du deine eigenen Entscheidungen triffst und nicht die deines Vaters. Ich werde dir weder zu etwas raten, noch werde ich dir etwas abraten. Ich habe deinem Vater die Chance gegeben, dir die Wahrheit zu erzählen. Da er sie nicht genutzt hat, habe ich dir alles erzählt und mein Versprechen eingelöst. Es tut mir leid, dass du so viele familiäre Probleme durchstehen musst. Es stand nicht in meiner Absicht, dir noch mehr Belastungen aufzubürden.“ „Ich frage mich echt, was noch alles kommen muss…“, seufzte Leron und sank kraftlos auf seinem Sessel zusammen. „Simons Zustand verschlechtert sich und unsere Beziehung steht auf der Kippe, meine Eltern hatten eine absolute Horrorbeziehung und nun erfahre ich, dass mein Vater mich selbst jetzt noch belügt und manipuliert. Anstatt, dass alles wieder in geregelte Bahnen verläuft, wird alles nur noch schlimmer.“ „Sieh es mal von der positiven Seite“, meinte Azarias, der sein Gummiband wieder einsteckte und nun an einem Lollipop zu kauen begann. „Ist immer noch besser, als wenn du genauso wirst wie dein Vater.“ „Und ich wüsste eine Möglichkeit, wie ich dir zumindest eine Last von den Schultern nehmen kann“, meldete sich Lotta zu Wort und überrascht schaute der 31-jährige auf. Sie wollte ihm helfen? „Inwiefern wollen Sie mir helfen?“ „Ich weiß, an welcher Krankheit Simon leidet und ich kann ihn behandeln.“ „Sie können ihn behandeln?“ fragte er und konnte es kaum glauben. „Sie sind Ärztin?“ Doch Lotta schüttelte den Kopf und erklärte überraschenderweise, dass sie in erster Linie Bibliothekarin sei. Allerdings kenne sie sich mit der Krankheit bestens aus, da sie offenbar schon einige aus Simons Familie behandelt hatte, die an derselben Krankheit litten. Das machte Leron natürlich neugierig und er wollte mehr darüber wissen, damit er wenigstens verstehen konnte, woran Simon eigentlich litt. „Was genau ist das für eine Krankheit?“ „Nun…“, begann die schwarzhaarige Schönheit zögerlich und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Es ist so, dass die fünf Gründerclans sich durch besondere Eigenschaften auszeichnen, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. Die Witherfields hatten schon immer eine Ausstrahlung, die sie als sympathisch, warmherzig, liebevoll und offenherzig auszeichnete. Sie haben eine außerordentliche Vitalität und Energie und sind lebensfroh und sehr mitfühlend und sensibel. Leider macht sie Letzteres besonders anfällig für etwas, das wir schlicht „Schattenkrankheit“ nennen.“ „Schattenkrankheit?“ fragte Leron verwirrt. Er hatte noch nie in seinem Leben von solch einer Krankheit gehört und bezweifelte auch, dass es so etwas gab. Was sollte auch ein Schatten mit der gesundheitlichen Verfassung zu tun haben? Da seine Besucherin merkte, dass er nichts mit dieser Krankheit anzufangen wusste, erklärte sie es ihm genauer. „Die Kinsleys glauben, dass alles Leben aus dem Licht geboren wird und die Dunkelheit den Tod verkörpert. Folglich liegt also alles, was wir in unserem Leben an Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen sammeln und erleben, zwischen dem Licht und der Dunkelheit. Somit ist das, was wir unter Schatten verstehen, nicht physischer Natur, sondern eine Art Sammelbegriff von allem, was uns als das ausmacht, was wir sind. Solange wir ein Gleichgewicht wahren und positive Erfahrungen sammeln, haben wir auch eine gesunde Seele. Aber sammeln wir zu viele negative Erfahrungen und leiden unter schlimmen Erinnerungen, führt dies zu psychischen Krankheiten. Für uns sind das Schattenkrankheiten, weil uns unser Schatten psychisch und später auch körperlich krank macht. Der Witherfield-Clan ist dafür besonders anfällig. Zwar haben sie eine hohe Belastbarkeit, aber wenn diese überschritten ist, erkranken sie an der Schattenkrankheit. Und dies hat weitaus schlimmere Folgen für sie als für andere Menschen. In modernen medizinischen Fachkreisen würde man es als psychosomatische Symptome bezeichnen. Die Witherfields haben Seelen wie aus Glas. Sie können nur schwer getrübt werden und sind dennoch so zerbrechlich. Psychosomatische Symptome können bei ihnen zu schweren Erkrankungen führen, die nur schwer wieder zu kurieren sind. Befindet sich die Krankheit im Anfangsstadium, kann eine ganz normale Therapie helfen. Schreitet die Krankheit jedoch zu weit voran, ohne dass eine Behandlung erfolgt, kann es sogar lebensgefährlich werden. Der Körper versucht die negative Energie zu kompensieren und verbraucht dabei extrem viel Energie und das Immunsystem wird immer schwächer. Dies kann sogar dazu führen, dass der Körper unter der Erschöpfung zusammenbricht und stirbt. Die Psyche der Witherfields hängt stark mit ihrer körperlichen Verfassung zusammen, was also bedeutet: ist der Geist krank, wird auch der Körper krank.“ Also hatte ich mit meiner Vermutung richtig gelegen und der Stress macht ihn krank, dachte sich Leron und war insgeheim froh, dass er endlich jemanden gefunden hatte, der ihm endlich eine nachvollziehbare Erklärung gab, warum Simon so krank war und immer schwächer wurde. Aber eine Frage beschäftigte ihn trotzdem: „Wie kann es sein, dass er sich so kalt anfühlt, obwohl seine Körpertemperatur normal ist?“ „Das liegt an der besonderen Verbindung zwischen den Cohans und Witherfields“, antwortete Lotta und ein fast wehmütiger Ausdruck lag in ihren rubinroten Augen. „Es herrscht schon seit langer Zeit eine besondere Art der Seelenverwandtschaft zwischen den Witherfields und Cohans. Viele von ihnen fühlen sich instinktiv zueinander hingezogen, weil sie sich in ihren Eigenschaften perfekt ergänzen. Ich vermute, es ist diese innige Verbundenheit zueinander, die es den Cohans ermöglicht, instinktiv solche Schattenkrankheiten zu erkennen. Sie nehmen es als Kälte wahr, die die Betroffenen ausstrahlen. Simon gehört dem Witherfield-Clan an und du den Cohans und ihr seid ein Paar, das erklärt warum du seine Krankheit instinktiv gespürt hast, auch wenn du vielleicht nicht erklären konntest, was es bedeutet.“ Nun, das erklärte, warum auch Hunter diese merkwürdige Kälte bei Simon bemerkt hatte aber sonst niemand. Und anscheinend war die Krankheit auch genauso gefährlich wie er gedacht hatte. „Und wie genau sieht die Behandlung aus? Würde denn nicht auch eine stationäre Behandlung in einem Krankenhaus helfen?“ „Sein Körper muss von der negativen Energie, die ihm so zusetzt, entgiftet werden und Psychopharmaka und ähnliche pharmazeutische Medikamente werden nicht helfen“, meinte Lotta kopfschüttelnd. „Die chemischen Stoffe, die in diesen Medikamenten enthalten sind, werden entweder keinerlei Effekt erzielen, oder sie könnten ihm zusätzlich schaden. Sein Körper ist nicht mehr in der Lage, die in diese künstlichen Stoffe richtig zu verarbeiten. Was er braucht, ist natürliche Medizin. In Annatown wachsen spezielle Pflanzen, die einen positiven Effekt auf die Vitalität haben und außerdem ist es wichtig, nicht nur seinen Körper zu behandeln, sondern auch seinen Geist. Solange dieser getrübt ist, kann auch die beste Medizin nicht viel ausrichten.“ „Was sie damit sagen will: dein Herzblatt braucht dringend eine Luftveränderung. In Krankenhäusern wird er sofort eingehen wie ein Gänseblümchen weil solche Orte momentan absolutes Gift für ihn sind“, erklärte Azarias und grinste. „Auf dem Land kann er frei atmen und Kraft tanken. Außerdem kann er dort seine Familie treffen. Und das wird ihn definitiv wieder auf die Beine bringen. Dann kommt er endlich aus seiner Depression raus und außerdem wirkt sich die Anwesenheit anderer Witherfields ziemlich gut auf die seelische Verfassung aus. In Krankenhäusern fühlt sich doch niemand wohl. Man geht nur dort hin, um möglichst schnell wieder von dort abzuhauen. Lottas Pension in Annatown ist hingegen der perfekte Kurort für dein Schatzilein.“ Also dann gab es letztendlich nur eine vernünftige Option, die ihm blieb. Wenn er Simon helfen und seine familiären Angelegenheiten bereinigen wollte, musste er jetzt konsequent bleiben und auch ein paar drastische Entscheidungen treffen. „Ich verstehe… dann wäre es in der Tat das Beste, Simon so schnell wie möglich nach Annatown zu schicken. Ich werde allerdings nicht so schnell mitkommen können, weil es das noch einige Dinge gibt, die ich noch unbedingt erledigen muss.“ „Na das sollte ja wohl das kleinste Problem sein“, meinte Azarias und wandte sich Lotta zu. „Rose will die beiden ja sowieso persönlich kennen lernen. Da können wir sie doch mitnehmen und er kommt dann nach, sobald er mit seinen Erledigungen fertig ist.“ „Ich denke, Simon sollte das selbst entscheiden“, erwiderte Leron zögerlich. „Außerdem wäre es ohnehin schwer, einen kurzfristigen Flug nach Ohio zu bekommen.“ „Keine Bange! Lotta hat ein Privatflugzeug und wegen mir brauchst du eh keine Sorgen zu haben. Die Familie Wyatt steht immer hinter den Witherfields und wir alle wollen, dass es deinem Herzblatt wieder besser geht.“ Leron runzelte ungläubig die Stirn als er das hörte? Ein Privatjet? Eine Bibliothekarin, die nebenbei als Naturheilpraktikerin tätig war, konnte sich wirklich so etwas leisten? Er war zwar nicht in dieser Branche tätig, aber selbst Leron wusste, dass man in diesen Berufen nie und nimmer so viel Geld verdiente. Nun, im Grunde genommen ging es ihn ja auch überhaupt nichts an. Zumindest schien Lotta ihnen wirklich helfen zu wollen. Er hatte immer noch seine Zweifel über Azarias aber andererseits musste er ihm zugutehalten, dass er Simon geholfen hatte, seine leibliche Mutter zu finden. Also beließ er es fürs Erste dabei, dass dieser keine bösen Absichten hegte und eigentlich bloß Simon helfen wollte. Doch jetzt im Moment fühlte er sich einfach nur müde und hoffte, dass dies die letzten Hiobsbotschaften waren, mit denen er klar kommen musste. „Und sonst? Ist da noch irgendetwas, das ich wissen muss?“ Hier erhob sich Lotta und ging zu ihm. Ihre rubinroten Augen hatten etwas sehr Mitfühlendes und Vertrautes angenommen. Sie wirkten fast wie die Augen einer Mutter, die ihr Kind trösten wollte. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und wieder durchfuhr Leron ein kalter Schauer, nur war es nicht so schlimm wie bei ihrem Händegruß vorhin. „Nur noch eine einzige Sache: deine Mutter hat dich aufrichtig geliebt und wenn sie sehen könnte, wie weit du es gebracht hast und was du schon alles geschafft hast, wäre sie unendlich stolz auf dich. Lebe dein Leben, wie du es für richtig hältst und lass dich von niemanden beeinflussen. Du hast es verdient, glücklich zu werden und solltest du Rat oder Hilfe brauchen, werde ich da sein.“ Kapitel 62: Vatersünden ----------------------- Es hatte einige Tage gedauert, bis er endlich wieder genug bei Kräften war, um das Krankenhaus zu verlassen. Und nichts war Lionel mehr zuwider gewesen, als in diesem sterilen weißen Raum in einem Bett zu liegen, in welchem wer weiß wie viele Menschen gestorben waren und diesen widerlichen Gestank von Desinfektionsmitteln ertragen zu müssen. Es war einfach nur entwürdigend gewesen und selten war er so froh darüber gewesen, endlich wieder nach Hause zurückkehren zu können. Und alles war soweit in trockenen Tüchern. Leron würde seine Nachfolge als neuer Inhaber von Evans Energy antreten und um diese unverschämte Frau brauchte er sich auch keine Gedanken machen. Sein Sohn mochte zwar Dummheiten begehen, doch selbst er war misstrauisch genug um nicht auf die Worte einer dahergelaufenen Frau zu hören. Und selbst wenn er naiv genug dazu war, er würde seinen Sohn schon wieder auf die richtige Spur bringen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er ihn soweit hatte. Dann würde er diesen dreckigen Stricherjungen aus seinem Leben streichen und diese Flausen sein lassen und sich eine vermögende hübsche Frau suchen, mit der er hoffentlich auch männliche Nachkommen in die Welt setzen würde. In dem Fall hätte seine verhasste Ehefrau wenigstens einmal etwas Vernünftiges getan. Dann war wenigstens einer seiner Sprösslinge zu etwas zu gebrauchen. Und er konnte in Frieden abtreten mit der Gewissheit, dass sein Lebenswerk in sicheren Händen war. Dieser Gedanke war fast schon zu schön um wahr zu sein und versetzte Lionel sogar in richtig gute Laune. Mit einem zufriedenen Lächeln schaute er aus dem Wagenfenster und sah, wie die Häuser an der Limousine vorbeizogen. Gleich würde er es sich in seinem Lieblingssessel bequem machen, ein wenig in seinen Büchern lesen und einen Schluck Cognac trinken. Seine Leber war doch eh schon kaputt, da würde noch mehr Alkohol auch keinen großen Unterschied mehr machen, selbst wenn der Arzt etwas anderes sagte. Ganz gleich ob noch mehr Alkohol seiner kaputten Leber noch mehr zusetzen würde, er hatte doch eh nur noch knapp ein Jahr zu leben. Also warum sollte er jetzt aufhören mit dem Trinken? Es würde doch sowieso nichts ändern. Er hatte sein Leben lange genug gelebt und wenigstens war es ihm der Tod vergönnt, noch bevor er als demenzkranker Greis in einem Pflegeheim dahinsiechte. Ein solch entwürdigendes Dasein war für ihn bei weitem schlimmer als der Tod. Und er hatte genug Geld um bis zu seinem Ende in Luxus zu leben. Was danach kam, konnte ihm nun egal sein. Als der Wagen die Einfahrt zu seiner Villa erreichte, stieg der Chauffeur aus und öffnete ihm die Tür. Es kostete Lionel einige Mühe, sich von seinem Sitz zu erheben, denn kaum, dass er sein Gewicht auf die Knie verlagerte, durchfuhr ein stechender Schmerz sein Bein, in welchem der Tumor saß und er merkte, dass diese lange Bewegungsunfähigkeit im Krankenhaus ihre Spuren hinterlassen hatte. Er holte seinen Gehstock aus dem Wagen und begann erst langsame und vorsichtige Schritte zu machen, um bloß kein Risiko einzugehen. Als er etwas sicherer wurde und die Gelenke besser zu arbeiten begannen, wurde er auch in seinen Bewegungen etwas schneller und sicherer. Er schritt den Weg entlang und öffnete die Tür. Kurz darauf erschien schon auch sein Dienstmädchen Dora, um ihm den Mantel abzunehmen. „Willkommen zuhause, Mr. Evans. Es ist schön, Sie wieder hier zu haben“, grüßte sie ihn und hing den Mantel an den Haken. Sie war freundlich und zuvorkommend wie immer, aber etwas schien sie zu beschäftigen. Und meist bedeutete es Probleme für ihn. „Ist irgendetwas vorgefallen, wovon ich wissen sollte?“ erkundigte er sich direkt und reichte ihr nun auch seinen Gehstock. Die Afroamerikanerin räusperte sich etwas nervös und erklärte „Ihr Sohn ist hier. Und er ist in Begleitung gekommen.“ „In Begleitung?“ fragte Lionel verärgert. „Doch nicht etwa mit diesem dreckigen Stricher, der schon letztens in meinem Haus war.“ „Nein, es ist eine Dame“, erklärte Dora. „Ich kenne sie nicht, aber Ihr Sohn anscheinend. Sie warten im Kaminzimmer.“ Sein Sohn in weiblicher Begleitung? Gab es etwa tatsächlich Anlass zu der Hoffnung, dass Leron endlich Vernunft angenommen hatte und dieses Kind endlich wieder zurück auf die Straße geschickt hatte? Na der Tag versprach ja immer besser zu werden. „Nun… wenn er endlich zur Besinnung gekommen ist, dann sollte dies doch ein Grund zum Feiern sein. Dora, bringen Sie mir einen Cognac. Ein Drink würde mir nach diesem mehr als unangenehmen Aufenthalt im Krankenhaus gut tun.“ Damit ging das Dienstmädchen und Lionel ging in Richtung Kaminzimmer in freudiger Erwartung, dass sein Sohn ihm eine anständige Frau präsentieren würde. Dies würde seinen Tag umso mehr versüßen, wenn sie hübsch, jung und aus anständigem Hause war. Doch kaum, dass er den Raum betrat und sah, welche Frau da neben seinem Sohn stand, da war seine gute Laune verflogen und ihm war, als würde ihn der Schlag treffen. Es war jene Frau, die ihn im Krankenhaus besucht und von ihm verlangt hatte, Leron die Wahrheit zu beichten, wie er angeblich Katherines Absturz mitverschuldet hatte. Für einen Moment war er wie erstarrt und sein Blick wanderte zu Leron, der mit einem düsteren Blick und verschränkten Armen neben dem Kamin stand und ihn mit seinen nussbraunen Augen ansah. „Schön, dass du wieder da bist. Ich bin hier, weil ich da ein paar Fragen an dich habe. Es geht um meine Mutter.“ Das konnte sich doch nur um einen schlechten Scherz handeln. Dieses impertinente Weibsstück hatte es also tatsächlich gewagt, sich in solche Familienangelegenheiten einzumischen und seinen Sohn gegen ihn aufzuhetzen? Für einen Moment war Lionel drauf und dran, dieser unverschämten Frau die Leviten zu lesen und sie hochkant aus dem Haus zu werfen. Doch das würde einem Geständnis gleichkommen und wenn er seine Pläne nicht in Gefahr bringen wollte, musste er vorsichtig sein. Noch war es nicht zu spät und er konnte Leron davon überzeugen, dass sie ihn nur zu manipulieren versuchte. Solange er die Kontrolle hatte, gab es nichts zu befürchten. Und als Geschäftsmann lag ihm im Blut, die Kontrolle zu wahren. „Schön, dass du mich besuchen kommst, Leron. Und wie ich sehe hast du noch weiteren Besuch mitgebracht. Setz dich doch erst einmal. Ich bin gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen und muss erst einmal ankommen.“ Doch Leron blieb wo er war und sah nicht danach aus als wäre ihm nach einem netten Plausch zumute. „Ich bin nicht deswegen hergekommen! Ich will von dir die Wahrheit wissen.“ „Von welcher Wahrheit sprichst du denn?“ fragte Lionel kopfschüttelnd und nahm in seinem Sessel Platz. Dora kam mit der Flasche Cognac und einem Glas mit Eis und schenkte ihm ein. Lionel nahm das Glas und trank einen Schluck. Wie sehr hatte er doch den Geschmack vermisst. Das ließ ihn wenigstens dieses ekelhafte Gefühl von Tod und Desinfektion aus dem Krankenhaus vergessen. „Ich habe dir bereits alles zu deiner Mutter gesagt. Was sollte da noch sein?“ „Stell dich nicht dumm! Ich spreche davon, dass du Mum damals schon mit dieser Kellnerin betrogen hast, bevor ihr diesen Streit hattet. Du hast sie gedemütigt und belogen und sie so weit provoziert, dass sie erst da die Flasche gegriffen hat. Und du hast zugelassen, dass sie beinahe eine Fehlgeburt erlitten hat!“ Leron war schon gar nicht mehr zu bremsen und schrie alles regelrecht heraus. Er war unfassbar wütend und seine Gesichtszüge waren vor unbändigem Zorn verzerrt. Und für einen Moment war ihm, als würde nicht sein Sohn zu ihm sprechen, sondern Katherine selbst. Ja, er konnte sogar erkennen, wie Lerons nussbraune Augen einen goldgelben Schimmer annahmen. Obwohl er sich nichts anmerken ließ, erschauderte er innerlich, als er realisierte, wie ähnlich Leron seiner Mutter in diesem Moment aussah. Diese Situation war so makaber, dass Lionel in einem kurzen Augenblick der Schwäche sogar glaubte, Katherine wäre aus den Tiefen der Hölle zurückgekehrt um ihn für seine Fehltritte anzuklagen. Doch er riss sich zusammen und fokussierte sich auf das Hier und Jetzt. „Was redest du da für einen Unsinn? Woher hast du diese Geschichten?“ „Lotta hat mir alles erzählt und was du damals getan hast. Ich dachte, du wärst endlich ehrlich zu mir und wir könnten Frieden schließen. Und dann muss ich erfahren, dass du mir irgendwelche Halbwahrheiten auftischst, um mich zu manipulieren.“ „Du glaubst einer Fremden mehr als deiner eigenen Familie?“ erwiderte Lionel verärgert und stellte sein Glas auf das kleine Tischchen neben ihn. Feindselig funkelte er die rotäugige Frau an, doch ihr Gesicht blieb regungslos und ihr Blick schwer zu deuten. „Ich habe keine Ahnung, was hier gespielt wird, aber es enttäuscht mich zu sehen, dass du einer dahergelaufenen Person mehr Vertrauen schenkst als deinem eigenen Vater. Was hat sie dir noch so alles erzählt? Dass ich deine Mutter vielleicht noch geschlagen oder bedroht habe? Hat sie dir auch nur irgendeinen Beweis für diese Behauptungen geliefert?“ Damit hatte er sie. Woher diese Frau auch immer wissen mochte, was zwischen ihm und Katherine vorgefallen war, es war unmöglich, dass sie irgendwelche handfesten Beweise hatte. Und wenn Leron das erst mal erkannt hatte, dann würde er auch endlich mit dieser Aufmüpfigkeit aufhören. Tatsächlich sah es auch danach aus, als würde sein Sohn zögern, doch dann fing er sich wieder und meinte „Ich brauche keine Beweise um zu wissen, dass man dir nicht vertrauen kann. Du erzählst mir, wie sehr dich Mum misshandelt hat, aber du besitzt nicht einmal die Ehrlichkeit, deine eigenen Fehler einzugestehen. Und du kannst mir nicht sagen, dass Mum ohne jede Vorwarnung plötzlich auf dich losgegangen ist. Selbst Anthony weiß, dass sie niemals diese Dinge tun wollte und die ganze Zeit mit sich gekämpft hat weil sie ein normales Leben haben wollte. Wenn du mit einer anderen Frau so viel glücklicher warst als mit Mum, warum konntest du sie nicht einfach verlassen ohne sie zu demütigen und was weiß ich wie lange schamlos zu betrügen? Du hast sie dazu gebracht, dir all ihr Geld zu geben, weil sie dir mit deiner Firma helfen wollte. Und sie hat alles für dich getan, weil sie eine Familie wollte. Aber alles was du machst, ist dich wie ein egoistischer Mistkerl zu verhalten.“ „Pass auf in welchem Ton du mit mir redest“, rief Lionel und spürte, wie er nun selbst wütend wurde. „Ich bin immer noch dein Vater. Und ich lasse es mir nicht gefallen, dass du mich wegen einer Affäre verteufelst, nachdem deine Mutter mich wochenlang gestalkt und bedrängt hat. Sie hat mir nicht nur verschwiegen, dass sie von einer Familie von geisteskranken Mördern abstammt, sie hat mich mehrmals fast umgebracht. Deine Mutter war es, die mich mit dem Auto angefahren und mir ein Messer in den Bauch gerammt hat! Sie hat mir die Finger gebrochen und mich gedemütigt und mir die Frau genommen, die ich liebte.“ „Hättest du Mum nicht so eine Heidenangst davor eingejagt, sich in professionelle Behandlung zu begeben, dann wäre es nicht soweit gekommen“, konterte Leron und trat auf ihn zu. „Gib doch zu, dass du Mum dazu zwingen wolltest, sich lobotomieren zu lassen, damit du sie und uns loswerden konntest. Mum wollte sich behandeln lassen, aber dank dir hatte sie solch eine Angst davor, dass sie sich nicht mal dazu bringen konnte, Michael behandeln zu lassen.“ „Ich habe deine Mutter zu nichts gezwungen. Wenn schon dann war sie es, die mich unter Druck gesetzt hat!“ Der Streit war drauf und dran zu eskalieren. Doch da ging plötzlich Lotta dazwischen, um wieder für etwas Ruhe zu sorgen. „So kommen wir jetzt gerade auch nicht weiter. Es bringt nichts, wenn ihr euch beide die ganze Zeit anschreit.“ „Halten Sie sich da raus!“ keifte Lionel sie an. „Wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden, lasse ich die Polizei rufen. Sie haben schon genug Unheil angerichtet, also scheren Sie sich zum Teufel und lassen Sie sich nie wieder hier blicken!“ Doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Sie hielt den Blick auf ihn gerichtet und etwas Fremdes und schwer zu Deutendes lag auf ihrem Gesichtsausdruck. Etwas in ihr machte sie so undurchschaubar, dass sie fast schon unantastbar wirkte. All seine harschen Worte prallten einfach an ihr ab und ließen nicht einmal einen einzigen Gesichtsmuskel aufzucken. „Das hast du selbst über dich gebracht“, entgegnete sie ruhig. „Ich habe dir drei Tage Zeit gelassen, aber du hast trotzdem geschwiegen. Und nun musst du die Konsequenzen deiner Entscheidungen tragen.“ „Ich lasse mir nicht einfach irgendetwas anhängen, was ich nicht getan habe!“ erwiderte Lionel wütend und verkrallte die Finger in die Armlehnen seines Sessels. „Haben Sie irgendwelche Beweise für diese Anschuldigungen? Dann zeigen Sie sie mir!“ Doch selbst hier war nicht ein Funken Schwäche oder Unsicherheit in ihr zu erkennen. Und mit einem Male wurde er nervös. Warum zum Teufel blieb sie so ruhig und entspannt? Führte sie irgendetwas im Schilde? Oder hatte sie tatsächlich irgendeine Art von Beweis? Aber was sollte das für einer sein? Alles, was ihm vorgeworfen wurde, war nur ein Streit mit Katherine gewesen und wie sollte man den beweisen? Es war über 40 Jahre her! Es konnte unmöglich einen handfesten Beweis geben, der ihn überführte. Und doch schien sich diese Frau ihrer Sache sicher zu sein. „Ich habe tatsächlich einen Beweis“, bestätigte sie. „Und zwar deine eigenen Worte.“ Nun wurde es ihm endgültig zu bunt. Dieses Weibsbild wagte es, ihn in seinem eigenen Haus derart vorzuführen und ihn zum Narren zu halten? Das musste er sich wirklich nicht bieten lassen. Beinahe rasend vor Zorn erhob er sich von seinem Sessel und baute sich zu seiner ganzen Größe auf. „Verschwinden Sie sofort aus meinem Haus, oder ich…“ „Hinsetzen!!“ Ein eiskalter Schauer durchfuhr Lionel, als ihre donnernde Stimme durch das Kaminzimmer hallte. Es steckte eine solche Kraft in ihren Worten, dass ihm so war, als würde allein durch den Klang ihrer Stimme die Luft erzittern. Und zu seinem größten Schrecken setzte er sich tatsächlich hin, aber nicht weil er es wollte. Es schien, als würde sein Körper nicht mehr seinem Willen gehorchen. Was geschah hier bloß? Das war ihm doch schon im Krankenhaus passiert. Aber warum gehorchte er ihr obwohl er es nicht einmal wollte? Was hatte sie mit ihm gemacht? Viel wichtiger aber noch war die Frage: wer oder was war diese Frau? Sie mochte wie ein Mensch aussehen, aber etwas verriet ihm, dass sie etwas ganz anderes war. „Wer oder was sind Sie?“ „Ich bin nur ein Schatten, der diese Welt umgibt“, erklärte sie, ohne wirklich eine eindeutige Antwort zu geben. „Aus der Dunkelheit bin ich geboren und der Dunkelheit diene ich. Das ist alles, was du über mich wissen musst. Und nun antworte mir wahrheitsgemäß: hast du eine Affäre mit Lucy Witherfield gehabt und deine ahnungslose schwangere Frau getäuscht und belogen?“ Das konnte doch nicht ihr Ernst sein. Dieser peinliche amateurhafte Versuch eines Verhörs sollte ihn tatsächlich dazu bringen, klein bei zu geben und ein Geständnis abzulegen? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein. Doch als er mit Nein antworten wollte, war ihm, als würde sich sogar sein Mund seiner Kontrolle entziehen und antwortete stattdessen „Ja, habe ich. Katherine wurde mir mit ihren Gefühlsschwankungen einfach zu anstrengend und ich wollte eine vernünftige Frau, die nicht so problematisch war. Meine Affäre mit Lucy begann knapp drei oder vier Monate bevor Katherine schwanger wurde und sie wusste lange Zeit nichts. Stattdessen habe ich ihr bloß erzählt, ich müsste länger arbeiten.“ Das Blut gefror Lionel in den Adern. Warum um Gottes Willen hatte er das gesagt? Das war doch ganz und gar nicht was er sagen wollte! Nun bekam er es langsam mit der Angst zu tun und sah zu Lotta, die ihn mit ihren dunkelroten Augen förmlich zu durchbohren schien. Es war, als würden ihre Augen ihn nicht bloß ansehen. Nein, es war als würde sie tief in sein Innerstes blicken und jede einzelne Lüge enttarnen und sein wahres Ich erkennen. Konnte es etwa sein, dass sie es war, die ihn dazu brachte, ihr gegen seinen Willen zu gehorchen und die schonungslose Wahrheit zu sagen? „Was… was machen Sie mit…“ Doch sie ließ ihn nicht ausreden und fragte ihn weiter. „Was hast du zu deiner Frau gesagt, als sie dich mit dem Ehebruch konfrontiert hat?“ Lionel biss die Zähne zusammen und wollte sich zwingen, still zu bleiben und nicht auf diese Frage zu antworten. Doch es war zwecklos. Er schaffte es einfach nicht, sich ihrem Willen zu entziehen und ihre Aufforderung zu ignorieren. „Ich habe ihr gesagt: es ist deine Schuld, dass ich mir lieber eine andere Frau suche, Kathy. Ich habe dir oft genug gesagt, ich kann keine Frau an meiner Seite gebrauchen, die so eigenwillig und schwierig ist wie du. Wenn du endlich mal lernen würdest, eine bessere Ehefrau zu sein, dann müsste ich auch nicht fremdgehen. Ich habe dich nicht geheiratet, weil ich mich für deine Probleme interessiere, also verschone mich mit deinen Eifersuchtsdramen. Kein Mann will eine hysterische Frau wie dich in seinem Leben.“ „Und was ist dann passiert?“ „Sie hat geweint und gesagt, dass sie mich liebt und mich nicht verlieren will. Aber ich habe sie nur weggestoßen und gesagt, dass ich jemanden gefunden habe, die eine weitaus bessere Frau ist als sie. Und ich habe ihr gesagt, dass ich sie nie und nimmer geheiratet hätte, wenn sie nicht reich und schön gewesen wäre. Dann hat sie sich die Weinflasche gegriffen und sie mir auf den Kopf geschlagen.“ Alles Blut wich aus Lionels Kopf, als er immer weitererzählte und damit alle unschönen Details seines Streits mit Katherine enthüllte. Und das Schlimmste daran war, dass er nicht einmal aufhören konnte. Er redete einfach weiter obwohl sein Kopf ihm sagte, er solle aufhören. Wie um alles in der Welt machte diese Frau das nur? „Hast du Katherine dazu bringen wollen, sich lobotomieren zu lassen?“ „Ja. Ich habe dieses Miststück dafür gehasst, dass sie meine geliebte Lucy umgebracht und mich misshandelt und vergewaltigt hat. Ich habe ihr gesagt, dass der einzige Weg, ihr krankes Hirn zu kurieren, eine Lobotomie sei, damit sie genauso als Pflegefall endet wie meine Halbschwester, als sie nach einer missglückten Lobotomie vollkommen verändert war. Ich wollte es ihr heimzahlen und dafür sorgen, dass sie den Rest ihres erbärmlichen Lebens in einem dreckigen Pflegeheim verbringt. Und ich wollte diese Brut loswerden, die sie in die Welt gesetzt hat! Ich hatte sogar gehofft gehabt, sie würde die Behandlung nicht überleben und für immer aus meinem Leben verschwinden. Aber sie hat mich durchschaut und mir daraufhin den Zeigefinger gebrochen und gedroht, dass sie dafür sorgen würde, dass ich wünschen würde, ich wäre mit Lucy gestorben.“ Allmählich bekam Lionel wirklich Angst. Hier lief doch irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu. Wie um alles in der Welt konnte es sein, dass er all diese Dinge ausplauderte, ohne wirklich eine Wahl zu haben? Diese Frau ist der Teufel, war sein erster Gedanke. Auch wenn er nicht an die Existenz von Gott oder sonstigen höheren Mächten glaubte, so erschauderte ihn der Gedanke, eine solch höhere Macht vor sich stehen zu sehen, die ihn mit irgendwelchen Mitteln dazu brachte, die schonungslose Wahrheit zu gestehen. Eine Weile lang herrschte Stille und Lionel spürte, wie ihm der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Nun war alles gesagt und es gab keine Möglichkeit mehr, das alles zu widerrufen. Sein Blick wanderte zu Leron, dem die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben stand. Doch das Verhör war noch lange nicht vorbei. Lotta stellte ihre nächste Frage mit derselben ruhigen und kühlen aber dennoch befehlenden Stimme „Und was waren deine Pläne bezüglich deines jüngsten Sohnes nachdem Lucys Großneffe dich besucht hat?” Herrgott, wann ist dieser Alptraum endlich vorbei? Warum nur tat sie das? Was versprach sie sich davon, dass sie all diese alten Geschichten enthüllte? Kein Mensch tat so etwas ohne einen bestimmtes Motiv zu haben. Konnte es vielleicht sein, dass sie hinter dem Konzern her war? Ja, das musste es sein. Sie war hinter seinem Lebenswerk her und versuchte es sich unter dem Nagel zu reißen, indem sie Leron gegen ihn aufhetzte. „Das ist doch alles nur ein hinterhältiges Spiel!” rief er wütend und wollte aufstehen, doch sein Körper war immer noch wie erstarrt. „Sie halten sich wohl für besonders schlau, was? Sie haben es doch nur auf den Konzern abgesehen und stacheln dafür meinen Sohn gegen mich auf und manipulieren mich mit Ihren bösartigen Psychotricks!” „Ich bin nicht an materiellen Dingen interessiert”, gab sie kalt zurück. „Reichtum und Wohlstand sind nur flüchtige Dinge. Alles was ich will ist, mein Versprechen zu halten, das ich Katherine an ihrem Sterbebett gegeben habe.” „Und was zum Henker versprechen Sie sich davon?” „Katherines Seelenfrieden.” Diese Frau war doch vollkommen übergeschnappt. Das konnte doch unmöglich ihr Ernst sein. Er wollte wieder protestieren, doch da kam Lotta ihn zuvor als sie ihre Frage von gerade eben noch mal wiederholte. „Was hattest du mit Leron geplant, nachdem Elion Witherfield dich aufgesucht hat?” Und wieder war Lionel außerstande, sich einer Antwort zu entziehen. „Ich wollte meinen Sohn dazu bringen, dass er ein anständiger Konzernleiter wird und sich eine Frau sucht. Ich dulde es nicht, dass er mit einem dreckigen Stricherjungen von der Straße den Namen Evans so in den Dreck zieht und mich zum Gespött macht. Ich habe es geduldet weil ich dachte, dein Interesse an Männern wäre nur eine Phase, Leron. Aber du bist erwachsen und es ist deine Pflicht als Teil der Evans-Familie, einen Nachkommen in die Welt zu setzen und ich dulde nicht, dass mein Sohn mit seiner Perversion einen Skandal verursacht!” Nun war die Grenze endgültig überschritten. Noch ehe Lionel sich versah, hatte Leron ihn am Kragen gepackt und ein härter Schlag traf ihn ins Gesicht. Für einen Moment war ihm, als würde ihm schwarz vor Augen werden und ein pulsierender Schmerz zog sich über seine linke Gesichtshälfte. Fassungslosigkeit und Verwunderung überkamen ihn. Hatte sein eigener Sohn ihn gerade wirklich geschlagen? In all den Jahren hatte Leron es niemals gewagt gehabt, die Hand gegen ihn zu erheben und jetzt so etwas? Und warum? Nur weil er ein besseres Leben für ihn wollte? War es das? Unbändiger Zorn überkam Leron und er nahm nicht einmal den Schmerz in seiner Hand wahr. Er konnte vieles ertragen, aber das war endgültig zu viel. Er wollte wieder zuschlagen, doch dieses Mal hielt Lotta zurück. Wahrscheinlich weil er sich im schlimmsten Fall endgültig vergessen und ihn noch totgeprügelt hätte. Doch seine Wut besänftigte selbst dieser Schlag nicht. Nein… er wollte, dass sein Vater dafür bezahlte, was er getan hatte. „Wag es nie wieder, so über Simon zu reden! Ich kann es echt nicht fassen. Nicht nur, dass du versucht hast, ihn zu erpressen. Du schreckst ja nicht mal davor zurück, mich zu manipulieren und mir irgendwelche Lügen oder Halbwahrheiten aufzutischen. Und dann bezeichnest du mich auch noch als pervers nur weil ich nicht auf Frauen stehe? Du bist wirklich das Allerletzte! Und ich dachte wirklich, du hättest dich geändert, als wir Frieden geschlossen haben. Dabei war das nur ein Teil deines Plans gewesen, mich für deine Zwecke zu manipulieren? Was für ein Vater macht so etwas?” Doch es war nicht die geringste Spur von Reue zu sehen. Selbst jetzt sah Lionel sich immer noch im Recht und glaubte nach wie vor daran, dass das, was er getan hatte, richtig war. „Ein Mann gehört zu einer Frau und nicht zu einem anderen Mann. Das ist unnatürlich und ich werde so etwas nicht akzeptieren. Die Familie Evans besitzt seit Generationen einen exzellenten Ruf und ich lasse nicht zu, dass das Erbe meiner Familie wegen seiner Vorlieben den Bach runtergeht. Dieser dahergelaufene Junge ist ein Freak und eine Schande für unsere Familie!” „Wenigstens haben wir alle Male ein besseres Verhältnis zueinander als du und Mum. Oder zumindest hätten wir das wenn du und Michael nicht gewesen wärt! Du spielst dich hier auf und predigst mir davon, ich solle mir eine Frau suchen, die besser zu mir passt. Dabei hast du Mum doch nur wegen des Geldes und ihres Aussehens geheiratet und sie bei der nächstbesten Gelegenheit mit einer Kellnerin betrogen. Du hast hier gar nicht das Recht, dich so aufzuspielen!” „Deine Mutter war eine Mörderin und Verrückte. Die Affäre ist eine Sache, aber sie hat unzählige Menschen getötet und mich hat sie geschlagen, mir die Knochen gebrochen und in unserem eigenen Ehebett vergewaltigt. Dieses kranke Weibsstück verdient es nicht, in Schutz genommen zu werden. Also wag es nicht, mich hier als den Schuldigen hinzustellen. Sie war es, die all diese Menschen getötet hat und nicht ich.” Doch Leron ließ sich nicht beirren und hielt weiter stand. Jetzt endlich konnte er reinen Tisch machen und ein für alle Male für klare Verhältnisse sorgen. Und es war ein unglaublich befriedigendes und vor allem befreiendes Gefühl. „Ihr beide habt Mitschuld an der ganzen Sache!” erwiderte er laut. „Hättest du Mum nicht so eine Angst gemacht, hätte sie sich in Behandlung gegeben und hättest du sie nicht wie den letzten Dreck behandelt, dann wäre es nicht eskaliert. Sie hat dich aufrichtig geliebt und Opfer für dich gebracht und du hast sie betrogen und gedemütigt. Sie hätte dich bei der nächstbesten Gelegenheit verlassen sollen, aber nein! Ihr seid beide zusammengeblieben und habt mit Abstand die schlimmste Ehe gehabt, die man sich vorstellen kann. Ihr beide habt euch gleichermaßen das Leben zur Hölle gemacht und die Konsequenzen ertragen. Mum hat Menschen getötet, aber hätte sie sich behandeln lassen, wäre das nicht passiert. Es ist mir wirklich ein Rätsel, warum ihr überhaupt geheiratet habt. Bei einer Heirat verspricht man, für den anderen da zu sein, in guten wie in schlechten Tagen. Mum hätte dich verlassen sollen, als sie von der Affäre erfahren hat und du hättest für deine Frau da sein sollen! Eine Frau ist doch kein Dekorationsobjekt, das du einfach wegwerfen kannst, nur weil sie sich gerade nicht so verhält wie du es haben willst. Und du kannst doch nicht erwarten, dass alles perfekt in deinem Leben abläuft, denn so funktioniert die Welt nun mal nicht und nicht alles dreht sich um dich. Jede Beziehung hat Krisen, aber wenn man an der Beziehung festhalten will, dann arbeitet man daran und lässt den Partner nicht einfach so fallen, nur weil er schwierig wird. Mum hat dich gebraucht und sie hat dir vertraut. Hättest du dich auch nur ansatzweise für etwas anderes als dich selbst interessiert, hättest du ihr wenigstens geraten, sich Hilfe zu suchen und sie unterstützt. Dass ihr beide eure ganze Ehe damit verbringt, euch gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen, das habt ihr beide zusammen verschuldet, aber ich sehe nicht ein, warum ich oder Simon hineingezogen werden sollen. Und jetzt ist endgültig Schluss. Du bist endgültig für mich gestorben und ich verbiete dir hiermit, jemals wieder mit uns in Kontakt zu treten. Und was den Konzern angeht: den werde ich verkaufen und dann werde ich mir etwas eigenes aufbauen. Ich will nichts mehr von dir in meinem Leben haben. Ich bin mit dir fertig!” Mit diesen Worten ging Leron davon, begleitet von Lotta, die jedoch kurz am Türrahmen stehen blieb und auf Lionel zurückblickte. Gebrochen und geschlagen saß dieser eingesunken in seinem Sessel, fassungslos ins Leere starrend und realisierend, dass er nun wirklich alles verloren hatte. „Wir werden uns wiedersehen, wenn deine Zeit gekommen ist, Lionel.” Das war das letzte was sie sagte, bevor sie verschwand und Lionel nun ganz alleine im Kaminzimmer war. Kapitel 63: Wahres Glück ------------------------ Kaum, dass Leron gemeinsam mit Lotta die Villa seines Vaters verlassen hatte, brachen all die aufgestauten Emotionen über ihn herein und Tränen traten ihn in die Augen. Er konnte es nicht aufhalten und er hatte keine Kraft mehr, stark zu bleiben. Lotta reichte ihm ein Taschentuch und legte tröstend eine Hand auf seine Schulter. „Es ist alles gut, Leron. Du hast für dich die richtige Entscheidung getroffen und allein darauf kommt es an. Geh nach Hause und ruh dich aus. Ich werde mich morgen bei dir melden.“ „Danke für die Hilfe“, murmelte Leron und wischte sich die Tränen weg. „Ich bin okay. Es ist nur… Dieser ganze Familienterror ist mir einfach zu viel geworden. Und ich kann einfach nicht glauben, dass ich so dumm gewesen war und allen Ernstes geglaubt habe, dieser Mann würde sich jemals ändern.“ „Du hast ein gutes Herz und mit deinem kranken Vater Frieden schließen zu wollen ist nicht dumm. Der Fehler liegt nicht bei dir. Ruh dich erst einmal aus. Du brauchst genauso eine Auszeit wie Simon und ich denke, etwas Abstand von New York wird euch beiden gut tun. Nun dann… ich sollte langsam zum Hotel zurückgehen und sehen, was Azarias macht. Leider kann man ihn nicht allzu lange alleine lassen.“ Damit verabschiedete sie sich und ging ihres Weges. Leron selbst ging zur Limousine und wies seinen Chauffeur an, ihn zurück nach Hause zu fahren. Erschöpft schloss er die Augen und lehnte seinen Kopf zurück. Er hatte es tatsächlich getan und damit genau das gemacht, was bereits seine Mutter hätte tun sollen als sie noch gelebt hatte. Er hatte den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen und ihn offiziell aus seinem Leben gestrichen. Und er hatte seinen Entschluss verkündet, dass er den Konzern endgültig verkaufen würde. Auf der einen Seite war er ziemlich mit den Nerven durch, aber auf der anderen Seite fühlte er sich unendlich erleichtert und froh über seinen Entschluss. Er bereute ihn nicht eine Sekunde lang und war froh, dass er es getan hatte. Nicht nur, dass er sich noch weiterhin damit auseinandersetzen musste, wie er das angeschlagene Image wiederherstellen und die Verluste ausbügeln sollte. Nun konnte er sich etwas ganz eigenes aufbauen, ohne dass sein Vater ihm ständig reinzureden versuchte. All die negativen Erinnerungen, die er mit dem Unternehmen seiner Familie verband, konnte er endlich loslassen und noch einmal von vorne beginnen. Dies war mit Sicherheit eine der besten Entscheidungen, die er in seinem Leben getroffen hatte. Vor allem konnte er auch mit dem Thema Familie abschließen. Er wusste jetzt, was für eine Person seine Mutter gewesen war und hatte gelernt, nicht dieselben Fehler zu machen wie sie. Obwohl er sich lange Zeit nicht einmal daran erinnern konnte, so hatte er doch sein Versprechen gehalten, was er ihr gegeben hatte. Er hatte sich in Behandlung begeben nachdem seine Schizophrenie schlimmer geworden war und er hatte endgültig mit seinem Vater gebrochen, um sowohl sich selbst als auch Simon vor seinen Intrigen und Manipulationen schützen zu können. Er hatte sein Leben unter Kontrolle und war auf einem besseren Weg. Alles andere würde sich mit der Zeit ergeben. Und Morgen oder spätestens übermorgen würde er Simon nach Ohio schicken, damit er dort behandelt werden konnte. Vielleicht würde auch Cypher ihn begleiten wollen. Immerhin lebte ihre gemeinsame Mutter in Annatown und garantiert wollten sie sie persönlich kennen lernen. In dem Fall würde mit Sicherheit auch Hunter mitgehen wollen. Nun, in dem Fall war er wesentlich beruhigter und konnte den Jungen vorschicken. Die beiden würden ein wachsames Auge auf ihn haben und er würde sich darum kümmern, dass Evans Energy baldmöglich einen Käufer fand. Wenigstens das wollte er noch erledigen. Aber trotzdem konnte er nicht glauben, dass das vorhin wirklich passiert war und sein Vater alles gestanden hatte. Kurz nachdem Lotta ihm alles zu seiner Mutter und den Plänen seines Vaters erzählt hatte, da hatte er nicht mehr an sich halten können und die Wahrheit aus Lionels Mund selber hören. Ihm war klar gewesen, dass er ihn nicht so leicht dazu bringen konnte, doch überraschend hatte Lotta angeboten gehabt, mitzukommen. Sie hatte angedeutet, dass sie sehr überzeugend sein könne und seinen Vater dazu bringen konnte, die Wahrheit zu sagen, ohne dass direkt Gewalt angewandt werden musste. Aber dass es so gut funktionieren würde, hätte er nie im Leben gedacht. Wie auch immer sie das geschafft hatte, es hatte ihm absolute Gewissheit verschafft und nun konnte er seine Entscheidung durchziehen, ohne irgendwelche Restzweifel zu haben. Aber es wunderte ihn trotzdem, wer diese Lotta Muldaur eigentlich war und warum sie ein solch großes Interesse daran hatte, den letzten Willen seiner Mutter zu erfüllen. Sie selbst hatte ja gesagt, sie hätte nie ein sonderlich enges Verhältnis zu ihr gehabt. Aber trotzdem hatte sie diese ganze Mühe auf sich genommen und war extra aus Ohio hergereist und das nur um ihn vor den Manipulationen seines Vaters zu warnen. War sie einfach nur ein Mensch, der das Richtige tun wollte und ein gutes Herz hatte? Solche Leute sollte es ja bekanntlich geben, die einige Verrücktheiten machten, allein nur weil sie jemandem helfen wollten. Aber was wusste er sonst über sie? Nur, dass sie anscheinend alt genug war, dass sie seine Mutter schon von klein auf gekannt hatte und sie aussah, als wäre sie gerade mal nur ein klein wenig älter als er. Sie war das ehemalige Oberhaupt eines Clans, der mit den Cohans verfeindet war und obwohl sie von sich behauptete, bloß Bibliothekarin und Heilpraktikerin zu sein, schien sie vermögend genug sein um sich einen Privatjet leisten zu können. All das klang so unfassbar widersprüchlich, dass er einfach nicht schlau aus ihr wurde. Und die wenigen Dinge, die er über sie wusste, passten überhaupt nicht in ein schlüssiges Bild zusammen. Nun, vielleicht hatte er ja die Chance, mehr über sie zu erfahren, wenn er seine persönlichen Angelegenheiten geregelt hatte. Nachdem sie schon so hilfsbereit ihm gegenüber gewesen war, wäre es das Mindeste, wenn er sich für ihre ganzen Mühen erkenntlich zeigte. Als der Wagen endlich die Villa erreicht hatte, öffnete Leron die Tür und atmete tief die frische Luft ein, die ihm entgegenwehte. Die kühle Brise war wohltuend und kühlte sein erhitztes Gesicht. Inzwischen war es später Nachmittag und er begann sich zu fragen, ob Simon wohl noch mit Cypher unterwegs war. Mit Sicherheit hatten sie nicht allzu viel Zeit im Gefängnis verbracht. So wie er seinen Petboy einschätzte, würde er nicht wirklich Lust auf ein Teekränzchen mit einem verurteilten Kriminellen haben. Und hoffentlich ging es ihm nicht allzu schlecht. Natürlich vertraute er Cypher, dass dieser ein Auge auf seinen kleinen Bruder hatte, aber nach allem, was Lotta und Azarias ihm bezüglich Simons Krankheit gesagt hatten, war er lieber umso vorsichtiger und ging lieber kein Risiko ein. Kaum, dass Leron die Tür geöffnet hatte, wehte ihm ein schwacher Essensgeruch entgegen. Und Licht brannte im Flur. Also war Simon wieder da? Vielleicht war aber auch dieser verrückte Spinner wieder in sein Heim eingebrochen und hatte spontan beschlossen, es sich bei ihm bequem zu machen. Solange der noch in New York war, hielt er alles für möglich. Doch als er die Küche betrat, sah er Simon am Herd stehen, der vollkommen konzentriert bei der Arbeit war. Was genau er da kochte, konnte Leron nicht ganz erkennen, doch dem Geruch nach zu urteilen, musste es etwas mit Zitrone sein. Eine Pfanne mit Soße stand auf dem Herd und köchelte leicht, während der 21-jährige gerade dabei war, die Nudeln abzugießen. „Na so was, Simon. Du kochst?“ „Hi Leron!“ grüßte Simon ihn, musste sich aber noch auf seine Arbeit konzentrieren und gab anschließend die Nudeln in die Soße. „Ich dachte mir, ich könnte was Einfaches kochen, weil Anthony ja nicht da ist. Und ich hatte auch ziemlichen Hunger gekriegt. Setz dich ruhig, ich bin gleich soweit.“ Während Leron am Tisch Platz nahm, belud Simon nun zwei Teller mit Essen und gesellte sich schließlich zu ihm. Der Unternehmer sah ihn prüfend an um sicherzugehen, dass auch alles in Ordnung mit dem Jungen war. Tatsächlich war er noch recht blass im Gesicht, wirkte aber dennoch deutlich fitter als in den letzten Tagen. Zumindest schien er besserer Laune zu sein. Doch etwas war da… „Simon, sieh mich mal kurz an.“ Fragend hob der 21-jährige den Blick und dann sah Leron es. Trotz des künstlichen Lichts der Lampen strahlten Simons Augen in einem wunderschönen kristallklaren Eisblau. Noch nie in seinem Leben hatte er jemals ein so strahlend schönes helles blau gesehen und sie wirkten so rein und klar wie Diamanten. Leron war wie hypnotisiert und ihm verschlug es vollkommen die Sprache. Sie schienen regelrecht zu leuchten. Simon, der seinerseits verwirrt über Lerons Gesichtsausdruck war, runzelte verwundert die Stirn und begann bereits zu essen. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“ erkundigte er sich. Doch der Angesprochene brauchte erst einen Moment um sich zu sammeln. Er holte sein Handy hervor, wählte die Selfiefunktion und hielt Simon das Smartphone entgegen, damit er es selbst sehen konnte. „Deine Augen…“ Immer noch etwas verwirrt schaute Simon auf das Display. Doch als er dann endlich sah was Leron meinte und nun selbst zum allerersten Mal seine wahren Augen erkannte, da sammelten sich Tränen in seinen Augen und er konnte es kaum glauben. Er wirkte so unbeschreiblich glücklich, dass Leron nicht anders konnte als zu ihm hinzugehen und ihn in den Arm zu schließen. Und kaum, dass sie einander in den Arm geschlossen hatten, begann Simon heftig zu schluchzen. Wie sehr hatte er auf diesen einen Moment gewartet, unzählige Opfer gebracht und gehofft, eines Tages zu diesem einen Punkt zu gelangen, dass ihm endlich das vergönnt wurde, was jedem Menschen von Geburt an gegeben wurde und jeder andere als selbstverständlich erachtete. Augen wie jeder andere zu haben und nicht mehr das Gefühl haben zu müssen, ein Monster oder Freak zu sein oder sich hinter Sonnenbrillen verstecken zu müssen. Selten hatte Leron etwas in seinem Leben so sehr bewegt wie dieser Moment. All die Mühen, die Wartezeit und das Geld waren mit einem Schlag vergessen, als er sah wie Simon vor Glück weinte, als er sich endlich selbst mit ganz normalen Augen sehen konnte. „Das muss ein Traum sein…“ hörte er ihn schluchzen. „Das kann doch nie und nimmer wirklich passieren.“ „Doch, es ist real und ich freue mich so sehr für dich. Du hast es wirklich verdient!“ Es dauerte eine Weile, bis sich Simon wieder halbwegs beruhigt hatte, doch so wirklich konnte er es noch gar nicht fassen. Er musste sich mehrmals vergewissern, dass es auch wirklich seine Augen waren und nicht bloß eine Täuschung. Noch nie hatte Leron ihn so glücklich gesehen und allein dieser Anblick ließ ihn den ganzen Ärger von vorhin vergessen. Simon starrte fasziniert auf das Display des Smartphones, um seine Augen näher zu betrachten. „Ich hätte nie gedacht, dass ich blaue Augen haben würde. Und ich habe noch nie so ein helles blau gesehen. Ob meine Mutter auch so eine Augenfarbe hat?“ „Wer weiß“, meinte Leron und schmunzelte. „Du könntest es früher herausfinden als erwartet.“ „Wieso?“ fragte Simon verwundert und schaute zu ihm auf. Es mochte Einbildung sein, aber es schien nun, als würde sein ganzer Blick so viel ausdrucksstärker und lebendiger wirken und das nur durch die Augen. Es lag etwas darin, was von solch einer ungefilterten Offenheit und gleichzeitig einer Art gutherzigen Unschuld zeugte. Erst jetzt wurde Leron überhaupt bewusst, wie viel allein die Augen schon ausmachten. Zwar hatte er sich vorher nie an Simons unnatürlich wirkenden Augen gestört, aber nun erkannte er, wie sehr diese „neuen“ Augen ihn veränderten. Nie im Leben hätte er gedacht, dass es einen solchen Unterschied ausmachen würde. Und dann waren sie auch noch so wunderschön. Der ungewohnte Anblick lenkte ihn so sehr ab, dass er Simons Frage zuerst gar nicht mitbekam, sodass dieser seine Frage wiederholen musste. Er versuchte sich wieder zu konzentrieren und entschuldigte sich schnell. „Also ich hatte heute Besuch von diesem verrückten Spinner von heute Morgen und einer Dame namens Lotta Muldaur, die mir etwas über deine Krankheit sagen konnten. Und da hat es sich ergeben, dass es wichtig ist, dich so schnell wie möglich nach Annatown zu bringen, damit du dort behandelt werden kannst. Ich werde Cypher anrufen und nachfragen, ob es ihm recht ist, dass ihr morgen nach Ohio fliegt.“ Simons Augen weiteten sich und ihm klappte die Kinnlade herunter. Er war vollkommen sprachlos und seine Augen leuchteten auf. „Was? Schon morgen? Aber wie… und was ist mit dir? Kommst du etwa nicht mit?“ „Ich werde nachkommen“, versicherte Leron ihm und begann sich nun seinem Essen zu widmen, welches sich als eine Zitronenpasta mit Garnelen und Pinienkernen herausstellte. Etwas relativ simples aber er musste zugeben, dass sie sehr gut gelungen war. Also Kochen konnte Simon auf jeden Fall. „Es gibt noch etwas, das ich noch unbedingt erledigen will, aber dann komme ich auf jeden Fall nach.“ „Ist irgendetwas mit dem Konzern oder ist etwas mit deinem Vater?“ „Ja und ja. Ich hatte vorhin eine etwas heftige Auseinandersetzung mit ihm und beschlossen, den Kontakt endgültig zu ihm abzubrechen und den Konzern zu verkaufen. Nachdem ich erfahren habe, dass er selbst jetzt nicht ehrlich zu mir ist und nur wieder seine eigenen selbstsüchtigen Ziele im Blick hatte, habe ich endgültig den Schlussstrich gezogen. Ich will mir etwas ganz neues aufbauen, um endlich von ihm loszukommen und ich will niemanden in meinem Leben haben, der versucht, sich unserer Beziehung in den Weg zu stellen. Du bist der wichtigste Mensch für mich und ich will dich nicht verlieren. Meine Familie hat uns genug Probleme bereitet, also habe ich getan, was ich schon längst hätte tun sollen. Aber sprechen wir jetzt nicht darüber. Wie ist denn das Treffen mit deinem leiblichen Vater verlaufen?“ Mit dieser geschickten Strategie hatte er dieses unangenehme Thema geschickt gewechselt und ließ stattdessen Simon erzählen. Er hatte gerade nicht wirklich Lust dazu, über den Streit mit seinem Vater zu reden. Dafür aber blühte zumindest Simon in seiner Erzählung auf. Von Henderson redete er nicht sonderlich viel, dafür aber von seiner Mutter, mit der er bei Cypher zuhause telefoniert hatte. Er erzählte mit Begeisterung davon, wie überglücklich sie gewesen war, von ihm zu hören und dass sie ihn und Cypher unbedingt kennen lernen wollte. Leron freute sich richtig für ihn, dass er zumindest bei seiner Mutter Glück gehabt hatte und sie ihn sehen wollte. Zwar hatte der Junge gesagt gehabt, er brauche keine Familie mehr, aber es war ihm deutlich anzusehen, dass dem nicht so war. Er wünschte sich insgeheim eine Familie, mit der er Kontakt haben konnte. Und dann auch noch so eine positive Rückmeldung von seiner leiblichen Mutter zu bekommen, war natürlich das schönste Glück. Als Simon seinen Bericht beendet hatte, war sein Essen inzwischen kalt und er musste es in der Mikrowelle aufwärmen. „Na das trifft sich doch wunderbar“, sagte Leron schließlich. „Dann kannst du sie ja überraschen, indem du bei ihr persönlich vorbeischaust. Ich wette, damit wird sie im Leben nicht rechnen.“ „Meinst du, ich sollte sie vorher anrufen und fragen, ob das in Ordnung geht?“ fragte Simon etwas zögerlich, während er neben der Mikrowelle wartete. „Vielleicht ist es ja auch ein ganz schlechter Zeitpunkt.“ Ja das stimmte schon, das musste Leron zugeben. Also schlug er eine Alternative vor: „Du kannst sie anrufen und ihr Bescheid sagen, wenn du in Annatown bist. Dann könnt ihr ein Treffen ausmachen und so habt ihr Zeit, euch vorzubereiten. Und so kannst du sie trotzdem überraschen.“ „Klingt super. Aber sag mal, wer ist denn diese Lotta?! Ist das der Besuch, von dem Azarias gesprochen hat? Ist sie eine Bekannte von dir?“ „Nein, sie ist eine Bekannte meiner Mutter und hat ihr vor ihrem Tod ein Versprechen gegeben. Und sie wollte mich treffen, um ihr Versprechen einzulösen und mich zu warnen, dass mein Vater wieder ein falsches Spiel mit mir treibt“, erklärte Leron und goss sich ein Glas Wasser ein, nachdem er seine Pasta aufgegessen hatte. Simon selbst kehrte wieder mit seinem aufgewärmten Essen zum Tisch zurück und begann sich die Nudeln regelrecht reinzuschaufeln, als wäre er dem Hungertod nahe. „Viel weiß ich nicht über sie, aber sie kennt meine Familie sehr gut. Und ich habe noch etwas Interessantes erfahren.“ „Und was?“ „Sie hat mir von fünf Clans erzählt, die Annatown gegründet haben. Anscheinend zählen sowohl die Cohans als auch die Witherfields dazu. Das bedeutet, dass du offenbar einem uralten Clan angehörst. Und noch interessanter ist, dass zwischen diesen beiden Familien wohl eine enge Bindung herrscht. So etwas wie eine Seelenverwandtschaft. Zwar bin ich nicht abergläubisch, aber irgendwie hat dieser Gedanke etwas Romantisches, findest du nicht?“ Simons Augen wurden groß vor Staunen und er wollte mehr wissen. Leron begann ihm zu erzählen, was er von Lotta erfahren hatte und von der alten Geschichte der Clans. Der Tag der Überraschungen schien kein Ende zu nehmen und der 21-jährige konnte kaum glauben, dass die Geschichte seiner Familie Jahrhunderte zurückging und dann auch noch mitverantwortlich für die Gründung einer Stadt war. Er wollte mehr wissen, aber leider wusste Leron nicht mehr als das. Nachdem auch Simon aufgegessen hatte und sie gemeinsam die Küche wieder aufräumten, gingen sie gemeinsam zu Lerons Schlafzimmer. Sie beide waren müde und hatten einen ereignisreichen Tag. Und morgen würde es genauso ereignisreich weitergehen. Die Stimmung was entspannt und sie beide waren in guter Stimmung. Nach einer ausgiebigen heißen Dusche gingen sie zu Bett und Simon kuschelte sich an Leron heran und schloss seine Augen. Zärtlich strich der 31-jährige ihm durch seine braunen Locken und bemerkte erleichtert, dass Simons Kälte ein wenig gewichen war. Zwar fühlte sich seine Körpertemperatur immer noch nicht normal an, aber es war bei weitem nicht mehr so schlimm wie gestern. „Weißt du Leron, wenn ich so darüber nachdenke, passt das irgendwie, dass unsere Familien seelenverwandt sind“, sagte er und legte seinen Kopf auf Lerons Brust. „Wir beide sind zusammen und deine Mutter war eine Cohan. Cyoher ist ein Witherfield und Hunter ist ebenfalls ein Cohan.“ „Stimmt“, bestätigte Leron und musste zugeben, dass er das bis jetzt noch gar nicht so wirklich bemerkt hatte. „Und auch der Rest stimmt irgendwie. Es war auch ehrlich gesagt befreiend zu erfahren, dass die Cohans nicht einfach bloß geisteskranke Mörder sind, sondern dass es wenigstens eine Erklärung gibt, warum sie so sind. Wenn solch eine Genmutation in meiner Familie vorliegt, die psychische Krankheiten begünstigen kann, dann könnte es doch möglich sein, dass deine Augenanomalie vielleicht auch von deiner Familie herkommt.“ Doch Simon schüttelte den Kopf und meinte „Nein, ich glaube das kommt von meinem Erzeuger. Als wir ihn im Gefängnis besucht hatten, da sahen seine Augen ziemlich trüb aus und sie waren irgendwie anders als normal. Nicht so krass wie bei mir und Cypher, aber man hat schon gesehen, dass da irgendetwas anders war. Naja, ich kann mich auch irren. Aber sag mal Leron…“ Eine Pause trat ein und Simon hob seinen Kopf und sah Leron mit einem fragenden und besorgten Blick an. „Meinst du wirklich, es ist die richtige Entscheidung, den Konzern zu verkaufen? Du arbeitest doch immer so hart und dir ist die Arbeit wichtig. Und ich will nicht, dass ich eine Belastung für dich werde.“ Es lag so etwas wie Schuld in seinen Augen, das sah Leron sofort. Anscheinend glaubte er, dass er der Hauptgrund war, warum er diesen Entschluss gefasst hatte. Nun, der Gedanke lag auch nahe, denn immerhin hatte er vorhin erwähnt gehabt, dass der Grund für sein Zerwürfnis mit Lionel unter anderem auch Simon war. Um für klare Verhältnisse zu schaffen, erklärte er „Es ist einfach zu viel zwischen mir und meinem Vater passiert. Und solange ich mich nicht alle Verbindungen zu ihm abbreche, wird es nicht besser werden. Es ist viel zusammengekommen und es liegt nicht an dir. Er kann einfach nicht akzeptieren, dass ich schwul bin und ich nicht mit einer wohlhabenden Frau liiert bin. Und er hat mich bezüglich meiner Mutter belogen. Und mit dem Konzern verbinde ich sowieso nur schlechte Erinnerungen. Dieser hat für genug Familiendrama gesorgt und ich will endlich frei von meiner Vergangenheit sein. Es ist meine Entscheidung und du trägst keine Schuld an diesem Zerwürfnis.“ „Aber ihr habt euch wegen mir gestritten…“ „Er ist ein selbstgerechter Mistkerl“, sagte Leron nun mit deutlichem Nachdruck. „Er sieht auf dich herab, weil du anschaffen gegangen bist, bevor du zu mir gekommen bist. Aber er selbst hat meine damals schwangere Mutter mit einer mittellosen Kellnerin betrogen und er hat meine Mutter nur wegen ihres Aussehens und ihres Geldes geheiratet. Und er hat nicht das Recht, mich für meine Beziehung zu dir zu verurteilen, wenn er selbst keinen Deut besser ist. Ich liebe dich und ich will nicht so enden wie meine Eltern, die in einer absoluten Alptraumehe gefangen waren. Das ist nicht, wie ich mein Leben leben will. Er kann einfach nicht nachgeben, sondern versucht immer anderen seinen Willen aufzuzwingen und sie zu manipulieren. Wahrscheinlich wäre er damit durchgekommen und ich wäre eines Tages genauso wie er geworden, wenn ich nicht durch dich klarer gesehen hätte.“ Zärtlich streichelte er Simons Kopf und konnte nicht anders, als in diese wunderschönen eisblauen Augen zu sehen. Selbst in diesem Dämmerlicht der kleinen Lampe auf dem Nachttisch war es, als würden diese Augen aufleuchten. „Also im Grunde genommen bin ich doch der Grund für den Streit“, meinte sein Petboy spitzfündig. „Aber ich kann dich verstehen. Solange du mit deiner Entscheidung glücklich bist, ist ja alles gut. Ich mache mir halt nur Gedanken… Dein Vater ist todkrank und das hat dich ja schon ziemlich mitgenommen. Ich mache mir halt Sorgen, dass du es vielleicht bereuen wirst, wenn er nicht mehr da ist. Und der Konzern scheint ihm wichtig zu sein. Ich kenne mich da nicht so gut mit diesen Dingen aus, aber den Konzern zu verkaufen, weil du dich an deinem Vater rächen willst, erscheint mir nicht gerade als vernünftige Idee…“ „Ich mache das nicht aus Rache“, versicherte Leron. „Ich habe wirklich darüber nachgedacht, was die beste Entscheidung war und ehrlich gesagt hätte ich so oder so drastische Entscheidungen treffen müssen. Seitdem die Presse weiß, dass die Leichen im Wald eine Verbindung zu meinem Vater haben, steigern sich die Leute in Theorien hinein und wir haben viele Aufträge verloren. Aber nach allem, was passiert ist, ist es mir die Mühe nicht wert. Und ich denke, ein Neuanfang wird auch unserer Beziehung gut tun. Dann kann ich mir endlich eine Auszeit gönnen und habe vor allem auch mehr Zeit für dich. Mach dir nicht so viele Gedanken darüber. Es ist alles unter Kontrolle. Versuch ein bisschen Schlaf zu finden. Morgen haben wir viel vor und du musst für die Reise fit sein.“ Mit einem müden zustimmenden „Mhm…“ schloss Simon wieder die Augen und war kurz darauf auch schon eingeschlafen. Na das ging ja schnell, dachte sich Leron und schmunzelte, als er einen Arm um den Schlafenden legte. Seine Entscheidung bezüglich seines Vaters und des Konzerns bereute er nicht für eine Sekunde. Nein, es war die beste Entscheidung gewesen, die er seit langer Zeit getroffen hatte. Er würde sein Leben selbst bestimmen und sich von niemandem beeinflussen lassen. Und er war stolz darauf, dass er die Kraft besessen hatte, den Schritt zu gehen, den seine Mutter damals nicht gegangen war. Natürlich wusste er, dass sie nicht einfach bloß bei seinem Vater geblieben war, weil sie an ihrer Ehe festklammerte, obwohl sie ihren Mann gehasst hatte. Nein, sie hatte ihr eigenes Glück geopfert, um ihren Kindern ein normales Leben bieten zu können. Sie musste gewusst haben, dass sie es vielleicht nicht schaffen würde, den Stress als alleinerziehende Mutter zu bewältigen, vor allem nicht bei ihrer instabilen Psyche. Sie hätte vielleicht glücklich werden können, wenn sie alles hinter sich gelassen und einen Neuanfang gemacht hätte. Ohne Kinder und ohne einen lieblosen Ehemann. Doch sie hatte es nicht getan, weil ihre Kinder wichtiger waren als ihr eigenes Glück. Nein… das war es nicht. Ihre Kinder waren ihr Glück. Sie hatte sie alle drei aufrichtig und bedingungslos geliebt und sie war von ihnen geliebt worden. Und nun lag es in seiner Verantwortung, das Beste aus seinem Leben zu machen. Seiner Mutter konnte er ihr Leben nicht zurückgeben, also war das einzige, was er tun konnte, sein Versprechen zu wahren. Er würde sein Leben selbst bestimmen und den Menschen beschützen, den er liebte. Er hatte bereits sein wahres Glück gefunden und er würde es nicht wieder hergeben. Im Penthouse des Sterling-Hotels im Herzen der New Yorker City war es zum Abend hin ruhig geworden und nur der Fernseher, in welchem eine Folge der Animaniacs lief, störte die entspannte Atmosphäre. Azarias, der nach dem Besuch bei Leron wieder zurückgekehrt war, hatte es sich auf der Couch bequem gemacht und schlug sich den Bauch mit Popcorn und Schokolade voll, während er sich ununterbrochen Cartoons ansah. Diese zählten zu den wenigen unterhaltsamen Dingen in seinem Leben. Denn obwohl er sie alle schon unzählige Male gesehen hatte und schon beim ersten Mal genau wusste, wie die Folgen enden würden, schafften sie es dennoch, ihn zu unterhalten. Solche Art der Unterhaltung, in welcher die Auflösung am Ende einer Episode nicht das Wesentliche war, sondern stattdessen die Gags, wurde wenigstens nicht durch seinen siebten Sinn ruiniert. So war das einzig Interessante in seinem Leben nicht bloß seine Einmischung in das Leben anderer Leute, sondern einfach diese primitive wie geniale Kunst der Unterhaltung in kurzweiligen Episoden mit vielen Slapsticks. Nur Tom und Jerry waren noch besser, aber leider kratzte ihn die Gewalt immer kurz vorm Schlafengehen so sehr auf und dann kam er meist auf dumme Gedanken. Inzwischen kannte er sich da selbst zu genüge. Die Tür wurde geöffnet und er brauchte gar nicht erst nachzuschauen um zu wissen, wer da gerade hereingekommen war. Seine einzige Frage war höchstens „Wieso kommst du durch die Tür, Lotta? Du machst dir immer solche Umstände.“ „Ich ziehe es halt vor, mich anzupassen“, erklärte sie und setzte sich zu ihm. Zwar hatte sie noch nie sonderlich viel Interesse an Cartoons gehabt, geschweige denn an irgendwelchen Sendungen und las stattdessen lieber Bücher, aber sie suchte manchmal einfach Gesellschaft. Und außerdem verband sie beide etwas sehr Vertrautes miteinander. Immerhin hatte bereits sein Großvater eine enge Freundschaft zu ihr gehabt, genauso wie sein Urgroßvater. „Und wie ich sehe, hast du dich an meinem Ratschlag gehalten, im Hotel zu bleiben?“ „Ich wollte nicht noch mehr Ärger mit dir riskieren“, gestand er und bot ihr Popcorn an, doch sie lehnte ab. „Ich mag zwar verrückt sein, aber so verrückt bin ich nun auch wieder nicht, dass ich mich mit dir anlege.“ „Ach wirklich?“ fragte sie und schmunzelte. „Das hat dich aber nicht davon abgehalten, Sally zu ärgern.“ „Pfft, vor der habe ich ja auch keine Angst, weil sie Schiss vor dir hat und weil sie auf die Clanoberhäupter hört. Aber ich brauche keinen siebten Sinn um zu wissen, dass ich mich mit deinem Kaliber nicht anlegen sollte. Naja, zumindest ist alles gut verlaufen. Du hast dein Versprechen eingelöst und hast erfolgreich eine Vater-Sohn-Beziehung zerstört und als nächstes bringen wir die beiden Witherfield-Brüder nach Annatown. Und ich kann endlich wieder in die Klapse zurück.“ „Es hat dich keiner gezwungen, mitzukommen“, erinnerte ihn Lotta und holte nun ein Buch hervor, welches sich als das Buch „Germania“ von Tacitus herausstellte und begann darin zu lesen. „Wenn ich mich recht entsinne, warst du es doch, der mich darum gebeten hat, obwohl du das Fliegen so sehr hasst.“ „Ich wollte halt mein Versprechen einlösen und mir war in der Klapse langweilig geworden. Also brauchte ich etwas Abwechslung“, erklärte Azarias mit einem leichten Schmollen. Doch so leicht ließ ihn seine Gesprächspartnerin nicht davonkommen. „Und außerdem stand es nicht in meiner Absicht, eine Beziehung zu zerstören. Das alles hätte nicht passieren müssen, wenn Lionel ehrlich zu seinem Sohn gewesen wäre. Aber die Menschen sind leider unaufrichtig und stur. Erst im Tode werden all ihre Geheimnisse und Lügen offenbart.“ „Aber deine Tricks zu benutzen um ihn zum Reden zu bringen, ist meiner Meinung nach glattes Schummeln. Außerdem hättest du ihn dazu bringen können, es seinem Sohnemann schon vorher zu sagen.“ „Ich benutze meine Macht nicht, um die Menschen wie Marionetten zu manipulieren“, gab sie entschieden zurück und eine leichte Verärgerung war im Unterton wahrzunehmen. „Ich wollte, dass Lionel ihm aus freien Stück die Wahrheit sagt. Ich habe mich schon genug in die Angelegenheiten der Lebenden eingemischt. Mein Versprechen habe ich eingelöst und Leron ist nun frei vom Einfluss seines Vaters und seiner Mutter.“ Azarias biss ein Stück von seiner Tafel Schokolade ab und prüfte Lotta mit einem eindringlichen Blick, die sich ihrem Roman zugewandt hatte. „Na dafür, dass du dich so sehr an die Regeln halten willst, hast du sie aber ganz schön locker genommen, als du ihn das erste Mal besucht hast. Der arme Kerl war völlig von der Rolle, als er dich bei unserem Besuch gesehen hat.“ „Die Situation erforderte schnelles Handeln. Ich hatte zwar gespürt, dass sich Katherines Schatten an Leron geheftet und seine Schizophrenie begünstigt hat, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Selbst nicht-vollblütige Cohans können unkontrollierbar werden, wenn ihre Psychose überhandnimmt. Außerdem kam es sehr gelegen, dass er mich für eine Halluzination hielt. Das hat mir unnötige Komplikationen erspart. Was zählt ist, dass Katherine ihren Seelenfrieden gefunden hat und wenigstens ihr letztes lebendes Kind glücklich wird. Ich werde gleich noch Melissandra kontaktieren, damit sie für morgen alles vorbereitet.“ „Du willst ausgerechnet Melissandra die Behandlung aufs Auge drücken?“ fragte Azarias ungläubig und begann nun Popcorn zu futtern. „Nichts für ungut, aber Zurückhaltung kennt die noch weniger als ich. Außerdem ist das nicht gerade die beste Idee, wenn Simon gleich schon am Anfang mit den Traditionen konfrontiert wird. Ganz zu schweigen davon, dass Melissandra einen Sockenschuss hat und das sage ich als klinisch Verrückter.“ „Es wird schon gut gehen. Melissandra ist wesentlich besser auf diesem Gebiet als ich und sie wird schon wissen, was sie zu tun hat. Außerdem weiß sie sich besser zu benehmen als du. So…. und nun solltest du besser bald zu Bett gehen. Ich möchte nicht, dass du morgen so aufgekratzt bist und Probleme bereitest. Es reicht schon, dass kein Flughafen dich mehr mitfliegen lässt.“ Mit einem etwas missmutigen Grummeln schaltete Azarias den Fernseher aus, erhob sich von der Couch und ging in Richtung seines Schlafzimmers. Lotta selbst blieb auf der Couch sitzen und las ihr Buch weiter. Morgen würde ein neuer ereignisreicher Tag beginnen und sie würde die verlorenen Kinder nach Hause zu ihrer Mutter bringen. In solchen Augenblicken liebte sie ihre Arbeit wirklich. Kapitel 64: Abreise nach Annatown --------------------------------- Simon und Leron wachten früh am nächsten Morgen auf und begannen mit den Vorbereitungen. Während der 31-jährige in seinem privaten Arbeitszimmer bei einer Tasse Kaffee ein paar Anrufe tätigte um den Verkauf des Konzerns schnellstmöglich in die Wege zu leiten, war sein Petboy fleißig mit Packen beschäftigt. Zum Glück hatte er noch seine alten Koffer aufbewahrt. Er kam überraschend schnell voran und war sogar noch vor dem Frühstück fertig. Nachdem er sich gestärkt hatte, musste er auch schon zum Untersuchungstermin bei Dr. Dawson. Der Augenarzt war äußerst zufrieden mit dem Ergebnis, tadelte ihn aber trotzdem, dass er seine Augentropfen nicht genommen hatte wie angeordnet und erinnerte ihn daran, dass Cyphers Augen wesentlich empfindlicher auf die Behandlung reagiert hätten. Simon hörte sich den kleinen Vortrag geduldig an und bedankte sich im Anschluss für alles. Insgesamt hatte der Besuch nicht länger als zwanzig Minuten gedauert und so hatte er noch genügend Zeit, noch mal seine Sachen zu kontrollieren. Obwohl der Flug erst gegen 13 Uhr ging, war er so aufgeregt, dass er das Gefühl hatte, er würde am Ende noch etwas vergessen. Es war das allererste Mal in seinem Leben, dass er verreisen würde. Und vor allem würde es sein allererster Flug werden… in einem Privatjet. Gerade war er dabei, seine Kleiderschränke zu durchforsten um sicherzugehen, dass er auch wirklich für jedes Wetter vorbereitet war und nichts vergessen hatte, da kam Leron überraschend herein. Er runzelte die Stirn, als er das Durcheinander sah, denn überall lagen Klamotten herum oder irgendwelche anderen Sachen. „Ist dir der Koffer explodiert?“ fragte er und beobachtete, wie Simon nun damit begann, alles hastig einzupacken. Der Junge war vollkommen nervös und wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. „Ich wollte nur sichergehen, dass ich nichts vergessen habe. Ich weiß ja nicht, wie das Wetter in Ohio ist und wie lange ich dort bleibe. Also will ich für alles vorbereitet sein.“ Leron schüttelte seufzend den Kopf und klopfte Simon auf die Schulter. „Es wird schon alles gut gehen. Und selbst wenn du etwas vergessen solltest, ich werde dir genug Geld mitgeben, damit du dir einen ganzen Schrank voller Klamotten kaufen kannst. Ich habe übrigens mit Cypher telefoniert. Sie werden von meinem Chauffeur abgeholt und kommen gleich hierher. Danach fahrt ihr gemeinsam zum LaGuardia Airport.“ Simon schluckte als er realisierte, wie schnell alles passierte. Wieder geriet er in Hektik und wollte noch mal seine Koffer prüfen, was schließlich dazu führte, dass sein Kreislauf die Aufregung nicht verkraftete und er sich schließlich aufs Bett setzen musste. Leron setzte sich zu ihm und ermahnte ihn, sich nicht zu übernehmen. Immerhin war er noch lange nicht genesen. „Bleib ganz entspannt und mach dir nicht so viele Gedanken darüber. Es wird schon alles gut werden. Ich werde so schnell wie möglich nachkommen und dann werden wir uns eine schöne Zeit machen.“ Unruhig nickte Simon, doch es war nur allzu deutlich, dass er immer noch aufgeregt war. Seine eisblauen Augen, die wie reine Diamanten funkelten und ihn so erwartungsvoll ansahen, zogen Leron jedes Mal in ihren Bann. Er hatte sich immer noch nicht so wirklich daran gewöhnt und wahrscheinlich würde es noch dauern. Aber jedes Mal, wenn er sie sah, war er einfach nur glücklich darüber, dass er Simon seinen Traum erfüllen konnte. Zärtlich strich er über Simons Wange, beugte sich vor und küsste ihn. „Es wird alles gut werden. Das verspreche ich dir.“ Glücklich schlang Simon seine Arme um ihn und erwiderte den Kuss. „Komm bitte bald nach, okay? Du weißt, dass ich nicht lange ohne dich sein kann.“ Doch da konnte der Unternehmer ihn beruhigen. Wenn alles gut lief, dann würde er vielleicht in zwei oder drei Tagen nachkommen können. Ein Konkurrent hatte Interesse am Kauf geäußert und es musste nur noch über den Preis verhandelt werden. Dann war er diese Last endlich los und er konnte sich anderen Dingen widmen. Die Verhandlungen selbst machten ihm keine allzu großen Sorgen. Selbst wenn er den Konzern nicht zu dem Preis verkauft bekam, den er sich vorstellte, hatte er immer noch genug Geld, um sich sein ganzes Leben lang keine finanziellen Sorgen machen zu müssen. Das Wichtigste war einfach, dass er den Deal möglichst zeitnah über die Bühne gebracht bekam. „Keine Sorge. Ich rufe dich an, sobald ich nachkommen kann. Bis dahin konzentrierst du dich auf deine Behandlung und hältst dich auch an das, was die Ärzte dir sagen. Ich habe nämlich viel nachzuholen und solange du nicht in Topform bist, wird es keinen Sex geben.“ „Das grenzt schon fast an Erpressung“, meinte Simon ein klein wenig eingeschnappt. „Aber kuscheln geht ja wohl noch!“ „So viel wie du willst“, versprach Leron. „Ich werde dich so richtig verwöhnen.“ Es dauerte keine halbe Stunde, bis Hunter und Cypher zur Villa kamen um Simon abzuholen. Nachdem dieser sich von Leron verabschiedet hatte, schnappte er sich zusammen mit Hunter die beiden Koffer und verstauten sie im Wagen und dann ging es auch schon los. Kaum, dass er in die Limousine gestiegen war, wurde er auch schon überschwänglich von seinem älteren Bruder begrüßt, der inzwischen seine Sonnenbrille abgelegt hatte- Seine Augen hatten das gleiche kristallklare Eisblau wie Simon, allerdings schien das rechte Auge ein klein wenig gerötet zu sein. „Hey Bruderherz, du siehst heute gut aus!“ rief Cypher freudestrahlend und umarmte ihn zum Gruß als hätten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Er schien bester Laune zu sein und Simon fiel auch sofort auf, dass da etwas anders an ihm war: der Künstler trug ein Lederhalsband, ähnlich wie das was er von Leron bekommen hatte. Stirnrunzelnd betrachtete er den mehr als eindeutigen Halsschmuck und wandte sich an Hunter, der als Einziger in der Gruppe wirkte, als wäre er lieber zuhause geblieben. „Sagt bloß, ihr habt jetzt auch so ein SM-Ding am Laufen wie Leron und ich.“ „Er hat mich regelrecht angebettelt“, gab Hunter zurück und wirkte so mürrisch und verschlossen wie sonst. Cypher hingegen schien sich ein bisschen zu sehr zu freuen und erklärte „Wir haben doch eh eine sehr romantische Beziehung und ergänzen uns super. Und der Gedanke, dass ich sein Eigentum bin, ist doch ziemlich erotisch, findest du nicht?“ Doch Hunters Blick ließ eher darauf schließen, dass er das ganz anders sah. Aber konnte auch nur ein falscher Eindruck sein, weil man sowieso sehr schlecht erkennen konnte, was er dachte oder fühlte. Dennoch glaubte Simon, dass der schweigsame Bildhauer leicht errötete. Konnte es etwa tatsächlich sein, dass Hunter verlegen war und deswegen so reagierte? „Also ihr beide scheint ja eine ziemlich interessante Beziehung zu führen…“ „Ich würde eher sagen lebhaft“, korrigierte Cypher ihn und grinste vielsagend. „Es heißt nicht umsonst: stille Wasser sind tief. Nicht wahr, Schatz?“ Bei diesem letzten Wort verfinsterte sich Hunters Blick und seine goldgelben Augen blitzten gefährlich auf. Er sah wirklich danach aus, als wolle er gleich einen Mord begehen. Doch der 25-jährige Künstler lachte nur und zwinkerte ihm scherzhaft zu. „Das war meine Rache dafür, dass du mir gestern meine Frage nicht beantwortet hast.“ „Frage?“ erkundigte sich Simon und überlegte, ob er eigentlich die Antwort wissen wollte. Zwar wusste er nicht alle Details zu der Beziehung der beiden, aber zumindest wusste er, dass Cypher wesentlich schmerzfreier für harte Spielchen war als er selber und ziemlich masochistisch veranlagt war. Sein älterer Bruder seufzte wehleidig und erklärte „Ich habe ihn gestern nach dem Sex gefragt, ob wir nicht heiraten sollten. Wir haben immerhin seit sechs Jahren eine feste Beziehung und wir müssen ja nicht unbedingt eine gigantische Hochzeitsfeier veranstalten. Aber er hat mir keine Antwort gegeben und ist einfach abgehauen. Und dafür hat er eine kleine Strafe verdient.“ „Und wieso bestrafst du ihn nicht mit Sexverbot?“ „Weil ich unmöglich länger als drei Tage ohne Sex leben kann! Allein der Krankenhausaufenthalt war die absolute Folter für mich!“ Simon konnte nicht anders als zu lachen. Sein Bruder war aber auch wirklich eine Nummer für sich. Er konnte so locker über seine Beziehung und sein Sexleben reden, als wäre es das normalste auf der Welt. Dabei fragte er sich, ob Cypher das wohl mit Absicht machte, um Hunter zu provozieren, damit dieser es ihm im Bett heimzahlte oder ob das vielleicht einfach seine Art war. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es beides. Wenigstens wurde es mit ihm nie langweilig. Die Fahrt war dank des lebhaften Gesprächs schneller vorbei als sie gemerkt hatten und so waren sie, ehe sie sich versahen, am Flughafen angekommen. Nachdem sie ausgestiegen waren und die Gepäckstücke aus dem Wagen geholt hatten, wurden sie auch schon von Lotta und Azarias in Empfang genommen. Simon, der Lotta zum ersten Mal sah, verschlug es erst die Sprache als er sie sah und er erschauderte erst, als er spürte, was für eine merkwürdige Kälte sie ausstrahlte. Es war, als würde sie ein unsichtbarer dunkler Schatten umgeben, der sich anfühlte, was man mit „Todeskälte“ beschreiben konnte. Sie selbst war bildschön und ihre rubinroten Augen wirkten zugleich wunderschön als auch unheimlich. Sie lächelte freundlich und begrüßte sie alle. „Schön, dass ihr da seid. Ich bin Lotta Muldaur, ihr könnt mich auch einfach nur Lotta nennen. Ich fungiere als unterstützende Beraterin und Helferin der fünf Clans von Annatown und stehe darum auch in gutem Kontakt zu euren Familien. Azarias kennt ihr ja bereits.“ Doch irgendetwas schien mit dem 22-jährigen nicht zu stimmen. Er wirkte ein wenig benommen und starrte ins Leere hinein, außerdem gab er ein paar seltsame Laute von sich. Neben ihm stand Sally, die ihn jedoch keines Blickes würdigte und stattdessen ihr Augenmerk auf Hunter gerichtet hatte. In ihren Augen lag ein abgrundtiefer brennender Hass und man hätte meinen können, sie wollte ihn allein mit ihrem Blick töten. Doch sie hielt sich zurück und schwieg. „Ähm…“ begann Simon zögerlich und wandte sich schließlich an Lotta. „Ich glaube, irgendetwas stimmt mit Azarias nicht…“ „Er steht unter starken Beruhigungsmitteln“, erklärte die schwarzhaarige Schönheit und winkte ab. „Er verträgt Flüge nicht und wird schnell hysterisch. Also habe ich ihm etwas gegeben, was ihm die Reise ein wenig erleichtert. Kommt, unser Flug geht bald.“ Sie folgten Lotta zu einem Nebeneingang, wo sie vom Flughafenpersonal respektvoll begrüßt und direkt durchgelassen wurden. Obwohl Simon nichts über Flüge wusste, hätte er schwören können, dass die ganze Prozedur für gewöhnlich viel länger dauerte, aber anscheinend galt das nicht für Privatflugzeuge. Ihnen wurden schließlich die Koffer abgenommen und während alles vorbereitet wurde, bot man ihnen sogar Champagner an. Ungläubig fragte Simon seine Begleiter „Ist das normal an Flughäfen?“ „Nur wenn man als VIP reist“, erklärte Lotta und lehnte das ihr angebotene Getränk ab. Dafür aber genehmigten sich Hunter und Cypher ein Glas. „Die Kinsleys sind die Schatzmeister von Annatown und verwalten die Finanzen. Da die Stadt sich im Privatbesitz befindet, müssen alle Bau- und Reparaturmaßnahmen selbst finanziert werden. Die fünf Clans sind im Besitz von Aktien und weiterem Anlagevermögen und selbst als ehemaliges Mitglied der Kinsley-Familie habe ich Zugriff auf das Vermögen, was es mir erlaubt, solche Unternehmungen im Sinne der Clans durchzuführen.“ „Klingt danach als wären die Clans ziemlich reich.“ „Wir verwalten das Vermögen, nutzen es aber in erster Linie ausschließlich zum Wohl der Stadt. Und die Kinsleys legen ohnehin mehr Wert auf Tradition als auf materiellen Wohlstand.“ Als die Wartezeit vorbei war, konnten sie alle das Flugzeug besteigen. Simon staunte nicht schlecht als er sah, wie geräumig und gemütlich das Flugzeuginnere eingerichtet war. Er hatte eher viele Sitzplätze und schmale Gänge erwartet wie sie immer in Filmszenen gezeigt wurden, aber stattdessen gab es hier eine Couch, breite Lederstühle und edle Mahagonitische und eine kleine Bar. Auch Hunter und Cypher staunten nicht schlecht als sie den Luxus sahen. Während Cypher und Hunter beschlossen, sich um den ziemlich benebelten Azarias zu kümmern, setzte sich Sally weit abseits von allen anderen und da die Plätze begrenzt waren, setzte sich Simon zu Lotta. Es gab ohnehin noch so einiges, was er gerne von ihr erfahren wollte. „Sie wissen doch sicher einiges über meine Familie, oder?“ „Natürlich“, bestätigte Lotta und strich sich eine Haarsträhne zurück. „Die Kinsleys und Witherfields haben ihren Ursprung in der gleichen Familie. Daher weiß ich so einiges über deine Familie. Gibt es etwas, das du gerne wissen möchtest?“ Simon nickte, zögerte aber erst mit seiner Frage. Irgendetwas an ihr war seltsam. Er konnte es sich nicht genau erklären, aber etwas an ihr fühlte sich nicht natürlich an. Obwohl sie direkt neben ihm saß, sagte ihm sein Gefühl, dass sie nicht das war, was sie auf dem ersten Blick zu sein schien. Und allein ihre Nähe genügte, dass er eine Gänsehaut bekam. Dabei wirkte sie doch so freundlich. Schließlich aber riss er sich zusammen und fragte sie „Wie sind die Witherfields eigentlich so?“ wobei er bemerkte, dass seine Frage etwas unglücklich formuliert war. Aber sie schien zu verstehen, was er meinte und sie erklärte „Deine Familie sind Friedensstifter und sind in Annatown hochgeachtet und beliebt. Sie sind sehr mitfühlend und sozial, aufopfernd und gutmütig. Manchmal leider auch ein wenig zu gutmütig. Aber ihre Begabung, die Menschen mit ihrer Offenherzigkeit und mitfühlenden Art für sich zu gewinnen, hat im Grunde überhaupt erst die Gründung von Annatown ermöglicht und sie waren es auch, die die fünf Clans vereinigt haben. Sie waren schon immer vollkommen gegensätzlich zu ihrem Schwesternclan.“ „Inwiefern?“ „Die fünf Clans, inklusive dem Brightside Clan, der eng mit den Witherfields verwandt ist, verfügen über besondere Merkmale. Die offensichtlichsten Merkmale kannst du bereits am Äußeren erkennen. Die Augenfarbe ist das markanteste Merkmal und allein an dieser kannst du bereits erkennen, ob und welchem Clan du angehörst. Die Witherfields haben strahlende eisblaue Augen, die der Cohans sind goldgelb, die Kinsleys haben allesamt rote Augen, die Wyatts grüne Augen und die Ronoves lavendelfarbene Augen. Die Brightsides, die nicht zu den fünf Gründerclans gehören, zeichnen sich durch türkisfarbene Augen aus.“ Ach deshalb wollte Azarias meine Augenfarbe wissen, dachte sich Simon und verstand so langsam dieses merkwürdige Gespräch, das Hunter mit Azarias am Telefon geführt hatte, als er diesen um Hilfe gebeten hatte. Also besaßen alle Clans ungewöhnliche Augenfarben? Dann bedeutete das also, dass seine Mutter dieselben Augen hatte wie er und Cypher? Aber war Leron nicht streng genommen ein Cohan? Warum also hatte er dann keine gelben Augen wie sein ältester Bruder Michael? Als er diese Frage an Lotta stellte, war die Antwort darauf ein wenig merkwürdig. „Das hängt mit dem besonderen Phänomen von Annatown zusammen. Innerhalb der Stadt werden ausnahmslos alle mit diesem Augenmerkmal geboren. Aber außerhalb der Stadt verlieren die nachfolgenden Generationen manchmal diese besonderen Merkmale.“ „Phänomen?“ fragte Simon verständnislos. Die schwarzhaarige Schönheit überlegte kurz, wie sie es verständlich erklären konnte und ihre dunkelroten Augen nahmen etwas Nachdenkliches an. „So ganz erklären lässt sich das nicht. Annatown ist nicht wie die meisten Städte. Für gewöhnlich sind zeitliche Wandel deutlich zu erkennen. Die Städte werden moderner und das Leben in ihnen verändert sich. Aber in Annatown finden Veränderungen nur äußerst langsam statt. Viele Gemeinden leben immer noch von der Landwirtschaft und Traditionen und Lebensweisen spielen bis heute noch eine tragende Rolle. Dies liegt zum einen daran, weil die Ronoves und Kinsleys mit allen Mitteln die Traditionen bewahren wollen und Veränderungen skeptisch gegenüberstehen. Es liegt aber auch daran, dass die Stadt selbst sich nur sehr langsam verändern kann. Deswegen werden gewisse Krankheiten, Defekte oder Begabungen innerhalb der Stadt wesentlich häufiger vererbt als außerhalb. Darum werden beispielsweise schwangere Cohan-Frauen bis zum Tag der Entbindung außerhalb von Annatown untergebracht, damit die Wahrscheinlichkeit verringert wird, dass ihre Kinder mit demselben Defekt zur Welt kommen. Es gibt zwar keine hundertprozentige Erfolgsrate, aber zumindest werden einige von ihnen normal geboren.” Irgendwie klingt das nach einer Art Stephen King Geschichte, dachte sich Simon und wusste nicht so ganz, was er davon halten sollte. Zwar war er nie aus New York herausgekommen, aber er hatte so seine Zweifel, dass Städte für gewöhnlich so funktionierten. Andererseits… Annatown war vom Staat unabhängig und war im Privatbesitz, was also bedeutete, dass die Leute dort wahrscheinlich nach ihren eigenen Regeln lebten. „Was gibt es denn so für Traditionen in Annatown?” Doch hier zögerte Lotta für einen Augenblick und sah aus, als wäre da etwas, das sie wusste, ihm aber lieber nicht erzählen wollte. Und es schien nichts Gutes zu sein. „Viele der Traditionen sind sehr alt”, sagte sie als versuche sie sich für die Clans zu rechtfertigen. „Beispielsweise ist es üblich, dass sich die Clans untereinander duzen. Man siezt sich eigentlich nur, wenn man schlecht aufeinander zu sprechen ist. Seit knapp 100 Jahren ist es für die Kinsleys Tradition, ihren Söhnen den Zweitnamen Lumis zu geben. Und wir feiern kein Thanksgiving.” „Wieso das denn?!” „Wir haben damals das Land im friedlichen Handel von den Erie-Indianern gekauft und ihre Nachfahren leben heute nach wie vor noch in Annatown. Für die Indianer sind Thanksgiving und der Kolumbustag ein Tag der Trauer, weil die Geschichte zwischen den Pilgervätern und den Indianerstämmen äußerst blutig verlief. Darum feiern wir statt des Thanksgiving das Erntedankfest und haben es so abgewandelt, dass alle Gruppen es feiern können. Lediglich in Wheatford wird es christlich gefeiert. Die anderen Traditionen sind eher harmlos und eher Verhaltensregeln und gilt eher für die Clanoberhäupter oder bestimmte Gruppen.” „Und hat meine Familie Traditionen?” „Nur sehr wenige”, gestand Lotta. „Die Witherfields haben nie sonderlich viel für Traditionen übrig gehabt und haben sich lieber dem Wandel der Zeit angepasst. Es sind hauptsächlich die Kinsleys und Ronoves, die die alten Traditionen um jeden Preis erhalten wollen, ganz gleich wie unfair sie erscheinen mögen. Das einzige, was du wissen musst ist, dass es ratsam ist, als Fremder nicht ohne Führung die Gemeinden von Annatown zu besuchen. Man kann sich leicht verlaufen und jeder Ort ist sehr speziell.” Das klang irgendwie sehr kompliziert und Simon löcherte Lotta mit noch mehr Fragen. Sie gab ihm bereitwillig Auskunft über alles, was er wissen wollte und erzählte auch ein paar Geschichten über seine Vorfahren. Bei manchen dieser Erzählungen geriet er ein wenig ins Zweifeln, ob sie wirklich so stimmten oder nicht vielleicht doch eher bloß Legenden waren. Einige Geschichten zu Annatown hörten sich sogar eher nach Gruselmärchen an. Aber so verging die Wartezeit während des Fluges, ohne dass sich irgendjemand langweilen musste. So landete die Maschine nach knapp einer Stunde am Cleveland Hopkins International Airport und danach folgte noch eine knapp einstündige Autofahrt. Sie hatten die Metropolen schnell hinter sich gelassen und Simon bemerkte, dass nach einer Weile nur noch kleinere Ortschaften und ländliche Gegenden folgten. Schließlich erreichten sie eine etwas unscheinbar wirkende Stadt mit weiten Feldern, groß gewachsenen Bäumen und kleinen Häusern. Viel gab es hier nicht zu sehen. Als Simon aus dem Fenster schaute, entdeckte er einen kleinen Supermarkt, eine Tankstelle, eine Art Einkaufsstraße mit einfachen Läden und viele alte Häuser. Im Großen und Ganzen wirkte diese Stadt nicht gerade groß, aber so wie er von Lotta erfuhr, lag es daran, weil Annatown im Grunde genommen ein Zusammenschluss aus mehreren Gemeinden waren und diese je nach Lage entweder ländlich und flach besiedelt waren, oder mehr wie moderne Städte wirkten. Die Fahrt ging quer durch das Zentrum von Annatown in Richtung Norden und sie fuhren eine lange Landstraße entlang. „Das hier ist quasi die Grenze zwischen Backwater und Islesbury”, erklärte Lotta. „Wir fahren kurz nach Backwater um Azarias abzusetzen. Danach fahren wir nach Islesbury, der schönsten Gegend von Annatown.” Doch wirklich viel konnte Simon nicht erkennen. Zu beiden Seiten hin sah er nichts als freie Felder. Wahrscheinlich würde er mehr von den Gegenden sehen, wenn sie erst einmal dort waren. Schließlich gabelte sich die Landstraße in zwei Richtungen. Der Wagen bog nach rechts ab in Richtung Backwater. Diese Gemeinde war, wie Simon schon aus Erzählung wusste, nur eine Ansammlung von kleinen Farmen und Wohngegenden. Viel gab es hier nicht außer einer Kneipe, einer Kirche und ein paar kleinen unscheinbaren Läden. Doch keines der Gebäude war wirklich alt. Zwar wirkten sie alles andere als modern, aber trotzdem war es vergleichsweise zum Stadtzentrum von Annatown älter als 100 Jahre. Selbst die Kirche sah aus, als wäre sie erst vor einigen Jahrzehnten erbaut worden. Und die Klinik selbst, die der einzige große Gebäudekomplex der Gegend war, wirkte sogar sehr modern und nicht älter als vielleicht vier Jahre. „Wie kommt es, dass die Gebäude hier nicht so alt sind wie im Stadtzentrum? Ist die Gegend hier neu?” „Nein, eigentlich ist Backwater sogar eine der ältesten Gemeinden”, erklärte Lotta und ihre Miene verdüsterte sich. Ihr Blick wanderte zu Sally, die schweigend neben ihr saß und etwas blass geworden war. „Vor knapp 200 Jahren ereignete sich ein tragischer Vorfall, der durch die Fehde zwischen Kinsleys und Cohans ausgelöst wurde. Die Cohans sannen auf Rache für den Mord an Elmira Cohan, die eine heimliche Beziehung zu Dagon Kinsley hatte und ein Kind von ihm erwartete. Sie verbündeten sich mit der Sekte Iudicium Dei und überfielen die Farm einer Kinsleyfamilie und richteten alle von ihnen hin, indem sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Darunter auch die zehnjährige Tochter und das Baby. Da es lange Zeit nicht geregnet hatte, breitete sich das Feuer unkontrolliert aus und brannte die gesamte Stadt und alle Felder nieder. Unzählige Menschen starben bei dem Feuer und andere verfielen dem Wahnsinn. Lange Zeit war Backwater nur eine verbrannte Ruine, in der nichts mehr wachsen konnte. Inzwischen konnte der Ort wieder aufgeforstet werden, aber dieses Unglück hat seine Spuren in Backwater hinterlassen.” „Scheint so als hätte Annatown viel erlebt…” Als sie die Klinik erreicht hatten, stiegen Sally und Azarias aus. Letzterer war inzwischen nicht mehr allzu stark benebelt und verabschiedete sich von ihnen bevor er ging. Damit setzten sie ihre Weiterreise fort und Simon schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Es war schwer vorzustellen, dass an diesem Ort mal ein solches Feuer gewütet hatte. Aber andererseits war auch viel Zeit vergangen. Auf jeden Fall war der Anblick für ihn ziemlich ungewohnt. Er war in einer Großstadt aufgewachsen und den Lärm, das Chaos und die dicht besiedelten Gegenden gewohnt, aber hier war alles ganz anders. Es wirkte ruhig, aber auch ein bisschen einsam. „Wie amüsieren sich eigentlich die Jugendlichen hier?” erkundigte er sich, denn er bezweifelte, dass ausgerechnet die Teenager wirklich Lust auf ein ruhiges Landleben hatten. „Es gibt in Islesbury ein Einkaufszentrum und eine Diskothek”, erklärte Lotta. „Islesbury ist die größte Gemeinde von Annatown und auch die modernste. Dort befindet sich auch die Pension, in der ihr während eures Aufenthaltes wohnt.” Nach einer kurzen Fahrt hatten sie Islesbury erreicht und hier erkannte Simon den drastischen Unterschied zwischen diesem Ort und dem kleinen Kaff Backwater. Überall gab es Häuser in leuchtenden Farben und gepflegten Vorgärten, Straßen mit Bäumen die trotz der beginnenden Herbstzeit noch in voller Blüte standen und wirklich überall wuchsen Blumen. Je weiter sie fuhren, desto schöner schien Islesbury zu werden. Es gab ein Theater, ein großes Kino, ein Einkaufszentrum und mindestens ein dutzend Floristen. Die Straßen waren sauber und gepflegt und nirgendwo lag Müll herum. Das war wirklich kein Vergleich zu New York. Auch Cypher und Hunter staunten nicht schlecht, als sie aus dem Fenster schauten und schließlich erreichten sie endlich die Pension, von der Lotta sprach. Diese trug einfach den Namen “Muldaur” und schien offenbar ebenfalls zu Lottas Besitz zu gehören. Zumindest war das Simons Schlussfolgerung, denn kaum dass sie auch nur nahe der Eingangstür waren, wurden sie vom Personal höflich empfangen und sie verhielten sich Lotta gegenüber fast schon unterwürfig. Die Pension war luxuriös und modern eingerichtet und was Simon sogleich auffiel, war die Tatsache, dass das Gebäude in einen Westflügel und Ostflügel aufgeteilt war. Im Westflügel waren die Apartments für Gäste und im Ostflügel befanden sich die Behandlungsräume und Zimmer. Noch nie hatte er so etwas gesehen gehabt, dass eine Pension auch gleichzeitig so etwas wie eine Art Therapiezentrum war. Die Dame an der Rezeption war ein schlankes und hübsches Mädchen von knapp 22 Jahren mit kunstvoll hochgestecktem Haar und grasgrünen Augen. Sie hatte dieselben Augen wie Azarias und sogar dieselbe Haarfarbe. Beim näheren Hinsehen war sich Simon sogar sicher, dass sie ihm sehr ähnlich sah. Ob sie mit ihm verwandt war? „Willkommen in der Pension Muldaur, ich bin Emma Wyatt. Freut mich sehr!” grüßte sie die Ankömmlinge mit einem fröhlichen Lächeln. „Hunter Cohan und sein Begleiter Cypher Grant werden im Westflügel ihr Zimmer beziehen”, erklärte Lotta ihr. „Führe sie bitte zu Zimmer 104. Ich werde Simon sein Zimmer im Ostflügel zeigen.” Ostflügel? Dann hieß das also, er würde also zu den Behandlungsräumen geschickt werden? Ehrlich gesagt wäre ihm eine Pause auf seinem Zimmer lieber gewesen. Na was soll’s, dachte er sich und schwieg lieber. Er hatte ja gewusst, dass er in erster Linie hierherkommen würde, damit seine Krankheit behandelt werden konnte und er hatte Leron ein Versprechen gegeben. Dennoch widerstrebte es ihm, in einem Krankenzimmer zu wohnen. Allein schon normale Krankenhäuser waren nicht gerade seine Lieblingsaufenthaltsorte. Er wandte sich an Hunter und Cypher, die ihr Gepäck dem Pensionspersonal überließen. „Tja. Sieht wohl so aus als würden sich erst mal unsere Wege trennen…” „Ach lass mal nicht den Kopf hängen!” versuchte Cypher ihm Mut zu machen. „Wenn du Langeweile hast oder dich einsam fühlst, weißt du ja wo wir unser Zimmer haben. Und wir können ja nachher irgendwo zusammen hingehen wenn du nicht verplant bist.” Mit einer wie immer sehr überschwänglichen Umarmung verabschiedete sich der Künstler und folgte zusammen mit Hunter der Rezeptionistin zu ihrem Zimmer. Simon hingegen folgte Lotta in Richtung Ostflügel. Kapitel 65: Melissandra ----------------------- Entgegen seiner anfänglichen Erwartung entpuppte sich der Ostflügel als gemütlich und einladend. Es war wie ein Hotel eingerichtet und es gab sogar einen Aufzug. Sein Zimmer lag am Ende des Ganges und als er es betrat, da verflog sofort seine Befürchtung, ihn würde ein Aufenthalt in einem Krankenzimmer erwarten. Es gab ein großes Doppelbett, eine Ledercouch und einen Fernseher, einen Balkon und sogar eine Minibar. Ein Kronleuchter hing von der Decke und das ganze Zimmer war in einem hellen Ton eingerichtet, der etwas von einem Gesundheitshotel hatte. Auch das Badezimmer war größer als gedacht und hatte sowohl eine Dusche als auch eine Badewanne. Das Waschbecken und der Boden waren aus schwarzem Granit und alles wirkte modern und hochwertig eingerichtet. Zuerst glaubte er, dass hier ein Irrtum vorlag, doch da erklärte Lotta ihm „Als diese Pension erbaut wurde, war sie in erster Linie zur Behandlung der erkrankten Witherfields gedacht. Mit der Zeit kamen auch normale Gäste und andere Patienten her. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich die Patienten wesentlich besser und schneller erholen, wenn sie in einer Umgebung sind, in der sie sich wohl fühlen. Denn deine körperliche Gesundheit hängt auch stark von deiner psychischen Verfassung ab.” Simon kam kaum aus dem Staunen heraus und besah das Zimmer genauer. Die Minibar enthielt sowohl alkoholische als auch alkoholfreie Getränke und ein paar Snacks. Auf dem Tisch lag eine Karte mit Dingen, die man beim Zimmerservice bestellen konnte und es gab sogar die Möglichkeit, sich sein Essen aufs Zimmer bringen zu lassen. Der Fußboden war beheizt und vom Balkon aus konnte er auf die Gartenanlage der Pension sehen. „Wow”, murmelte er. „Mit so etwas hätte ich echt nicht gerechnet. Und hier wohne ich echt während meiner ganzen Behandlung?” Lotta nickte und trat näher. „Ich werde dich gleich noch Melissandra vorstellen. Sie wird deine medizinische Betreuung übernehmen und einen Behandlungsplan für dich erstellen. Außerdem kannst du bei ihr jederzeit Rat suchen oder dir den Kummer von der Seele reden. Auch ich werde immer ein offenes Ohr für dich haben, falls du Hilfe brauchen solltest. Ich werde mal nachschauen, wann Sie Zeit hat. Du kannst dich fürs Erste ein wenig ausruhen oder deine Sachen auspacken.” Damit ließ sie ihn alleine und Simon, der ein wenig erschöpft von der zweistündigen Reise war, ließ sich aufs Bett fallen und schloss die Augen. Das Bett fühlte sich wunderbar an. Ihm war, als würde er auf einer Wolke liegen und obwohl er eigentlich vorhatte, sich bei Leron zu melden und im Anschluss seiner Mutter Bescheid zu sagen, dass er in Annatown angekommen war, wurde er mit einem Schlag von einer lähmenden Müdigkeit überfallen und ihm fielen die Augen zu. Wie lange er insgesamt geschlafen hatte, wusste er gar nicht als ihn etwas weckte. Es war irgendetwas Haariges, das seine Wange streifte. Nur langsam kehrte sein Bewusstsein wieder ins Hier und Jetzt zurück und er spürte, wie sich etwas auf dem Bett bewegte. Es schien klein zu sein. Müde öffnete Simon seine Augen und wandte den Blick zur Seite. Das erste, was er sah, waren zwei große pechschwarze Augen und ein rundes fast katzenartiges Gesicht. Erschrocken fuhr er auf und dachte erst an etwas wie eine Ratte, doch dann erkannte er, dass es ein Wiesel mit einem schneeweißen Fell und einer schwarzen Schwanzspitze war. Nein, es war kein gewöhnliches Wiesel, sondern ein Hermelin. Aber warum war so ein Tier hier? Als er noch einmal hinsah, erkannte er nun auch ein Halsband. Also war das ein Haustier? Und wer war der Besitzer? Fest stand jedenfalls eines: im Zimmer konnte dieser tierische Besucher nicht bleiben. Langsam, um das Tier nicht zu erschrecken, streckte Simon seine Hände nach ihm aus und schaffte es, den Hermelin zu packen, ohne ihn zu erschrecken. Widerstandslos ließ sich das offenbar zahme Tier auf den Arm nehmen und tragen. „Tut mir leid, aber hier kannst du nicht bleiben!” sagte er und ging zur Tür. „Ich werde jetzt mal deine Besitzer suchen gehen.” Simon ging auf den Flur hinaus, hielt aber inne da er ganz vergessen hatte, in welche Richtung er zur Rezeption gelangte. Also ging er auf gut Glück los in der Hoffnung, in die richtige Richtung zu laufen. Doch als er nach einer Weile nach links abbog und nach einer Weile in einem völlig anderen Teil der Pension gelangte, da dämmerte es ihm langsam, dass er sich verlaufen hatte. Unsicher sah er sich um und hatte das Gefühl, nicht den blassesten Schimmer zu haben, wo er jetzt eigentlich war. Doch da öffnete sich hinter ihm eine Tür und eine Stimme rief „Hereinspaziert!” Im selben Moment, als Simon sich umdrehte um zu erkennen, wer nach ihm gerufen hatte, befreite sich der Hermelin aus seinen Armen, sprang hinunter und huschte durch den Türspalt ins Innere des Zimmers. Auf der Tür stand in großen Buchstaben „Behandlungsraum 1” auf einem Schild und etwas zögerlich trat Simon herein. Das Behandlungszimmer entpuppte sich als eine bizarre Mischung aus einem ärztlichen Behandlungsraum und einem esoterischen Kräuterladen. Während auf der einen Seite des Raumes ausschließlich eine Liege und medizinische Geräte sowie ein Bild mit der menschlichen Anatomie zu sehen waren, war der Rest des Raums regelrecht vollgestopft mit allen Arten von Pflanzen, Tinkturen und Gläsern, die mit irgendwelchen Dingen gefüllt waren. In mehreren Schränken reihten sich Gläser mit getrockneten Blüten und Früchten, eingelegten Wurzeln und sogar kleinen Tierchen, die wahrscheinlich schon vor langer Zeit ihr Leben ausgehaucht hatten. Ansonsten gab es Figuren, Edelsteine, Traumfänger, fernöstliche Amulette und viele andere Sachen. Zudem gab es noch einen Tisch mit Reagenzgläsern und Kolben, was das ganze auch noch danach aussehen ließ, als hätte hier jemand ein geheimes Drogenlabor. Dieser Anblick war so bizarr für Simon, dass er sich unweigerlich fragte, ob dies hier eine Esoterikversion von Breaking Bad war oder ob das hier versteckte Kamera war. Es herrschte ein intensiver Geruch, der stark an den von Räucherstäbchen erinnerte und Simon war, als würde er von diesem Duft, der sich mit den Gerüchen all der anderen Dinge in diesem Raum vermischte, regelrecht erschlagen werden. Kaum, dass er auch nur einen Atemzug genommen hatte, war ihm, als würden ihm die Sinne vernebelt werden und ihm wurde schwindelig. An einem großen schweren Mahagonitisch, auf dem mehrere Schälchen mit verschiedenfarbigen Pulvern aufgereiht waren, saß Frau von etwa 48 Jahren und einer wilden blonden Lockenpracht, die fast an eine Löwenmähne erinnerte. Sie trug ein Haarband in leuchtenden Farben und hatte eine Brille auf der Nase, die ihre Augen so stark vergrößerten, dass sie fast wie die Augen eines Insekts wirkten. Es war unmöglich, sie anzusehen, ohne dabei zu lachen. Unter ihrem weißen Arztkittel mit dem hochgekrempelten Ärmeln trug sie ein knallbuntes Shirt, dessen Anblick genauso in den Augen schmerzte wie ihr Haarband und passend dazu trug sie eine Jeanshose mit aufgenähten Blumenmustern und Sandalen. Diese schrille Erscheinung in Kombination mit dem erschlagenen Geruchgemisch verschlug Simon völlig die Sprache und zuerst wusste er nicht, ob er gerade halluzinierte oder ob da wirklich ein Hippie-Doktor vor ihm stand. „Ah da ist ja unser Neuzugang!” rief die Frau und grinste breit, wobei sie ihre strahlend weißen Zähne entblößte. Sie erhob sich so ruckartig von ihrem Platz, dass der Stuhl umfiel, doch sie machte sich nicht die Mühe ihn wieder aufzurichten. Stattdessen ging sie direkt zu Simon hin und reichte ihm zum Gruß ihre Hand, die mit zahlreichen Lederarmbändern Armbändern mit Türkisen geschmückt war. „Ich bin Melissandra Ophiuchus. Und nein, ich bin keine rotgekleidete Feuerpriesterin wie in dieser HBO Serie, sondern mein Name ist einfach nur eine unkreative Kombination aus Melissa und Sandra. Und du bist also Simon Cavanaugh, richtig? Na setz dich doch erst mal hin, mein Junge. Du bist ja ganz blass und sicher stehen tust du auch nicht. Ich werde mal ein wenig frische Luft hereinlassen.” Benommen nahm Simon auf der Behandlungsliege Platz, während die Hippie-Ärztin die Fenster öffnete, um ein wenig frische Luft hineinzulassen. Dabei kletterte der Hermelin ihren Mantel hoch und machte es sich schließlich auf ihrer Schulter bequem. Die frische Luft tat wirklich gut und langsam schwand auch das Gefühl der Benommenheit wieder und Simon wandte sich an die 48-jährige und fragte sie überrascht „Ist das Ihr Hermelin?” „Ja, Kasra ist mein treuer Gefährte, Freund und Mentor”, erklärte sie und kam nun zu ihm hin und begann ihn näher zu mustern. Unweigerlich wanderte sein Blick zu ihrer Lupenbrille und nur mit Mühe konnte er sich ein Lachen verkneifen, als er diese extrem vergrößerten Augen sah, die diese Frau nur noch lächerlicher aussehen ließen. Dabei fiel ihm aber auch etwas Ungewöhnliches auf. Melissandras rechtes Auge war grün wie Azarias’ Augen, doch das andere war lavendelfarben. Gehörte sie etwa zur Wyatt-Familie oder zu den Ronoves? Er kam erst nicht dazu, sie diesbezüglich zu fragen, denn sie war beschäftigt damit, ihn zu untersuchen. Dabei musterte sie akribisch seine Augen, schaute ihm kurz in den Hals und begutachtete seinen rechten Arm. Dann schien sie auch schon fertig zu sein. „Wie ich es mir dachte. Schattenkrankheit dritten Grades, mittlere Depression und ein akuter Vitamin D und Magnesium Mangel. Na das kriegen wir schon wieder hin. Bis jetzt habe ich sie alle wieder auf die Beine gekriegt.” „Das können Sie so einfach feststellen?” fragte Simon ein wenig ungläubig. Er hatte erwartet, dass man ihm Blut abnahm oder irgendwelche medizinischen Untersuchungen durchführte. Aber stattdessen hatte sie ihn nur kurz oberflächlich untersucht. Wie sollte man da eine genaue Diagnose treffen können? „Wollen Sie nicht irgendwie noch eine Blutuntersuchung oder ein EKG durchführen?” „Nicht nötig”, winkte sie ab und begann nun in ihren Schränken mit den Tinkturen und Kräutern zu kramen. „Mit meinem siebten Sinn kann ich auch ohne diesen Quatsch feststellen, wo bei meinen Patienten der Schuh drückt.” „Ach so, dann gehören Sie zum Wyatt-Clan?” „Nicht direkt”, kam es zur Antwort, während Melissandra emsig damit beschäftigt war, irgendetwas zusammenzumischen wovon Simon überhaupt keine Ahnung hatte, was sie da eigentlich gerade machte. „Bastardkinder werden grundsätzlich nicht von den Clans aufgezogen und dürfen auch keinen Clannamen tragen. Deswegen lautet mein Nachname auch Ophiuchus und nicht Wyatt oder Ronove.” Simon beobachtete, wie sie zielstrebig nach einigen Gläsern griff, eine bestimmte Menge an Kräutern oder Blüten herausholte und diese dann in einen Mörser zu zerstoßen begann. Sie bemerkte seinen verwirrten Blick und erklärte „Hast du dir nie die Frage gestellt, wie die Clans über so lange Zeit fortbestehen konnten, ohne jemals ihre Besonderheiten oder Fähigkeiten zu verlieren? Das liegt daran, weil sie alles daran setzen, diese zu behalten. Also werden die Kinder, die ohne nennenswerte Eigenschaften geboren werden, vom jeweiligen Clan kurz nach ihrer Geburt verstoßen und das Recht auf den Namen ihrer Familie abgesprochen. Das Gleiche gilt auch für Mischlingskinder, die aus Mitgliedern von zwei Clans geboren wurden und die Besonderheiten beider Familien besitzen. Diese Mischlinge sind Bastarde. Im Grunde genommen ist es simple Selektion: die Reinblütigen sichern den Fortbestand des Clans und die Mischlinge und nicht Vollblütigen werden verstoßen, damit das Erbe der Clans nicht verloren geht.” Fassungslos starrte Simon sie an und konnte nicht glauben, dass das wirklich ihr Ernst war. Die Clans von Annatown verstießen ihre eigenen Kinder nur weil sie anders waren? „Das ist doch krank!” rief er und schüttelte den Kopf. „Wir sind doch hier in Amerika und nicht im Dritten Reich!” Doch Melissandra schien das gelassener zu sehen und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, als wäre das alles bloß halb so schlimm. „Zumindest scheint das Ergebnis zu stimmen. Naja, die Witherfields und Cohans haben noch nie sonderlich viel von dieser Regelung gehalten und sich oft und gerne über die Entschlüsse der anderen Familien hinweggesetzt. Und die Kinsleys und Ronoves mit ihrer Traditionsbesessenheit sind da auch nicht besser. Die ganze Stadt wird von Sturköpfen regiert. Aber es hat durchaus seine Vorteile, ein Bastard zu sein. Mein siebter Sinn hilft mir, die Krankheiten meiner Patienten zu erahnen und die Gabe der Ronove-Familie hat mir geholfen, mir das Wissen über die heilende Wirkung aller Pflanzen dieser Welt anzueignen und die perfekte Medizin herzustellen. Und dank Lottas und Kasras Hilfe bin ich nun quasi die Spezialistin für alle Krankheiten und Leiden in Annatown.” Schließlich, nachdem sie anscheinend mit ihrer Arbeit fertig war, kam sie wieder zurück und reichte ihm ein Tütchen mit einem grünbräunlichen Pulver, ein Döschen mit Tabletten und noch ein kleines Glas gefüllt mit Honig. „Von den Vitamin D Tabletten nimmst du morgens beim Frühstück drei Stück ein. Auf jeden Fall müssen sie morgens genommen werden, damit du auch Energie für den Tag hast. Wenn du sie abends nimmst, putschen die dich auf und du kannst nicht schlafen.. Dieses Pulver hier ist ein medizinischer Tee. Lass ihn zehn Minuten in heißem Wasser ziehen und gib dann etwas von dem Honig dazu. Dann schmeckt er besser und stabilisiert dein Immunsystem. Den Tee musst du übrigens drei Mal am Tag trinken. Der wird deinen Körper entgiften und vor allem hilft er gegen depressive Stimmung.“ „Was ist das eigentlich für ein Tee?“ fragte Simon sofort. „Ich meine… das ist kein normaler Tee, den man einfach im Laden oder in der Apotheke kaufen kann. Habe ich Recht?“ „Absolut“, bestätigte Melissandra und ging zur Fensterbank hin und holte einen Topf mit einem Bonsaibaum hervor. Dieser stellte sich als ein kleiner Kirschbaum heraus, der in voller Blüte stand. Auch wenn es in dem Raum immer noch stark nach Kräutern und Räucherstäbchen roch, konnte er dennoch den Blütenduft wiedererkennen. So hatte der Tee gerochen, den Cypher und Azarias ihm zubereitet hatten. „Der Revitalisierungstee wird aus den Blüten und Pollen des großen Kirschbaumes im Zentrum von Islesbury sowie den frei wachsenden Wildblumen dieses Ortes hergestellt. Dieses kleine Schätzchen hier habe ich selbst herangezüchtet und gieße ihn ausschließlich nur mit dem Quellwasser aus Islesbury. Als Kinder des Lichts besitzen die Witherfields eine enorme Vitalität und besitzen eine außerordentliche Regenerationskraft und Energie solange sie nicht von der Schattenkrankheit befallen werden. Selbst nach ihrem Tod besitzen sie eine reinigende und vitalisierende Kraft, die das Wachstum all dieser Pflanzen und die Entstehung der Heilquelle begünstigt hat. Bereits vor 150 Jahren haben die Ronoves herausgefunden, dass diese Pflanzen eine heilende Wirkung auf Körper und Geist haben, vor allem bei den Witherfields, die sehr anfällig für die Schattenkrankheit sind. Es ist im Grunde genommen simple ökologische Wissenschaft und das Gleiche, als würdest du Düngemittel und Pestizide auf Feldern verteilen. Die Pflanzen nehmen die Schadstoffe auf und wir nehmen sie beim Essen auf und vergiften unseren Körper. Die pflanzliche Medizin aus Islesbury hingegen reinigt den Körper, stärkt das Immunsystem und hilft auch gegen depressive Stimmung. Und bei der Schattenkrankheit ist es unabdingbar, beides gleichzeitig zu behandeln.“ „Wieso?“ fragte Simon verwirrt. „Ich dachte, diese Krankheit kommt von meiner Depression. Wenn ich mich besser fühle, müsste ich auch so wieder gesund werden.“ „Bist du glücklich, wenn du mit Fieber im Bett liegst oder dein Kreislauf bei jeder Anstrengung den Geist aufgibt? Körper und Geist hängen sehr eng miteinander zusammen, mein Junge“, erwiderte die Hippie-Ärztin ein wenig schnippisch und stellte ihr Bäumchen wieder weg. Sie wirkte ein wenig eingeschnappt darüber, dass Simon ihre Methoden hinterfragte. „Mens sana in corpore sano. Selbst die alten Römer wussten das. Depression wirkt sich auf den Körper aus, aber auch das Gegenteil ist der Fall: Krankheiten und Mangelerscheinungen führen zu Depressionen. Der Körper ist nicht leistungsfähig, wenn dein Geist krank ist und dein Geist wird getrübt, wenn dein Körper krank ist. Wenn das eine unbehandelt bleibt, dann bringt die Behandlung nichts. Ärzte in Krankenhäusern behandeln nur den Körper und Therapeuten allein den Geist. Ich behandle beides!“ Ich tue wohl besser daran, ihre Methoden nicht zu hinterfragen, dachte sich Simon und sagte nichts mehr dazu. Nachdem das geklärt war, begann Melissandra ihm den Behandlungsplan zu erklären. „Als erstes sollten wir deinen Kreislauf wieder auf Vordermann bringen und deinen Körper entgiften. Du bekommst ein Mal pro Tag ein Heilbad verordnet und eine Massage, um die Muskulatur zu lockern. Allzu viel Therapieprogramm mute ich meinen Patienten nie zu. Immerhin sind sie ja zur Erholung da und nicht, um noch mehr Stress ausgesetzt zu werden. Du wirst auch noch ein wenig Bewegung bekommen. Daniel wird die Spaziergänge mit dir durchführen und dir auch dabei Annatown zeigen, damit du auch ein wenig unsere Stadt kennen lernst. Und Außerdem werde ich noch einen Ernährungsplan für dich zusammenstellen. Der Tee und der Honig alleine werden keine Wunder bewirken.” Nun setzte sich Melissandra an den großen Mahagonitisch und holte ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber hervor und begann etwas aufzuschreiben. Simon konnte einfach nicht den Blick von dieser Frau abwenden. Noch nie in seinem Leben hatte er eine schrullige Erscheinung gesehen und er fragte sich, ob es noch mehr solcher verrückter Leute gab. Dabei fiel ihm noch etwas ein, was er sie fragen wollte. „Wo ist eigentlich Lotta?” „Sie wohnt einer Sitzung der Clanoberhäupter als neutrale Beraterin bei”, erklärte die Hippie-Ärztin, ohne ihn dabei direkt anzusehen. „Jedes Mal, wenn sich die Oberhäupter über ein Thema nicht einig sind, fliegen ständig die Fetzen. Vor allem zwischen Cohans und Kinsleys. Selbst zehn Jahre nach Beendigung der Clanfehde können sie sich nicht ausstehen. Das liegt wohl in ihrer Natur. Das Beste ist, sich da gar nicht erst einzumischen. Das gibt nur Unglück!” Schließlich stand sie auf, riss den Zettel vom Klemmbrett ab und reichte ihn Simon. „Das wird dein Behandlungsplan für die nächsten Tage sein. Je nachdem, ob die Behandlung gut anschlägt oder nicht, werden kleinere Anpassungen vorgenommen. Falls du Fragen hast, es dir schlechter geht oder du etwas auf dem Herzen hast, kannst du jederzeit bei mir vorbeischauen. Wenn ich nicht hier bin, ist Kasra da.” Damit deutete sie auf den Hermelin auf ihrer Schulter und Simon wusste nicht, ob sie das jetzt ernst meinte oder es ein Scherz war. Bei ihr war er sich da nicht wirklich sicher. Nachdem die Untersuchung vorbei war, verließ Simon das Behandlungszimmer und ging wieder zurück zu seinem Zimmer und stellte die Sachen, die er bekommen hatte, auf den Tisch ab. Dabei sah er sich den Plan an, den Melissandra ihm gegeben hatte. Überrascht stellte er fest, dass er tatsächlich einiges an Freizeit hatte. Im Prinzip hatte er pro Tag drei Programme und dazwischen viel Freizeit. Morgens hatte er die Kräuterbadbehandlung (und netterweise hatte Melissandra ihm aufgeschrieben, wo er hingehen musste), variabel zwischen Mittag und Nachmittag Bewegungstherapie und am Abend Massage. Klang doch sehr überschaubar. Doch erst jetzt fiel ihm ein, dass er ganz vergessen hatte zu fragen, wer denn dieser Daniel war. Und es stand nicht einmal auf dem Zettel geschrieben, wo er ihn finden konnte. Er sollte wohl besser wieder zurückgehen und nachfragen. Vor allem weil er gleich diesen Daniel treffen sollte. Also ging er noch mal zurück zum Behandlungszimmer, doch als er die Tür öffnete, war Melissandra nicht da. Nur der Hermelin lag auf dem Tisch und schien ein wenig zu dösen. Doch kaum, dass er das Geräusch der Tür gehört hatte, hob er seinen Kopf und starrte Simon mit den pechschwarzen Knopfaugen fragend an. In der Hoffnung, dass sich irgendwo versteckt hinter einem Regal befand, trat Simon näher und schaute sich um. „Melissandra?” rief er. „Sind Sie noch hier?” Dabei war er doch gerade erst rausgegangen. „Melissandra, Sie haben mir gar nicht gesagt, wo ich diesen Daniel finde! Melissandra!” Doch es kam keine Antwort. Sie war tatsächlich nicht mehr hier. Na super, dachte er sich und seufzte. Und was sollte er jetzt tun? Er hatte keine Ahnung wo sie war und laut ihrem Zettel musste er sich gleich mit diesem Daniel treffen. Also was sollte er jetzt machen? Plötzlich sprang der schneeweiße Hermelin vom Tisch und huschte zur Tür. In der Annahme, das Tier wollte zu seinem Frauchen gehen, folgte Simon ihm kurzerhand und eilte quer über den Flur und die Treppe hinunter. Für ein so kleines Tier war dieser Hermelin wirklich schnell und Simon, der nicht gerade in Bestform war, hatte ein paar Schwierigkeiten, das Tempo zu halten. Schließlich flitzte das Wiesel durch eine sich öffnende Tür und Simon, der nicht mal nach vorne sah, rannte auch sogleich in jemanden hinein und verlor den Halt, woraufhin er etwas unglücklich zu Boden stürzte. „Hey, alles in Ordnung mit dir?” Benommen schaute er auf und sah, dass er in einen knapp 16 Jahre alten Jungen mit rotgefärbtem Haar hineingerannt war. Er war mit knapp 1,89m Größe eine beachtliche Erscheinung, trotz seiner hageren Statur. Auch er hatte wie Melissandra zwei verschiedene Augenfarben: rot und gelb. Ein ausgewachsener Kolkrabe hockte auf seiner Schulter und ließ ein lautes, scharfes Krächzen vernehmen. Der Junge mit dem feuerroten Haar streckte die Hand nach Simon aus um ihm hochzuhelfen, wobei er amüsiert schmunzelte. „Eigentlich heißt es ja immer, man soll dem weißen Kaninchen folgen, aber dass man einem Hermelin folgen soll ist mir neu.” „Tut mir leid”, entschuldigte sich Simon und ließ sich wieder auf die Beine helfen. Selbst als er wieder auf beiden Füßen stand, war der rothaarige Junge verdammt groß, sogar noch größer als er obwohl er eigentlich älter sein müsste. „Ich war eigentlich auf der Suche nach Melissandra und deswegen bin ich dem Hermelin gefolgt. Ich weiß das klingt bescheuert, aber ich habe gleich einen Termin mit einem Daniel und ich…” „Ach, dann bist du also Simon?” rief der Rotschopf, was nur einen Schluss zuließ. „Mensch, das trifft sich ja gut. Ich wollte gerade losgehen und dich abholen. Ich bin Daniel Evergreen, freut mich sehr dich kennen zu lernen!” Kapitel 66: Therapie-Spaziergang -------------------------------- Es war wirklich ein Tag der verrückten Gegebenheiten, anders konnte es Simon nicht beschreiben. Erst begegnete er einer Hippie-Ärztin und während er auf der Suche nach ihr einem Hermelin nachjagte, stieß er ausgerechnet mit der Person zusammen, die er in erster Linie treffen wollte. Also dann war dieser Rotschopf, der da vor ihm stand, Daniel? Aber er wirkte noch so jung. Er konnte noch nicht mal mit der High School fertig sein, also warum arbeitete er hier? Oder hing es auch damit zusammen, dass er ein Bastard war? Er hatte mit einem Erwachsenen gerechnet, der vielleicht ausgebildeter Sozialarbeiter oder Therapeut war, aber nicht mit einem Teenager. Um auch wirklich sicher zu gehen, fragte er „Also du bist dieser Daniel, den ich treffen soll?” „Eyup, ich bin Daniel und das da auf meiner Schulter ist mein treuer Begleiter Malphas”, bestätigte dieser und grinste gut gelaunt. „Ich mache hier sozusagen Sozialarbeit im Nachmittagsbereich. Wenn ich mit der Schule fertig bin, will ich hier anfangen zu arbeiten und so sammle ich quasi erste Erfahrungen. Hey, hast du Lust auf eine kleine Rundführung durch Islesbury? Ich kenne da ein paar Imbissbuden und Restaurants, wo man echt super was essen kann.” Gerne nahm Simon das Angebot an, entschuldigte sich aber noch mal für den Zusammenstoß. Doch Daniel kümmerte sich nicht weiter darum und meinte, es wäre ja nichts passiert. Und so verließen sie gemeinsam die Pension und Daniel begann ihm die wichtigsten Orte in Islesbury zu zeigen. Angefangen vom Stadttheater mit der großen Freilichtbühne, dem Einkaufszentrum bis hin zu einer großen Parkanlage mit Statuen und wunderschönen Springbrunnen im Renaissance-Stil. Wirklich überall blühten Blumen in allen Farben und als sie schließlich das Zentrum der Gemeinde erreichten, erstreckte sich auf einem großen Platz ein riesiger Kirschbaum. Er stand in voller Blüte trotz der beginnenden Jahreszeit und trug sogar dabei noch Früchte. Auf dem Boden waren Planen ausgelegt und manchmal gingen einige Leute hin und nahmen sich ein paar am Boden liegende Kirschen. Der Baum selbst war riesig und hatte einen massiven Stamm und weit verzweigte Äste. Man konnte sogar darauf klettern. Beinahe andächtig blieb Daniel davor stehen und bewundernd betrachtete Simon die Blütenpracht. „Das ist das Wahrzeichen von Islesbury”, erklärte Daniel seinem Begleiter. „Es heißt, dass dieser Kirschbaum bereits über 400 Jahre alt ist und er selbst in den kältesten Wintern nie seine Blüten verliert. Er ist auch gleichzeitig eine Art Denkmal von Annatown.” Eine Brise wehte ihm den zarten Duft der Kirschblüten entgegen und wieder erkannte Simon diesen Geruch wieder. Der kleine Bonsaibaum in Melissandras Behandlungszimmer hatte auch geblüht und so geduftet. Dann war das also ein Ableger aus diesem riesigen Kirschbaum? Schließlich gingen sie zu einem Restaurant und setzten sich nach draußen, da das Wetter perfekt dafür war und Daniel seinen tierischen Begleiter nicht mit ins Restaurant nehmen durfte. Zuerst hatte Simon dem Ganzen nicht viel Bedeutung beigemessen, doch bei ihrer kleinen Rundführung war ihm aufgefallen, dass ein paar Leute auf der Straße ebenfalls etwas ungewöhnliche Tiere bei sich hatten. Angefangen von einem Wolf bis hin zu einem Luchs und sogar einer Eule. Und wirklich niemanden hatte das sonderlich interessiert. Es schien so normal zu sein, als würde jemand mit seinem Hund Gassi gehen. Nachdem sie Essen und Getränke bestellt hatten und Daniel seinen Raben mit Brotkrumen zu füttern begann, hakte Simon nach. „Ist das hier normal, dass die Leute in Annatown so komische Haustiere haben?” „Hä?” fragte Daniel verwundert. „Sag bloß du weißt nichts über deine eigene Heimatstadt.” „Ich bin in New York aufgewachsen und hatte keine Familie”, gestand der 21-jährige ein wenig verlegen. „Also kenne ich mich mit den ganzen Regeln und Bräuchen hier nicht aus. Ich weiß nur ein paar Dinge, die Lotta mir erzählt hat.” „Ah verstehe!” Nun nahm Daniel seinen Raben auf die Hand und ließ ihn auf dem Tisch nieder. Danach begann er zärtlich das pechschwarze Gefieder des Vogels zu streicheln. „Also streng genommen sind diese Tiere keine Haustiere. Die Ronoves haben eine außerordentliche Begabung für Spiritualität, Mystik und Esoterik. Ursprünglich stammen sie aus dem südöstlichen Raum, vermutlich aus Persien. Dort wurden viele Götter verehrt, doch während der Kreuzzüge stuften die Christen diese als Dämonen ein und zwangen die Leute, zum Christentum zu konvertieren. Einige jedoch hielten an ihren alten Göttern fest und wollten lieber sterben, als ihren Glauben aufzugeben. Also rette einer von ihnen das Leben und zum Schutze vor bösen Mächten tragen sie bis heute den Namen jenes Gottes oder Dämons, dem sie ihr Überleben verdanken. Und sie glauben, dass jeder, der das Erbe der Ronoves trägt, unter dem Schutz mächtiger Geister steht und einer sie auserwählen und bis zum Tode begleiten wird. Deswegen betrachten sie diese Tiere nicht als Haustier, sondern als Gefährte und glauben, dass sie von Dämonen gesandte Geister sind und als Wächter fungieren. Wie viel Wahrheit enthalten ist, das weiß keiner. Es sind alles bloß Legenden, die seit Jahrhunderten überliefert werden.” „Dann bist du ein Ronove?” fragte Simon und war irritiert. „Aber ich dachte… wegen deiner Augen…” „Ich bin zu einem Teil Ronove, aber ansonsten ist der Rest an mir Kinsley und Cohan”, erklärte Daniel. Die Kellnerin kam zurück und brachte ihnen ihre Getränke. Aus Neugier schaute Simon sie genauer an, doch ihre Augenfarbe war nur ein dunkles braun. „Meine Familiengeschichte ist etwas kompliziert. Meine Mum ist das Oberhaupt des Cohan-Clans und mein Vater war ein Kinsley. Und dessen Eltern waren sowohl ein Kinsley als auch eine Ronove. Aber außer der Tatsache, dass ich die Augenfarbe meiner Eltern geerbt habe und so groß bin wie ein durchschnittlicher Cohan, ist nichts besonders an mir. Ich habe weder den Kampfgeist der Cohans noch die Todesaura der Kinsleys oder ihre obskure Faszination für Friedhöfe und düstere Geschichten. Also streng genommen bin ich bloß ein ganz normaler Durchschnittstyp.” „Deine Eltern waren Cohans und Kinsleys?” fragte Simon und trank einen Schluck von seiner Cola. „Aber ich dachte, die beiden Clans können sich nicht ausstehen.” „Tun sie auch nicht. Selbst heute noch hassen sie sich gegenseitig. Aber hast du schon mal von Romeo und Julia oder Pyramus und Thisbe gehört? Selbst wenn sich zwei Familien bis aufs Blut hassen, können sich trotzdem Mitglieder beider Familien ineinander verlieben. Es kommt selten vor, aber selbst natürliche Feinde wie diese beiden Familien können Kinder miteinander zeugen. Ansonsten wäre ich nicht dabei herausgekommen.” Irgendwie scheint diese Stadt eine ziemlich lange Geschichte zu haben was Clanfehden angeht, dachte sich Simon und sah wieder zu dem Kirschbaum. Dabei schien Islesbury so friedlich und schön zu sein. Wieso also bekriegten sich die Familien für etwas, was vor mehreren Jahrhunderten passiert war? Es konnte doch unmöglich sein, dass ein einziger Tod eine so lange Fehde heraufbeschwören konnte ohne dass je irgendjemand versucht hatte, das Ganze zu beenden. Daniel entging der nachdenkliche Geschichtsausdruck seines Begleiters nicht und er hakte nach. „Macht dir irgendetwas zu schaffen?” „Naja… ich habe erst vor kurzem erfahren, dass ich zu den Witherfields gehöre und Leron, mein jetziger Freund, gehört zu den Cohans. Und ich weiß nicht, was ich von diesen ganzen Clangeschichten halten soll.” „Ach da brauchst du dir am wenigsten Sorgen zu machen”, beschwichtigte der 16-jährige ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Ihr Witherfields und Cohans seid schon immer unzertrennlich gewesen. Das liegt quasi in der Natur der Dinge.” „Und wieso?” „Na weil… Es hängt quasi mit der Mentalität der Clans zusammen”, versuchte der Rotschopf zu erklären und trank sein Glas Eistee in wenigen Zügen aus und begann daraufhin auf einem Eiswürfel zu kauen. „Witherfields und Kinsleys stammen zwar von den gleichen Vorfahren ab, aber sie sind unterschiedlich wie Tag und Nacht. Der Legende nach soll der Tod selbst sich in das Leben in Gestalt einer schönen Frau verliebt und mit ihr Zwillinge gezeugt haben. Der eine Zwilling hatte strahlend blaue Augen und weißgoldenes Haar und wurde zum allerersten Witherfield-Oberhaupt. Sie soll wunderschön und liebevoll gewesen sein und hat nicht nur für ihre Familie, sondern für alle Menschen gesorgt. Der andere Zwilling war eine Totgeburt mit Haaren so schwarz wie Kohlen und Augen so rot wie Rubine. Erst bei Anbruch der Nacht begann sein Herz wieder zu schlagen und dieses Kind wurde zum ersten Kinsley-Oberhaupt. Als Kinder der Nacht fühlen sie sich dem Tod verbunden und legen mehr Wert auf Tradition und Ordnung als auf die Lebenden. Im Gegensatz zu den Witherfields messen sie den Lebenden nicht allzu viel Bedeutung bei, weil alles Leben flüchtig ist, während Traditionen und Bräuche lange fortbestehen. Und die Cohans, als Nachfahren von Wikingern und Indianern haben als geborene Krieger schon immer alles Mystische und Okkulte abgelehnt. Sie waren schon immer ein etwas streitlustiges Volk, haben Annatown aber auch oft verteidigt. Sie haben großen Wert auf Familienzusammenhalt gelegt und Stärke und Mut über Legenden und Magie gestellt. Und weil die Kinsleys mit ihrer Todesaura sowieso nicht gerade angenehme Zeitgenossen sind, herrschte schon von Anbeginn an eine starke Rivalität zwischen Kinsleys und Cohans. Die Ronoves haben mit den Kinsleys sympathisiert, weil sie ähnlich ticken und die Witherfields haben zu den Cohans gehalten, weil ihre Empathie und ihre lebensbejahende Einstellung sie miteinander verbunden hat. Die Wyatts waren da schon immer außen vor und selbst heute macht deren Oberhaupt sowohl Deals mit den Kinsleys als auch mit den Wyatts, während er sich bei wichtigen Meetings bei Abstimmungen immer zurückhält, um keine Partei zu ergreifen. Früher war das Ganze wesentlich schlimmer gewesen, aber nachdem meine Mum das erste Cohan-Oberhaupt nach über 200 Jahren geworden ist, schauen die Dinge wesentlich besser aus. Inzwischen hat Annatown nach all der Zeit endlich eine richtige Polizei und viele der Polizisten sind Cohans, womit auch der Außenseiter-Clan endlich wieder einen besseren Ruf bekommt. Im Großen und Ganzen ist Annatown nicht perfekt. Es ist halt eine ziemlich eigenwillige Stadt, die ziemlich viel Wert auf ihre alten Werte und ihre Mysterien legt. Es gibt keine Gegend, die nicht mit irgendeiner Legende oder Gruselgeschichte verbunden wäre, also wundere dich nicht allzu sehr, wenn irgendjemand ankommt und dir irgendwelche Horrogeschichten erzählt.” Klingt irgendwie nach einer typisch abergläubischen Stadt auf dem Lande, dachte sich Simon. Schließlich wurde ihr Essen serviert und während Daniel sich eine Pizza mit Peperoni gönnte, genoss Simon überbackene Ravioli. Es war irgendwie faszinierend, dass Annatown anscheinend so viele Geschichten und Legenden hatte. Allein die Idee dass die Tiere, welche die Ronoves bei sich hatten, dämonische Geister waren oder dass die Kinsleys die Kinder des Todes waren und die Wyatts von einem von Gott gesegneten und verfluchten Hohenpriester abstammten, hatte natürlich etwas Besonderes an sich. Aber es gab ihm zu denken, dass diese alten Geschichten und Legenden die Gegenwart so sehr beeinflussten, dass es zu Clanfehden und zur Verstoßung von Kindern kam, die dann als Bastarde abgestempelt wurden. Nach dem Hauptgang bestellten sie sich beide noch ein Eis als Dessert und während sie beide warteten, wagte Simon eine Frage, von der er ahnte, dass sie vielleicht unangebracht sein könnte. „Sag mal Daniel, dein Name ist doch Evergreen, nicht? Heißt das, du bist auch verstoßen worden so wie Melissandra?” „Ich bin nicht direkt nach meiner Geburt weggegeben worden”, gestand der 16-jährige und sein Gesicht verdüsterte sich ein wenig. „Meine Mum war mit dem Bruder des Oberhauptes Kinsley-Clans zusammen und aus der Affäre bin ich entstanden. Sie wollten eigentlich heiraten, aber damit waren ihre Familien nicht einverstanden, also hat meine Mutter mich quasi alleine großgezogen. Aber als Oberhaupt des Cohan-Clans wollte sie auch dem Rest ihrer Familie helfen und sprach mit den anderen Oberhäuptern. Sie wollte, dass die Clanfehde ein für alle Male beendet wird und die Cohans wieder in die Gesellschaft integriert werden. Also musste sie Opfer bringen. Das Oberhaupt der Kinsley-Familie hat nur unter der Bedingung akzeptiert, dass meine Mum mich als Bastardkind verstößt und weggibt.“ „Und das hat deine Mutter einfach so akzeptiert?“ „Natürlich nicht. Aber sie hatte leider keine Wahl. Hätte sie es nicht gemacht, hätten die Kinsleys nie zugestimmt und die Cohans wären jetzt nicht bei der Polizei tätig. Aber es ist nicht so, dass meine Mutter mich aus ihrem Leben gestrichen hat. Sie kommt mich oft genug besuchen und ich finde ehrlich gesagt, dass sie verdammt cool ist. Immerhin ist sie der Sheriff von Annatown und sie ist echt eine Heldin. Sie hat die Missstände innerhalb der Cohan-Familien in den Griff gekriegt, sie hat die Sekte Iudicium Dei hochgenommen und die Stadt viel sicherer gemacht. Das alles würde es nicht geben, hätte sie nicht dieses Opfer gebracht. Und ich bin nicht böse deswegen. Manchmal müssen Eltern eine schwere Entscheidung treffen, auch wenn es sie unglücklich macht. Aber sie müssen es tun, weil sie keine andere Wahl haben.“ Unwillkürlich musste Simon an seine Mutter denken und wie unendlich bewegt und aufgewühlt sie gewesen war, als er sie angerufen hatte. Und sie war auch dazu gezwungen worden, ihr erstes Kind wegzugeben. Und dann war Daniel das Gleiche widerfahren. Aber anscheinend kam er damit ziemlich gut damit zurecht und war zufrieden mit seinem Leben. Und irgendwie verstand er das nicht. „Das ist doch trotzdem echt das Letzte. Man kann doch nicht einfach so jemanden zwingen, seine Kinder wegzugeben. Ich dachte, die Witherfields und Wyatts unterstützen die Cohans. Dann sind sie doch in der Überzahl gegenüber den Ronoves und Kinsleys. Warum schaffen sie diese Regel nicht ab? Leute als Bastarde zu bezeichnen und dann abzuschieben ist doch mit Sicherheit nicht einmal legal!“ „Theoretisch hast du da Recht“, gab Daniel zu. „Aber wenn es eine ungschriebene Regel gibt, dann die, dass man sich niemals mit den Kinsleys anlegt. Sie sind die Schatzmeister von Annatown was also heißt, dass sie die Finanzen der Stadt kontrollieren, was wiederum bedeutet, dass sie hier die größte Macht haben. Offiziell sind alle Clans gleichgestellt, aber dem ist nicht wirklich so. Die Witherfields werden nicht wirklich ernst genommen, das Oberhaupt der Wyatts sitzt in der Klapse, die Cohans haben immer noch Schwierigkeiten damit, akzeptiert zu werden und alle haben Schiss vor den Kinsleys. Also lernt man sich mit manchen Sachen zu arrangieren. Zumindest sind die meisten Dinge auf einem besseren Weg und auch wenn die Kinsleys und Ronoves nicht gerade die sozialsten Zeitgenossen sind, sie haben noch nie Geld unterschlagen und fällen finanzielle Entscheidungen immer zum Wohl der Stadt.“ Anscheinend regiert Geld selbst im dieser ländlichen Stadt, dachte sich Simon und war nicht sonderlich glücklich darüber. Vielleicht lag es daran, weil er selbst ohne Familie aufgewachsen war, aber er sah nicht ein, warum man einer Familie so viel Macht geben sollte, die nicht mal davor zurückschreckte, Kinder direkt nach ihrer Geburt zu verstoßen und auch noch andere Familien dazu zu zwingen. Auf der anderen Seite… Er hatte auch gehört, dass die Cohans eine ziemlich düstere Familiengeschichte haben und er selbst war Opfer von Michaels Wahnsinn geworden. Wahrscheinlich waren die Dinge in dieser Stadt wesentlich komplizierter und man konnte nicht so einfach alles schwarz und weiß sehen. Daniel entging der besorgte Blick durchaus nicht und dieses Mal war er es, der die Fragen stellte. „Warum beschäftigt dich das alles so sehr? Dass jemand Interesse an unserer Stadt zeigt und mehr über die Mysterien wissen will, ist eine Sache. Aber diese Bastard-Geschichte scheint dich ja echt mitzunehmen.“ „Ich bin halt ohne Eltern aufgewachsen und hatte nicht gerade eine glückliche Kindheit“, gab Simon zu. „Weil ich anders war, wurde ich immer wie ein Freak behandelt und ich kann nicht wirklich glauben, dass hier die Leute so locker damit leben können, als Bastarde bezeichnet und wie Außenseiter behandelt zu werden, selbst von den eigenen Familien.“ „Ja, es gibt einige, die nicht damit umgehen können und es ist nicht leicht, ein Bastard zu sein“, gab Daniel zu. „Aber es heißt nicht, dass wir von allen wie Monster behandelt werden. Ich für meinen Teil habe noch ziemlich engen Kontakt zu meiner Mum und ich weiß, welche Opfer sie für ihre Familie bringt. Und meine Pflegefamilie ist auch klasse. Sie haben noch andere Bastardkinder aufgenommen und sie sind auch echt tolle Eltern. Und von ihnen habe ich eines gelernt: man sollte immer dankbar sein für die Chancen die man kriegt und nicht über die Chancen jammern, die man verpasst hat. Also habe ich beschlossen, freiwillige Arbeit in der Pension zu leisten, um den Leuten zu zeigen, dass selbst natürliche Feinde wie Kinsleys und Cohans imstande sind, einander zu lieben. Meine Mum arbeitet hart, damit die Cohans wieder von den Leuten respektiert werden und endlich ein besseres Leben in Annatown führen können. Und ich will auch meinen Beitrag dazu leisten. Man muss seinem Leben ein Ziel geben. Wenn du ein Ziel hast, dann hast du etwas, was dich motiviert und worauf du hinarbeiten kannst.“ Ein Lebensziel… Als er so darüber nachdachte, musste er feststellen, dass er überhaupt kein Lebensziel hatte. Bisher hatte er auch nicht gerade die besten Perspektiven in seinem Leben gehabt, bevor er Leron getroffen hatte. Und selbst danach war so viel passiert. Nun stellte sich die Frage, was er denn mit seinem Leben machen wollte. Er hatte noch nicht so wirklich eine Vorstellung davon, was er eigentlich machen wollte. „Irgendwie habe ich kein Lebensziel…“ „Mach dir nichts draus, du hast ja Zeit. Es gibt auch viele in meiner Klasse, die keine Ahnung haben, was sie mal später werden wollen. Das Wichtigste ist einfach, dass du dir über deine Stärken und Schwächen bewusst sein solltest.“ Stärken und Schwächen… das alles klang so verdammt einfach aber irgendwie wusste Simon nicht so wirklich, was denn nun seine Stärken und Schwächen waren. Zumindest konnte er es nicht mit absoluter Gewissheit sagen. Im Grunde genommen hatte er nichts, was ihn wirklich besonders machte. Er hatte nicht diese Willenskraft und Entschlossenheit wie Leron, er war nicht so kreativ und handwerklich begabt wie Cypher und Hunter und er war weder sportlich noch überaus intelligent. Im Grunde genommen konnte er eigentlich nichts… „Vielleicht gehöre ich zu der großen Ausnahme von Leuten, die rein gar nichts können.“ „Ach Quatsch!“ rief Daniel sofort. „Jeder hat etwas, das er gut kann. Und wenn du deine eigenen Stärken nicht erkennst, dann frag doch einfach die Menschen, die dich gut kennen und dir nahe stehen.“ Nachdem sie ihr Dessert aufgegessen und bezahlt hatten, setzten sie ihren Spaziergang fort und begannen sich über andere Dinge zu unterhalten. Sie redeten über Musik, ihre Lieblingsfilme und ein paar Serien, die sie mochten. Sie gerieten in eine harmlose Diskussion darüber, ob nun Marvel oder DC besser war und hatten im Großen und Ganzen viel Spaß. Schließlich kehrten sie wieder zur Pension zurück und damit war der Spaziergang vorbei. Da Daniel nach Hause gehen musste, verabschiedete er sich von Simon. Es hatte wirklich gut getan, ein wenig Zeit mit jemandem zu verbringen und über Dinge zu reden, die nicht unbedingt mit seiner Krankheit oder seiner Beziehung mit Leron zu tun hatten. So konnte er auch mal an etwas anderes denken und auch mal ein bisschen zur Ruhe kommen. Aber irgendwie war Daniel vom Charakter her überhaupt nicht wie die Cohans. Nun gut, er kannte nicht so viele von ihnen, aber Daniels Beschreibung hatte ziemlich gut auf Leron und Hunter gepasst. Sie waren misstrauisch gegenüber Fremden, konnten impulsiv sein und sie besaßen tief drin eine kämpferische Ader und einen starken Beschützerinstinkt. Und Daniel war vom Charakter her vollkommen anders. Er hatte nicht einmal diese unheimliche Ausstrahlung, die er bei Sally und Lotta gespürt hatte. Anscheinend hatte er im Gegensatz zu Melissandra rein gar nichts von seinen Eltern geerbt. Und anscheinend war das für ihn nur ein Vorteil. Aber es war schon bewundernswert. Obwohl er noch zur Schule ging, machte er freiwillige Arbeit nach der Schule und wusste genau, was er aus seinem Leben machen wollte. Hoffentlich würde er auch irgendwann mal so selbstbewusst sein und genau wissen, was er später machen wollte. Da der Tag ihn doch ziemlich geschlaucht hatte, ging er auf sein Zimmer um sich auszuruhen. Gemäß Melissandras Ratschlag machte er sich einen Tee mit Honig und ließ sich aufs Bett fallen. Doch kaum, dass er im Bett lag, spürte er, dass etwas fehlte. Es fühlte sich ziemlich einsam an und ihn überkam der Wunsch, dass Leron hier wäre und ihn in den Arm nahm. Er wollte seine Nähe spüren und mit ihm zusammen den Tag ausklingen lassen. Und als er realisierte, wie einsam er in seinem Zimmer war, wurde ihm bewusst, wie sehr er Leron eigentlich vermisste. Und dabei waren sie noch gar nicht so lange voneinander getrennt. Vielleicht wurde sein Gefühl ein wenig besser, wenn er ein wenig mit ihm telefonierte. Also holte er sein Handy vom Nachttisch und stutzte als er sah, dass er gleich mehrere verpasste Anrufe hatte. Zwei davon waren von Leron, einer von Cypher und zwei von einer unbekannten Nummer. Wie zum Teufel kam es, dass er in einem so knappen Zeitraum so viele verpasste Anrufe hatte? Nun, zumindest hatte er ein paar Nachrichten auf seiner Mailbox. Nun, vielleicht fand er so heraus, was alle von ihm wollten. Also spielte er die Nachrichten ab. Die erste stammte von Leron. „Hey Simon, ich wollte nachfragen, ob du gut angekommen bist und ich hoffe, du lebst dich gut ein. Ich hatte heute einen Termin mit Jacob Milton, einem sehr einflussreichen Konkurrenten meines Vaters. Er hatte schon in der Vergangenheit großes Interesse an einer Übernahme gezeigt und wir konnten uns auf einen Deal einigen. Für knapp 700 Millionen wird Evans Energy morgen offiziell verkauft werden. Das heißt ich könnte morgen Abend bei dir in Annatown sein. Pass bis dahin gut auf dich auf und erhol dich gut. Ich liebe dich.“ Simon konnte nicht anders als zu schmunzeln und ihm war, als würde sein Herz höher schlagen. Er freute sich wirklich, dass alles so gut gelaufen war und Leron so schnell einen Käufer gefunden hatte. Vielleicht war das ha wirklich die beste Idee, dass er ausgerechnet den ärgsten Konkurrenten gefragt hatte. Dann bedeutete das auch, dass er nur diese eine Nacht ganz alleine schlafen musste. Doch dann wurde auch schon die nächste Nachricht abgespielt. „Hallo Simon, hier ist Rose… deine Mutter. Ich wollte dich wie versprochen heute zurückrufen, aber anscheinend bist du momentan beschäftigt. Wenn du Zeit und Lust hast, kannst du dich gerne melden. Ich möchte dich nur ungern stören.“ „Ach du Scheiße, ich hatte den Anruf total vergessen!“ rief Simon und schlug sich die Hand vor die Stirn. Verdammt noch mal! Es war heute so viel passiert, dass er total vergessen hatte, dass seine Mutter heute anrufen wollte. Er musste sich unbedingt bei ihr melden und alles klären, bevor sie noch dachte, dass er keinen Kontakt wollte. Doch bevor er dazu kam, wurde auch schon die nächste Nachricht abgespielt. „Hallihallo, hier ist Cypher! Ich weiß, dass du mit deiner Behandlung beschäftigt bist, aber ich dachte mir, dass ich dir mal Bescheid gebe. Unsere Mutter hat vorhin versucht, dich anzurufen, also hat sie mich angerufen und wir hatten ein wenig miteinander geredet. Ich habe die Bombe platzen lassen und sie war ziemlich von den Socken gewesen. Kann sein, dass sie sich noch mal bei dir melden wird weil mir eventuell versehentlich rausgerutscht ist, dass du hier zur Behandlung bist. Tut mir leid, aber sie klang irgendwie nervös, als würde sie etwas beschäftigen und ich wollte Missverständnisse vermeiden. Erhol dich gut und wenn du Lust auf Gesellschaft hast, gib uns einfach Bescheid.“ Erleichtert atmete Simon aus. Also hatte Cypher bereits alles geklärt. Und tatsächlich hatte wenig später seine Mutter wieder angerufen. Irgendwie war das wie in einem verrückten Film. „Hallo Simon, hier ist Rose noch mal. Ich habe von deinem Bruder erfahren, dass ihr bereits in Annatown seid und ihr in der Pension Muldaur wohnt. Ich war ehrlich gesagt sehr erschrocken als ich erfahren habe, dass du hier in Behandlung bist und ich hoffe, dass es nicht allzu Ernstes ist. Bitte pass gut auf dich auf und versuch dich gut zu erholen. Nimm dir die Zeit die du brauchst und konzentriere dich allein auf dich selbst. Vielleicht sollte ich das nicht auf einem Anrufbeantworter reden, aber ich möchte, dass du folgendes weißt: egal welche Medizin du auch nimmst und wie viele Ärzte sich um dich kümmern, was wirklich zählt ist, dass du das alles auch selber willst. Der Glaube an dich selbst und dein Lebensmut macht mehr aus als du denkst. Egal wie gut eine Operation oder eine Therapie ist, wenn du nicht daran glaubst, wird es länger dauern. Allein der Glaube kann viel bewirken, selbst die Heilung von Geist und Körper. Wenn es dir mal nicht gut geht, dann sage dir selbst, dass du es wert bist, glücklich zu sein. Denn egal was auch passiert, es ändert nichts daran, dass du etwas ganz Besonderes bist und ein Recht darauf hast, glücklich zu sein. Du bist ein ganz wunderbarer Mensch, vergiss das nie.“ Simon spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte, als er diese Worte hörte. Zwar war es nur eine Nachricht auf der Mailbox, aber es bewegte ihn sehr, dass seine Mutter ihn noch mal versucht hatte anzurufen und so besorgt um ihn war, dass sie ihm so etwas Liebevolles gesagt hatte. Und das, obwohl sie bisher nur ein einziges Mal telefoniert hatten. Wie konnte sie sich so um ihn Sorgen wo sie sich doch kaum kannten? Es war schwer begreiflich, aber es erfüllte ihn trotzdem mit einem unbeschreiblichen Gefühl des Glücks, dass jemand, der ihn kaum kannte, wirklich dachte, er wäre etwas Besonderes. Kapitel 67: Der nächste Morgen ------------------------------ Die Nacht war ziemlich unruhig verlaufen. Auch wenn Simon einen ruhigen Abend mit einer sehr entspannenden Massage gehabt und sich genügend ausgeruht hatte, war es ihm sehr schwer gefallen, richtig zu schlafen. Es war verdammt einsam, wenn er alleine schlafen musste und er hatte sich schon so sehr daran gewöhnt, dass Leron bei ihm schlief. Und er fühlte sich einfach unwohl, wenn er alleine schlafen musste. Selbst als er mit Leron gestritten und alleine geschlafen hatte, war es nicht wirklich das gewesen, was er als erholsam bezeichnen konnte. Es war schon verrückt. Früher war er es immer gewohnt gewesen, ganz alleine zu sein. Aber seit er und Leron sich näher gekommen waren, fiel es ihm immer schwerer, alleine zu sein. Anscheinend hatte er sich mehr verändert, als ihm eigentlich klar war… Da er ein wenig Gesellschaft gut gebrauchen konnte, ging er zum Frühstück in den Speisesaal und traf dort auch auf Cypher und Hunter, die bei einer Tasse Kaffee und einem ausgiebigen Frühstück am Tisch saßen und sich unterhielten. Oder zumindest war Cypher derjenige, der redete. Hunter saß bloß schweigend da, hörte zu und nickte zwischendurch. Sofort eilte Simon zu ihnen und wurde sofort von seinem Bruder mit einer Umarmung begrüßt. „Hey Bruderherz, du siehst heute ja schon viel erholter aus. Und? Wie war die Untersuchung gestern? Alles gut gelaufen?“ „Ja, alles bestens“, versicherte Simon und löste sich langsam von Cypher. „Ich hatte gestern eine etwas ungewöhnliche Untersuchung gehabt und ein sehr interessantes Therapieprogramm. Ich weiß bis jetzt noch nicht ob meine zuständige Ärztin eine bekiffte Doppelgängerin von Professor Trelawney ist, oder einfach nur eine verrückte Hippie-Ärztin. Sie hat mir eine interessante Therapie verordnet. Zwar habe ich noch keine Ahnung, wozu Kräuterbäder gut sind, aber die Massage am Abend ist schon entspannend. Zusätzlich kriege ich noch Therapiespaziergänge und kriege Tee.“ „Das klingt ja schon fast nach Spa-Urlaub“, begann der Künstler zu schwärmen. „Kräuterbäder sind echt super. Sie helfen super bei Erkältungen, Gelenkschmerzen, Stress, Nervosität und Depressionen. Wenn Hunter sich mal eine schwere Erkältung einfängt, mache ich ihm auch jedes Mal ein Kräuterbad. Glaub mir, du wirst es genießen!“ Während sie sich unterhielten, wurde Simon das von Melissandra zusammengestellte Frühstück gebracht. Es gab Nussbrot mit Kürbiskernen, Aufschnitt, Rührei und Obst. So saßen sie zu dritt zusammen und unterhielten sich über ihren gestrigen Nachmittag. Lediglich Hunter schien ein wenig verstimmt zu sein und so wie Simon erfuhr, war ihre Stadttour nicht allzu glücklich verlaufen wie seine mit Daniel. Denn obwohl die Leute Cypher gegenüber zuvorkommend und freundlich gewesen waren, hatte man Hunter offenbar mit viel Argwohn und Misstrauen behandelt und war ihm entweder aus dem Weg gegangen oder hatten ihn sogar feindselig angestarrt. Und dann hatte es sogar einen Vorfall gegeben, als Hunter mit seinem bedrohlichen Anblick ein kleines Kind erschreckt hatte und man sogar die Polizei rufen wollte weil die Passanten glaubten, er wolle dem Kind etwas antun. Simon war ziemlich geschockt darüber, als er das hörte. „Das ist doch Quatsch!“ rief er. „Hunter ist zwar nicht der redseligste und kann etwas unheimlich wirken. Aber nur die Polizei zu rufen, weil sich ein Kind vor ihm erschreckt hat, ist doch echt übertrieben.“ „Ich weiß auch nicht was das sollte“, seufzte Cypher und nahm Hunters Hand. „Nun ja, normalerweise bin ich es ja immer, der blöd angestarrt wird weil die Leute mich wegen meines Styles und meiner Augen unheimlich fanden, aber die Leute in dieser Stadt sind etwas… gewöhnungsbedürftig.“ „Anscheinend haben die Cohans wohl immer noch einen ziemlich schrecklichen Ruf hier…“, murmelte Simon und begann seine Banane zu schälen. Er begann ihnen zu erzählen, was er alles erfahren hatte und versuchte es so kurz und einfach wie möglich zusammenzufassen. Und als er fertig war, warf Cypher einen unsicheren Blick zu seinem Liebsten und meinte schließlich „Selbst wenn das alles so stimmt, ist das Ganze echt totaler Bullshit. Wer ist denn bitteschön so stur, eine Clanfehde so lange fortzuführen?“ „Die Hatfields und McCoys?” fragte Hunter tonlos, als wolle er wenigstens einen kleinen Beitrag zur Konversation leisten, anstatt die ganze Zeit nur schweigend da zu sitzen. „Aber selbst deren Clanfehde war nach 13 Jahren vorbei!“ meinte Cypher kopfschüttelnd und gab noch etwas mehr Zucker in seinen Kaffee. „Also da fehlt mir bei aller Liebe echt das Verständnis. Aber so ist das wahrscheinlich auf dem Lande. Es ist halt nicht wie in der Großstadt, wo es vollkommen egal ist, wer deine Familie ist. Das interessiert einfach niemanden. Aber in ländlichen Gegenden, wo hier jeder anscheinend jeden kennt, gibt es offenbar ganz andere Regeln und Sitten. Und wahrscheinlich wird hier auch ziemlich viel getratscht. In dem Fall wird es garantiert interessant werden, wenn Leron hier aufkreuzt. Die Cohans scheinen es hier nicht wirklich leicht zu haben und er ist ja auch ein Angehöriger der Familie.“ Doch das wagte Simon zu bezweifeln. Immerhin achtete man hauptsächlich auf die äußeren Merkmale, wenn es um die Clan-Zuordnung ging. Leron war zwar sehr groß, aber es gab viele groß gewachsene Menschen. Und er hatte nicht die goldgelben Augen seiner Mutter geerbt, sondern seine Augen waren nussbraun mit einem schwachen Grünton. Dementsprechend war es eher unwahrscheinlich, dass man ihn so schnell als einen Cohan identifizieren würde. Um die Stimmung ein wenig zu lockern, kam Simon auf etwas anderes zu sprechen. „Sag mal Cypher, du hast doch gestern mit unserer Mutter telefoniert, oder? Wie hat sie denn reagiert, als sie erfahren hat, dass wir in Annatown sind?” Hier musste der 25-jährige kurz schmunzeln und erzählte „Sie war natürlich erst mal total verwirrt gewesen und war völlig von den Socken. Und so wirklich hat sie mir erst nicht geglaubt. Und als mir versehentlich rausgerutscht ist, dass du in Behandlung bist, da war sie ziemlich erschrocken gewesen und wollte natürlich wissen, ob es bei dir etwas Ernstes ist. Ich wollte jetzt nicht so viel ausplaudern und habe gesagt, dass du in den besten Händen bist und bald wieder auf dem Damm bist. Naja, ansonsten haben wir eher über andere Sachen gesprochen. Ich habe ihr halt ein bisschen über mich erzählt und was ich so mache.” „Und sie wollte dich treffen”, ergänzte Hunter, woraufhin er einen strafenden Blick von Cypher kassierte. Simon horchte auf als er das hörte und wollte natürlich mehr wissen. „Unsere Mutter wollte dich treffen? Wann wolltest du mir das sagen?” Geschlagen seufzte der Künstler, denn nun war es eh zu spät, alles abzustreiten. „Ich habe ihr gesagt, dass ich gerne zusammen mit dir zur Farm kommen und sie treffen will. Immerhin ist es nur fair, wenn wir sie beide zusammen kennen lernen. Aber ich wollte, dass du dich erst einmal auf deine Behandlung konzentrierst und dir nicht solchen Druck machst.” Diesen letzten Satz sprach er in einem mahnenden Unterton aus und schaute dabei Hunter an, der mit unbewegter Miene da saß und seinen Kaffee schwarz trank. Die Stimmung zwischen den beiden wirkte ein klein wenig angespannt. Nicht allzu schlimm, dass daraus ein Streit entfachen konnte, aber dennoch wirkten sie dieses Mal nicht ganz so harmonisch wie sonst. Ob Cypher noch sauer war, weil Hunter seinen Heiratsvorschlag ignoriert und unkommentiert gelassen hatte? Irgendwie hätte er nicht gedacht, dass Cypher nachtragend sein konnte. Und von Hunter hätte er nicht gedacht, dass dieser selbst Cypher gegenüber so abweisend sein konnte. Nun, anscheinend funktionierte selbst die harmonischste Beziehung nicht immer perfekt. „Also ich würde sie gerne besuchen!” meinte er und widmete sich nun seinem Rührei. „Heute habe ich noch Therapieprogramm aber morgen ist Samstag und da habe ich nichts auf dem Plan stehen. Da könnten wir sie doch am Wochenende besuchen.” „Klingt nach einem super Plan”, stimmte Cypher zu. „Okay, dann texte ich ihr nach dem Frühstück am besten, dass wir am Sonntag vorbeischauen. Dann kannst du den morgigen Tag ja noch mit Leron genießen. So wie du aussiehst, musst du ihn letzte Nacht ziemlich vermisst haben.” War das so offensichtlich? Dabei er doch weniger blass als sonst und hatte auch keine Augenringe. Oder wirkte er trotzdem so übernächtigt? Als er seinen Bruder verwundert fragte, woher er das wüsste, grinste dieser nur und erklärte „Ich erkenne diesen sehnsüchtigen Blick, wenn ich ihn sehe. Glaub mir, den hatte ich selbst während meiner Zeit im Krankenhaus gehabt, wenn ich Hunter vermisst habe. Man sollte Unzertrennliches halt nie auseinanderreißen! Ach übrigens, wer war eigentlich dieser Junge, mit dem du gestern unterwegs warst? Hunter und ich haben euch auf der Straße gesehen, wollten euch aber nicht stören.” Simon versuchte zu überlegen, wann er denn den beiden über den Weg gelaufen war. Eigentlich sollte er sich doch daran erinnern, oder nicht? Aber so sehr er auch nachdachte, er konnte sich einfach nicht erinnern. Offenbar war er so mit den Gedanken woanders gewesen, dass er sie gar nicht bemerkt hatte. „Daniel arbeitet ehrenamtlich nach der Schule in der Pension und macht die Therapiespaziergänge. Er hat mir Islesbury gezeigt und wir haben uns ein wenig unterhalten.” „Wow, in dem Alter schon so sozial!” bemerkte der Künstler erstaunt. „Für gewöhnlich haben die Teenies in dem Alter nur Sex, Alkohol und Partys im Kopf. Na, zumindest scheint ihr euch gut zu verstehen und wenn dir das hilft, dass du dich besser fühlst, warum nicht? Vielleicht führt er dich ja auch noch durch die anderen Gemeinden. Wäre doch echt interessant. Hunter und ich jedenfalls wollen heute nach Wheatford fahren. Dort soll Ende des Monats das Oktoberfest beginnen und angeblich gibt es dort sogar kleinere amische Gemeinden. Auf jeden Fall hörte sich das echt interessant an und Sightseeing kann ja nie schaden, auch wenn das hier nicht gerade eine Großstadt ist. Außerdem wollten wir unbedingt mal die wandelnde Vogelscheuche sehen.” „Wandelnde Vogelscheuche?!” „Das habe ich gestern von ein paar Leuten aufgeschnappt, als ich sie nach interessanten Geschichten zu Annatown ausgefragt habe”, erklärte Cypher. „Angeblich soll es in Wheatford eine besonders hässliche Vogelscheuche geben, die nach einer Leiche stinken soll. Die Vogelscheuche taucht oft an verschiedenen Standorten auf und es werden sich halt allerlei Gruselgeschichten erzählt. Naja, nach Texas Chainsaw Massacre und unzähligen Zombiefilmen sind besessene Vogelscheuchen auch mal eine nette Abwechslung.” Also geht es ihm um den Kick, den der Horror mit sich bringt, schlussfolgerte Simon und musste zugeben, dass das typisch für Cypher war. Als leidenschaftlicher Fan des Horrors und Gore liebte er das Makabere und wahrscheinlich fühlte er sich an diesem Ort hier pudelwohl. Hunter hingegen wirkte eher, als würde er lieber wieder nach New York zurückkehren. Und Simon konnte ihm das nicht sonderlich verübeln. Nach dem Frühstück ging er ins Untergeschoss der Pension, wo es eine Art kleines Thermalbad gab, das frei zugänglich für Gäste und Patienten war. Es gab pro Bad sogar eine Auflistung mit Mineralien, die darin enthalten waren und es war Simon ein Rätsel, wozu das alles gut sein sollte. Er hatte sich noch nie wirklich mit diesen Dingen beschäftigt, musste aber zugeben, dass es doch recht faszinierend war. Das Kräuterbad befand sich in einem separaten Raum, der recht dunkel war und sehr dezent beleuchtet wurde. Es roch nach ätherischen Ölen aber es war im Gegensatz zu dem unerträglichen Geruchschaos in Melissandras Behandlungszimmer sehr angenehm und beruhigend. Er wurde von der zuständigen Badaufseherin Cora Ronove begrüßt, die sich um die Kräuterbäder kümmerte. Sie war ein hübsches schwarzhaariges Mädchen von ungefähr 18 Jahren mit lavendelfarbenen Augen, die eine kleine Schlange um ihre Schultern trug. Sie begrüßte ihn mit einer etwas zurückhaltenden aber dennoch freundlichen Art und erklärte und zeigte ihm alles Wichtige. Die große Steinbadewanne in der Mitte des Raumes bot genug Platz für zwei Personen und war mit heißem Wasser gefüllt. Es schwammen Kräuter, Blätter und Blüten darin und am Rand waren Kerzen aufgestellt. Es war anfangs ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber kaum, dass er sich im warmen Wasser entspannt hatte, während im Hintergrund beruhigende Musik gespielt wurde, waren ihm die Augen zugefallen und er war eingeschlafen. Er wurde zum Ende der Sitzung von Cora wieder aufgeweckt und es war ihm erst ziemlich peinlich, dass er einfach eingepennt war. Aber so wie es schien, war er wohl nicht der Erste und wahrscheinlich auch nicht der Letzte, dem es passierte. Danach hatte er noch viel Freizeit und verbrachte diese damit, ein wenig die Pension zu erkunden und zu schauen, was es noch alles dort gab. Er hielt einen kleinen Smalltalk mit dem Mädchen von der Rezeption und brachte in Erfahrung, dass sie tatsächlich Azarias’ jüngere Zwillingsschwester war und kaum, dass Simon sein ungewöhnliches Treffen mit Azarias auch nur erwähnte, begann sie sich mehrmals zu entschuldigen. Es war, als ahnte sie bereits, dass ihr Bruder irgendetwas angestellt haben musste. Zum Mittagessen waren Cypher und Hunter nicht da und sie waren offenbar schon nach Wheatford gefahren. Dafür aber war Daniel da, der aufgrund einer Lehrerversammlung früher schulfrei hatte. Da ein wenig Gesellschaft nie schaden konnte, setzte er sich zu Simon und sie begannen sich ein wenig zu unterhalten. Dabei nutzte Simon die Gelegenheit, um etwas mehr über diesen Ort zu erfahren. „Sag mal Daniel, ist es nur Zufall oder sind hier alle Angestellten außer Melissandra etwas… jung?” „Das liegt daran, weil die Pension vergleichbar mit einer Uniklinik ist”, erklärte der 16-jährige und goss sich ein Glas Mineralwasser ein, bevor er sich seinem Mittagessen widmete. „Ich hatte dir ja erzählt gehabt, dass die Clans über besondere Eigenschaften verfügen. Und manche von ihnen müssen natürlich lernen, ihre Begabung vernünftig einzusetzen. Die Kinsleys arbeiten zum Beispiel im Bestattungsunternehmen und verwalten den Friedhof. Die Witherfields und Wyatts üben eher normale Jobs aus und die Cohans sind zum größten Teil als Farmarbeiter tätig. Und die Ronoves, die ein besonderes Talent in der Heilkunde haben, arbeiten hier um zu lernen. Melissandra ist quasi die Lehrerin und nach der Schule arbeiten die meisten hier entweder in ihrer Freizeit oder machen hier direkt eine Ausbildung. Das fängt an mit einfachsten Tätigkeiten und wer fortgeschritten ist, der darf beispielsweise die Essenspläne erstellen, in der Küche helfen und die Heilbäder organisieren. Die Pension selbst befindet sich zwar im Privatbesitz von Lotta Muldaur, aber wenn man es genau nimmt, ist es eine öffentliche Institution des Gemeindekreises und finanziert sich sowohl durch Spenden und die Einnahmen durch die normalen Pensionsgäste. Also im Grunde genommen ist es sowohl Ausbildungsstätte, Kurort und Hotel in einem. Und der Vorteil ist, dass man auch als Bastard hier problemlos einen Job bekommt und mit den anderen Angestellten auf einer Stufe steht. Woanders ist das nicht unbedingt gegeben.” Ein sehr merkwürdiges Konzept, dachte sich Simon und begann sich zu fragen, wer wohl diese Idee gehabt hatte, all diese Dinge in einem Gebäude unterzubringen. Aber offenbar funktionierte es und es schien gut zu funktionieren. „Wo gehen wir heute eigentlich hin?” fragte der 21-jährige schließlich. „Schauen wir uns auch mal die umliegenden Gemeinden an? Wie viele gibt es eigentlich?” Doch hier zögerte der Rotschopf überraschenderweise und wirkte nicht ganz so begeistert von dem Vorschlag. Unsicher kratzte er sich hinterm Ohr und begann sich seinen Erbsen und Kartoffeln auf seinem Teller zu widmen. „Eigentlich könnten wir das machen. Die Sache ist nur die, dass es in den anderen Orten nicht viel zu sehen gibt und es dort nicht immer so sicher ist wie in Islesbury. Zu deiner dritten Frage: es gibt insgesamt fünf verschiedene Gemeinden rund um Annatown selbst und sie alle gehören auch zu Annatown: Arkala, Backwater, Hallow Grove, Islesbury und Wheatford. Eigentlich gab es mal sechs: Wyvern Lake. Islesbury war schon immer die schönste und friedlichste Stadt gewesen, weil hier die Witherfields gelebt haben und es lange Zeit für Cohans verboten war, hierher zu ziehen. Hallow Grove ist noch kleiner als ein Dorf und besteht nur aus knapp drei oder vier Bauernhöfen und ein paar Brauhäusern und einen alten Brunnen in einer alten Wassermühle, in dem es angeblich spuken soll. Früher war es mal eine richtige Stadt gewesen, aber nach einer Epidemie lebt dort kaum noch jemand. Wheatford ist bekannt für seine amische Bevölkerung und das Erntedankfest… und für die wandernde Vogelscheuche. Arkala liegt in Richtung des Eriesees und dort herrscht fast das ganze Jahr über richtiges Sauwetter. Also viel gibt es in diesen Gemeinden nicht zu sehen.” „Und was ist mit Wyvern Lake passiert?” hakte Simon neugierig nach. „Wieso gibt es die Gemeinde nicht mehr?” „Das weiß keiner”, gestand Daniel schulterzuckend. „Bis vor knapp 15 Jahren konnte man die Stadt noch über die Landstraße erreichen, die durch einen Wald führte. Aber eines Tages fand keiner mehr nach Wyvern Lake, obwohl nur eine einzige Straße geradewegs dorthin führte. Die Clanoberhäupter haben immer und immer wieder gesucht, aber die Stadt war einfach weg.” „Und was ist mit Azarias Wyatt? Weiß der denn nicht alles?” „Zu der Zeit war er gerade erst sieben Jahre alt”, erinnerte Daniel ihn. „Natürlich hat man versucht, von ihm etwas zu erfahren, aber er sagte einfach nur, die Stadt sei verloren und niemand aus Wyvern Lake würde jemals zurückkehren. Naja, er ist zwar ziemlich verrückt, aber selbst bis heute sagt er dass die Stadt unrettbar verloren sei. Und da niemand sie finden konnte und manche sogar für immer verschwunden blieben, gab man die Suche auf und seitdem existiert Wyvern Lake offiziell nicht mehr. Es ist ein ähnliches Mysterium wie die verschwundene Roanoke-Kolonie. Naja, ich schweife ab. Also wenn du irgendwo hin willst, dann kann ich dir Arkala und Wheatford empfehlen.” „Und was ist mit Backwater?” Hier zögerte Daniel wieder und schien sich etwas unsicher zu sein. Er musste lange überlegen und meinte „Meine Mum sagte, Backwater sei nicht der richtige Ort für Cohans und sie hat mir verboten, dorthin zu gehen. Aber eigentlich sehe ich keinen Grund, warum wir nicht hinfahren könnten. Ist immer noch spannender als in eines der Bauernkaffs zu fahren.” Nach dem Essen gingen sie zum Busbahnhof von Islesbury, wo ein Bus direkt nach Backwater fuhr. Dabei fiel Simon auf, dass es zwar ein ziemlich gut funktionierendes Verkehrsnetz gab, jedoch führten nur sehr wenige Straßen zu den anderen Gemeinden und meist fuhr man lange Zeit einfach nur in eine Richtung. Das Wetter war an diesem Tag sehr bewölkt und es war etwas kühler als in den letzten Tagen. Zudem sah es fast danach aus, als würde es bald regnen. Es gab einen kleinen Zwischenfall als der Busfahrer, kaum dass er Daniel sah, ihn schroff abwies und sagte, er würde jemanden wie ihn nicht in seinen Bus steigen lassen. Doch ein sehr bedrohliches Krächzen von Malphas dem Raben, der dem Fahrer einen sichtlichen Schreck einjagte, stimmte ihn um und so ließ er ihn zähneknirschend einsteigen. Die Fahrt selbst war ein wenig eintönig, denn selbst wenn man aus dem Fenster schaute, gab es nicht viel zu sehen. Glücklicherweise dauerte die Fahrt auch nicht allzu lang und nach knapp 20 Minuten waren sie in Backwater. Im Gegensatz zu Islesbury gab es hier keinen wirklich nennenswerten Bahnhof. Es fuhren gerade mal zwei Busse und mit dem Zug kam man zumindest zum Zentrum von Annatown. Auch die kleine Gemeinde wirkte eher ruhig und hier war vergleichsweise weniger los als in Islesbury. Dennoch hatte das kleine Städtchen durchaus seinen Charme und die Landluft war wirklich wohltuend. Daniel führte ihn ein wenig herum und erzählte ihm ein wenig über Backwater und begann auch über die anderen Gemeinden zu reden. Was Simon recht schnell auffiel, war die düstere Geschichte von Annatown. Ausnahmslos jede Gemeinde war irgendwann mal von einer Katastrophe oder von einem Unglück heimgesucht worden, welches beinahe die gesamte Bevölkerung ausgelöscht hatte. Lediglich Islesbury schien immer davon verschont geblieben zu sein. Und die Bewohner erzählten gerne Geschichten über die Orte. Ganz gleich ob alt oder jung, sie schienen die wichtigsten historischen Daten perfekt zu kennen und waren allem Anschein nach auch stolz darauf, dass Annatown eine ungewöhnliche Vergangenheit hatte. Wahrscheinlich lag es auch daran, weil es hier sonst nicht viel gab. Außer Arkala, Annatown selbst und Islesbury gab es hier nur kleine Kaffs, in denen nichts los war. Selbst Backwater mit seiner Schauergeschichte vom rachsüchtigen Geist eines kleinen Mädchens, das lebendig verbrannt worden war und deren Erscheinen ein böses Omen war, hatte sonst nichts Spannendes vorzuweisen. Es mochte makaber klingen, aber die Psychiatrie war das einzige Highlight des Städtchens. Sie sahen sich die Überreste einiger alter Häuser an, die als Gedenkstätte der Brandkatastrophe dienten, gingen zum Markt und legten dann schließlich eine kurze Pause ein und setzten sich auf eine Bank. Das Wetter war sehr bewölkt und er konnte sogar Donner in der Ferne hören. Das ganze Städtchen wirkte sehr friedlich und er konnte sich kaum vorstellen, dass hier mal eine Katastrophe gewütet haben sollte, die die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Dafür war Backwater wieder gut aufgebaut worden. „Sag mal Daniel, gibt es eigentlich zu jeder Gemeinde solch düstere Geschichten?” „Klar!” bestätigte der 16-jährige nickte. „Die Leute erzählen halt gerne irgendwelche Schauergeschichten und urbane Legenden sterben nie so wirklich aus. Wobei aber die Geschichten über Islesbury wesentlich harmloser sind. Man sagt, dass deshalb so viele Blumen das ganze Jahr über blühen, weil Islesbury ursprünglich ein Friedhof des Witherfield-Clans gewesen war. Selbst bis heute ist es Tradition, dass verstorbene Mitglieder des Clans zusammen mit Pflanzensamen beerdigt werden, damit sie selbst nach ihrem Tod noch neues Leben schenken können. Der riesige Kirschbaum, den du gesehen hast, ist das Denkmal von Madeline Witherfield, der Gründerin der Stadt. Nach ihrem Tod wurde sie begraben und dann wuchs dieser Kirschbaum. Aber sonst hörst du nur Gruselgeschichten über die anderen Orte. Der spukende Brunnen von Hallow Grove, die wandernde Vogelscheuche von Wheatford, das rachsüchtige Geistermädchen von Backwater oder die mordenden Geister der ertrunkenen Kinsley-Geschwister. Egal wo du hinkommst, du wirst irgendwo Schauergeschichten hören. Das ist es halt, was Annatown besonders macht und die meisten glauben tatsächlich da…” „Daniel, solltest du nicht eigentlich in der Schule sein?” Erschrocken fuhr der 16-jährige zusammen und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Simon schaute auf um zu sehen, wer denn gerufen hatte und sah eine Frau auf sie zukommen. Ihrer Uniform nach zu urteilen musste sie ein Sheriff sein. Sie hatte dunkelblondes Haar, welches sie zu einem Zopf gebunden hatte und goldgelbe Augen und vom Alter her schätzte Simon sie um die 40 Jahre ein. Doch was sie wirklich respekteinflößend erscheinen ließ, war ihre enorme Körpergröße. Sie war über zwei Meter groß und hatte breite Schultern und einen Körperbau, der verriet, dass sie eine enorme Kraft besaß. Noch nie in seinem Leben hatte Simon in seinem Leben eine so große Frau gesehen. Und sie sah nicht gerade danach aus, als wäre sie in guter Stimmung. Sie blieb vor ihnen stehen und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Soweit ich weiß, hast du heute den ganzen Tag Schule. Schwänzt du etwa wieder?” „Ich schwänze doch gar nicht, Mum. Ich hatte heute früher schulfrei und deshalb bin ich direkt danach zur Pension gegangen, um den Therapiespaziergang mit Simon vorzuziehen.” Mum? Dann war diese Frau also Daniels Mutter? Das bedeutete sie war das Oberhaupt des Cohan-Clans und der Sheriff der Stadt. Wow, sie war sogar noch größer als Leron und Hunter. Und garantiert war sie auch verdammt stark. Als sein Name fiel, wandte sie den Blick zu ihm und ihre strengen Gesichtszüge entspannten sich etwas. Dann lächelte sie und reichte ihm die Hand zum Gruß. Doch selbst ihre Hand wirkte groß und kräftig. „Ah, ein neues Gesicht? Freut mich sehr, dich kennen zu lernen. Ich bin Darya Cohan, das Oberhaupt des Cohan-Clans und der Sheriff von Annatown. Sollte also mal irgendetwas sein, bin ich sofort zur Stelle.” „Ist mir eine Ehre.” Simon musste die Zähne zusammenbeißen, als er den Gruß erwiderte und Daryas Hand schüttelte. Sie hatte einen Griff der vergleichbar mit einem Schraubstock war und der Händedruck war so fest, dass er fast schon befürchtete, sie würde ihm die Fingerknöchel gewaltsam zusammendrücken und ihm somit die Hand zu zerquetschen. Daniel bemerkte sein schmerzverzerrtes Gesicht und lächelte mitleidig. „Meiner Mum sollte man besser nicht die Hand geben. Sie packt jedes Mal so hart zu.” Dann wandte er sich wieder seiner Mutter zu und erklärte „Heute ist an der Schule eine Konferenz und deswegen hatten wir früher schulfrei als sonst. Das ist übrigens Simon Cavanaugh. Er gehört zu den Witherfields.” „Simon Cavanaugh?” fragte die groß gewachsene Polizistin stirnrunzelnd und wirkte zuerst überrascht. Dann wagte sie die Frage „Dann bist du also Roses Sohn?” Nun war es der 21-jährige, der überrascht war und er wunderte sich, woher diese Frau überhaupt wusste, wer seine Mutter war. „Wo… woher wissen Sie…” „Ich bin mit Rose gut befreundet und wir treffen uns regelmäßig”, erklärte Darya schulterzuckend. „Als ich bei ihr vorbei kam um Daniel abzuholen, war sie vollkommen durch den Wind und sagte, ihr Sohn hätte sie angerufen. Wenn ich dich so ansehe, erkenne ich sogar die Ähnlichkeiten mit ihr.” „Warte, warte, warte!” ging Daniel dazwischen und schaute abwechselnd zu Simon und seiner Mutter. Er schien verwirrt zu sein und nicht richtig glauben zu können. „Dann heißt das also: ich bin sein Pflegebruder und ich wusste es die ganze Zeit nicht mal?!” Kapitel 68: Panikattacke ------------------------ Simon war vollkommen sprachlos und hatte nicht mit solch einer überraschenden Entwicklung gerechnet. Daniel war sein Pflegebruder? Überrascht sah er Daniel an, der selbst vollkommen überrumpelt war und es kaum glauben konnte. Es dauerte eine Weile, bis der erste Schock überwunden war und zumindest einer von ihnen ein Wort hervorbringen konnte. „Du bist Roses Sohn?“ fragte der Rotschopf und schien es immer noch kaum glauben zu können. „Dann warst du es also, mit dem sie gesprochen hat, als sie geweint hat?“ „Anscheinend“, antwortete Simon mit einem etwas unsicheren Achselzucken, denn so wirklich sicher war er sich da noch nicht. Es schien einfach zu unglaublich um wahr zu sein. Daniels Augen wurden groß und er wandte sich an seine Mutter. „Ey ich glaub’s ja nicht. Das muss ich Rose unbedingt erzählen gehen! Oder noch besser: wir gehen gleich zu ihr. Die wird total aus dem Häuschen sein, wenn sie ihn sieht.“ Doch Darya Cohan war da wesentlich zurückhaltender und schaute stattdessen zu Simon und erkannte sofort, dass er nicht ganz einverstanden damit war. Sie seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. Als Simon ihre Arme und die breiten Schulter sah, fragte er sich, wie viel Kraft wohl in dieser Frau stecken mochte. Er hatte ja bereits gehört gehabt, dass die Cohans allesamt groß und stark waren, aber bei ihr würde es ihn nicht einmal verwundern, wenn sie es sogar schaffen würde, mit bloßen Händen ein Auto umzukippen. Und garantiert brauchte es nur einen Schlag, um jemandem den Kiefer zu brechen. Mit ihr sollte man sich wohl besser nicht anlegen. Zumindest schien sie vom Wesen her mehr gefestigt zu sein als Leron und Michael. „Ich denke, es liegt bei Simon zu entscheiden, ob er seine Mutter treffen will oder nicht“, erklärte sie ihrem Sohn und nickte seinem Begleiter kurz zu als wüsste sie genau, was ihm gerade durch den Kopf ging. „Ich weiß, du meinst es gut. Aber das ist ein ganz sensibles Thema und beide müssen bereit sein, einander kennen zu lernen.“ „Du willst sie nicht kennen lernen?!“ platzte es sofort aus Daniel heraus und wandte den Blick wieder zu Simon, in seinen Augen lag Verständnislosigkeit und Verwirrung. „Aber wieso bist du dann hier und warum hast du sie dann angerufen?“ „Daniel!“ rief seine Mutter warnend, doch Simon schüttelte den Kopf und erklärte „Ich will sie kennen lernen. Aber nicht alleine! Cypher hat mit ihr bereits ein Treffen vereinbart und ich will ihn nicht übergehen. Als Brüder sollten wir sie gemeinsam kennen lernen. So zumindest sehe ich das. Klar bin ich nach Annatown gekommen um sie kennen zu lernen, aber… ich kann das nicht alleine. Nicht ohne Cypher.“ Stille kehrte ein und Daniel beruhigte sich langsam wieder als er bemerkte, dass seinen Begleiter etwas bedrückte. Mit einem etwas niedergeschlagenen Seufzer senkte Simon den Blick und spürte wieder, wie ihn diese lähmende Traurigkeit wieder überkam, von der er gehofft hatte, er hätte sie längst überwunden. Aber anscheinend war sie immer noch da. Sie hatte sich nur irgendwo tief in seinem Unterbewusstsein versteckt. Mit einem mitfühlenden Blick legte Daniel ihm eine Hand auf die Schulter und fragte besorgt „Wieso hast du Angst?“ Gute Frage, dachte sich Simon und zuckte mit den Achseln. So wirklich verstand er sich selbst ja auch nicht. Im Grunde genommen brauchte er doch keine Angst zu haben. Immerhin wusste er doch seit dem Telefonat, dass seine Mutter ihn unbedingt kennen lernen wollte und sie sich um ihn sorgte, auch wenn sie bisher nur ein einziges Mal miteinander telefoniert hatten. Aber da war etwas anderes. Eine leise Stimme tief in seinem Unterbewusstsein, die ihn davon zu überzeugen versuchte, dass er nur enttäuscht werden würde, wenn er sie treffen würde. Und das Schlimmste daran war, dass er diese Stimme nicht abstellen konnte. Es war die Stimme seiner eigenen negativen Gedanken. „Ich weiß auch nicht…“, gab er zurück. „Es ist nur… Ich wollte mein ganzes Leben lang immer eine Familie und ich habe Dinge getan, auf die ich halt nicht stolz bin. All die Jahre hat mir niemand eine Chance gegeben, weil ich ein verdammter Freak war und meine einzige Chance an Geld zu kommen war, mich zu prostituieren. Mein Leben ist eine einzige Katastrophe und ich habe wirklich nichts, worauf ich stolz sein kann. Alles, was ich jetzt tue ist, auf Kosten meines Freundes zu leben, der mich vom Straßenstrich weggeholt hat. Ich habe nichts, worauf ich stolz sein kann. Wie kann meine Mutter, die mich kennen lernen will, noch in meiner Nähe sein wollen, wenn sie die Wahrheit über mich erfährt? Sie hat fast dieselbe Scheiße durchgemacht, nur habe ich es aus eigenem Antrieb heraus gemacht, während sie dazu gezwungen wurde. Sie hat es wenigstens geschafft, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bringen. Sie hat eine Familie, aber ich… ich habe nichts.“ „Das stimmt doch gar nicht“, wandte Daniel ein. „Du hast damit aufgehört und hast dir Hilfe gesucht. Das ist doch schon ein ganz großer Schritt. Alles andere braucht eben seine Zeit.“ „Wir alle sind unseres Glückes Schmied“, erklärte Darya in einem ruhigen, aber dennoch gefestigten und belehrenden Ton wie der einer Mutter oder einer Polizistin. „Und wir alle tun Dinge in unserem Leben, die wir bereuen. Aber wir können sie nicht ungeschehen machen. Wir können nur versuchen, das Beste daraus zu machen und aus der Vergangenheit zu lernen. Ich kenne Rose. Sie wird dich niemals danach bewerten, ob und was für einen Beruf du hast oder welche Bildung du genossen hast. Sie wird dich so oder so lieben weil du ihr Kind bist. Fürs Erste solltest du dir weniger Gedanken um irgendwelche Jobs machen. Sieh erst mal zu, dass es dir besser geht und du dich selber lieben lernst. Wie alt bist du eigentlich?“ „Ich bin 21“, antwortete Simon, ohne die groß gewachsene Frau anzusehen. Er spürte, dass ihm wieder die Tränen kamen und er schaffte es nicht, dieses Verlangen zu unterdrücken. „Dann hast du noch alle Chancen der Welt“, erklärte Darya. „Ich habe schon genug junge Leute in deinem Alter erlebt, die den ganzen Tag Party machen und Blödsinn im Kopf haben. Du bist gerade erst 21 Jahre alt und redest, als hättest du schon dein halbes Leben hinter dir. Lass mich dir eines als Mutter, Sheriff und Clanoberhaupt sagen: nicht jeder hat so früh schon sein komplettes Leben unter Kontrolle. Manche brauchen halt etwas länger. Viele rennen schon am Anfang los, manche brauchen halt etwas mehr Anlauf. Das macht sie aber nicht gleich zu schlechteren Menschen oder Verlierern. Lege niemals allzu viel Gewicht darauf, was andere dir sagen. Es wird immer Leute geben, die was zu kritisieren haben oder auf dich herabblicken. Wichtig ist, dass du dir selbst ins Gesicht sehen kannst und hinter dem stehst, was du tust. Solange du deinen eigenen Wert kennst und dich selbst liebst, kannst du nach vorne blicken. Wie willst du denn irgendetwas im Leben erreichen, wenn du nicht mal an dich selbst glauben kannst?“ „Bei dir steht’s echt schlimm…“, murmelte Daniel besorgt und legte eine Hand auf Simons Halsbeuge, wobei er leicht erschauderte. „Du bist echt eiskalt gerade…“ Doch Simon sagte nichts dazu und schwieg niedergeschlagen. Stille trat ein und nur das leise Heulen des Windes und das Rauschen der Blätter in den Bäumen waren zu hören. Eine kühle Brise wehte und irgendwie kam ihm die Atmosphäre etwas unbehaglich vor. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Auch Daniels Mutter schien nicht ganz wohl zu sein und sie sah sich unruhig um. „Ich bringe euch beide zurück nach Islesbury. Und du, Daniel: beim nächsten Mal hörst du auf mich, wenn ich dir sage, dass du nicht hierherkommen sollst. Ansonsten sage ich Rose, sie soll dir Hausarrest aufbrummen.“ Damit standen sie auf und folgten Darya zu ihrem Streifenwagen. Sie stiegen ein und wenig später fuhren sie auch schon los. Simon, der sich einfach nur müde und elend fühlte, schaute aus dem Fenster und ihn überkam der Wunsch, einfach in Lerons Armen zu liegen und sich von ihm den Kopf streicheln zu lassen. Er vermisste ihn jetzt mehr denn sonst. Und er fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, bis Leron endlich bei ihm war. Hoffentlich kam er bald… Als sie wieder die Pension erreichten, stiegen Daniel und Simon aus und Darya, die mit ihrem Dienst noch nicht fertig war, verabschiedete sich an dieser Stelle von ihnen. Da Daniel seinen Begleiter in diesem Zustand nicht alleine lassen wollte, blieb er noch bei ihm und so gingen sie gemeinsam zur großen Außenterrasse der Pension, wo einige Gäste bei Kaffee und Kuchen saßen und miteinander redeten. Sie setzten sich in eine etwas ruhigere Ecke und bestellten Getränke. Daniel wirkte immer noch sehr besorgt und sah Simon prüfend an. „Sorry, dass ich vorhin meine Klappe nicht halten konnte. Ich wollte nicht, dass es dir noch schlechter geht als ohnehin schon. Ich wusste nicht, dass das so ein sensibles Thema für dich ist.“ „Nein, ist schon okay…“, winkte der 21-jährige ab und seufzte niedergeschlagen. „Ist ja nicht deine Schuld. Es kam einfach so viel zusammen.“ Schließlich wurden ihnen die Getränke gebracht. Doch obwohl der Tee wunderbar duftete, war Simon nicht sonderlich danach, ihn anzurühren. Auch vom Kuchen aß er keinen Bissen, sodass sich Daniel schließlich sein Stück schnappte und aß. „Willst du darüber reden? Wenn du nicht mit mir reden willst, dann ist das kein Problem.“ Doch Simon fühlte sich nicht mehr in der Lage, einfach nur zu schweigen und um dieses Thema herumzureden. Also begann er Daniel von den Dingen zu erzählen, die bei ihm Spuren hinterlassen hatten. Angefangen von seinem Leben auf dem Straßenstrich, wie er zu Leron kam und mit dessen Krankheit und seiner Familie konfrontiert wurde, Michaels erster Überfall, der Amoklauf und die Vergewaltigung, Lionels Drohung und sein Nervenzusammenbruch. Es fiel ihm zuerst schwer darüber zu reden, aber nach einer Weile fiel es ihm leichter und er erzählte immer mehr. Auch wenn er zu Beginn Hemmungen hatte, merkte er, wie erleichternd es war, über all diese Dinge zu reden, der nicht in diese Dinge involviert war. Daniel hörte ihm die ganze Zeit aufmerksam zu, nickte bedächtig und schwieg die meiste Zeit. Nur zwischendurch hakte er nach, wenn er etwas nicht verstand. Als Simon mit seiner Erzählung am Ende war, atmete der 16-jährige geräuschvoll aus und fuhr sich durch sein feuerrotes Haar. Malphas, Daniels Rabe, sprang von seiner Schulter und begann auf dem Tisch umherzuwandern. „Wow…“, sagte der Rotschopf schließlich und wirkte sprachlos. Er war tief betroffen über diese Geschichte und brauchte eine Weile, um überhaupt Worte zu finden. „Ehrlich gesagt bewundere ich dich dafür, dass du diese ganze Scheiße so lange durchgehalten hast. Ich weiß nicht, ob ich an deiner Stelle die Kraft dazu hätte.“ „Und nun sitze ich hier, jammere herum und komme nicht mehr aus diesem Sumpf raus…“, seufzte Simon niedergeschlagen. Doch Daniel schüttelte den Kopf und erklärte „Mal ganz im Ernst: wenn mir das Gleiche passiert wäre, dann wäre ich schon viel früher zusammengebrochen. Jeder in deiner Situation würde sich so mies fühlen. Du hast alles Recht der Welt dazu, traurig über das zu sein, was dir widerfahren ist. Manch andere in deiner Situation hätten sich schon längst die Kugel gegeben oder hätten irgendeine andere Scheiße durchgezogen. Aber du gibst trotzdem nicht auf, selbst jetzt nicht. Ehrlich gesagt bewundere ich dich echt dafür. Es kostet echt viel Kraft, nach all der Scheiße noch weiterzumachen, ohne vollständig zusammenzubrechen. Ernsthaft, du bist viel stärker und zäher als du denkst. Und setz dich nicht unter Druck, okay? Du brauchst einfach Zeit, um über all diese Dinge hinwegzukommen. Das schafft niemand in ein paar Tagen. Und wenn ich mal ganz ehrlich bin: sich mit Cohans einzulassen, ist nicht einfach. Und das sage ich als Halb-Cohan. Vor allem Witherfields haben es schwer. Ich kann mir vorstellen, wie schwierig das manchmal sein muss. Auf der einen Seite liebst du diesen Leron und willst bei ihm sein, andererseits belastet dich seine Familiengeschichte. Und du wirst auch noch mit hineingezogen, obwohl du nichts damit zu tun hast.“ „Er kann ja genauso wenig was dafür“, versuchte Simon zu erwidern. „Er hat ja versucht, mich vor seiner Familie zu beschützen. Aber es hat halt nicht so geklappt wie erhofft. Ich bin ihm ja nicht mal böse wegen all dieser Dinge. Es ist nur so, dass… dieser Ort erinnert mich an all die schlimmen Dinge, die passiert sind und ich habe das Gefühl, immer noch darin gefangen zu sein.“ „Dann solltest du es ihm auf jeden Fall sagen“, schlug Daniel vor. „Ich bin zwar nicht der Beziehungsexperte, aber der Großteil der Probleme kommt daher, weil die Leute nie darüber reden. Nimm dir nachher einfach mal die Zeit, um nachzudenken was sich in deinem Leben ändern muss, damit es dir besser geht. Überlege, was du ändern kannst und was andere Menschen ändern können. Und wenn du weißt, was Leron ändern kann, damit es dir besser geht, dann sag ihm das, wenn er herkommt. Er scheint ja der Typ Mensch zu sein, der dir auch helfen will. Und wenn du Angst davor hast, wieder nach Hause zurückzugehen, sag ihm das.“ Ja, das sollte er wohl tun. Aber wie sollte es dann weitergehen, wenn er mit Leron darüber gesprochen hatte? Würden sie aus New York wegziehen? Wo würde es dann hingehen? Würde er dann Cypher und Hunter jemals wiedersehen? Und wer sagte denn, dass es auch wirklich besser werden würde, wenn er Leron reinen Wein einschenkte und sie aus der Villa ausziehen würden? Was, wenn es nicht besser wurde? Sie konnten ja schlecht ständig wegziehen. Selbst mit Lerons Reichtum würde es großen Stress mit sich bringen. Vielleicht machte er sich auch viel zu viele Gedanken darum. Da es allmählich spät wurde und Daniel noch Hausaufgaben zu erledigen hatte, verabschiedete sich der 16-jährige und sprach Simon noch mal Mut zu bevor er ging. Doch so wirklich schien es nicht zu helfen. Es mochte an der langsam anbrechenden Dämmerung, der Stille und dem kalten Wind liegen, aber ihm war alles andere als behaglich zumute und er war unruhig und nervös. Ein Schauer überkam ihn und wieder überkam ihn der Wunsch, wieder bei Leron zu sein. Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, nach Annatown zu kommen und die Heimatstadt seiner Familie zu sehen und letztere auch kennen zu lernen. Doch nun fühlte er sich wie ein verlorenes hilfloses Kind in einer fremden Stadt fernab von Zuhause. Zwar hatte er New York hinter sich gelassen, doch die Schatten jener schlimmen Erinnerungen hatten ihn dennoch wieder eingeholt. Ungewollt musste er an Lerons Mutter denken, welche damals aus den gleichen Gründen Annatown verlassen hatte. Sie hatte ihre Familie und ihre Heimat zurückgelassen, doch ihren seelischen Narben und der Hölle in ihrem Kopf hatte sie dennoch nicht entkommen können. Ob er wohl jemals darüber hinwegkommen würde? War es möglich, dass er es schaffen würde, jemals diese ganzen schrecklichen Dinge zu verarbeiten und noch einmal ganz neu und unbeschwert anfangen zu können? Zwar wünschte er sich das, aber es fühlte sich an wie ein Ziel, das in unendlich weiter Ferne lag und das er nie in seinem Leben würde erreichen können. Ganz einfach deshalb, weil er nicht an sich glauben konnte. Da die Einsamkeit auf der Terrasse für ihn unerträglich wurde und er dringend Gesellschaft brauchte, suchte er nach Cypher und Hunter. Also ging er wieder hinein und versuchte ihr Zimmer zu finden. Nachdem er in der Empfangshalle angekommen war, ging er in den Westflügel und begann nach dem richtigen Zimmer zu suchen. Glücklicherweise schaffte er es dieses Mal, sich nicht gleich zu verlaufen und fand nach einer Weile die Tür. Er bemerkte nicht das „Bitte nicht stören!“-Schild an der Türklinke, klopfte leise an und öffnete, ohne auf eine Antwort zu warten. „Hey ihr zwei, ich wollte fragen ob…“ Simon sprach den Satz nicht zu Ende, denn was er sah, verschlug ihm die Sprache und ließ ihn augenblicklich erstarren. Er realisierte zuerst nicht, was sich da genau abspielte, bis ihm dann aber schließlich klar wurde, was da vor sich ging. Cypher lag halbnackt auf dem Bett, die Handgelenke mit einem Gürtel gefesselt. Sein Shirt war hochgezogen und seine Hose und seine Boxershorts lagen auf dem Boden neben dem Bett. Über ihn gebeugt war Hunter, in dessen Augen ein dämonisches Leuchten zu sehen war. Er war oben rum nackt und jeder seiner Muskeln war sichtbar angespannt, als er beide Hände um Cyphers Hals gelegt hatte und ihn würgte, während er sich an ihm verging. Cyphers Augen waren in Ekstase verdreht, während er vergebens nach Luft schnappte. Unter normalen Umständen hätte Simon vielleicht bloß Scham und leichte Beunruhigung empfunden, denn obwohl er wusste, dass sein Bruder sehr masochistisch veranlagt war, wirkte das nicht sonderlich normal auf ihn. Doch was er sah, war etwas ganz anderes. Etwas viel Schlimmeres. Als die beiden bemerkten, dass jemand das Zimmer betreten hatte, hielten sie sofort inne und Hunter ließ augenblicklich von Cypher ab, der seinerseits erst mal nach Luft schnappte und sich aufsetzte. „Oh… Simon. Hey… äh… Hattest du das Schild draußen nicht… ähm… alles okay?“ Immer noch war Simon wie erstarrt und sein Blick war unentwegt auf Hunter gerichtet. Doch es war nicht Hunter, den er da sah. Es war Michael. Michaels wahnsinnige Augen waren auf ihn gerichtet und ein widerwärtiges, hämisches Grinsen zierte sein Gesicht. Und allein das reichte aus, um Simon in nackte Todesangst zu versetzen. Panisch schrie er auf und stürzte blindlings los. Auch wenn er eigentlich wissen sollte, dass Michael tot war und ihm nichts mehr anhaben konnte, war er außer Stande, vernünftig zu denken. In diesem Moment war er felsenfest davon überzeugt, dass Michael zurückgekehrt war, um ihn zu holen und ihn erneut zu vergewaltigen und dann schließlich umzubringen. „Simon!“ Er hörte wie Hunter ihm hinterhereilte, doch in seiner Panik kam es ihm nicht in den Sinn, dass der Bildhauer ihn stoppen wollte, um ihm alles zu erklären. In seinem Kopf spukte nur ein Gedanke umher und das war der, dass Michael versuchte, ihn zu holen und die einzige Chance zu überleben war, wegzulaufen Er versuchte schneller zu laufen, um ihn irgendwie abzuhängen und schaffte es, bis zur Empfangshalle zu kommen. Doch anstatt nach draußen zu laufen, flüchtete er in den Ostflügel. Auf die Straße zu laufen war ihm nicht sicher genug. Er musste schnellstmöglich auf sein Zimmer und sich einschließen, damit ihm nichts passieren konnte. Unglücklicherweise begann sein Körper bereits schlapp zu machen. Seine Beine fühlten sich wie Blei an und seine Brust schmerzte. Ihm war schwindelig und er merkte, wie er langsamer wurde. Alles begann sich um ihn herum zu drehen wie in einem Karussell er spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Doch die Angst trieb ihn immer weiter. Als er schließlich um die Ecke hastete in der Hoffnung, seinen Verfolger bald abschütteln zu können, stieß er beinahe mit Melissandra zusammen, die mit ihrem Hermelin auf den Schultern um eben jene Ecke gelaufen kam. Simon schaffte es nicht, rechtzeitig zu reagieren und seinen Körper zum Anhalten zu bewegen. Sie hingegen reagierte geistesgegenwärtig und hob ihre Arme, bekam ihn an den Schultern zu fassen und schaffte es, ihn zu stoppen, ohne dabei selbst von der Wucht des Zusammenpralls von den Füßen gerissen zu werden. „Simon, was ist los? Was rennst du in diesem Zustand hier rum?“ „Ich muss hier weg, er darf mich nicht kriegen!“ schrie der 21-jährige in Panik und versuchte sich loszureißen, doch die Hippie-Ärztin hielt ihn mit enormer Kraft fest und hinderte ihn am Weglaufen. Nun hatte auch Hunter sie endlich eingeholt, was die Sache für Simon aber nur noch schlimmer machte. Immer noch sah er niemand anderen als Michael, der ihn holen wollte. Hunter versuchte mit ihm zu reden, doch kaum dass er sich ihm auch nur näherte, schrie Simon in Todesangst auf und schlug wild um sich. Dabei traf er versehentlich Melissandra, der die Brille von der Nase fiel. Augenblicklich wandte sie sich an Hunter und wies ihn an „Geh ein Stück zurück. Der Junge hat eine Panikattacke.“ Sofort wich der Bildhauer zurück und blieb wie angewurzelt stehen. Nun, da eines der Probleme geregelt war, wandte sich Melissandra nun Simon zu, der immer noch in Panik um sich schlug und sich freizukämpfen versuchte. Sie hielt ihn immer noch an den Schultern fest und sah ihn mit festem Blick an. „Es ist alles in Ordnung, Simon. Es kann dir hier nichts passieren.“ Langsam begann sie ihren Griff zu lockern und stellte sich genau zwischen ihm und Hunter. Als sie ihn gänzlich los ließ, kauerte Simon heftig zitternd, kalkweiß im Gesicht und mit Schnappatmung auf dem Boden und wirkte wie ein in die Enge getriebenes verstörtes Tier. Tränen sammelten sich in seinen Augen und sein Herz raste förmlich. Er schaffte es nicht, das heftige Zittern seines Körpers zu unterdrücken und er konnte noch immer keinen klaren Gedanken fassen. Doch die Hippie-Ärztin blieb ruhig und hielt den Blick unentwegt auf ihn gerichtet und zwang ihn somit, sie anzusehen und nicht Hunter. „Jetzt atme langsam und tief durch und erkläre mir, warum du wegläufst. Was ist Schlimmes passiert?“ Doch Simon war nicht in der Lage zu antworten. Die Stimme versagte ihm und so half die Ärztin ihm, langsam und tief durchzuatmen und sich zu beruhigen. Doch es dauerte eine Weile, bis er sich halbwegs beruhigt hatte und in der Lage war zu reden. Das Gefühl der Angst jedoch war immer noch da. „Michael… er ist… er will mich holen.“ „Michael ist tot“, warf Hunter ein und wollte die Sachlage erklären, doch Melissandra hob die Hand und signalisierte ihm, dass er still sein sollte. Dann wandte sie sich wieder Simon zu und versuchte, seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Wo und wann hast du ihn gesehen?“ „Im… im Zimmer. Er hat Cypher… er…“ Als Simon versuchte, diese Bilder wieder in seinem Kopf aufzurufen, stellte er fest, dass da etwas nicht ganz stimmte. Diese Person, die da bei Cypher gewesen war und die ihn gewürgt hatte… War das wirklich Michael gewesen? Er war sich nicht mehr allzu sicher. Melissandra bohrte weiter nach. „Wie genau hatte er ausgesehen?“ Hier fiel es Simon noch schwerer, die exakten Bilder wieder wachzurufen, wie er sie in Erinnerung zu haben glaubte. Er wusste, dass Michael blond war, aber die Person bei Cypher hatte ganz anders ausgesehen. War das wirklich Michael gewesen? Irgendwie schienen seine Erinnerungen nicht ganz zu stimmen, aber wieso? Das ergab doch keinen Sinn. „Michael hat… er… war das etwa gar nicht er? Aber ich habe ihn doch gesehen.“ „Ich weiß“, beschwichtigte die Hippie-Ärztin und strich ihm durchs Haar. „Und ich glaube dir auch. Du hast schreckliche Angst und ich verstehe das. Du hast etwas ganz Schlimmes erlebt und du hast Angst. Aber ich bin hier um dir zu helfen.“ Tränen sammelten sich in Simons Augen und er begann zu schluchzen. Melissandra nahm ihn tröstend in den Arm, wobei sie sanft seinen Kopf streichelte. Sie blieb bei ihm bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte und half ihm wieder hoch. Nachdem sie sich wieder ihre Brille aufgesetzt hatte, wandte sie sich an Hunter, der auf Abstand gegangen war und den Blick abgewandt hatte. Er hatte sich in tiefes Schweigen gehüllt und obwohl seine Miene so düster war wie eh und je, war dennoch deutlich zu erkennen, dass er sehr besorgt und voller Schuldgefühle war. Und irgendwie wirkte er sogar hilflos. Auch Melissandra entging dies nicht und so klopfte sie ihm mit einem lauten Seufzer auf den Rücken. „Alles ist gut, Jungchen. Kein Grund, gleich eine Trauermiene aufzusetzen. Ich habe zwar keine Ahnung was da vorgefallen ist, aber es wird wieder gut. Simon ist nicht der erste meiner Patienten, mit dem die Nerven durchgehen. Und mit Sicherheit ist er auch nicht der Letzte.“ „Es tut mir leid…“, sprach Hunter leise und konnte Simon nicht in die Augen sehen. „Ich wollte dir keine Angst machen. Das hätte nicht passieren dürfen.“ „Ich schlage vor, ich gehe mit ihm erst mal in mein Behandlungszimmer, damit ich ihm etwas zur Beruhigung geben kann“, sagte Melissandra schließlich. „Nimm es nicht allzu persönlich. Den Körper zu heilen geht schnell wenn man die Medizin dafür hat. Den Geist zu kurieren ist allerdings etwas ganz anderes. Für heute braucht Simon erst mal viel Ruhe. Sprecht am besten morgen noch mal miteinander.“ Hunter, der nun selbst fast wie ein Häufchen Elend wirkte weil Simons Panikattacke ihm nahe gegangen war, nickte geschlagen und ging. Es hätte keinen Sinn gemacht, ihn hier zu behalten. Also ging er wieder zurück zu seinem Zimmer, während Simon Melissandra in ihr Behandlungszimmer folgte. Als sie das Behandlungszimmer betraten, schlug ihm wieder dieses intensive Geruchschaos entgegen, welches von all den Tinkturen, Kräutern, Essenzen und Blüten herrührte. Glücklicherweise öffnete die Hippie-Ärztin sogleich das Fenster, um etwas frische Luft reinzulassen. Während sie an ihrem Tisch wieder zu arbeiten begann, nahm Simon auf der Behandlungsliege Platz. „Tut mir leid, dass ich vorhin so durchgedreht bin…“ „Halb so schlimm“, kam es zurück und es dauerte nicht lange, bis Melissandra auch schon fertig war und mit einem Glas mit einer bräunlichen Flüssigkeit zurückkam, welches sie ihm in die Hand drückte. „Du bist ja nicht aus Jux und Spaß zur Behandlung hier und genau aus diesem Grund bin auch ich hier. Es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass es dir wieder besser geht. Und glaube mir: ich hatte schon Patienten gehabt, die weitaus schlimmer reagiert hatten, als sie getriggert wurden. Und nun trink das. Das wird deine Nerven beruhigen und dir helfen, dich zu entspannen.“ Etwas skeptisch begutachtete Simon die Flüssigkeit im Glas und roch daran. Er glaubte so etwas wie Lavendelduft oder ähnliches wiederzuerkennen, doch kaum, dass er es geschluckt hatte, verzogen sich seine Gesichtszüge und ein widerwärtiger Geschmack lag auf seiner Zunge. Es schmeckte scheußlich und netterweise gab Melissandra ihm ein Bonbon, um den Geschmack wieder los zu werden. „Was zum Teufel ist das?“ fragte er sie. „Das ist ja ekelhaft!“ „Baldrianextrakt, Lavendelöl, Melissenextrakt, Weißdorn, Johanniskraut, etwas Alkohol und noch ein paar Sachen, die ich dir lieber nicht verrate. Davon solltest du gleich schlafen wie ein Baby. Aber beantworte mir mal eine Frage: dieser Michael, vor dem du so große Angst hast… Er war ein Mitglied der Cohans, oder?“ „Ja“, antwortete Simon und war überrascht. „Woher…“ „Ich kann eins und eins zusammenzählen“, erklärte die Hippie-Ärztin und begann noch etwas an ihrem Tisch anzumischen. „Und leider ist es oft so, dass meine Patienten, die zum Witherfield-Clan gehörten, oft krank wurden, weil sie in die Probleme der Cohans geraten sind. Ihre enge Verbundenheit ist ein Geschenk wenn es Liebe ist. Aber es kann auch ein grausamer Fluch sein. Ganz gleich ob es Hass, Neid oder Obsession ist, es kann oft zu einer grausamen Teufelsspirale werden, wenn sie nicht voneinander getrennt werden. Du bist nicht der Erste, dem so etwas passiert ist. Und es ist schwer, sich gegen so jemanden zur Wehr zu setzen. Dein Freund sagte, dieser Michael ist tot, richtig?“ „Ja…“ „Dann halte es dir immer wieder vor Augen, wenn du wieder Angst haben solltest“, riet Melissandra und wirkte nun vollkommen ernst. Nur ihr schrilles Aussehen ließ sie noch lächerlich wirken. „Solltest du wieder glauben, ihn zu sehen, dann ruf dir selbst in Erinnerung, dass er tot ist. Je öfter du es dir selbst sagst, desto sicherer wirst du dir dann auch. Und das wird dir bei deiner Angst helfen.“ Damit entließ Melissandra ihn für heute und Simon ging auf sein Zimmer. Und kaum, dass er sich aufs Bett hatte fallen lassen, fielen ihm die Augen zu und er war sofort eingeschlafen. Kapitel 69: Aussprache ---------------------- Selten in seinem Leben hatte Simon so tief und fest geschlafen wie in dieser Nacht. Am nächsten Morgen wachte er erfrischt und mit etwas besserer Stimmung auf. Er konnte sich nur vage an den Zwischenfall von gestern Abend erinnern und wusste nur, dass er durchgedreht war und eine Panikattacke erlitten hatte. Aber ansonsten fühlte es sich bloß wie eine Erinnerung an, die in weiter Ferne lag. Als er nach einer heißen Dusche erfrischt in den Speisesaal ging, fand er dort bereits Cypher und Hunter, die miteinander redeten. Vor allem Cypher wirkte sehr bedrückt und niedergeschlagen und rührte sein Essen gar nicht an, während Hunter mit verschlossener Miene da saß und schwieg. Simon fasste sich ein Herz und setzte sich direkt zu ihnen, doch beide reagierten sehr zurückhaltend. „Hey Bruderherz“, grüßte Cypher ihn, jedoch fehlte ihm jeglicher Enthusiasmus und er wirkte beschämt und von Schuldgefühlen zerfressen. „Geht es dir wieder besser? Hör mal, es tut uns leid wegen gestern. Das war ganz und gar nicht so gewollt gewesen.“ Doch Simon schüttelte nur den Kopf. Im Grunde genommen hatten die beiden ja gar nichts falsch gemacht und was sie im Bett trieben, war ja ihre Angelegenheit. Sie waren die Letzten, die irgendwelche Schuldgefühle haben sollten. „Nein, ist schon gut. Ich weiß ja, dass ihr auf etwas härtere Sachen steht und daran ist ja nichts falsch. Hätte ich genauer hingesehen und das Türschild bemerkt und vor allem gewartet anstatt einfach reinzuplatzen, wäre das ja gar nicht passiert. Ihr habt nichts falsch gemacht.“ „Trotzdem muss das für dich in dem Moment schlimm gewesen sein. So wie du ausgesehen hast, hätte man glauben können, du würdest vor Angst sterben.“ Das konnte Simon durchaus nicht abstreiten und er gestand „Ja, das hatte ich. In meiner Panik hatte ich Michael gesehen und dachte, er würde mich endgültig holen kommen. Dabei hätte ich doch eigentlich wissen müssen, dass er tot ist und mir nichts mehr anhaben kann. Melissandra hat mir gestern noch was zur Beruhigung gegeben und der Schlaf hat wirklich gut getan. Ich fühle mich schon wieder wesentlich besser. Aber sag mal… stehst du ernsthaft darauf, beim Sex gewürgt zu werden? Wie kann man so etwas denn mögen, wenn man kurz vorm Ersticken ist?“ Etwas unsicher zuckte Cypher mit den Achseln und begann mit der Gabel in seinem Rührei herumzustochern. Am Ende rührte er es aber nicht an, sondern trank stattdessen eine Tasse Früchtetee. Obwohl er sonst relativ offen über solche Dinge sprach, schien er nun deutlich Hemmungen zu haben und nur sehr ungern mit der Sprache herauszurücken. Ob es daran lag, weil er seinem Bruder keine weitere Panikattacke zumuten wollte? „Ist halt so ein Fetisch“, meinte er. „Man muss wirklich drauf stehen, ansonsten fühlt man sich dabei unwohl und kriegt im schlimmsten Fall Panik. Und ich bin halt ziemlich verkorkst was so was angeht. Ich stehe so auf manche Sachen, die für dich vielleicht nicht nachvollziehbar sind. Das Würgen fällt auch darunter. Ich würde es aber nie verlangen, wenn Hunter sich dabei unwohl fühlen würde. Und er ist eben ziemlich sadistisch veranlagt beim Sex. Unsere Beziehung ist in der Hinsicht etwas krasser als bei dir und Leron. Ich gebe zu, dass es vielleicht nicht angebracht war, es in fremden Betten zu treiben, aber ich konnte halt nicht anders.“ Es fiel Simon schwer sich vorzustellen, dass manche Leute tatsächlich darauf standen, beim Sex gewürgt zu werden. Er selbst hatte dabei jedes Mal um sein Leben fürchten müssen. Vor allem weil es stets Michael gewesen war, der das bei ihm gemacht hatte und dabei war er jedes Mal vergewaltigt worden. Dann hatte wohl Michael so einen Fetisch gehabt, andere beim Sex zu würgen. Und Hunter stand auch auf so etwas… Irgendwie fühlte sich das ein wenig befremdlich an. Fragend schaute er zu dem schweigsamen Bildhauer, der nun damit begann, sein Frühstück zu essen. „Wie kann man eigentlich darauf stehen, andere zu würgen? Ich verstehe das nicht.“ „Denk nicht so viel darüber nach“, versuchte Cypher ihn zu beschwichtigen. „Dieses Thema ist vielleicht nicht das richtige für dich.“ „Ich bin eben so“, erklärte Hunter schließlich, der zwar Cyphers Versuch, das Thema diskret zu beenden, wertschätzte, aber trotzdem die Dinge ein für alle Male klarstellen wollte. Den Grund dafür aber konnten weder Cypher noch Simon sagen. „Ich kann es nicht abstellen, selbst wenn ich wollte. Egal was ich mache, ich tue Menschen weh.“ „Jetzt hör auf, dir Vorwürfe zu machen!“ warf der 25-jährige Künstler liebevoll, aber dennoch bestimmend ein und ergriff Hunters Hand. „Das mit gestern war nicht deine Schuld, okay?“ Er schämt sich dafür, was er gemacht hat, dachte sich Simon und realisierte so langsam, dass er mit seiner Frage Hunter in eine äußerst unangenehme Situation gebracht hatte. Zwar mochte der Bildhauer nicht danach wirken, aber offenbar ging ihm der gestrige Vorfall extrem nah und nun schämte er sich dafür, dass er so veranlagt war, weil Simon ihn im Affekt mit Michael verglichen hatte. Wahrscheinlich glaubte er nun selbst, dass er wie Michael war. Was bin ich doch für ein Vollidiot, dachte sich Simon und biss sich auf die Unterlippe. „Hey Hunter, tut mir echt leid. Ich wollte deine Gefühle nicht verletzen. Ich konnte gestern nicht klar denken, das war alles. Aber ich denke doch nicht, dass du wie Michael bist. Das stimmt doch gar nicht. Du hast mich doch damals vor ihm gerettet und du warst für mich da, wenn ich Hilfe gebraucht hatte. Ich denke doch nicht schlecht von dir, wenn du auf gewisse Sachen stehst. Du bist ein wichtiger Freund für mich!“ Doch Hunter sagte nichts darauf und sah Simon auch nicht an. Dieser fühlte sich irgendwie ratlos und wusste nicht, wie er ihn wieder aufmuntern konnte. Cypher seufzte und erklärte „Gib ihm etwas Zeit, Simon. Es ist nicht einfach für ihn, seine Veranlagung zu akzeptieren. Auf der einen Seite ist er sadistisch aber auf der anderen Seite hat er schreckliche Angst davor, Menschen wehzutun. Vor allem die, die ihm wichtig sind. Und deine Panikattacke ist uns beiden sehr nahe gegangen. Klar sind wir froh, dass es dir wieder besser geht, aber es war dennoch ein ziemlicher Schock für uns.“ Das konnte Simon ihnen nicht mal verübeln. Ihm wäre es in dieser Situation auch nicht anders ergangen. Im Grunde genommen waren sie alle mit einem schweren Schock davongekommen, obwohl keiner von ihnen wirklich einen großen Fehler begangen hatte. Es war einfach nur eine sehr unglückliche Situation gewesen, die leider vollkommen eskaliert war. Da das Thema nur für schwere Gemüter sorgte, versuchte Simon, sich ein neues auszudenken. Und da fiel ihm auch schon direkt eines ein. Er erzählte ihnen von Daniel und dass dieser als Pflegekind bei Rose lebte. Dies lockerte die Stimmung zumindest ein wenig auf und wie erwartet war Cypher ziemlich überrascht über diese Neuigkeit und konnte es kaum erwarten, ihn richtig kennen zu lernen. „Morgen ist es dann endlich soweit“, sagte der Künstler schließlich breit grinsend. „Dann werden wir Rose und ihre Familie endlich kennen lernen. Ich freue mich schon riesig darauf. Aber sag mal Simon, gibt es schon etwas Neues zu Leron? Hat er sich schon bei dir gemeldet, wann er nachkommen kann?“ Ach herrje, das hatte er ja fast vergessen. Sofort erzählte Simon ihnen von Lerons Nachricht, die er gestern hinterlassen hatte. „Also dann heißt es, dass er heute ankommen müsste“, schlussfolgerte Cypher und goss sich Tee nach. „Ist doch super. Dann habt ihr noch etwas Zeit für euch. Und ich kann mir bei ihm gut vorstellen, dass er hier auch gerne etwas über seine Mutter erfahren will. So ist diese Reise nach Annatown wortwörtlich eine Rückkehr zu den Wurzeln, hehe.“ Nach einem ausgiebigen Frühstück ging Simon zur Massagesitzung und im Anschluss zu Melissandra in die Sprechstunde, da sie schauen wollte, ob er sich nach dem gestrigen Schock wieder einigermaßen erholt hatte. Obwohl sie gestern sehr gefestigt und ernst gewirkt hatte, war sie wieder ganz die Alte und wirkte wieder wie eine völlig abgedrehte Hippie-Tante, die eventuell zu viel Räucherstäbchenqualm inhaliert hatte. Zwar zeigte sie sich zufrieden mit der leichten Besserung seines Gemütszustandes, war aber im Großen und Ganzen aber immer noch nicht glücklich mit ihren Untersuchungsergebnissen an und griff zu einer mehr als seltsamen Maßnahme, von der Simon nicht wirklich wusste, ob sie tatsächlich etwas bewirkte. „Mein Junge, du musst mehr Zeit unter Witherfields verbringen. Die Medizin reicht nicht aus um dich zu kurieren. Aber im Kreise deiner Familie sollte sich dein psychischer Zustand mehr stabilisieren.“ „Aber ich lerne meine Mutter erst morgen kennen und ich kenne sonst niemanden außer meinem Bruder. Außerdem kommt Leron heute, da wollte ich zuerst mit ihm etwas Zeit verbringen. Ich vermisse ihn sowieso schon genug.“ „Das glaube ich dir, das glaube ich dir!“ beschwörte die Hippie-Ärztin und nahm auf ihrem Bürostuhl Platz und wischte sich eine ihrer Locken aus dem Gesicht. „Es mag vielleicht herzlos von mir klingen, aber im Moment tut dir die Nähe deines Liebsten nicht gut.“ Simon konnte nicht glauben, was er da hörte und fast übermannte ihn die Wut über Melissandras Worte. Lerons Nähe tat ihm nicht gut? Was wusste sie denn überhaupt über ihn? Was bildete sie sich eigentlich ein? „Leron tut mir nicht gut? Was soll das denn bitte heißen? Erwarten Sie etwa von mir, dass ich mit ihm Schluss machen soll oder was?“ „Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte sie und zeigte sich völlig unbeeindruckt von seiner Reaktion. Sie kramte aus einer ihrer Kitteltaschen einen Kugelschreiber hervor und begann sich etwas aufs Klemmbrett zu schreiben. „Ich kann verstehen, dass du ihn liebst und er dir viel bedeutet. Aber genau das tut dir im Moment nicht gut. Du sollst die Zeit nutzen, dich auf dich selbst zu fokussieren und dich mit deinen Sorgen, Ängsten und Problemen auseinanderzusetzen, um sie zu verarbeiten. Kasra hat dich gestern beobachtet.“ Damit deutete sie auf den Hermelin, der es sich wie immer auf ihrer Schulter bequem gemacht hatte und Simon mit seinen schwarzen Knopfaugen anstarrte. „Du versuchst die ganze Zeit, in Gesellschaft zu bleiben, weil du Angst hast, dich den unangenehmen Dingen zu stellen. Du rennst vor dir selbst weg. Aber das sollst du nicht tun. Du musst dich auf dich selbst konzentrieren und dich selbst reflektieren, ansonsten wirst du keine Fortschritte machen. Da die Einsamkeit aber anscheinend ebenfalls zu Angstattacken bei dir zu führen scheint, habe ich mir eine Alternative überlegt. Deswegen möchte ich, dass du erst einmal etwas Zeit mit deiner Familie verbringst. Erstens ist die Nähe von Witherfields für dich im Moment wesentlich gesünder und außerdem sind positive Erfahrungen immer sehr wertvoll. Insbesondere bei Depressionen. Ich sage dir nicht, dass du keine Zeit mit Leron verbringen sollst. Aber wenn du willst, dass es dir wieder besser geht, musst du fürs Erste Abstand von ihm halten.“ Ziemlich frustriert hatte Simon das Behandlungszimmer verlassen und war auf sein Zimmer gegangen. Das war überhaupt nicht das, was er sich erhofft hatte und er konnte nicht verstehen, wie Melissandra auf den Trichter kam, dass er sich von Leron fernhalten sollte. Lag es etwa daran, weil er ein Cohan war? Was sagte das denn schon über ihn aus? Das war doch alles vollkommener Mist. Erstens konnte Leron nichts dafür und zweitens war es nicht Lerons Schuld, dass es ihm momentan so schlecht ging. Und es war nicht fair, es nun an ihm auszulassen. Simon seufzte entnervt und ließ sich aufs Bett fallen. Er versuchte sich zu beruhigen, jedoch ohne Erfolg und so beschloss er, ein wenig nach draußen zu gehen und sich abzureagieren. „Diese Hippie-Tante hat doch keine Ahnung“, murmelte er leise und zog seine Straßenschuhe an. Schließlich verließ er sein Zimmer und ging zur Empfangshalle und wäre, so tief wie er in Gedanken versunken gewesen war, einfach nach draußen gegangen. Doch als er dann eine vertraute Stimme seinen Namen rufen hörte, Abrupt blieb er stehen und wandte sich zur Rezeption um. Zuerst glaubte er zu träumen und glaubte kaum, dass es wirklich wahr sein konnte. Doch es war tatsächlich Leron. Er wirkte etwas erschöpft und übernächtigt, aber dennoch glücklich. Neben ihm war Lotta, die ihn vermutlich abgeholt und zur Pension gebracht hatte. Schlagartig waren all seine Gedanken verworfen und er stürmte direkt auf Leron zu und umarmte ihn überglücklich. „Leron! Ich habe dich so sehr vermisst!“ Sofort erwiderte der Milliardär die Umarmung und drückte Simon fest an sich, als wollte er ihn nie wieder loslassen. Es fühlte sich an, als wären es Wochen oder sogar Monate her gewesen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Und umso glücklicher waren sie nun, sich endlich wiederzusehen. Nach einem liebevollen Kuss lösten sie sich wieder voneinander und obwohl Simon deutlich die Augenringe bei Leron sehen konnte, so sah er auch wie glücklich und erleichtert er war. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, entschuldigte sich Leron sofort. „Ich musste mich noch um ein paar Dinge kümmern, bevor ich abreisen konnte.“ „Ist doch nicht schlimm“, erwiderte Simon mit einer abwinkenden Geste. „Aber du siehst total müde aus. Willst du dich gleich erst mal ausruhen?“ „Nein, schon in Ordnung. Schlafen kann ich immer noch nachts. Mach dir mal keine Gedanken um mich. Ich würde nur gleich erst mal gerne einchecken und mich ein wenig frisch machen.“ Hier räusperte sich Lotta, die sich diskret im Hintergrund gehalten hatte. „Ich könnte ein Zimmer im Westflügel anbieten. Wenn Simon es aber wünscht, dann kann könnte ich es arrangieren, dass ihr ein gemeinsames Zimmer bewohnt.“ „Das geht echt?“ fragte der 21-jährige überrascht und mit einem Nicken erklärte die schwarzhaarige Schönheit „Mir gehört diese Pension. Und wenn du der Meinung bist, dass du dich mit Leron zusammen am wohlsten fühlst, dann sehe ich keinen Grund, warum ihr während eures Aufenthaltes nicht zusammenwohnen dürft.“ Natürlich willigte Simon sofort ein und so war es beschlossen, dass Leron in Simons Zimmer untergebracht werden würde. Nachdem sie sich von Lotta verabschiedet hatten, gingen sie in Richtung Ostflügel und natürlich konnte sich Simon nicht lange zurückhalten und überfiel Leron gleich mit Fragen, wie denn der Verkauf des Konzerns verlaufen war und ob das überhaupt ein guter Deal war, den er gemacht hatte. Auch wollte er natürlich wissen, ob sich Lionel noch mal in irgendeiner Form bei ihm gemeldet hatte oder ob er vielleicht noch gar nichts über den Verkauf wusste. Leron kam kaum zum Reden und musste warten, bis Simon mit seiner letzten Frage fertig war. Er erzählte, dass der Verkauf relativ entspannt verlaufen war, wobei er beim Preis einige Einstriche hatte machen müssen, weil alles so schnell von statten gegangen war. Aber hauptsächlich war er heilfroh, dass er sich endlich von dieser Last befreit hatte und neu anfangen konnte. Und als das Thema auf seinen Vater zu sprechen kam, da seufzte er nur gedehnt und erzählte „Er hat mehrfach versucht mich anzurufen und hat mir immer wieder auf den Anrufbeantworter gesprochen um mich zu überreden, doch nicht zu verkaufen. Ich habe seine Nummer schließlich blockiert. Ungefähr ein dutzend Sprachnachrichten hat er mir hinterlassen und in keiner einzigen hat er sich entschuldigt“, erzählte Leron und seine Miene verdüsterte sich voller Bitterkeit gegenüber seinem Vater. „Nicht ein einziges Wort der Entschuldigung. Ihm ging es immer noch nur um den Konzern und nichts anderes. Ich bin froh, dass ich damit jetzt durch bin.“ Ungläubig, dass Lionel selbst jetzt noch nur an sein Energieimperium dachte aber nicht an seinen eigenen Sohn, schüttelte Simon den Kopf. Er verstand es einfach nicht, wie jemand so verbohrt sein konnte wie dieser Mensch. Na zumindest musste sich Leron damit jetzt nicht mehr herumärgern. Und wenn sich die Lage wieder einigermaßen beruhigt hatte, würde er auch nicht mehr an seinen Vater denken müssen. Als sie das Zimmer erreicht hatten, drückte Leron dem Gepäckträger ein stattliches Trinkgeld in die Hand und ging direkt ins Bad um sich eine ausgiebige heiße Dusche zu gönnen. Diese schien regelrechte Wunder zu bewirken, denn Leron wirkte danach wesentlich erfrischter und weniger übermüdet und erschöpft. Da sie etwas Zeit für sich haben wollten, um ungestört miteinander reden zu können, ließen sie sich das Mittagessen aufs Zimmer bringen. Sie machten es sich auf der Ledercouch bequem und nachdem Leron die ersten Bisse gegessen hatte, fragte er seinen Petboy „Und wie ist es hier so bis jetzt? Merkst du schon, dass dir der Aufenthalt hier etwas bringt?“ „Es geht mir schon besser“, antwortete Simon, auch wenn das ein klein wenig übertrieben war. „Ich bekomme medizinische Betreuung und die Therapiespaziergänge, Kräuterbäder und Massagen helfen auch ganz gut. Ich habe auch nachgedacht.“ „Nachgedacht? Worüber denn?“ fragte Leron ein klein wenig zögerlich, denn er begann bereits zu ahnen, dass es um ihn oder besser gesagt um ihre Beziehung gehen würde. Und so falsch sollte er auch nicht liegen. Simon brauchte einen Moment, um sich ein Herz zu fassen und erklärte schließlich „Ich liebe dich wirklich und ich möchte auch, dass wir zusammenbleiben. Aber… es sind einfach so viele Sachen passiert. Und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ich so schnell darüber hinwegkommen kann. Erst gestern hatte ich eine Panikattacke weil ich dachte, ich würde Michael sehen. Ich weiß zwar dass er tot ist, aber er spukt immer noch in meinem Kopf herum. Und deshalb kann ich so schnell nicht nach New York zurück… Ich glaube auch nicht, dass ich mich jemals wieder in der Villa sicher fühlen werde.“ „Verstehe“, murmelte Leron ruhig und nickte. „Also willst du erst mal hier in Annatown bleiben?“ „Ich glaube schon. Ich wüsste sonst nicht, wo ich sonst hin soll. Solange Michael für mich noch nicht tot ist, kann ich nicht nach New York zurückkehren.“ Eine Weile herrschte Schweigen und Leron hatte nachdenklich die Stirn in Falten gelegt. Er begann genau zu überlegen, was er nun tun konnte und was nötig war, um Simon zu helfen. Es verging eine Weile, in der er nichts sagte, bis er schließlich eine Idee hatte. „Ich könnte uns hier ein Haus kaufen. Wir können so lange hier leben, wie du möchtest. Und ich könnte uns auch ein neues Zuhause in New York suchen. Ich denke, ein Tapetenwechsel würde auch ein perfekter Neustart sein.“ „Und das geht in Ordnung für dich?“ fragte Simon und war überrascht von Lerons Initiative. Er hätte nicht damit gerechnet, dass dieser so schnell bereit war, das Haus zu verkaufen, in welchem er aufgewachsen war und in welchem er seit über 25 Jahren gelebt hatte. „Ich dachte, es würde dir schwerer fallen. Ich meine… du hast seit deiner Kindheit dort gelebt.“ „Ich bin ganz alleine in diesem Haus aufgewachsen“, erklärte Leron und schien mit seinem Entschluss bereits festzustehen. „Und der Ort, an dem ich mit meiner Familie gelebt hatte, war in der Villa meines Vaters. Ich verbinde mit meinem Zuhause nicht viel außer der Isolation und Einsamkeit. Dank dir hat es sich schließlich mehr wie ein richtiges Zuhause angefühlt weil ich jemanden hatte, der mit mir zusammengelebt hat und der sich freut, wenn ich zurückkomme. Aber ich bin in der Hinsicht auch pragmatisch. Es ist in erster Linie nur ein Haus. Und ich kann jederzeit ein neues kaufen. Und mir ist auch nicht entgangen, dass du dich in der Villa nicht mehr wohl fühlst. Ich dachte erst, es wäre bloß posttraumatischer Stress, aber ich glaube, dass dieser Ort einfach mit zu vielen negativen Erinnerungen behaftet ist. Da ist ein Neuanfang gar nicht mal so verkehrt. Und wenn ich ehrlich bin, brauche ich genauso Abstand von New York wie du. Ich werde mich umhorchen, ob es hier noch Möglichkeiten gibt, ein Haus zu kaufen. Dann können wir hier so lange bleiben, bis wir beide wieder bereit sind, nach New York zurückzukehren. Und dann könnten wir dieses Haus dann als eine Art Ferienhaus nutzen. Was hältst du von der Idee?“ Simon war begeistert von dieser Idee und stimmte natürlich zu. Schließlich, als sie mit dem Essen fertig waren, schalteten sie den Fernseher ein und sahen sich einen Film an, während sie sich auf der Couch gemütlich zusammenkuschelten. Es tat so gut, wieder in Lerons Armen zu liegen und sich einfach fallen zu lassen. Wie sehr hatte er das vermisst. Und nie wieder wollte er so lange von ihm getrennt bleiben. „Morgen wollen Cypher und ich unsere Mutter besuchen gehen. Willst du dann auch mitkommen?“ Zuerst rechnete er mit einem ja, doch ganz überraschend und unerwartet lehnte Leron ab. Verwirrt und ein wenig enttäuscht sah Simon ihn an und verstand erst nicht. „Wieso nicht?“ fragte er deshalb. Der Milliardär, den die Müdigkeit langsam wieder einholte, gähnte kurz und rieb sich die Augen. „Das ist eine reine Familienangelegenheit und es geht um dich, Cypher und eure Mutter, nicht um mich. Ich kann sie beizeiten immer noch kennen lernen, aber du solltest sie zuerst kennen lernen. Es ist deine Mutter und deine ganz besondere Erfahrung, nicht meine. Deswegen halte ich mich da erst mal raus, damit ihr euch besser kennen lernen könnt, ohne dabei von anderen gestört zu werden. Außerdem habe ich da auch etwas, das ich erledigen will.“ „Und was genau?“ „Ich will versuchen, mehr über meine Mutter zu erfahren. Sie ist hier aufgewachsen, also sollte es hier auch Verwandte oder Bekannte von ihr geben. Vielleicht werde ich auch nichts Neues in Erfahrung bringen, aber… ich will einfach mehr wissen. Seitdem ich die ganze Wahrheit kenne, will ich einfach wissen, wie ihr Leben hier gewesen ist und was für ein Mensch sie gewesen war, bevor sie verrückt geworden ist.“ Das konnte Simon ihm schlecht verdenken. Inzwischen wusste er ja, wie sehr Leron seine Mutter geliebt hat und wie nah ihm die Enthüllung über sie und ihre kaputte Psyche gegangen war. Ihm waren die ganze Zeit entweder nur Lügen oder Halbwahrheiten aufgetischt worden und wäre er an seiner Stelle gewesen, dann hätte er auch die Chance genutzt, um in ihrem Heimatort mehr über sie zu erfahren. „Na dann haben wir ja beide ein wichtiges Ziel für morgen. Und ich hoffe ehrlich, dass du was über sie in Erfahrung bringen kannst.“ Zuerst hatte Lotta mit dem Gedanken gespielt, wieder zu gehen und in ihrer Bibliothek nach dem Rechten zu sehen. Immerhin war jetzt alles Wichtige erledigt und es gab hier eigentlich nichts mehr für sie zu tun. Aber wo sie schon mal hier war, konnte sie doch zumindest einen ihrer Schützlinge besuchen gehen. Also ging sie zum Ostflügel und schritt die Flure entlang, bis sie das Behandlungszimmer erreichte. Sie klopfte kurz an und trat schließlich ein. Unbeeindruckt von dieser intensiven Geruchswolke trat sie näher und sah Melissandra wie immer an ihrem Arbeitsplatz sitzend und irgendwelche getrockneten Kräuter mit einem Mörser zerstoßen, bevor sie diese dann in ein separates Schälchen gab. Als die Tür zufiel, legte die Hippie-Ärztin den Stößel beiseite und drehte sich um. Ihre Augenbrauen hoben sich, als sie ihre Besucherin sah. „Lotta, was führt dich denn her? Hast du wieder einen Spezialauftrag für mich?“ „Dieses Mal nicht“, winkte die schwarzhaarige Schönheit ab und trat näher, wobei sie sich aufmerksam im Raum umsah. Dabei war sie schon so oft hier gewesen und kannte bereits jedes Regal in und auswendig. Aber aus irgendeinem Grund schien sie immer eine fast andächtige Faszination für dieses Zimmer zu hegen. „Ich habe nur jemanden hierher gebracht und wollte die Gelegenheit nutzen, um bei dir vorbeizuschauen. Und wie ich sehe, bist du wie immer sehr beschäftigt. Fleißig wie eh und je.“ „Die Arbeit einer Heilerin hört eben nie auf“, gab die Ärztin schmunzelnd zurück und begann nun aus den unzähligen Schälchen kleine Mengen zu nehmen, gab sie in ein mit Wasser gefülltes Reagenzglas und vermischte diese. „Und ohne dich wäre ich jetzt nicht auf diesem Level.“ „Ich habe dir nur die Hilfsmittel zur Hand gegeben. Alles andere hast du dir selbst erarbeitet“, erwiderte Lotta und lächelte. Doch Melissandra blieb dabei und erklärte „Du bist bescheiden wie immer. Dabei hast du mich doch damals aufgenommen, als ich nach meiner Geburt verstoßen wurde. Und jetzt tu mal nicht so, als wäre das nicht dein Plan gewesen, dass ich jetzt hier bin und Medizin für meine Patienten herstelle. Ich kenne dich schon mein ganzes Leben lang, da weiß ich so langsam, wie du tickst. Übrigens habe ich deinen anderen Schützling heute in meiner Sprechstunde gehabt. Ich glaube wir beide wissen, dass du hergekommen bist, weil es dich interessiert, wie es ihm inzwischen geht.“ „Du kennst mich tatsächlich gut“, gab die Frau mit den roten Augen ohne weiteres zu. „Wie macht er sich denn so? Was ist deine persönliche Einschätzung?“ „Er hat noch einen weiten Weg vor sich“, seufzte Melissandra und begann nun das Reagenzglas über einem Bunsenbrenner zu erhitzen. „Aber die Dinge brauchen immer ihre Zeit. Was mir Sorgen bereitet, ist seine Verbindung zu diesem Leron. Es ist nicht gut, dass er bei ihm bleibt, solange er nicht gefestigt ist. Ich befürchte, die Nähe dieses Mannes wird seinen Zustand entweder verschlimmern, oder einfach daran hindern, sich zu bessern. Ich habe ihm deshalb geraten, Abstand von diesem Mann zu halten. Vor allem weil dessen Familie eines der Kernprobleme ist. Aber ich fürchte, ich bin da nur auf taube Ohren gestoßen.“ „Du kannst nicht trennen, was unzertrennlich ist“, erklärte Lotta und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie lieben sich und werden einander nicht aufgeben. Und ich glaube, dass sie daran auch wachsen werden. Der Junge ist nicht so schwach wie du glaubst. Er wird kämpfen, aber er wird es nicht ohne den Mann tun, den er liebt.“ „Und genau das macht mir Sorge…“ Als die Flüssigkeit in dem Reagenzglas zu kochen begann, füllte Melissandra es in einen Erlenmeyerkolben, in welchem bereits eine gelbliche Essenz schwamm und vermischte beides, danach ließ sie es abkühlen. Sie schwieg eine Weile bevor sie ihre Bedenken näher erläuterte. „Ich halte es für nicht gesund, wenn die Bindung zwischen solchen zwei Menschen so stark ist. Vor allem nicht, wenn es sich um Witherfields und Cohans handeln. Es mag sein, dass sie sehr gut miteinander harmonieren, wenn beide Seiten positive Gefühle füreinander hegen. Aber es ist, als würde man Chlor und Säure mischen. Zwar kriegt man mit dieser Mischung alle Flecken weg, aber der giftige Dampf, der dabei entsteht, kann lebensgefährlich sein. So sehe ich das mit der Verbindung zwischen diesen beiden Familien. Du weißt genauso gut wie ich, wie schrecklich es enden kann, nur weil ein Cohan psychisch labil ist. Immerhin hat es deiner Schwester das Leben gekostet.“ „Aber nur weil ein Unglück passiert ist, bedeutet dies nicht, dass es für alle Paare dieser Art genauso gilt“, erklärte Lotta fest überzeugt von ihren Ansichten. „Und an meinem Glauben an die Unschuld meines Schwagers hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Natürlich hast du deine Zweifel weil du die Dinge aus der Sicht einer Medizinerin und Therapeutin siehst. Aber ich sehe die Dinge anders, weil ich auf meine Erfahrungen vertraue. Vielleicht wird es nicht einfach für die beiden werden. Es mag ja sein, dass sie durch ihre Entscheidung, zusammenzubleiben, noch einige Herausforderungen vor sich haben. Aber ich bin überzeugt, dass sie es schaffen werden. Das sagt mir sowohl meine Erfahrung als auch meine persönliche Menschenkenntnis. Du kannst Simon gerne anraten, sich von Leron fernzuhalten, wenn du es als das Beste für seine Gesundheit erachtest. Aber ich persönlich glaube, dass es für sie beide besser sein wird, wenn sie zusammen bleiben. Es heißt nicht umsonst, dass man nur an den Herausforderungen wächst.“ Kapitel 70: Treffen mit Rose ---------------------------- Am nächsten Morgen wachte Simon in Lerons Armen auf und glaubte zuerst, er würde noch träumen. Mit einem glücklichen Lächeln genoss er die Nähe seines Liebsten während dieser noch tief und fest schlief. Insgesamt schlief Leron wirklich sehr lange und so musste Simon zur Kräuterbadtherapie als dieser noch am schlafen war. Erst als er knapp eine halbe Stunde später zurückkam, war Leron aufgestanden und sah wesentlich besser aus als gestern. Zwar wirkte er immer noch nicht ganz erholt, aber zumindest hatte er nicht mehr so schlimme Ringe unter den Augen und war auch nicht mehr so blass. Gemeinsam gingen sie schließlich in den Speisesaal und trafen dort auch Hunter und Cypher an, die sich miteinander unterhielten. Sie gesellten sich direkt zu den beiden und wurden freudig begrüßt. Lediglich Hunter sprach kaum ein Wort und wirkte etwas bedrückt. Ob ihn die Sache mit der Panikattacke immer noch beschäftigte? Zuerst überlegte Simon, ihn darauf anzusprechen, entschied sich dann aber doch dagegen, denn er wollte dieses Thema nicht vor Leron besprechen. Der Ärmste machte sich ohnehin schon genug Sorgen. Also behielt er es lieber für sich und kam direkt auf das Thema zu sprechen, was ihn schon die ganze Zeit beschäftigte. „Wie spät sind wir eigentlich mit unserer Mutter verabredet?“ „Lass mich mal nachschauen…“ Cypher zückte sein Smartphone hervor und begann in seinen Terminkalender zu suchen. „Also hier steht, dass wir gegen Mittag zur Evergreen Farm fahren und uns dort mit ihr treffen. Diese liegt nahe dem Zentrum von Annatown und wir kommen dort ganz leicht mit dem Bus hin. Wir müssten nur einmal umsteigen. Und? Bist du schon aufgeregt?“ „Die ganze Zeit schon“, gestand Simon und wurde ein wenig rot. Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass er seine leibliche Mutter schon heute sehen würde und er begann sich zu fragen, wie sie wohl aussah. Er hatte sich das zwar schon oft gefragt, aber nie ein vollständiges Bild in seinem Kopf zusammenbekommen. Meistens stellte er sie sich als recht junge und hübsche Frau vor, mit strahlenden eisblauen Augen und einem liebevollen Lächeln. Aber im Grunde war es doch egal wie es aussah. Das Wichtigste war, dass er sie kennen lernen würde und dass ihr Treffen besser ablief als jenes mit Alan Henderson im Gefängnis. Simon spürte die Nervosität und hatte kaum Appetit. Leron seinerseits, der ohnehin nie Frühstück zu sich nahm, begnügte sich mit einer Tasse Kaffee und begann über die Verhandlungen zu erzählen, da auch Cypher interessiert war, wie es denn gelaufen war. Es war eine recht lockere Morgenrunde und sie hatten viel zu erzählen. Schließlich ging es aber wieder auf das vorherige Thema zurück und Cypher teilte seinen Kummer mit, wie sehr Hunter die Tatsache mitnahm, dass die Menschen in Annatown noch mehr Angst vor ihm hatten, als die Leute in New York. „Ernsthaft, ein paar von denen haben sofort die Straßenseite gewechselt, als sie uns gesehen haben“, seufzte er und verzog ein wenig verstimmt die Miene. „Ich habe zwar gehört, dass die Leute hier nicht so gut auf Cohans zu sprechen sind, aber das ist doch nun echt zu viel.“ „Ich glaube, so schnell kann man Misstrauen und Angst nicht loswerden“, vermutete Simon und begann sein Brot mit Honig zu bestreichen. „Immerhin haben die Cohans seit Jahrhunderten ein schlechtes Image. Ich glaube, das hier ist fast schon wie Rassismus.“ „Mir tut’s aber trotzdem so leid für Hunter, vor allem weil ihm das immer so zu Herzen geht“, seufzte Cypher und nahm Hunters Hand und hielt sie fest. „Und ich möchte ihn hier auch nicht alleine lassen. Aber sich in der Pension zu verbarrikadieren ist auch keine Lösung. Tja, ehrlich gesagt bin ich gerade ratlos.“ Simon, der genauso unsicher war was sie tun sollten, schaute kurz zu Leron, der seinerseits nachzudenken begann. Für einen Moment überlegte er, ob er ihn fragen sollte, ob er nicht den Tag mit Hunter verbringen könnte, aber Leron hatte bereits wichtige Pläne und er wollte nicht dazwischenfunken. Also kam er mit einer anderen Idee. „Wie wäre es wenn Hunter mit uns geht? Also ich habe nichts dagegen, wenn er uns begleitet.“ „Wirklich? Das wäre klasse!“ Man brauchte kein Genie zu sein um zu erkennen, dass Cypher bereits mit dieser Idee gespielt hatte. Wahrscheinlich hatte er es nicht angesprochen, weil dieser Vorfall mit der Panikattacke offenbar Spuren hinterlassen hatte. Er hätte ihn vielleicht darauf angesprochen, doch da Leron anwesend war und er diesen nicht weiter beunruhigen wollte, schwieg er lieber dazu und wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Ansonsten war die Stimmung ein wenig merkwürdig. Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber es kam ihm so vor, als würde irgendetwas in der Luft hängen. Als wollte jeder irgendein Thema anschneiden und es einzig aus dem Grund nicht tun, weil es entweder unpassend war oder weil man die Stimmung nicht ruinieren wollte. Und irgendwie fand niemand von ihnen ein interessantes Gesprächsthema. Erst Leron gelang es, diese seltsame Stille zu beenden und eine Konversation zu beginnen. Er kam wieder auf das gestrige Thema zurück, dass es das Beste wäre, die Villa zu verkaufen. „Ich habe mir alles noch mal durch den Kopf gehen lassen und würde heute gerne schon mal erste Informationen einholen, ob es hier in dieser Stadt noch Häuser zu kaufen gibt. Natürlich werden diese Häuser nicht denselben Lebensstil bieten können wie die Villa in New York, aber die Lage ist wirklich schön und vor allem können wir uns eine lange Auszeit gönnen. Aber trotzdem möchte ich schon mal anfangen zu planen.“ Seine nussfarbenen Augen mit dem leicht grünlichen Schimmer wanderten zu Simon und ein liebevolles und charmantes Lächeln spielte sich auf seine Lippen. „Mir ist es vor allem wichtig, dass du dich genauso zuhause fühlst. Und deswegen möchte ich, dass du mir Bescheid sagst, wenn du irgendwelche besonderen Wünsche hast. Egal ob für das neue Haus in Annatown oder die neue Villa in New York. Es soll ja immerhin unser Zuhause werden.“ Wünsche? Irgendwie fiel es Simon gerade schwer, sich zu überlegen, was er denn wirklich haben wollte. In der Villa war ja schon alles Mögliche vorhanden gewesen und es war schwer vorstellbar, dass Leron auf diesen Luxus wirklich verzichten würde. Aber was genau wollte er denn eigentlich haben? Im Grunde brauchte er nicht wirklich viel. Unsicher zuckte er mit den Schultern und murmelte „Also ehrlich gesagt bin ich mir noch nicht so wirklich sicher. Ich finde es schon schön in deiner Villa. Nur… also…“ „Nur was?“ hakte Leron nach und ließ nicht locker. „Was genau stört dich?“ „Als ich damals zu dir gekommen bin, was sie irgendwie sehr unpersönlich eingerichtet. So als wärst du gerade erst dort eingezogen.“ „Ja, mit Einrichtung habe ich es nicht so“, gestand der Milliardär. „Und ich habe nie großartig was machen lassen, außer halt dem Keller.“ „Hm…“ Simon überlegte und versuchte irgendetwas zu finden, was er sich persönlich wünschen würde. Er hatte nämlich das Gefühl, dass Leron vorher nicht locker lassen würde. Schließlich kam ihm eine Idee. „Das klingt jetzt vielleicht ein wenig dämlich, aber… wenn ich meine Kräuterbadtherapie habe, finde ich es immer total entspannend und schön. Ich finde diesen Misch aus Naturgestein und Pflanzen wirklich toll. Ich weiß auch nicht wie ich das beschreiben soll… Mit solchen Dingen habe ich mich auch nie wirklich beschäftigt. Und ansonsten habe ich halt nicht viele Ansprüche. Ich glaube der einzige Wunsch, den ich wirklich hätte, wäre eine Badewanne.“ Leron seufzte als ihm klar wurde, dass er nicht mehr Informationen von Simon bekommen würde. Aber etwas anderes hätte er auch nicht wirklich von ihm erwartet. Immerhin war dieser ein relativ anspruchsloser Mensch, der sich mit dem zufrieden gab, was man ihm anbot. Und genau darin lag das Problem. Wenn man ihm die Möglichkeit bot, ihm seine Wünsche zu erfüllen und ihm etwas Gutes zu tun, dann kam meistens nicht viel an Vorschlägen und Ideen. Aber zumindest hatte er schon mal erste hilfreiche Informationen mit denen er schon mal ein wenig anfangen konnte. Den Rest würden dann schon andere Leute für ihn übernehmen. Cypher, der an diesem Gespräch sichtlich interessiert war, hatte erst nur zugehört, kam dann aber mit einer eigenen Idee an. „Wenn euch beiden die Ideen fehlen, schaut euch doch einfach mal ein paar Bilder im Internet an. Ich persönlich schau manchmal gerne bei Pinterest rein, wenn ich ein paar Ideen zur Innenausstattung brauche. Ich bin mir sicher, da ist auch was für euch dabei. Also ich finde ja, dass nichts mehr Spaß macht als Inneneinrichtung… außer Sex natürlich.“ Simon verschluckte sich fast an seinem Tee, als sein Bruder diesen Kommentar fallen ließ und selbst Leron musste schmunzeln. Damit war die Stimmung wieder gelockert und sie unterhielten sich noch eine Weile gemeinsam, bis die Frühstückszeit vorbei war. Simon und Leron verbrachten noch ein wenig Zeit miteinander, bis es an der Zeit war, getrennte Wege zu gehen. Da das Wetter heute außerordentlich kühl war und es verdächtig nach Regen aussah, zog Simon vorsichtshalber einen wärmeren Mantel an und nahm einen Regenschirm mit. Er traf sich mit Cypher und Hunter in der Eingangshalle nahe dem Empfang und sah, wie sein älterer Bruder gerade telefonierte. Cypher hatte eine dunkelrote Lederjacke an, die perfekt zu ihm passte, während Hunter mit seinem schwarzen Kapuzenmantel und seinem düsteren Blick noch unheimlicher wirkte als ohnehin schon. Als er zu ihnen stieß, war Cypher gerade mit Telefonieren fertig und steckte sein Handy in die Tasche. „Hey Simon!“ grüßte der Künstler ihn überschwänglich. „Es gibt eine kleine Planänderung. Unser Anschlussbus am Stadtzentrum fährt wohl nicht. Ich hatte gerade einen Anruf von unserer Mutter bekommen und sie meinte, dass die Strecke momentan noch gesperrt ist. Scott wird uns am Bahnhof abholen und uns zur Farm fahren.“ „Scott?“ fragte Simon stirnrunzelnd und konnte zuerst nichts mit dem Namen anfangen, obwohl er irgendwie vertraut klang. Cypher klärte ihn schnell auf. „Er ist der Ehemann unserer Mutter. Scheint ein recht cooler Typ zu sein, zumindest klang er am Telefon so. Und? Bist du bereit?“ Ein klein wenig unsicher und vor allem extrem nervös nickte Simon und folgte den beiden nach draußen. Sie gingen zu einer Bushaltestelle ein paar Minuten von der Pension entfernt und fuhren zum Zentrum von Annatown. Der Bahnhof war ziemlich klein und einfach gehalten. Insgesamt gab es nur zwei Gleise. Dennoch war überraschend viel los. Insgeheim fragte Simon sich, wie sie diesen Scott denn finden sollten wenn hier so viele Leute waren. Doch wie sich herausstellte, war auch daran bereits gedacht worden, denn es war vereinbart worden, dass sie sich an einer alten Telefonzelle in der Nähe des Eingangs trafen. Dort wartete auch schon ein hagerer Mann von knapp 1,80m auf sie. Sein dunkelblondes Haar war kurz geschnitten und er hatte einen Stoppelbart. Er war vielleicht 42 Jahre alt und hatte eine ruhige Ausstrahlung, als würde ihn nichts wirklich aus dem Konzept bringen. Als sie zu ihm gingen, reichte er ihnen zum Gruß die Hand und lächelte freundlich. „Hallo, ihr müsst Hunter, Cypher und Simon zu sein. Ich bin Scott, freut mich sehr!“ Er grüßte jeden von ihnen mit einem kräftigen Händedruck und führte sie dann zu seinem Wagen. Es war ein schwarzer SUV Geländewagen, der noch relativ neu aussah. Sie stiegen alle ein und fuhren aus dem Stadtzentrum heraus auf eine Landstraße, bis sie schließlich die Evergreen Farm erreichten. Es war eine weitläufige malerische Farm mit Gemüsefeldern, einer Weide mit Pferden und Kühen und Simon konnte auch Schafe entdecken. Der Wagen fuhr den Kiesweg entlang bis zum Farmhaus und parkte vor der Garage. Sie stiegen aus und die drei folgten Scott die Treppen hinauf zur Veranda und dann hinein ins Haus und hatten nicht die Zeit und Möglichkeit, sich großartig umzusehen. Das Farmhaus selbst war sehr groß und weitläufig und obwohl durchaus zu erkennen war, dass hier einige Modernisierungen vorgenommen worden waren, war dennoch zu erkennen, dass das Haus an sich schon recht alt war. Kaum dass die Tür hinter ihnen zufiel, konnten sie schon laute Stimmen aus dem oberen Stockwerk hören. Scott nahm ihnen die Jacken ab und führte sie im Anschluss ins Wohnzimmer, welches erstaunlich groß war und genug Platz für eine ausgelassene Teenager-Hausparty geboten hätte. Es gab zwei Kamine mit vielen Fotos auf den Simsen und mehrere Ledersofen. Scott wies sie mit einer Handbewegung, sich zu setzen. „Ich gehe eben Rose und die Kinder holen, damit ihr sie bei der Gelegenheit auch kennen lernen könnt.“ Mit einem vor Aufregung hüpfendem Herzen setzte sich Simon neben seinen Bruder und hatte das Gefühl, wie unter Strom zu stehen. Es war jeden Augenblick soweit. Dann würde er endlich seine Mutter sehen. Und dann auch noch die anderen Kinder. Ob sie auch allesamt Pflegekinder waren wie Daniel? Oder konnte es sein, dass er noch weitere Geschwister hatte? Er konnte im Flur Stimmen hören und es folgte leises Gepolter von oben. Wenig später wurde die Wohnzimmertür geöffnet und Scott mit vier Teenagern herein, die vom Aussehen her nicht unterschiedlicher hätten sein können. Einen von ihnen erkannte Simon sofort als Daniel wieder, der vom Körperbau auch der Größte war. Er grüßte die Besucher gut gelaunt und stellte sich Cypher und Hunter namentlich vor. Ihm folgte ein wenig zu dünn und kurz geratener schwarzhaariger Junge, der ein klein wenig verträumt und abgelenkt wirkte, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. Er trug schwarze Kleidung und hatte ein rotes und ein türkisfarbenes Auge und er hatte ein sehr androgyn wirkendes Gesicht. Sein Name war Raven Crowley und war genauso wie Daniel ein Pflegekind. Die anderen beiden waren ein munter wirkender Junge mit kariertem Hemd und Baseballmütze namens Andy Gilbert, der halb Cohan und halb Wyatt war. Das einzige Mädchen in der Runde war Larissa Winter, halb Ronove und halb Kinsley. Sie hatte schwarze Locken und trug esoterisch angehauchte Kleidung wodurch sie Simon unfreiwillig ein wenig an Melissandra erinnerte. Nachdem sich die Pflegekinder kurz vorgestellt hatten, gingen sie schnell wieder, denn es gab jemanden, der den Besuch dringender sprechen wollte. Als sich alle wieder zur Tür herausgedrängelt hatten, kam nun Rose selbst ins Wohnzimmer. Simon verschlug es die Sprache als er sie endlich persönlich sah und er konnte nicht glauben, dass sie genauso aussah, wie er sie sich vorgestellt hatte. Rose war eine knapp 1,74m große Frau von 39 Jahren, die sich ihre Jugend hervorragend bewahrt hatte. Sie hatte weiche und schmale Gesichtszüge, strahlend blaue Augen und ihr goldblondes Haar fiel über ihre Schultern. Ihr Lächeln hatte etwas sehr Mütterliches und Herzliches und so Ehrliches. Sie trug eine etwas schlichte Bluse und eine einfache Jeans und trug ein Tablett mit selbst gebackenem Zitronenkuchen. „Entschuldigt bitte die Hektik gerade eben“, entschuldigte sie sich sofort und stellte das Tablett auf dem Tisch ab. „Ich freue mich so sehr, euch endlich persönlich kennen lernen zu dürfen und endlich eure Gesichter zu sehen.“ Simon, dem es immer noch so vorkam, als wäre dies nur ein Traum, schnürte es die Brust zu und für einen Moment wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Vor ihm stand wirklich seine Mutter. Doch was sollte er nun tun? Ihr einfach die Hand zum Gruß reichen? Sie umarmen? Was nun? Er fühlte sich in diesem Augenblick heillos überfordert und war wie erstarrt. Schließlich war es Rose, die den ersten Schritt machte und ihn in ihre Arme schloss und ihn umarmte. Immer noch erstarrt, dieses Mal aber vor Erstaunen, spürte Simon, wie ihn ein wunderbares Gefühl der Geborgenheit überkam, ähnlich wie bei Leron, aber dennoch anders. Es steckte etwas so liebevolles und zärtliches in dieser Umarmung und er fragte sich, ob sich so vielleicht die Umarmung einer Mutter anfühlte. Schließlich löste sich Rose von ihm und grüßte auch Cypher mit einer Umarmung. Hunter grüßte sie mit einer weniger innigen, aber trotzdem herzlichen Umarmung und setzte sich schließlich und verteilte an jedem ein Stück Kuchen und schenkte Kaffee und Tee ein. „Also dann erzählt mal, wer von euch ist Cypher und Simon?“ „Ich bin Cypher“, meldete sich der Künstler, der in allerberster Stimmung zu sein schien. Selbst Hunter, der für gewöhnlich immer so finster drein blickte, schien wesentlich entspannter zu wirken. Er schien sogar ein klein wenig verlegen zu sein, dass auch er umarmt worden war obwohl er gar nicht zur Familie gehörte. „Der Kleine hier ist mein jüngerer Bruder Simon und der Große hier ist mein Freund Hunter. Ich wollte ihn nicht alleine lassen, deswegen dachte ich, es wäre in Ordnung wenn er auch mitkommt.“ „Dein Freund?“ fragte Rose überrascht und goss sich etwas Milch in den Kaffee und schaute mit ihren eisblauen Augen zu Hunter. Sie wirkte nicht im Geringsten eingeschüchtert von seiner Erscheinung, höchstens neugierig. „Also Freund wie in einer festen Beziehung oder platonische Freunde?“ „Wir sind seit sechs Jahren ein festes Paar“, verkündete der Künstler stolz und nahm Hunters Hand und hielt sie fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. „Wir beide arbeiten gemeinsam im Kunstgewerbe und haben uns alles, was wir jetzt haben, auch gemeinsam aufgebaut.“ „Das ist ja schön!“ rief Rose und strahlte. „Da freue ich mich ja, dass ihr zwei in einer so glücklichen Beziehung seid. Und was ist mit dir Simon? Was machst du denn so zurzeit?“ Das war die Frage, vor der sich Simon insgeheim gefürchtet hatte. Zwar hatte er sich schon oft darüber den Kopf zerbrochen, was er sagen sollte und mit der Angst zu kämpfen gehabt, seine Mutter würde schlecht von ihm denken wenn sie die Wahrheit wusste. Insgeheim hatte er ja gehofft gehabt, dass ihm dieser Augenblick erspart bleiben würde, aber natürlich war es anders gekommen. Und nun musste er sich irgendetwas einfallen lassen. Lügen konnte er ja schlecht. Aber die Wahrheit sagen konnte er genauso wenig. Also was sollte er am besten sagen? „Naja…“, murmelte er etwas verhalten. „Ich hatte nicht sonderlich viel Glück gehabt. Wegen eines Gendefekts, den Cypher und ich von unserem biologischen Vater geerbt haben, hatte ich keine Chancen auf einen Job oder eine Ausbildung. Also habe ich versucht, mir irgendwie Geld zu verdienen um über die Runden zu kommen und eine Augenbehandlung zu bezahlen. Ich hatte schließlich Glück, als Leron mir einen Job anbot und sich bereit erklärte, die Behandlung zu finanzieren, damit ich ein normales Leben führen kann.“ Das Lächeln schwand aus Roses Gesicht und ihr Blick wurde ernst. „Wie… wie hast du dein Geld verdient? Doch nicht etwa mit Drogen?“ „Nein!“ rief Simon sofort und machte abwehrende Handbewegungen. „Mit Drogen habe ich nichts am Hut. Nein, ich bin… naja… ich habe… anderes gemacht. So was wie Escort-Service.“ „Du hast deinen Körper für Geld verkauft“, schlussfolgerte Rose sofort und Simon wurde klar, dass es unmöglich war, ihr etwas vorzumachen. Sie hatte schon sofort verstanden gehabt, worauf er anspielen wollte und kam direkt auf den Punkt. Beschämt senkte Simon den Blick und sagte nichts. Am liebsten wäre er im Boden versunken und hätte sich nie wieder blicken lassen. Auch Rose senkte den Blick und war sichtlich betrübt. „Es muss wirklich schwer gewesen sein, so etwas zu tun. Im Grunde genommen habe ich genau dasselbe gemacht, wenn auch aus wesentlich dümmeren Gründen. Ich kann verstehen, dass du nicht darüber sprechen magst. So etwas ist auch nichts, worauf man stolz sein kann. Aber… wenn man sich in einer Notlage befindet, dann ist man gewillt, seinen Stolz aufzugeben und gewisse Dinge zu tun. Ich habe diese Dinge damals zugelassen, weil ich unbedingt berühmt werden wollte und auf keinen Fall auf dem Land versauern wollte wie meine Familie. Und letzten Endes war es auch mein Stolz gewesen, der mich davon abgehalten hat, früh genug die Notbremse zu ziehen. Natürlich kann ich nicht gutheißen, was du da tust. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht verstehen kann, warum du das tust. Aber du brauchst dich nicht vor mir zu schämen, Simon. Verkaufst du dich immer noch an andere Leute?“ Der 21-jährige schüttelte den Kopf, konnte seiner Mutter aber immer noch nicht ins Gesicht sehen. „Nein, ich bin vom Straßenstrich weg. Leron hat mich quasi von dort weggeholt und mir auf die Beine geholfen. Und wenn ich hier mit meiner Behandlung fertig bin, möchte ich mir dann auch einen anständigen Job suchen.“ „Dieser Leron scheint dir wirklich zu helfen. Steht ihr euch nahe?“ Simon spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen und er errötete. Verlegen nickte er und gestand „Leron und ich sind seit einiger Zeit in einer festen Beziehung.“ Und nach einer kurzen Pause murmelte er noch etwas unbeholfen „Ich hoffe das ist kein Problem für dich.“ Hier musste Rose ungläubig schmunzeln, als sie diese letzte Bemerkung hörte. Sie schnappte sich nun eine Gabel und begann von ihrem Stück Zitronenkuchen zu essen. Die anderen widmeten sich nun auch ihrem Stück. Simon aß einen Bissen und stellte fest, dass der Kuchen wirklich ausgezeichnet schmeckte. Selbst die Zuckerglasur hatte eine zitronige Note, ohne sauer zu schmecken. Schließlich erklärte Rose „Es spielt doch keine Rolle, ob man nun Mann oder Frau liebt. Wichtig ist doch, dass ihr glücklich mit dem Menschen seid, den ihr liebt. Ihr seid erwachsene Menschen und trefft eure Entscheidungen für euer eigenes Leben. Ich persönlich habe kein Problem damit, ob ihr Männer oder Frauen liebt. Was zählt ist, dass euch eure Partner glücklich machen. Und eine glückliche Beziehung ist das wertvollste Geschenk. Gleich nach Kindern. Als ich zwei Jahre nach dem Unfall aus dem Koma aufgewacht und in meine Heimatstadt zurückgekehrt bin, dachte ich, dass ich niemals in meinem Leben jemals eine glückliche Beziehung führen kann und dass mich niemals ein Mann wirklich lieben wird. Dann habe ich Scott kennen gelernt und ihn geheiratet. Und dann hatten wir auch unser erstes gemeinsames Kind.“ „Ihr habt ein Kind zusammen?“ fragte Cypher überrascht. „Wir hatten gerade nur eure Pflegekinder kennen gelernt.“ „Faith ist nicht hier und übernachtet bei einer Freundin“, erklärte Rose. „Eigentlich hatte ich ihm gesagt gehabt, dass ihr heute kommt. Aber Faith hatte sich schon so sehr darauf gefreut, da habe ich doch schließlich ja gesagt. Naja, Faiths eigentlicher Name ist Rowan. Aber seit er für sich erkannt hat, dass er sich als Mädchen wohler fühlt, möchte er nur noch Faith genannt werden. Er ist inzwischen 13 Jahre alt und damit in der kritischen Teenagerphase.“ Das bedeutet, ich habe noch einen jüngeren Halbbruder, schoss es Simon durch den Kopf. Und er war ein klein wenig enttäuscht darüber, dass er ihn nicht kennen lernen konnte. Aber vielleicht hatte er ja noch die Chance, ihn kennen zu lernen. Erst einmal brannte ihm eine andere Frage unter den Nägeln. „Was genau ist eigentlich nach dem Unfall passiert und wie hast du Scott kennen gelernt?“ Mit einem etwas nachdenklichen „Hm“ lehnte sich Rose zurück und trank noch einen Schluck Kaffee. Dabei legte sie eine Hand auf ihr rechtes Knie und ein fast traurig wirkendes Lächeln lag auf ihren Lippen. Es war der Ausdruck einer Frau, die einen langen Leidensweg bestreiten musste, um endlich zu ihrem wirklichen Glück zu finden. „Es sind viele Dinge passiert, nachdem ich angefahren wurde. Ich lag zwei Jahre lang im Koma in einem New Yorker Krankenhaus und als ich endlich aufgewacht bin, war mein Leben – gelinde ausgedrückt – ein kompletter Scherbenhaufen. Ich hatte zwei Jahre meines Lebens verloren und ich musste eine lange Reha über mich ergehen lassen. Einmal weil ich aufgrund der langen Bewegungslosigkeit viel an Muskelmasse verloren hatte und weil ich noch mehr verloren habe als das…“ Rose stellte ihre Tasse auf dem Tisch ab, beugte sich vor und begann nun ihr rechtes Hosenbein hochzukrempeln. Zuerst dachte sich Simon nichts Besonderes dabei und rechnete erst nur mit einer alten Narbe einer Operation. Doch zu seinem Schock kam kein Bein zum Vorschein, sondern eine Prothese. Und nun verstand er, was Rose damit gemeint hatte, dass sich ihr Leben so schlagartig geändert hatte und alles ein Scherbenhaufen gewesen war. Der Unfall hatte sie ihr rechtes Bein gekostet. „Als ich damals im Krankenhaus aufwachte, war es so, als würde ich einfach nur aus einer kurzen Ohnmacht aufwachen“, begann Rose zu erzählen. „Mir fehlten jegliche Erinnerungen an den Unfall selbst und ich war verwirrt, warum ich im Krankenhaus lag. Ich sah meine Mutter und meine Geschwister am Bett stehen und wunderte mich, wie sie so schnell nach New York gekommen waren. Dann erfuhr ich, dass zwei Jahre vergangen waren, seit ich das Bewusstsein verloren hatte. Und umso größer war der Schock für mich, dass ich plötzlich kein rechtes Bein mehr hatte. Ich war verwirrt und verängstigt. Da meine Familie es für das Beste hielt, mich nach Hause zu holen, wurde ich schließlich ins Backwater Krankenhaus verlegt und begann dort meine Reha. Ich hatte mich zutiefst geschämt und mich nicht getraut, meinen Eltern von den Dingen in New York zu erzählen. Letzten Endes wussten sie aber alles schon und sie hatten sich nach der Gerichtsverhandlung scheiden lassen, weil meine Mutter meinem Vater nicht verzeihen konnte, dass er mir die Schuld für die Dinge gab, die mir passiert waren. Obwohl sich in Annatown selbst nicht viel verändert hatte seit ich fortgegangen war, hatte ich dennoch das Gefühl gehabt, als wäre ich in einer fremden Welt. Alles erschien mir wie ein bizarrer Traum und ich war so angewidert von mir selbst und was aus mir geworden war. Mein Zustand hatte sich immer weiter verschlechtert und so kam ich in Lottas Pension. Es war für mich unglaublich stressig, die Therapie in der Pension und den Rehasport durchzuziehen. Meistens habe ich meinen Frust an dem Kerl ausgelassen, der gerade erst seine Ausbildung zum Physiotherapeuten machte. Er hat alles geduldig über sich ergehen lassen und war trotzdem immer lieb und freundlich zu mir und hat sich meine Probleme angehört. Er war sehr sympathisch und ich mochte seine ruhige Art. Und schließlich, als ich meine letzte Sitzung bei ihm hatte, fragte er mich nach einem Date. So hat es mit mir und Scott angefangen.“ „Ah, das ist eine schöne Liebesgeschichte“, begann Cypher zu schwärmen. „Zwar hat die Geschichte einen tragischen Anfang, aber zumindest ein schönes Ende.“ „Das kann man so sagen“, stimmte Rose zu und schmunzelte. „Jedoch hatte es fast zwei Jahre gedauert, bis ich körperlich und seelisch wieder einigermaßen gefestigt war. Scott und ich waren inzwischen ein festes Paar und ich erzählte ihn von meiner Zeit in New York und meinen Kindern. Ich wollte euch unbedingt wiedersehen, also unterstützte Scott mich dabei, mit den New Yorker Behörden Kontakt aufzunehmen und nach euch zu suchen. Unglücklicherweise hatte ich seit meinem Unfall Gedächtnislücken und konnte mich nicht mehr erinnern, wo ich mein erstes Kind abgegeben hatte. Ich ging davon aus, dass ich ihn irgendwo in einem Waisenhaus abgegeben haben musste und fragte überall nach, aber nirgendwo konnte man mir weiterhelfen. Und mit meinem zweiten Kind war es umso schwieriger. Immerhin galt es seit dem Unfall als verschwunden und Alan hatte ausgesagt, er habe es getötet. Und so schwanden meine Chancen immer weiter, euch zu finden. Ich suchte weiter und hatte bald alle Waisenhäuser zwei Mal abgesucht und nichts gefunden. Und je mehr Zeit verging, desto schwieriger wurde es auch, weiterhin nach brauchbaren Spuren zu suchen. Ich machte mir immer schlimmere Vorwürfe und glaubte, nicht genug zu suchen. Ich wollte schon nach New York zurückfliegen und persönlich nach euch suchen. Scott kam schließlich mit der Idee an, dass wir Pflegekinder aufnehmen sollten, damit ich mich nicht völlig in meiner Besessenheit verliere. Nebenbei waren wir auch noch beschäftigt damit, die Farm zu managen und unser eigenes Kind großzuziehen.“ Eine Weile lang herrschte Stille und die beiden Brüder brauchten eine Weile, um diese Informationen sacken zu lassen. Sie hatten mit einigem gerechnet, aber dass der Unfall damals so verheerend gewesen war, hätten sie nicht erwartet. Während Simon noch ein wenig geschockt von der Tatsache war, dass seine Mutter in solch jungem Alter ein Bein verloren hatte, war Cypher wiederum außerordentlich interessiert und wollte sich die Prothese genauer ansehen. „Sag mal, kannst du mit der Prothese auch Auto fahren?“ „Tatsächlich ja!“ bestätigte Rose und krempelte ihr Hosenbein weiter hoch, um ihrem älteren Sohn einen genauen Blick auf ihre Prothese gewähren zu können. „Allerdings nur mit einem Automatikwagen. Somit kann ich mit meinem noch vorhandenen Bein problemlos Auto fahren. Ich kann auch Joggen, Tanzen und Fahrrad fahren. Mit der Prothese bin ich genauso gut unterwegs wie mit einem richtigen Bein. Es sieht nur halt gewöhnungsbedürftig aus. Hey, ich habe eine Idee. Ich habe noch irgendwo ein altes Familienalbum mit Fotos von mir und meiner Familie. Wenn ihr Lust habt, zeige ich es euch.“ Und wie konnten sie da nein sagen? Also ging Rose ihr Familienalbum holen und wenig später gesellte sich noch Scott dazu und es wurde eine wunderbare lockere Runde, bei der viele Anekdoten erzählt wurden. Es war ein wunderbares Gefühl und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, endlich Teil einer Familie zu sein. Kapitel 71: Die Zeitzeugin -------------------------- Der Himmel hatte sich deutlich verdüstert und auch der Wind hatte an Stärke zugenommen. Es war kühl und so hatte Leron seinen Mantel angezogen und war mit einem Regenschirm ausgerüstet mit dem Taxi in Richtung Wheatford aufgebrochen, wo früher einst die Farm der Familie seiner Mutter gewesen war. Zwar erhoffte er sich nicht allzu viel denn er wusste, dass die Farm damals niedergebrannt wurde und der klägliche Rest der Ruine nach dem Tod seines Onkels Nigel vollkommen verfallen war. Das Einzige, was er höchstwahrscheinlich vorfinden würde, waren nur ein paar Überreste. Aber dennoch wollte er zumindest seine Neugier befriedigen und sich den Ort ansehen, an dem seine Mutter damals aufgewachsen war. Der Taxifahrer, der sich als zuvorkommender und recht redseliger Mensch erwies, hielt während der Fahrt kurzen Smalltalk mit ihm und gab ihm den Tipp, noch bis zum Erntedankfest zu bleiben, da dies eines der wichtigsten Ereignisse von Annatown war. Doch sonderlich interessiert war Leron nicht. Bevor er sich irgendwelchen anderen Dingen widmen konnte, wollte er erst das von seiner Liste abhaken, weswegen er überhaupt ins Taxi gestiegen war. Nach einer knapp viertelstündigen Fahrt hatten sie Wheatford erreicht und wie sich herausstellte, war der Ort noch ländlicher und abgelegen als Leron erwartet hatte. Zwar gab es eine Art Stadtzentrum, welches sich jedoch nur aus einer Hauptstraße mit ein paar kleinen Lädchen, Cafés und einem Brauhaus zusammensetzte, aber ansonsten gab es sonst nur große Weizen-, Mais- und Kohlfelder. Es wirkte wie ein kleines Bauernkaff und man merkte auch an der Luft und an den Leuten, dass man hier noch sehr ländlich lebte. Er sah sogar einen Planwagen mit zwei Amischen. „Hier gibt es Amische?“ fragte er überrascht. Der Taxifahrer lachte, als hätte er einen lustigen Witz gehört. „Natürlich! Nicht weit vom Dorf gibt es eine amische Gemeinde und oft kommen ein paar von denen her, um Handel zu betreiben. Man muss sie halt nehmen wie sie sind, aber sie sind im Grunde ganz in Ordnung. Und wundern Sie sich nicht, wenn hier teilweise Deutsch gesprochen wird. Das ist hier auch recht üblich.“ Der Wagen fuhr die Hauptstraße an den kleinen Geschäften vorbei, bis sie das Dorf hinter sich gelassen hatten und an einer Schule vorbeikamen. Es dauerte nicht lange, bis sie dann endlich den Ort erreicht hatten, wo früher die Farm gestanden hatte. Da Leron nicht vorhatte, so schnell wieder zurückzufahren, bezahlte er den Taxifahrer und lief das letzte Stück zu Fuß. Das Gelände der alten Cohan-Farm war von einem alten und etwas reparierbedürftigen Zaun eingegrenzt, doch ansonsten war von einer Farm oder von einer verkohlten, geschweige denn verfallenen Ruine nichts zu sehen. Stattdessen waren überall Blumen gepflanzt, es gab einen kleinen Kräutergarten und sogar ein kleines Gewächshaus. Holzskulpturen zierten die Beete und es wirkte wie eine Mischung aus einem Garten und einer Art Kunstausstellung unter freiem Himmel. Ein kleines Häuschen stand, umgeben von großen Hortensiensträuchern, inmitten dieses Gartens. Es sah mehr aus wie eine Laube und Leron fragte sich, wer wohl der Eigentümer war. Da es kein Tor geschweige denn irgendwo eine Klingel gab, sah er sich alles etwas näher an und fragte sich, wer denn auf die Idee gekommen war, ausgerechnet an solch einem Ort Blumen- und Gemüsebeete anzulegen. Zumindest sah es bei weitem nicht so deprimierend aus, wie er zunächst befürchtet hatte. „Hey, das ist Privatgrundstück!“ Abrupt blieb er stehen und drehte sich um. Eine Frau von knapp 37 Jahren kam auf ihn zu. Es war jedoch auf dem ersten Blick nicht ganz ersichtlich, ob sie auch wirklich eine Frau war, denn der kurze Haarschnitt und das androgyne Erscheinungsbild ließen auf dem ersten Blick Zweifel offen. Aber die Stimme selbst gehörte eindeutig zu einer Frau. Sie trug Overall Jeans, ein weißes Shirt und Handschuhe. Offenbar war sie woanders mit Gartenarbeit beschäftigt gewesen. Ihre Augen hatten eine türkisfarbene Iris und wirkten sehr temperamentvoll. „Entschuldigung, ich wollte keinen Landfriedensbruch begehen“, entschuldigte Leron sich hastig. „Meine Mutter hat hier früher auf einer Farm gelebt und die wollte ich mir mal ansehen. Ich wusste nicht, dass das Grundstück inzwischen längst verkauft wurde.“ Mit einem prüfenden und leicht misstrauischen Blick beäugte die Frau ihn und zog ihre Gartenhandschuhe aus. „Sie gehören zur Cohan-Familie?“ fragte sie nach. „Im Grunde ja“, bestätigte Leron und reichte ihr die Hand zum Gruß. Zuerst sah es nicht danach aus, als würde die Frau diesen Gruß erwidern, aber dann tat sie es doch und drückte ihm die Hand. Obwohl ihre Miene misstrauisch blieb, schien sie nicht abweisend zu wirken. Höchstens vorsichtig. „Mein Name ist Leron Evans, ich selbst bin hier nicht geboren. Meine Mutter Katherine Cohan ist hier damals auf der Farm aufgewachsen und hat dort gelebt, bevor sie nach New York zog. Ich wollte mir deshalb mal ihre Heimatstadt ansehen.“ „Jenna Brightside“, stellte sich die Frau vor. „Meine Mutter hat vor ein paar Jahren das Grundstück hier gekauft, als die letzten Besitzer der Farm verstarben. Ich habe nie wirklich verstanden, warum sie unbedingt dieses Grundstück haben wollte. Kein Mensch wäre je auf den Trichter gekommen, hier irgendetwas zu bauen bei all den Dingen, die sich hier ereignet haben. Wenn Sie mehr wissen wollen, kann Ihnen meine Mutter vielleicht weiterhelfen. Sie ist noch momentan auf dem Friedhof, aber sie wird bald kommen. Wenn Sie wollen, können Sie hier auf sie warten. Wollen Sie was zu trinken?“ Gerne nahm Leron das Angebot an und folgte Miss Brightside in das kleine Haus, das sich als eine bewohnbare Gartenlaube herausstellte. Es gab eine kleine Kochstelle, einen Kühlschrank und eine gemütliche Sitzecke. So wartete er bei einer Tasse Kaffee. Es dauerte knapp eine halbe Stunde, vielleicht auch etwas länger, bis sich die Tür der Gartenlaube öffnete und eine rüstige Dame von vielleicht 70 Jahren hereinkam. Ihr aschgraues Haar hatte sie elegant frisiert und sie trug goldene Ohrringe. Sie erinnerte Leron unfreiwillig an Helen Mirren, jedoch wirkte die alte Dame nicht sonderlich weiblich, sondern besaß das gleiche androgyne Erscheinungsbild wie ihre Tochter. Sie trug eine Bluse und einen knielangen Rock und hatte eine Handtasche bei sich, die sie mit beiden Händen umklammert hielt, als wollte sie diese benutzen, um sie jemanden auf den Kopf zu schlagen. Ihre Augen hatten dieselbe Farbe wie die ihrer Tochter und den gleichen temperamentvollen Ausdruck. Stirnrunzelnd beäugte sie den unerwarteten Besuch und schaute dann zu ihrer Tochter, die gerade neuen Kaffee aufsetzte. „Hast du schon wieder irgendwelchen Männerbesuch, Jenna?“ fragte die alte Dame leicht vorwurfsvoll. „Ich dachte, wir hätten letztens darüber gesprochen.“ „Mum!“ rief Miss Brightside protestierend. „Das hier ist ein Besucher. Mr. Evans sagt, seine Mutter hat hier früher auf der alten Cohan-Farm gelebt und möchte mehr darüber wissen. Ich habe ihm angeboten zu warten, weil du ja für gewöhnlich immer alle möglichen Geschichten kennst.“ Die alte Dame stutzte und schaute nun zu Leron. Ihre Augen weiteten sich und sie war so erstaunt, dass sie sich erst einmal setzen musste. „Mein Gott“, murmelte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. „Man sieht Ihnen wirklich an, dass Sie nach Ihrer Mutter kommen. Ach ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Mein Name ist Molly Brightside.“ „Leron Evans“, stellte sich Leron seinerseits vor. „Dann kennen Sie meine Mutter also?“ „Das ist schon ziemlich lange her“, gestand die alte Dame und nahm legte ihre Handtasche auf dem Boden ab und faltete ihre Hände auf dem Tisch. „Katherine und ich sind damals zusammen zur Schule gegangen. Wir waren aber in verschiedenen Klassen. Ich weiß noch, dass sie oft abseits vom Pausenhof ganz alleine da saß und die Kinder beim Spielen beobachtete. Und dann waren noch die Kinsley-Jungs, die sie immer wieder gehänselt haben. Mir hat sie leid getan und so haben wir oft die Pausen zusammen verbracht. Sie kam oft mit blauen Flecken zur Schule und es war kein Geheimnis, dass ihr Vater ein gewalttätiger Säufer war. Die ganze Gemeinde wusste es und selbst die Kinder haben es mitgekriegt, wenn die Erwachsenen getratscht haben. Ja, so ist das auf dem Land. Jeder kennt hier jeden und so kennt man auch alle Gerüchte und Geheimnisse.“ „Und wie war ihre Familie so?“ „Sie waren allesamt verrückt“, erklärte die alte Dame mit schonungsloser Direktheit. „Die Mutter ist einer Sekte beigetreten und hat sich selbst auf einem Scheiterhaufen verbrannt und der Vater war wie gesagt ein Säufer, der seine Familie geschlagen hat. Und das war nicht das Einzige was er getan hat. Sein Sohn Nigel hat ihm alle Ehre gemacht. Als er alt genug war, wollte der die Farm wieder aufbauen und Tiere halten. Aber das einzige, was je bei ihm unterm Messer lag, waren Frauen. 10 Frauen hat er gefoltert und zerstückelt. Und Tabitha, die jüngste Schwester, trat der gleichen Sekte wie ihre Mutter bei und verbrannte ihre eigenen Kinder auf dem Scheiterhaufen. Später wurde sie mit 30 Axthieben von ihrem eigenen Sohn Jackson getötet, der die grausame Hinrichtung überlebte. Sein Bruder Darren starb jedoch. Katherine war bereits mit 14 oder 15 Jahren von Zuhause weggelaufen und seitdem hat niemand mehr etwas von ihr gehört. War ohnehin besser so. Was sich hier abgespielt hat, kann sich nicht einmal Hollywood ausdenken.“ Leron atmete geräuschvoll aus als er diese kurze Zusammenfassung dieser Horrorgeschichte hörte. Natürlich war er darauf gefasst gewesen, dass ihn eine ziemlich düstere Geschichte erwartete, aber trotzdem war das ziemlich harter Tobak. „Und wie lange waren Sie mit meiner Mutter befreundet?“ „Nicht lange“, gab Molly zu und seufzte betrübt. „Als meine Eltern von unserer Freundschaft erfahren hatten, wurde mir gesagt, ich solle den Kontakt zu Katherine abbrechen. Ich war damals zehn oder elf Jahre alt und meine Mutter hatte mir nicht die genauen Gründe genannt, aber sie hat mir zu verstehen gegeben, dass Katherine und ihre Familie gefährlich waren. Also bin ich ihr danach aus dem Weg gegangen und habe sie ignoriert. Rückblickend mache ich mir wirklich Vorwürfe, dass ich nicht zu ihr gehalten habe, aber… alle hatten Angst vor den Cohans, insbesondere vor ihrem Vater. Und meine Mutter wollte mich nur vor diesen Leuten beschützen. Ich habe versucht, den Kontakt wiederherzustellen, als wir älter waren, aber der Schaden war bereits angerichtet und Katherine konnte mir nicht vergeben. Tja… dann war da noch diese Sache…“ Hier begann Molly herumzudrucksen und es war offensichtlich, dass sie etwas wusste, was sie nicht aussprechen wollte. Doch Leron wurde umso neugieriger und wollte wissen, was Sache war und hakte weiter nach. Es dauerte aber, bis die alte Dame sich dazu durchringen konnte, es zu erzählen. „Der Tod ihrer Mutter war schon traumatisch genug. Aber… da war noch etwas anderes, das sie verändert hat. Ich habe nicht mehr mit ihr gesprochen und nur aus der Ferne zugesehen. Manchmal hat sie Selbstgespräche geführt und ins Leere gestarrt als wäre sie ganz woanders. Und als sie 13 oder 14 Jahre alt war, hatte sie einen Schwangerschaftsbauch. Man konnte sich bereits denken wer ihr diesen Braten in die Röhre geschoben hat und derlei Geschichten waren bei den Cohans nichts Neues. Also war es kein großes Geheimnis, was da bei ihr Zuhause passierte. Eines Tages fehlte sie in der Schule und ich vermute, dass sie entweder von ihrem geisteskranken Vater zuhause festgehalten oder wieder mal verprügelt und ins Krankenhaus gebracht wurde. Während wir alle in der Schule waren, kam dann die Meldung dass die Farm ihrer Familie in Flammen stand. Gefunden wurde nur eine einzige Leiche, nämlich die ihres Vaters. Wenig später fand man zwei Kinsley-Jungs, die Katherine schon seit der ersten Klasse das Leben schwer gemacht hatten, grausam ermordet.“ „Glauben Sie, dass Katherine für das Feuer verantwortlich war und diese beiden Jungen getötet hat?“ „Da sind sich alle hier einig. Ich glaube aber weniger, dass sie im Sinn hatte, die gesamte Farm niederzubrennen. Ich gehe eher davon aus, dass sie einfach ihren Vater loswerden wollte. Verdient hatte er es alle Male. Ein gewalttätiger Säufer, Vergewaltiger und Mörder war er.“ Leron brauchte nicht wirklich lange um eins und eins zusammenzuzählen, wer seine Mutter damals geschwängert hatte. Und so langsam hatte er das Gefühl, als würde sich allmählich der Kreis schließen. Dennoch war es kaum zu glauben, dass seine Mutter diese Tortur so lange durchgehalten hatte und immer noch halbwegs bei Verstand bleiben konnte. Im Vergleich zu dieser Geschichte war seine eigene Kindheit ein harmloser Spaziergang. Schließlich war es Molly, die nun begann, Fragen zu stellen. „Wie ist es Katherine eigentlich ergangen? Hat sie wenigstens in New York ein besseres Leben gehabt?“ „Wie man’s nimmt“, antwortete Leron schulterzuckend. „Sie hat meinen Vater an der Uni kennen gelernt, aber die Ehe selbst war eine Katastrophe. Er war ein ziemlich misogynistischer Narzisst, weshalb sich ihr Zustand nur verschlimmert hat. Man muss ihr aber zugute heißen, dass sie mich und meine Brüder niemals geschlagen oder angeschrien hat. Sie war uns immer eine liebevolle Mutter gewesen. Vor knapp 25 Jahren ist sie dann an Krebs verstorben. Dass sie psychisch krank war und Menschen getötet hat, das habe ich erst vor kurzem erfahren.“ „Das Leben hat es nicht wirklich gut mit ihr gemeint…“ murmelte Molly und seufzte. „Ich habe sie, nachdem sie damals verschwunden ist, ein einziges Mal wiedergesehen. Ich glaube, zu dem Zeitpunkt war sie vielleicht 26 oder 27 Jahre alt gewesen und sie war obendrein schwanger gewesen. Sie wollte wahrscheinlich den Kontakt zu ihrer Schwester wiederherstellen, die sie damals zurückgelassen hatte. Sie hatten sich schon damals nahe gestanden. Aber… Katherine blieb nicht lange. Wer kann es ihr verübeln? Ihre kleine Schwester ist einer Sekte von Fanatikern beigetreten, die ihre Mutter dazu gebracht haben, sich selbst auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Und Tabitha hatte schon immer unter Nigel zu leiden. Dieser geisteskranke Verrückte war noch schlimmer als sein Vater und das zu steigern, hat schon an ein Wunder gegrenzt. Der Vater hatte seine Familie misshandelt und war ein Säufer, Nigel hingegen war ein Frauenmörder. Und Tabitha hat ihre eigenen Kinder verbrannt.“ „Und wie ging es ihr, als sie damals nach Annatown zurückgekehrt ist?“ hakte Leron weiter nach. Hier musste Molly etwas länger nachdenken, denn immerhin war es bereits über 40 Jahre her und sie konnte sich nicht an jedes Detail erinnern. „Ich habe sie damals in der Stadt getroffen. Und sie war wirklich hübsch, das musste man ihr lassen. Aber man hat gemerkt, dass sie Annatown entwachsen war. Sie hatte sich so an das Großstadtleben gewöhnt, dass sie nicht mehr nach Annatown gepasst hat. Ganz zu schweigen davon, dass sie als Cohan nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurde. Ich glaube auch, dass sie nicht vorhatte, hier zu bleiben. Aber Sie sagten, dass Katherine an der Universität studiert hat, richtig?“ Leron nickte und überrascht runzelte die alte Dame die Stirn. „Also da bin ich sprachlos. Na, wenigstens hat sie versucht, etwas aus ihrem Leben zu machen und sie hatte Kinder, so wie sie es sich gewünscht hatte. Aber jetzt mal zu Ihnen: entschuldigen Sie, wenn ich etwas direkt bin, aber Sie scheinen nicht so verrückt zu sein wie der Rest der Familie.“ „Ich nehme das mal als Kompliment“, meinte Leron und lachte, auch wenn es eher gezwungen klang. „Nun, um ehrlich zu sein habe ich viel zu viel zu verlieren, als dass ich es mir leisten könnte, vollkommen wahnsinnig zu werden. Außerdem habe ich meiner Mutter damals versprochen, dass ich nicht dieselben Fehler mache wie sie.“ „Ein sehr kluger Entschluss“, stimmte die alte Dame zu und nickte. Etwas Wehmütiges lag in ihren türkisfarbenen Augen und es lag so etwas wie Reue und Kummer darin. „Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, junger Mann: hören Sie besser auf damit, alte Leichen auszugraben. Sie wurden vor langer Zeit begraben und sind längst verrottet. Alles, was Sie finden werden, ist nur Tod und Schmerz. Was bringt es denn schon, immer weiter in der Vergangenheit zu graben? Davon wird Katherine auch nicht mehr lebendig. Schauen Sie nach vorne, anstatt sich mit Dämonen herumzuschlagen. Die Stadt ist ohnehin schon voll davon. Und Ihre Mutter hätte so etwas auch nicht gewollt.“ Dämonen? Nun, das war in der Tat eine passende Bezeichnung für die Narben der Vergangenheit, die ihn so lange verfolgt hatten. Wie lange hatte er gebraucht, um über die Misshandlung und den Missbrauch durch seine älteren Brüder und die Kaltherzigkeit seines Vaters hinwegzukommen? Und nun, da er sich endlich von all diesen Lasten befreit hatte, beschäftigte er sich mit der Vergangenheit seiner geisteskranken Mutter. Im Grunde war das Einzige, was er tat, sich die Probleme von jemand anderem aufzubürden. Vielleicht war es wirklich vernünftiger, wenn er diese Geschichte einfach ruhen ließ und sich auf sein eigenes Leben konzentrierte. Was sollte es ihm schon bringen, wenn er noch weiter in seiner Familiengeschichte herumstocherte? Im Grunde würde er nur weitere unangenehme Kapitel ausgraben. Er wusste nun, wer seine Mutter wirklich war und was sie zu den Dingen getrieben hatte, die sie getan hatte. Das Einzige, was er jetzt tun konnte war, dass er nicht dieselben Fehler machte wie sie oder wie der Rest ihrer Familie. Seine Mutter hatte ihre Dämonen nicht loslassen können und sie hatten sie bis zu ihrem Tod verfolgt und ihren Verstand zerfressen. Das Gleiche durfte nicht mit ihm passieren. „Ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch und die Informationen, Mrs. Brightside. Ich habe jetzt alles erfahren, was ich wissen wollte.“ „Nichts zu danken“, erwiderte die alte Dame und winkte ab. „Es ist zumindest tröstlich zu wissen, dass wenigstens einer aus dieser Familie nicht völlig dem Wahnsinn verfallen ist.“ Nun, so wirklich konnte er das nicht von sich behaupten. Er hatte den Wahnsinn der Cohans geerbt, so wie sein ältester Bruder. Der einzige Unterschied war, dass er sich in Behandlung begeben hatte. Der Einzige, der wirklich frei von diesem Fluch war, das war sein Bruder Jordan gewesen. Und dieser war genau nach seinem Vater gekommen. Was hatte er denn schon geerbt? Den Wahnsinn seiner Mutter? Vielleicht war es aber auch ihre Fähigkeit, Liebe und Fürsorge zu empfinden trotz aller Dinge, die passiert waren. Sie hatte ihre Kinder gehabt und sie hatte jahrelang gegen ihren eigenen Wahnsinn gekämpft um sie zu beschützen. Nicht nur vor Menschen, die vermeintlich etwas Böses wollten, sondern auch vor ihr selbst. Und er hatte das Gleiche getan. Er hatte gegen seine Halluzinationen angekämpft um Simon zu beschützen. In der Hinsicht kam er wirklich nach ihr. Und jetzt war es an der Zeit, die Vergangenheit ein für alle Male ruhen zu lassen. Simon brauchte ihn jetzt mehr denn je und es war an ihm, eine Stütze für den Jungen zu sein und ihm all die Hilfe zu geben, die er brauchte. Es war genug passiert und Simon durfte nicht noch weiter mit all diesen Dingen belastet werden, die in erster Linie nicht mal sein Problem waren. Nachdem er sich von Molly Brightside und ihrer Tochter verabschiedet hatte, verließ er die Gartenlaube und machte einen kleinen Spaziergang. Inzwischen hatte sich der Himmel deutlich verdüstert und es begann in der Ferne zu donnern. Ein kalter Wind wehte und die Luft war frisch und klar. Es war ein merklicher Unterschied zu der stickigen Stadtluft von New York. Zugegeben, das Landleben an sich empfand er als etwas stumpfsinnig und er vermisste ein wenig seine Stadt in der es so ziemlich alles gab. Hier, in diesen kleinen Städtchen, musste man sich mit einfachen Dingen begnügen und das war nicht wirklich das, was er von Zuhause aus gewohnt war. Aber andererseits war dies auch die Art von Abstand die er momentan brauchte. Es musste ja nicht für immer sein. Nur solange sich die Wogen geglättet hatten und bis es Simon wieder besser ging. Wie es ihm wohl gerade ging? Ob das Treffen mit seiner Mutter so verlief wie er es sich erhofft hatte? Nun, mit Sicherheit würde er es noch heute Abend erfahren wenn Simon wieder zurückkam. Für heute würde er sich erst einmal ein wenig ausruhen. Auch wenn er es erfolgreich vor dem Jungen verheimlichen konnte, war er so ziemlich am Ende seiner Kräfte. Er war müde und erschöpft, selbst wenn er länger schlief als gewöhnlich. Der ganze Stress und die Belastungen waren einfach zu viel geworden. Simons Zustand, die Auseinandersetzungen mit seinem Vater, der Verkauf des Konzerns… all diese Dinge waren äußerst nervenaufreibend gewesen und er war froh, wenn er sich endlich mal davon erholen konnte. Fernab von New York, weit weg von allem, was ihn an seine Brüder und seinen Vater erinnerte. Auch wenn das Landleben nicht wirklich das war, was er sich für den Rest seines Lebens vorstellte, erschien es ihm wie eine hervorragende Gelegenheit um sich auf das zu konzentrieren, was wichtig war. Da es in Wheatford nicht viel Sehenswertes gab und es ohnehin eher ein kleines Dörfchen als eine Stadt war, beschloss Leron, wieder in Richtung Islesbury zurückzufahren. So wie er mitbekommen hatte, gab es in den anderen Ortsteilen ohnehin nicht viel zu sehen. Und so wie er den Eindruck hatte, lebten die Orte mehr von ihren Horrorgeschichten und Legenden als von irgendwelchen Attraktionen. Backwater hatte das große Feuer und die Legende eines Geistermädchens, Wheatford hatte eine angebliche besessene Vogelscheuche, Arkala rachsüchtige Geister. Und Hallow Grove, welches sogar noch kleiner und unbedeutender war als Wheatford, hatte ein angebliches „Grauen“, das im Brunnen einer alten Wassermühle hauste. Im Grunde war Islesbury die einzige Stadt, die frei von irgendwelchen Spukgeschichten war und Leron war sich auch sicher, den Grund dafür zu kennen: weil Islesbury keine Märchengeschichten und Legenden brauchte, um interessant zu sein. Es war eine moderne Stadt, die im Hier und Jetzt lebte. Der einzige Unterschied war, dass die Leute dieser Stadt trotzdem an diese Schauergeschichten glaubten, so als hätten sie sie selbst miterlebt. Und wirklich jeder schien sie in allen Details zu kennen. Nun, vielleicht machte dies das Leben auf dem Land aus und man musste die Leute einfach so nehmen wie sie waren. Leron hatte noch nie an diese ganzen Legenden und Schauermärchen geglaubt und war überzeugt, dass es für alles eine vernünftige Erklärung gab. Nur bei Lotta und diesem durchgeknallten Azarias war er sich da nicht ganz so sicher. Diese beiden Zeitgenossen waren ihm ein Rätsel und er fragte sich, was es mit ihnen wohl auf sich hatte. Wie konnte diese Frau nur so jung aussehen, wenn sie seine Mutter schon von klein auf gekannt hatte? Und wie hatte sie es geschafft, seinen Vater dazu zu bringen, die ganze Wahrheit zu gestehen? Woher hatte dieser Spinner Azarias gewusst, dass er über Simons Erzeuger Bescheid gewusst hatte? Nun, er konnte vielleicht vieles mit Lügen oder Bluffs erklären, doch das erschien ihm wenig überzeugend. Diese Stadt hatte durchaus ein paar Merkwürdigkeiten, anders konnte man es nicht beschreiben. Und es würde garantiert eine Weile dauern, bis er sich daran gewöhnt hatte. Schließlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen als plötzlich sein Handy zu klingeln begann. Im ersten Moment befürchtete er schon fast, es könnte wieder sein Vater sein und er war drauf und dran, das Klingeln zu ignorieren. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass er seinen Vater geblockt hatte. Sowohl auf dem Festnetz als auch auf dem Handy. Also schaute er nach, wer sich denn meldete und da sah er mit Überraschung und auch leichter Besorgnis, dass es Simon war. Zuerst befürchtete er, dass etwas passiert war und er nahm sofort den Anruf an. „Simon, was ist los? Ist alles in Ordnung bei dir?“ „Sorry wenn ich störe“, kam es vom anderen Ende von dem 21-jährigen zurück, der offenbar ein schlechtes Gewissen hatte, dass er ihn angerufen hatte. „Ich hoffe, ich störe dich gerade nicht.“ „Nein, überhaupt nicht“, beschwichtigte der Milliardär ihn sofort und wurde unruhig, denn er befürchtete instinktiv schon das nächste Unglück herannahen. „Ist etwas nicht in Ordnung bei dir?“ „Nein“, alles bestens!“ erwiderte Simon und klang, als hätte er ziemlich gute Laune. Erleichtert atmete Leron aus und spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Wann war es das letzte Mal, dass der Junge so gut gelaunt klang? Es schien eine gefühlte Ewigkeit her zu sein. „Wir wollten nachher zu einem kleinen Familientreffen gehen, weil unsere Mutter uns dem Rest der Familie vorstellen will. Und sie wollte dich dabei auch gerne kennen lernen. Wir fahren gleich zum Café Amber Garden, sollen wir dich abholen?“ „Nein, schon gut. Ich fahre mit dem Taxi.“ Ein kleines Familientreffen? Nun, das klang doch interessant. Dann würde er gleich Simons Mutter persönlich kennen lernen und vermutlich noch andere Verwandte. Zugegeben, er war neugierig und natürlich interessierte es ihn, was aus ihr geworden war nach allem, was sie so durchgemacht hatte. Zumindest schien es den Eindruck zu machen, als wäre die Rückkehr in ihre Heimatstadt die beste Entscheidung für sie gewesen. Und Simons Stimme am Telefon nach zu urteilen schien sie ihre verlorenen Söhne mit offenen Armen aufgenommen zu haben. Als er so darüber nachdachte, da fühlte er sich in seinem Entschluss umso sicherer: in Annatown zu bleiben war die beste Entscheidung! Und auch wenn das Landleben vielleicht nicht so abwechslungsreich war wie in New York, diese Abgeschiedenheit und Ruhe tat sicherlich auch ihrer Beziehung gut. Kapitel 72: Das Familientreffen ------------------------------- Das Gewitter war mit einem Schlag über Annatown hereingebrochen und es goss wie in Strömen. Es schien, als würde der Weltuntergang kurz bevorstehen und Simon befürchtete schon, sie könnten jeden Moment einen Autounfall bauen. Da nicht alle von ihnen in Scotts Geländewagen hineinpassten, waren sie gezwungen gewesen, sich auf zwei Autos aufzuteilen. Also fuhren Cypher und Hunter mit dem Geländewagen während Simon mit Rose fuhr. Zuerst war er nicht sonderlich überzeugt, ob sie mit der Beinprothese wirklich so gut fahren konnte, doch wie sich schnell herausstellte, war sie eine ziemlich gute Fahrerin und bekam es wirklich gut mit dem Automatikgetriebe hin. Dennoch schien sie ein klein wenig beunruhigt zu sein, als sie den düsteren wolkenverhangenen Himmel betrachtete. „Ausgerechnet heute muss es regnen…“, murmelte sie und fuhr nun vom Hof. „Na hoffentlich bekommt Mum keine Probleme mit dem Rheuma.“ Es war wirklich ein Sauwetter und allein das Donnern in der Ferne reichte aus um Simon nur noch nervöser zu machen. Zwar wollte er seiner Mutter nichts unterstellen, aber es war ihm wesentlich wohler zumute, bei strömendem Regen irgendwo sicher im Trockenen zu sitzen und nicht unbedingt in einem Auto. Aber daran war jetzt halt nichts zu ändern. Immerhin hatten sie sich etwas vorgenommen und er wollte sich nur ungern drücken. „Ähm… wo genau fahren wir noch mal hin?“ fragte er zögerlich, denn Rose hatte nicht wirklich viele Informationen gegeben. Nachdem sie ein paar Familienfotos gesichtet hatten, da hatte die Farmerin auch schon verkündet, dass sie ins Café Amber Garden zu einem kleinen Familientreffen fahren würden. Und dabei hatte sie Simon auch gefragt, ob er nicht Leron mitbringen wollte. So hätte sie auch die Chance, seinen Freund kennen zu lernen. Rose, die sich auf die Straße konzentrieren musste, schaltete die Scheibenwischer ein und schwieg einen Moment. Sie folgte dem Geländewagen mit dem ihr Mann unterwegs war, fuhr aber deutlich langsamer, wohl aus Sorge dass sie sonst einen Unfall verursachen könnte. Schließlich, als sie auf die Hauptstraße abgebogen war, antwortete sie. „Wir fahren ins Café Amber Garden, dort arbeiten meine Nichte und ihr Freund. Und Mum hat dafür nicht so einen weiten Weg. So lernt ihr auch den Rest meiner kleinen Familie kennen.“ Der Regen wurde immer stärker und es sah stark danach aus, als würde es noch zu einem regelrechten Gewitter werden. In der Ferne donnerte es und Simon wurde sichtlich nervöser. Na hoffentlich schafften sie es überhaupt dort hin. „Wie groß ist deine Familie eigentlich?“ fragte er schließlich um sich irgendwie abzulenken. „Streng genommen ziemlich groß“, antwortete Rose ein wenig geistesabwesend, während sie sich auf den Verkehr konzentrierte. Scotts Geländewagen fuhr direkt vor ihnen und war auch langsamer geworden als der Regen stärker wurde. „Aber wirklich Kontakt habe ich nur zu einem begrenzten Teil der Familie. Da wären meine Mum, meine Nichte und mein Neffe, der Freund meiner Nichte und das war es eigentlich. Zum Rest der Verwandtschaft habe ich eher kaum Kontakt aber man sieht sich halt bei den offiziellen Familientreffen, damit man sich zumindest vom Sehen her kennt.“ Klang nach einem ziemlich kleinen Familienkreis, mit dem Rose engen Kontakt hatte. Vom Vater schien wohl keine Rede zu sein, aber er hatte noch im Hinterkopf, dass sich ihre Eltern hatten scheiden lassen, als sie zur Reha nach Annatown geholt worden war. Klang danach als hätte sie nicht gerade das beste Verhältnis zu ihm. Nun ja, er hatte ihr ja auch die Schuld für alles gegeben, was ihr in New York zugestoßen war, weil sie damals von Zuhause weggelaufen war. Da war es kein Wunder, dass sie nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen war. Und dann war da noch diese merkwürdige Tatsache, dass sie zu ihrer Nichte und ihrem Neffen Kontakt hatte, aber nicht zu deren Eltern. Ob das einen bestimmten Grund hatte? „Wie viele Geschwister hast du eigentlich?“ „Einen Bruder und zwei Schwestern“, kam es von Rose. „Mein Bruder Seth arbeitet als Stationsarzt in der Backwater Klinik und meine Schwester Eden ist seit Jahren auf Weltreise und so gut wie nie zuhause. Und meine andere Schwester Serenity starb vor vielen Jahren zusammen mit ihrem Mann bei einem Verkehrsunfall. Danach hat sich meine Mutter Grace um ihre Kinder gekümmert.“ „Oh…“ Simon wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Aber ihn überkam das unangenehme Gefühl, als wäre er ein gewaltiges Fettnäpfchen getreten. Etwas nervös kratzte er sich hinterm Ohr und überlegte, was er dazu sagen sollte. „Tut… tut mir leid.“ „Das muss es nicht. Es ist immerhin schon fast 20 Jahre her und diese alten Wunden sind schon lange verheilt. Also mach dir mal keine Gedanken deswegen. Es wird gleich sicherlich lustig werden und ich bin schon gespannt darauf, deinen Freund kennen zu lernen. Wie ist er denn eigentlich so?“ Damit hatte Rose geschickt das Thema gewechselt und das Gespräch auf etwas weniger düsteres gewechselt. Simon starrte ein wenig gedankenverloren aus dem Fenster und beobachtete, wie die Regentropfen an die Scheibe prasselten und auf ihrem Weg kleine Rinnsale hinterließen, ehe sie völlig aus seinem Sichtfeld verschwanden oder mit anderen Regentropfen zusammenschmolzen. „Leron ist jemand, der wirklich hart arbeitet und viel zu kämpfen hat. Trotzdem schafft er es immer wieder, die Stärke zu finden, für mich da zu sein und mir zu helfen. Ganz egal wie unfair ich manchmal zu ihm bin. Er kann auf der einen Seite aufbrausend und emotional sein, auf der anderen Seite schafft er es, mir gegenüber immer die Kontrolle zu wahren und meistens das Richtige zu tun. Und obwohl er immer so stark und unbezwingbar wirkt, kann er trotzdem sehr zerbrechlich sein. Ich habe noch nie einen Menschen in meinem Leben getroffen, der so lieben kann wie er, auch wenn er mich manchmal ein wenig zu sehr bemuttert.“ „Klingt danach, als wäre es die ganz große Liebe“, schlussfolgerte Rose schmunzelnd. „Wie alt ist dein Freund eigentlich?“ Hier wurde Simon ein klein wenig verlegen. „Er ist zehn Jahre älter als ich.“ Stille trat ein. Nur ein leises „Oh“ kam von Rose und ihr war anzumerken, dass sie zwar mit einem gewissen Altersunterschied gerechnet hatte, aber nicht mit einem derart großen. Natürlich konnte Simon das verstehen. Wenn man es runterrechnete, war er nicht einmal geboren, als Leron bereits zehn Jahre alt war. Natürlich wirkte das seltsam. Dennoch fühlte sich diese Reaktion sehr unangenehm an. „Ist das ein Problem?“ fragte er schließlich und schaute zu seiner Mutter. Diese schüttelte den Kopf und sagte sofort „Nein, überhaupt nicht. Es kommt halt nur etwas überraschend. Solange du glücklich bist, ist es doch egal, wie groß der Altersunterschied ist. Und so wie es sich anhört, scheint dich Leron sehr zu lieben. Und das ist es doch letzten Endes, was wirklich zählt.“ Vielleicht erinnert es sie ja auch zu sehr an ihre Zeit in New York, dachte Simon und musste wieder an seinen Vater denken, der wesentlich älter zu sein schien als sie. Verdammt, mindestens 20 Jahre waren auf jeden Fall zwischen den beiden. Und sie hatte zwei Kinder mit diesem Mann. Natürlich war es für sie etwas ganz anderes… Es dauerte aufgrund des schweren Unwetters etwas länger, bis sie endlich das Amber Garden erreichten. Das Café entpuppte sich als eine Mischung aus Restaurant und Konditorei, wo man gut essen konnte, sich aber auch zu Kaffee und Kuchen treffen konnte. Es war zwei Stockwerke groß und während im Erdgeschoss Süßwaren, Backwaren und Konfitüren verkauft wurden und man sich zu einer Tasse Kaffee hinsetzen konnte, gab es in der oberen Etage warme Küche. Das Amber Garden Café war trotz des Wetters ziemlich gut besucht und wirklich alle Tische waren besetzt. Auch an der Ladentheke im Erdgeschoss standen die Leute Schlange. Anscheinend war es ein ziemlich beliebter Treffpunkt in Islesbury. Und insgeheim konnte Simon auch verstehen warum. Allein die kunstvoll dekorierten Torten und Kuchen sahen einladend aus und es roch herrlich nach süßen Backwaren. Und wenn sie nur halb so gut schmeckten wie sie aussahen, dann würde er auch öfter herkommen. Es gab aber nicht nur Backwaren. Selbst Schokolade, Pralinen, kandierte Früchte und selbstgemachte Konfitüren konnte man hier kaufen. Die Wände waren cremefarben und hatten kunstvolle und dezente Barockmuster. An den Wänden hingen Bilder mit wunderschönen Landschaften und das ganze Ambiente wirkte trotz des großen Kundenverkehrs ruhig, warm und zeitlos. Und durch die vielen Bilder mit all den Gärten und blühenden Landschaften und den Blumendekorationen ließ sich auch ein Thema wiedererkennen, das auch zum Namen des Cafés passte. Nachdem die beiden Fahrgemeinschaften am Eingang wieder zusammengefunden hatten, ging Rose vor und betrat als Erste das Café. Sie ging zielstrebig zu eine der Kellnerinnen hin, die ganz im Stil des Rockabilly gekleidet war und aufgrund ihrer sehr geringen Körpergröße extrem jung wirkte. Sie wirkte ziemlich niedlich, auch wenn sie mit Sicherheit wesentlich älter war als sie überhaupt aussah. Sie begrüßte Rose und Scott mit einer herzlichen Umarmung und musste sich dabei auf die Zehenspitzen stellen. Offenbar schien sie die beiden ziemlich gut zu kennen. Nachdem sie auch die anderen begrüßt und sich als Amy vorgestellt hatte, drehte sie sich um und führte die kleine Gruppe nicht die Treppe rauf, sondern einmal quer durch den Laden im Erdgeschoss und führte sie zu einer Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift „Geschlossene Gesellschaft“ hing. Amy öffnete diese und daraufhin traten Rose und Scott ein. Simon, Cypher und Hunter folgten ihnen und betraten einen überraschend großen und gemütlichen Raum, der vermutlich für kleinere private Veranstaltungen genutzt wurde. Am anderen Ende gab es eine große Fensterfront, die den Innenhofgarten zeigte. Zwar war es ein wenig düster und der Regen verlieh dem Ganzen ein etwas deprimierendes Aussehen. Aber Simon konnte sich ziemlich gut vorstellen, dass es an sonnigeren Tagen mit Sicherheit wunderschön aussah. Es gab einen kleinen Teich, einen Kräutergarten und sogar ein Gewächshaus, in welchem Tomaten und Gurken gezüchtet wurden. Er konnte sogar ein Beet ausfindig machen, wo Salat wuchs. Der Raum selbst war dezent aber trotzdem schön eingerichtet und hatte dieselben cremefarbenen Tapeten mit Barockmuster. An den Wänden hingen Leinwände mit Blumenmotiven und verliehen dem Raum ein wenig Farbe. An einem Tisch in der Mitte des Raumes saßen bereits vier Leute. Eine alte Dame mit einem etwas strengem Blick und ergrautem Haar, welches sie kunstvoll frisiert hatte, saß am Kopfende des Tisches und wirkte wie eine unerschrockene Matriarchin. Sie trug einen hellblauen Blazer und dazu einen gleichfarbigen knielangen Rock. Ihr Gesicht hatte etwas, das Simon unfreiwillig an Beatrice Arthur von den Golden Girls erinnerte. An der linken Seite saß eine junge blondhaarige Frau von vielleicht 26 oder 27 Jahren, die einen Rosenkranz mit Rosenquarzperlen um den Hals trug und einen gutmütigen aber auch ein wenig naiven Eindruck machte. Sie war sehr hübsch und hatte eine warmherzige Ausstrahlung, was man von ihrem Tischnachbarn nicht gerade sagen konnte. Dieser hatte schulterlanges rotbraunes Haar, trug Piercings im Gesicht und seine gelbgrünen Augen wirkten genauso verschlossen wie Hunters. Doch sie hatten nicht denselben finsteren Blick, der ihn wie einen potentiellen Mörder aussehen ließ. Stattdessen wirkten sie sehr trübsinnig, als würde ihn irgendetwas bekümmern. Er hatte gewisse Ähnlichkeiten mit Azarias und Simon fragte sich, ob sie vielleicht verwandt sein könnten. Was außerdem auffiel, war seine Größe. Auch wenn er gerade saß, wirkte er deutlich größer als alle anderen am Tisch. Gegenüber von ihnen saß jemand, den Simon sofort wiedererkannte. Es war dieser rätselhafte Albinojunge, den er an der Villa von Lerons Vater getroffen hatte. Er saß glücklich lächelnd da und wirkte wie das blühende Leben. Irgendetwas an ihm wirkte so fremdartig und faszinierend zugleich. Als würde er ein inneres Licht ausstrahlen, das den ganzen Raum erfüllte. Rose ging freudestrahlend zu ihrer Familie hin und gab jedem von ihnen eine liebevolle Umarmung zur Begrüßung, Scott war vergleichsweise ein klein wenig zurückhaltender aber das mochte an seiner ruhigen Art liegen. Schließlich verkündete Rose, die übers ganze Gesicht strahlte als wäre dies der glücklichste Tag ihres Lebens: „Das hier sind meine beiden Söhne Simon und Cypher und sein Freund Hunter. So und nun möchte ich euch den Rest meiner Familie vorstellen: meine Mutter Grace, meine Nichte Charity, ihr Freund Jesse und mein Neffe Elion.“ „Schön dich wiederzusehen“, sagte der Albinojunge sofort und grüßte Simon fröhlich lächelnd. „Wir hatten uns ja bereits in New York kennen gelernt.“ „Was?!“ kam es erstaunt von der kleinen Tischrunde. Das Staunen und die Verwunderung waren groß und es gab ein kleines Durcheinander. Denn auf der einen Seite wollte die Familie Roses Söhne kennen lernen aber auf der anderen Seite war die Neugier zu der Geschichte in New York ebenso groß. Und letzten Endes konnte sich keiner so wirklich entscheiden, was denn nun zuerst folgen sollte. Es trat aber schnell wieder Ordnung ein als Grace dazwischen ging und sagte „Erst die Begrüßung, dann der Rest! Wir sind hier bei einem Familientreffen und nicht im Zirkus!“ Schließlich erhob sich die alte Dame von ihrem Stuhl und ging zu den dreien hin. Sie musterte ihre Enkel eindringlich, so als wollte sie feststellen, ob diese auch wirklich mit ihr verwandt waren. Als sie Simon beäugte, lächelte sie zufrieden und klopfte ihm auf die Schulter. „Du kommst ganz nach deiner Mutter. Nur die Haarfarbe ist anders. Du könntest aber etwas mehr auf den Hüften vertragen! Du hast ja eine schmalere Taille als ein 20-jähriger David Bowie mit Magersucht“, scherzte sie und lachte. Simon lachte mit ihr und wusste seinerseits nicht, wie er sie begrüßen sollte. Um sicherzugehen, dass er keinen Fehler machte, „Freut mich sehr Sie kennen zu lernen.“ „Nur keine Förmlichkeiten, junger Mann. Wir sind hier in der Familie und nicht in der Schule.“ Als sie Cypher musterte, runzelte sie etwas skeptisch die Stirn, vor allem als sie seine Tätowierungen und seine ungewöhnliche Haarfarbe sah. Aber schließlich meinte sie auch hier „Also das Kinn und die Nase hast du eindeutig von deinem Großvater“ und gab ihm einen scherzhaften Klaps auf den Rücken. Auch Hunter begrüßte sie offenherzig, wobei sie noch meinte „Nur nicht so ernst, junger Mann. Das hier ist ein Familientreffen und keine Beerdigung.“ Von Elion und Charity bekamen die beiden Brüder eine herzliche Umarmung, während Jesse es bei einem Händedruck beließ. Schließlich nahmen sie alle Platz und es gab Kuchen und Cupcakes, die Charity gebacken hatte. Wie sich herausstellte, arbeitete sie im Amber Garden als Konditorin während Jesse als Koch tätig war. Das Café selbst gehörte Jesses Mutter Melissa, die Charity in der Konditorei unterstützte. Grace selbst war jahrelang Lehrerin an der Grundschule gewesen, was sich auch in ihrem Wesen widerspiegelte. Auf der einen Seite schien sie streng und fordernd zu sein, aber sie spaßte auch gerne mit anderen. Und Elion, der allein aufgrund seines Aussehens schon hervorstach, erzählte voller Stolz, dass er als Sozialarbeiter für die Familienhilfe arbeitete, die im Rahmen des „Resozialisierungsprojektes“ ins Leben gerufen worden war. Dabei war es vor allem seine Aufgabe, die einzelnen Familien innerhalb des Cohan-Clans zu betreuen und vor allem den Kindern unterstützend zur Seite zu stehen. Als er von seiner Arbeit erzählte, konnte Simon nicht anders als ihn aufrichtig zu bewundern. Vor allem als er auch noch erfuhr, dass Elion zusammen mit seiner Zwillingsschwester Charity Oberhaupt des Witherfield-Clans war. Schließlich wurden die Besucher regelrecht mit Fragen gelöchert und während Cypher ziemlich offenherzig mit seinen Hobbys und seinem Beruf war und auch direkt für Hunter mitantwortete, tat sich Simon ein wenig schwer damit. Als sich Grace schließlich nach seinem Beruf erkundigte, senkte er nur den Blick und konnte nicht antworten. Glücklicherweise kam Rose ihm zur Hilfe und erklärte „Simon hatte leider nicht viel Glück im Leben. So ähnlich wie ich damals…“ Und sie brauchte nicht mehr ins Detail zu gehen damit die alte Dame verstand, was ihre Tochter damit andeuten wollte. „Ah“, murmelte sie mit strenger und ernster Miene und gab etwas Zucker in ihren Kaffee. „New York… ich hasse diese Großstädte. Nichts als kriminelles Gesindel und vermüllte Straßen. Da kann man nicht einmal nachts auf die Straße gehen, ohne Angst zu haben, dass man entweder ausgeraubt, vergewaltigt oder umgebracht wird. Oder alles zusammen… Mach dir mal nichts draus, Junge. Wenn du in diesem Höllenloch nichts findest, dann findest du hier alle Male einen vernünftigen Job.“ „Oma!“ warf Charity ein. „Also so schlimm finde ich New York nun auch wieder nicht. Und du kannst eine Großstadt ja wohl kaum mit einer Dorfgemeinde vergleichen.“ Doch Grace blieb bei ihrer Meinung und schüttelte den Kopf. „Diese Stadt hat nur Unglück über unsere Familie gebracht. Meine Schwester wurde in dieser Stadt ermordet, eure Tante hat die Hölle durchgemacht und ihre Kinder verloren. New York wird immer als Weltstadt angepriesen, aber es ist verdreckt, überfüllt und voller Krimineller! Niemand, der klar bei Verstand ist, sollte dort leben.“ „Ach was, es ist nicht so schlimm“, beruhigte Cypher sie und lachte. „Man muss nur halt an die Großstadt gewöhnt sein, das ist alles. Es lässt sich dort eigentlich ganz gut leben wenn man weiß wo. Und außerdem haben wir dort unsere Liebsten kennen gelernt.“ Hier wanderten Simons Gedanken wieder zu Leron und er sah nach draußen in den Garten. Immer noch regnete es wie in Strömen und er hoffte, dass er wohlbehalten ankam. Ob er überhaupt hierher finden würde? Vielleicht kam er ja mit dem Taxi. Er begann unruhig auf seinem Blaubeer-Cupcake zu kauen und konnte der Tischkonversation nur am Rande folgen. Cypher, Grace, Scott und Rose begannen sich angeregt zu unterhalten und die Stimmung war fröhlich und ausgelassen. Es fühlte sich an, als wären sie schon immer Teil dieser Familie gewesen. Und doch konnte Simon sich nicht wirklich konzentrieren. Nicht solange er noch auf Leron warten musste. „Ist alles in Ordnung?“ Erst jetzt bemerkte er, dass Charity ihn direkt anschaute und ihre strahlend blauen Augen mit dem etwas zu gutmütigen Blick betrachteten ihn besorgt. Sofort versuchte der 21-jährige wieder geistlich ins Geschehen zurückzukehren, fand jedoch keinen roten Faden und hatte nicht einmal mehr die Frage im Kopf. „Entschuldige, ich… ich war in Gedanken versunken. Ähm… was wolltest du wissen?“ „Du siehst so bedrückt aus“, versuchte die 27-jährige zu erklären. „Fühlst du dich nicht wohl?“ „Doch schon, aber ich mache mir Sorgen, ob Leron bei dem Unwetter überhaupt hierher findet.“ „Leron? Ist das dein Freund?“ Simon spürte, wie er rot wurde und nickte ein wenig verlegen. Hieraufhin grinste Charity fröhlich und konnte sich ein „Ach wie süß!“ nicht verkneifen, wobei selbst ihr Freund Jesse bei dieser Reaktion schmunzeln musste. Und nun konnte sie nicht mehr an sich halten und wollte daraufhin alle Details wissen. Sie begann ihn unentwegt mit Fragen zu löchern und gab ihm gar nicht erst die Chance zu antworten. „Wie ist er denn so und wo habt ihr euch denn kennen gelernt? Seit wann seid ihr zusammen und als was arbeitet er? Gibt es bei euch eine bestimmte Rollenaufteilung oder seid ihr…“ „Cherry, immer eines nach dem anderen“, musste Jesse sie bremsen. „Immer musst du andere komplett überfallen.“ „Ich kann halt nicht anders“, gestand sie und lachte verlegen wobei sie Jesses Hand nahm. „Ich liebe halt Romanzen.“ Irgendwie hat sie die Unschuld eines Kindes, dachte sich Simon während er die beiden beobachtete. Mit Sicherheit war es mit den beiden so ähnlich wie bei Cypher und Hunter, nur halt ohne diesen eigenwilligen Fetisch. Zumindest machte seine Cousine nicht wirklich den Eindruck, als würde sie auf Horrorfilme, Blut, Gedärme und Hardcore BDSM stehen. Vielleicht waren sie ja so was wie die Light-Version von Cypher und Hunter. Und noch etwas musste Simon erkennen: irgendwie ließ sich eine gewisse Gemeinsamkeit bei der Partnerwahl erkennen. Das war fast schon unheimlich. „Du und Cypher, ihr seid euch echt ähnlich… das ist schon echt gruselig. Man könnte meinen ihr wärt Zwillinge die auf den gleichen Typ stehen…“ „Ach echt?“ etwas überrascht schaute Charity abwechselnd zu Hunter und Jesse. „Stimmt, das ist schon verrückt. Wobei das bei uns eher zufällig ist und sich das mit uns erst im Laufe der Zeit entwickelt hat.“ „Der einzige Unterschied ist, dass dein Freund ausnahmsweise nicht zu den Cohans gehört…“ „Ähm… also das… naja…“ Die Konditorin lachte verlegen und belud sich ihren Teller mit Cheesecake. Zuerst begriff Simon die Reaktion nicht, schaute daraufhin zu Jesse und konnte es immer noch nicht erkennen. Schließlich musste er nachfragen. „Ist Jesse gar kein Wyatt? Er sieht gar nicht wie ein Cohan aus.“ „Mein Vater war ein Wyatt und meine Mutter ist eine Cohan“, erklärte der schweigsame Koch und sein Blick wurde ernst. „Ich trage zwar den Familiennamen Wyatt, aber streng genommen bin ich ein Bastard. Meine Eltern hatten sich geweigert, mich zu verstoßen und haben mich trotzdem großgezogen.“ Nun sah der 21-jährige genauer hin und erkannte tatsächlich, dass Jesses Augen nicht das gleiche Smaragdgrün hatten wie Azarias‘. Sie hatten ein sehr helles Grün und gingen fast ins Gelb hinein. Bislang hatte er nur „Bastarde“ mit unterschiedlichen Augenfarben oder einer einheitlichen Augenfarbe gesehen, aber nicht mit einer Mischung aus beiden Augenfarben. Wieder musste er an Leron denken, vor allem an seine haselnussbraunen Augen, die sich verändern konnten, wenn er einen Anfall bekommen hatte. Und mal wieder war jemand aus der gleichen Familie wie er mit einem Cohan zusammen. Offenbar stimmte die Geschichte tatsächlich, dass Witherfields und Cohans Seelenverwandte waren. Das war schon echt schräg, aber daran würde er sich wohl früher oder später gewöhnen. „Und wie habt ihr euch kennen gelernt?“ „Das ist eine etwas komische Geschichte“, gestand Charity verlegen. „Ich habe ihn sturzbetrunken und halb bewusstlos aufgegabelt und bei uns zuhause ausgenüchtert. Zuerst haben wir uns nur in der Wolle gehabt und dann hat es doch noch zwischen uns gefunkt.“ Das war in der Tat eine wirklich verrückte Geschichte. Irgendwie schien seine Familie ein Talent dafür zu haben, ihre Liebsten unter den seltsamsten Umständen kennen zu lernen. Cypher und Hunter hatten sich in der Psychiatrie kennen gelernt, Charitys Freund war besoffen und halb komatös gewesen und sie war gutmütig oder vielleicht auch naiv genug gewesen, ihn mitzunehmen. Und er hatte Leron durch den Straßenstrich kennen gelernt. Hoffentlich war das nicht auch so ein Witherfield-Ding wie die Seelenverwandtschaft mit den Cohans… Nun aber konnte Charity nicht mehr an sich halten und fragte Simon erneut wegen Leron aus. Da die Katze eh schon aus dem Sack war und er bisher nicht auf Ablehnung gestoßen war, beschloss er die ganze Geschichte zu erzählen. Er erzählte, wie Michael ihn auf dem Straßenstrich aufgegabelt, ihn zu seinem Loft gebracht und ihn dort fast umgebracht hatte und wie er von Leron gerettet und ins Krankenhaus gebracht worden war. Auch wie er Leron drei Jahre später wiedergetroffen hatte, erzählte er in oberflächlichen Details und wie sie später ein Paar geworden waren. Es fühlte sich zuerst etwas merkwürdig an, über seinen „Job“ zu reden, vor allem vor seiner Verwandtschaft. Aber nachdem ihn Grace und Rose bereits vorurteilsfrei akzeptiert hatten, gab es ihm auch eine gewisse Selbstsicherheit, dass er über seine Vergangenheit reden konnte, ohne wie ein Aussätziger behandelt zu werden. Vielleicht hatte er sich auch viel zu viele Gedanken gemacht. Schließlich war es Jesse, der mehr wissen wollte. „Also damit ich das richtig verstehe: Leron hat dich ausgetrickst, damit du diesem Vertrag zustimmst. Und jetzt seid ihr ein Paar? Also ehrlich gesagt klingt das nicht gerade nach einer gesunden Beziehung. Das klingt eher danach, als wäre er mehr darauf aus, dich zu besitzen wie so ein Christian Grey.“ „Ja die Beziehung hatte einen sehr merkwürdigen Anfang“, gab Simon etwas verlegen zu. „Und Leron hat es nicht sonderlich geschickt angestellt, aber wir haben alles klären können und uns offen ausgesprochen. Es mag nicht danach klingen, aber Leron und ich lieben uns sehr.“ „Naja, ich sollte nicht so verurteilend sein“, meinte Jesse schließlich und zündete sich eine Zigarette an. „Cherry und ich haben uns ja auch unter ziemlich eigenwilligen Umständen kennen gelernt. Und wäre sie nicht so hartnäckig gewesen, dann wäre aus uns nichts geworden. Damals dachte ich noch, sie ist einfach nur treudoof aber im Nachhinein bin ich schon dankbar dafür. Hätte sie nicht so geklammert, dann hätte ich meine Mutter wahrscheinlich nie wieder gesehen und ich wäre entweder an einer Alkoholvergiftung gestorben oder hätte mir anderweitig die Kugel gegeben.“ Klingt danach, als hätte er viel durchgemacht, dachte sich Simon und musste wieder an seine eigene Vergangenheit denken. Wer weiß, wo er heute wäre, wenn Leron damals nicht gewesen wäre, um ihn zu retten. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre er in diesem Loft gestorben. Und allein der Gedanke daran ließ ihn erschaudern. Um sich irgendwie abzulenken, nahm er sich einen von den Erdbeercupcakes und aß einen Bissen. Als er sich in ein nachdenkliches Verschweigen vertiefte, bemerkte er, dass Jesse ihn schon die ganze Zeit mit einem etwas rätselhaften Blick ansah, den er nicht so wirklich zuordnen konnte. „Ist irgendetwas?“ Hieraufhin wandte Jesse den Blick ab und schüttelte den Kopf. Er machte einen noch trübsinnigeren Eindruck, aber vielleicht wirkte es auch einfach nur so. „Ich hatte nur gerade so ein Gefühl“, meinte er schließlich. „Mit deinem Freund wirst du auf jeden Fall noch eine ziemlich große Überraschung erleben.“ „Wie meinst du das?“ Hier zuckte der Koch nur mit den Schultern und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. „Mein siebter Sinn sagt es mir halt.“ Kapitel 73: Das Versprechen --------------------------- Mit ein wenig Verspätung traf Leron schließlich im Café ein und wurde, sobald er den Raum betreten hatte, von Simon mit einer stürmischen Umarmung begrüßt. Er sah blass und müde aus und sein Mantel war trotz des Regenschirms, den er bei sich trug, nass geworden. Trotz der offensichtlichen Müdigkeit und Erschöpfung, an der er zu leiden schien, lächelte er und legte den Regenschirm beiseite. „Tut mir leid, dass ich etwas später komme. Das Taxi hat etwas länger gebraucht.“ „Besser spät als niemals“, meinte Grace und schmunzelte. Nun erhoben sich die Witherfields um ihn zu begrüßen und sich vorzustellen, doch Simon war schneller und eilte zu Leron hin um ihn zu umarmen. Überglücklich schloss er ihn in die Arme und küsste ihn. Er war einfach nur froh, dass nichts passiert war und sie wieder zusammen waren. „Ich freue mich so, dass du da bist. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht!“ rief der 21-jährige und wollte sich gar nicht mehr von ihm lösen. Leron erwiderte die Umarmung und streichelte zärtlich den Kopf seines Liebsten. Doch seine Umarmung wirkte ein wenig halbherzig. Es fehlte ein wenig die Energie und seine nussfarbenen Augen wirkten matt und glanzlos. Traurigkeit und Ermattung lagen darin, doch Simon bemerkte es nicht. Dafür war seine Laune einfach viel zu ausgelassen. Der Unternehmer zwang sich zu einem Schmunzeln und erwiderte „Ach was, da gab es doch keinen Grund zur Sorge. Und jetzt bin ich ja hier. Na dann lass mich mal den Rest deiner Familie kennen lernen.“ Damit löste sich Simon von ihm und stellte ihn den anderen als seinen Freund vor. Obwohl Rose bereits wusste, dass es zwischen den beiden einen gewissen Altersunterschied gab, waren die anderen Familienmitglieder noch nicht im Bilde und waren dementsprechend überrascht als sie sahen, dass Leron sichtlich älter als Simon war. Doch davon ließen sie sich nicht beirren und nahmen ihn mit der gleichen Herzlichkeit auf wie Simon, Cypher und Hunter. Sie stellten sich alle vor und Grace, die aufgrund ihres Alters die Letzte war, die sich erhoben hatte, musterte ihn prüfend, als sie ihm zum Gruß die Hand reichte und fragte ihn auch direkt nach seinem Alter. „Ich weiß, ich bin zehn Jahre älter als Simon, aber der Unterschied hat uns auch nicht aufgehalten.“ „Tja, was sich liebt, das liebt sich“, stimmte die alte Dame zu und damit war die Sache auch geklärt. Leron nahm neben Simon Platz und wurde natürlich sofort mit Fragen gelöchert, hauptsächlich aber von Charity während sich der Rest der Verwandtschaft sich ein wenig zurückhielt um ihn nicht zu vergraulen oder gleich zu neugierig zu wirken. Selbst Grace musste die Neugier ihrer Enkelin zügeln, was aber nur halbwegs half. Sie ließ sich nur schwer bremsen, aber Leron blieb ziemlich gelassen. Auf die harmlosen Fragen antwortete er offen und ehrlich, während er auf die etwas schwierigeren Fragen nur halb antwortete oder sie einfach geschickt umging. Zu seiner Familie gab er nur die oberflächlichsten Informationen, ohne weiter auf Details einzugehen. So erzählte er zwar, dass er zwei Brüder hatte, deutete aber nur nebenbei an, dass diese nicht mehr lebten und ging nicht weiter darauf ein. Und zum Glück wurde er auch nicht näher dazu befragt. Vielleicht hätte Charity weiter nachgebohrt, wenn ihr Freund nicht dazwischen gegangen wäre und das Thema ein wenig umgelenkt hätte, indem er Leron zu seiner Arbeit befragte. Als dieser erzählte, dass er bis vor kurzem noch Inhaber eines Energiekonzerns gewesen war, da waren das Staunen und die Bewunderung am Tisch groß und eine fast schon ehrfürchtige Stille trat ein. Sie hatten mit einigem gerechnet, aber nicht direkt mit so etwas. „Wow“, murmelte Jesse und starrte Leron sprachlos an. Grace war schließlich die Erste, die wieder zu Worten fand. „Ein Energiekonzern? Das nenne ich mal wirklich eine Herausforderung. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht gerade leicht ist, eine solch große Verantwortung zu tragen.“ „Man wächst mit den Aufgaben“, versicherte Leron, dem es offensichtlich ein wenig unangenehm war, dass alle am Tisch so reagierten. Auch wenn er schon von klein auf einen höheren Lebensstandard gewöhnt war, so war es ihm trotzdem unangenehm, damit gleich zu prahlen oder sich wichtig zu machen. Vor allem war dies Simons besonderer Tag, da sollte er sich nicht in den Vordergrund drängeln. „Aber ich habe…“ Hier wurde er sofort von Charity unterbrochen, die direkt nachfragte „Wie heißt der Konzern denn?“ „Evans Energy“, antwortete der 31-jährige, kam jedoch gar nicht dazu, weiterzureden, denn da ließ die Konditorin die Bombe platzen und meinte „Hat da nicht einer aus der Familie einen Amoklauf begangen? Der soll angeblich seinen Bruder, dessen Familie und noch ein paar andere Menschen erschossen haben. Das kam doch erst letztens in den Nachrichten.“ Es schepperte laut und erschrocken zuckte Simon zusammen, als der 31-jährige plötzlich mit der Faust auf den Tisch schlug und sich seine Miene deutlich verfinsterte. Er sah, wie Leron blass wurde und versuchte, sich zusammenzureißen. Doch wie sollte er denn auf so etwas reagieren? Er konnte es schlecht abstreiten. Aber diese Geschichte war etwas, was sie beide so schnell wie möglich vergessen wollten, weil es einer der schlimmsten Momente für sie gewesen war. Und dieses Ereignis hatte tiefe seelische Wunden hinterlassen, die immer noch nicht verheilt waren. Aber in diesem Moment war es nicht Simon, der mit dieser Geschichte mehr zu kämpfen hatte. Es war Leron. Sofort ergriff Simon seine Hand und wollte ihm gut zureden, aber da war Rose schneller. Als sie bemerkte, wie sehr es Leron und ihrem Sohn zu schaffen machte, schaute sie mit strengem Blick zu ihrer Nichte herüber und tadelte sie „Charity Crisantha Witherfield, könntest du mal deinen Kopf einschalten, bevor du den Mund aufmachst? Wir sind hier bei einem Familientreffen und meine Söhne und ihre Partner sind hier zu Besuch. Musst du da unbedingt solche Themen auf den Tisch bringen?“ „Es… es tut mir leid“, murmelte die Konditorin deutlich eingeschüchtert und bemerkte nun endlich, in was für ein Fettnäpfchen sie da hineingetreten war. „Ich habe nicht nachgedacht…“ Lerons Hand schloss sich fester um Simons und der 21-jährige spürte, dass sie verschwitzt war. Ein deutliches Anzeichen dafür, dass sein Liebster unter starkem Stress stand. Sorge überkam ihn und er begriff, dass er etwas tun musste, damit sich Leron nicht zu sehr hineinsteigerte. Um die Situation ein wenig zu entschärfen sagte er schließlich „Leron hatte mit der ganzen Sache nichts zu tun gehabt und er hat auch nicht gewusst, dass so etwas passieren würde.“ „Es ist schon gut“, sagte Rose schließlich. „Ihr braucht euch nicht für etwas zu rechtfertigen, was ihr gar nicht verschuldet habt. Ich bin mir sicher…“ Doch hier unterbrach Leron sie und sein Blick war sehr ernst und eindringlich. Immer noch war er sehr blass und in seinen Augen lagen Wut und Selbsthass, aber auch Schuldgefühle und Reue. „Und ob es meine Schuld ist“, sagte er schließlich. „Mein ältester Bruder war krank und ist daraufhin Amok gelaufen. Und ich war nicht da um Simon zu beschützen, noch konnte ich verhindern, dass Unschuldige mit hineingezogen wurden. Meine Familie hat viele Fehler gemacht und ich habe meine Konsequenzen daraus gezogen. Das war alles, was ich tun konnte. Ich habe mir meine Familie nicht ausgesucht, aber ich muss für das grade stehen, was sie verschuldet hat!“ Damit erhob sich Leron, ließ Simons Hand los und verließ den Raum, ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen, geschweige denn sich noch ein einziges Mal umzudrehen. Unsicher saß der 21-jährige da und schaute ihm nach und wusste nicht, ob er ihm jetzt nachlaufen sollte. So wie Leron gewirkt hatte, brauchte er mit Sicherheit einen Moment um wieder runterzukommen. Schließlich aber wurde die unangenehme Stille im Raum durch Grace unterbrochen, die sich sichtlich verärgert an ihre Enkelin wandte und sie vorwurfsvoll fragte „Hast du deinen Kopf etwa nur zur Dekoration auf dem Hals sitzen, Cherry? Wie kann man so etwas nur gleich beim Kennenlernen fragen? Was soll er denn jetzt von uns denken?“ „Es tut mir doch leid“, rief die Konditorin sichtlich verzweifelt. „Es kam mir einfach so in den Kopf und ich…“ „Du sollst nicht immer gleich alles aussprechen, was dir durch den Kopf geht!“ Schließlich erhob sich Rose, sprach Scott etwas zu was Simon jedoch nicht verstehen konnte und eilte dann hinaus. Und Jesse folgte ihr dicht hinterher. Als Leron nach draußen trat, war es immer noch am Regnen und es sah auch nicht danach aus, als würde es so schnell wieder aufhören. Für einen Moment dachte er, einfach zu Fuß zur Pension zurückzugehen, trotz des noch andauernden Unwetters. Andererseits konnte es auch nicht allzu lange dauern, bis ein Taxi kommen würde. Natürlich war das nicht gerade das beste Verhalten, einfach den Schwanz einzukneifen und abzuhauen. Aber hier bleiben konnte er genauso wenig. Auch wenn es nicht das beste Verhalten war und er Simon nicht verletzen wollte, es war immer noch besser als zurückzugehen und die Stimmung derart zu vermiesen, nur weil er mit einem Psychopathen als Bruder gestraft war. Außerdem wollte er nicht, dass Simon wieder an all diese schlimmen Dinge erinnert wurde, die ihn erst so krank gemacht hatten. Er verdiente es, endlich glücklich zu werden und ein gutes Verhältnis zu seiner Familie zu haben. Da war es nur kontraproduktiv, wenn er da blieb und all diese unangenehmen Themen zur Sprache kamen. Er konnte und durfte nicht zulassen, dass sich der Zustand des Jungen seinetwegen noch weiter verschlechterte. Nein, er hatte ihm schon zu viel zugemutet. Also holte er sein Handy hervor und wollte gerade die Nummer des Taxiunternehmens anrufen, da bemerkte er auch schon Rose und Jesse, die ihm gefolgt waren. „Warten Sie!“ rief die 39-jährige und blieb direkt vor ihm stehen. „Es tut mir leid, was da gerade passiert ist. Wir wollten Sie nicht vergraulen oder Sie in Verlegenheit bringen. Bitte gehen Sie nicht!“ „Schon gut“, winkte Leron ab und schüttelte den Kopf. „Es wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso irgendwann zur Sprache gekommen. Und ich nehme es weder Ihnen noch Ihrer Familie persönlich. Es ist nur so, dass viele Dinge passiert sind und ich Simon einfach davor schützen will, wieder damit konfrontiert zu werden.“ „Cherry hat leider die Angewohnheit, ständig in solche Fettnäpfchen zu treten“, gestand Jesse und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Aber sie hat es nicht böse gemeint. Das gerade eben war nicht absichtlich gewesen und es tut ihr leid. Hör mal, ich kann es verstehen, dass da einiges vorgefallen ist, aber ich glaube, es wird Simon noch unglücklicher machen, wenn du jetzt abhaust.“ „Das glaube ich kaum“, erwiderte Leron und seufzte. „Mein Bruder hat ihm schlimme Dinge angetan und ich war nicht ein einziges Mal in der Lage dazu, ihn davor zu beschützen. Ich wollte, dass er hier zur Ruhe kommt und sich von den Traumata erholen kann, die er erlitten hat. Er soll die Zeit mit seiner Familie genießen und nicht durch die schrecklichen Ereignisse runtergezogen werden, die er meinetwegen durchstehen musste. All diese Dinge wären niemals geschehen, wenn ich nicht gewesen wäre. Und ich will nicht, dass ich ihn noch weiter ins Unglück stürze.“ Doch so leicht ließen sie ihn nicht gehen. Vor allem Rose war entschlossen, nicht kampflos aufzugeben. Als wolle sie sichergehen, dass er nicht plötzlich weglief, hielt sie ihn am Arm fest und sah ihn entschlossen wie eine Löwin an, die für ihre Familie kämpfen wollte. „Ich weiß nicht, was alles passiert ist, aber eines weiß ich genau: Simon hängt sehr an Ihnen und Sie sind ihm wichtig. Wenn es ihm so schlecht geht, dann braucht er jemanden, der ihm Halt geben kann, das alles zu durchstehen. Er braucht sie mehr als mich oder die anderen. Er kennt uns nicht und er hatte noch nie eine Bindung zu uns, zu Ihnen aber schon. Wenn Sie jetzt gehen, werden Sie ihn noch unglücklicher machen als wenn Sie hierbleiben.“ Jesse nickte zustimmend und fügte hinzu „Der Junge wünscht sich eine Familie, aber zu dieser Familie sollst du auch dazugehören. Wir haben auf dem falschen Fuß angefangen, aber wir können es noch mal versuchen. Ich verspreche auch, dass das auch das einzige Fettnäpfchen war, in das meine Freundin heute reintritt.“ Leron schaute abwechselnd zu den beiden und wusste nicht so wirklich, wie er sich fühlen sollte. Er war zugegebenermaßen überrascht von dieser Art von Einsatz. Diese Leute kannten weder ihn noch Simon und dennoch waren sie bereit, so weit zu gehen. So etwas hatte er noch nie zuvor erlebt. Was war bloß mit dieser Familie los? War das überhaupt normal? War das etwa die Art, wie normale Familien miteinander umzugehen pflegten? Oh Mann, er konnte fast neidisch auf Simon zu sein. Nicht nur war er mit offenen Armen aufgenommen worden, obwohl diese Leute ihn bis heute nicht einmal gekannt hatten. Sie setzten sich so für ihn ein weil es für sie selbstverständlich war, für einander da zu sein. Wieso nur konnte er nicht so eine Familie haben? „Es ist okay“, sagte Jesse schließlich und klopfte ihm auf die Schulter. „Wenn du bereit bist, uns noch mal eine Chance zu geben, ist in dieser Familie auch Platz für dich. Also was ist? Sollen wir wieder reingehen und es noch mal versuchen?“ Leron seufzte und realisierte, dass die beiden nicht locker lassen würden. Also gab er schließlich nach und willigte ein, wieder mit reinzukommen. Als sie jedoch wieder zurück ins Café wollten, kam auch schon Simon zur Tür hinausgestürmt, der sichtlich besorgt war und vermutlich schon mit dem Schlimmsten gerechnet hatte. „Leron, du willst doch nicht etwa schon gehen, oder?“ Allein als er in diese strahlend blauen Augen sah, konnte er sich nicht mehr dazu durchringen, einfach zu verschwinden. Was zum Teufel hatte er sich bloß dabei gedacht. Verdammt, er hatte sich doch vorgenommen, für Simon da zu sein und ihm die Hilfe und Unterstützung zu geben, die er brauchte. Wie konnte er da bloß auf den Gedanken kommen, dass weggehen überhaupt eine Option war? Ein Moment der Schwäche? Ja, höchstwahrscheinlich. Vielleicht war es aber auch nur die Angst gewesen, dass er Simons Leid nur noch weiter verschlimmerte und ihm wehtat. „Tut mir leid, ich musste einfach nur mal frische Luft schnappen um einen klaren Kopf zu bekommen“, sagte er schließlich, auch wenn das nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Aber diese kleine Lüge war ja auch nicht dramatisch. „Und entschuldige, dass ich gerade eine Szene gemacht habe. Ich bin nur ein wenig müde, das ist alles.“ Simon ergriff seine Hand und wandte sich schließlich an Jesse und seine Mutter. „Könnt ihr uns kurz alleine lassen?“ Mit einem etwas skeptischen Gesichtsausdruck nickte die Farmerin und ging mit Jesse wieder rein. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, ergriff Simon nun auch Lerons andere Hand und schaute ihn eindringlich an. „Leron, wenn du dich bei meiner Familie unwohl fühlst und lieber gehen willst, halte ich dich nicht auf. Ich weiß, dass das mit dem Familienthema nicht einfach bei dir ist und klar wünsche ich mir, dass du dich gut mit meiner verstehst. Aber ich will es dir nicht aufzwingen. Du hast schon so viel für mich getan und ich weiß, dass die letzten Tage und Wochen auch für dich nicht einfach waren. Deshalb will ich dass du weißt, dass du meinetwegen zu nichts zwingen brauchst. Ich will doch nur, dass du genauso glücklich bist.“ „Es geht mir gut“, versicherte Leron um ihn zu beruhigen, doch Simon schüttelte den Kopf und erwiderte „Weißt du was gut bedeutet? Ganz beschissen, unsicher und total fertig! Du hast Stress mit deinem Vater, mit dem Konzernverkauf und vor allem mit mir gehabt. Du bist blass, hast vorhin total verschwitzte Hände gehabt und wirkst völlig übermüdet. Ich weiß, dass du mich beschützen willst und ich weiß ebenso gut, dass ich Hilfe brauche und nicht alles alleine schaffen kann. Ich habe meine Lektion gelernt! Und ich will nicht, dass du selber so abstürzt und alles alleine mit dir ausmachst, nur weil du denkst, ich kann das nicht aushalten! Was nützt es mir, glücklich zu sein, wenn du stattdessen leidest?“ Simons Worte trafen ihn tief, viel tiefer als er selber gedacht hatte. Wann hatte er zuletzt diese Art von Worten von ihm gehört, die ihn derart wachrüttelten und ihm klar machten, dass er so nicht mehr weitermachen konnte? Vor seinem geistigen Auge tauchte wieder der Tag auf, an dem Simon die Wahrheit über seine Krankheit und seine Familie herausgefunden hatte. Und statt sich von ihm abzuwenden, hatte er ihm Mut zugesprochen, sich Hilfe zu suchen. Da hatte er erst erkannt gehabt, wie sehr er den Jungen eigentlich liebte. Er liebte ihn so sehr, dass ihn allein der Gedanke schmerzte, dass er ihn irgendwie verletzen konnte. Ganz gleich ob emotional oder körperlich. Allein die Vorstellung war unerträglich. Obwohl er eigentlich wissen musste, dass Simon stärker sein konnte als er wirkte, hatte er solch eine Angst um ihn entwickelt, dass er ihn wie eine extrem zerbrechliche Glasfigur behandelte. Und hier begann die Fassade zu bröckeln und all die aufgestauten und unterdrückten Emotionen traten hervor. Er war viel zu lange stark für sie beide geblieben. So lange hatte er alleine gekämpft und hatte alles ertragen, ohne die Miene zu verziehen. Aber jetzt in diesem Moment konnte er es einfach nicht mehr. Gänzlich von seinen Gefühlen überwältigt schloss er Simon in seine Arme und drückte ihn fest an sich, während unkontrolliert Tränen flossen. Sein Körper bebte und er verfiel in ein heftiges Schluchzen. „Es tut mir so leid, Simon“, brachte er hervor und schaffte es kaum, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. „Es tut mir leid, dass ich dich nicht beschützen konnte. Meinetwegen hast du all diese schrecklichen Dinge durchmachen müssen, obwohl ich dich davor bewahren wollte. Wegen mir bist du so krank geworden und hast diese Traumata erlitten. Ich hätte dich besser beschützen müssen und stattdessen war ich nicht einmal da als dir das passiert ist. Allein wegen mir bist du in all diese Sachen hineingeraten und nur deshalb geht es dir so schlecht! Dabei hatte ich doch versprochen, dass ich für dich da bin und nicht zulasse, dass dir etwas passiert.“ Simon erwiderte die Umarmung und er begann ihm tröstend den Kopf zu streicheln, so wie Leron es bei ihm immer zu tun pflegte. In seinen eisblauen Augen spiegelte sich tiefe Bestürzung wieder und er selbst rang mit den Tränen als er erkannte, wie sehr Leron die ganze Zeit mit sich zu kämpfen hatte und wie sehr ihn die Schuldgefühle plagten. „Warum entschuldigst du dich?“ fragte er fassungslos. „Ich habe dir doch niemals die Schuld gegeben oder dir Vorwürfe gemacht. Was Michael getan hat, war doch nicht deine Schuld.“ „Aber weil er mein Bruder ist, sind dir diese Dinge widerfahren! Und ich habe dich nicht vor ihm beschützen können.“ „Es ist nicht deine Schuld!“ wiederholte Simon eindringlich, jedoch begann seine Stimme ebenfalls zu zittern. „Keiner von uns hat Schuld und keiner von uns hätte es verhindern können. Aber wir leben. Wir sind noch da und wir können das Beste aus unserem Leben machen. Ich liebe dich und ich will mit dir zusammenbleiben. Ich will, dass wir beide noch mal von neuem anfangen und vielleicht irgendwann heiraten und zusammen alt werden können. Also bitte hör auf damit, dir ständig die Schuld für all das zu geben oder zu denken, dass du der Grund für meine Depression bist. Hast du etwa vergessen, was du alles für mich getan hast? Du hast mich doch vom Straßenstrich weggeholt und mir ein Zuhause gegeben. Dank dir habe ich habe ich die Chance auf ein normales Leben und du hast mich schon zwei Male gerettet. Wenn du nicht in mein Leben getreten wärst, dann hätte ich meine Familie niemals gefunden und würde immer noch meinen Körper an irgendwelchen kranken Perversen verkaufen. Also hör bitte auf damit zu denken, dass ich besser ohne dich dran wäre.“ Scheint so als hätte ich jetzt auch allmählich meine Grenzen erreicht, dachte sich Leron und drückte Simon fest an sich. Und wieder bist du da und rüttelst mich genau dann wach wenn ich davor bin, abzustürzen. Wie oft hatten ihn die Gedanken heimgesucht, die ihm einredeten, dass er der Grund für Simons Leid war und alles seine Schuld war? Hätte er sich nicht in die Psychiatrie einweisen lassen, dann wäre er bei dem Jungen gewesen und hätte die Vergewaltigung verhindern können. Und hätte er mehr Acht auf ihn gegeben, dann hätte er Simon nicht versehentlich getriggert. Die ganze Zeit hatte er diese Gedanken erfolgreich aus seinem Bewusstsein verdrängen können, indem er sich auf andere Dinge fixiert hatte. Er hatte sich wie ein Besessener mit der Vergangenheit seiner Mutter beschäftigt, um sich nicht mit seinen Schuldgefühlen und seinen Ängsten auseinandersetzen zu müssen und doch irgendwie inneren Frieden zu erlangen. Aber nun war das vorbei. Er hatte aufgehört, Dämonen nachzujagen und nun drohte alles über ihn hereinzubrechen. All die Schuldgefühle, die sich aufgestaut hatten… all die nagenden Selbstzweifel und der Hass auf seine eigene Unfähigkeit. „Es tut mir leid“, sagte er schließlich. „Ich verspreche dir, dass ich dich in Zukunft beschützen werde. Ich werde…“ „Hör auf, immer solche Versprechungen zu machen!“ rief Simon und löste sich von ihm. Tränen kullerten seine Wangen hinunter und beinahe verzweifelt schaute er Leron mit seinen kristallklaren eisblauen Augen an. „Ich will solche Versprechen gar nicht. Alles was ich will ist, dass wir glücklich werden. Was nützt es mir denn, wenn du mich beschützt und leidest und ich dir nicht helfen kann? Wir sind ein Paar, schon vergessen? Petboy Vertrag hin oder her, wir sind immer noch gleichberechtigt und das heißt, dass ich für dich genauso da bin wie du für mich. Also hör auf zu denken, du müsstest mich vor allem möglichen beschützen. Glaubst du etwa, ich fühle mich wohl dabei, wenn es dir nicht gut geht? Auch wenn ich zehn Jahre jünger bin, heißt das noch lange nicht, dass ich gar keine Verantwortung für unsere Beziehung trage. Beziehung bedeutet Arbeit, aber das klappt nur solange wir beide daran arbeiten. Also bitte ich dich: lass mich dir helfen so wie du mir hilfst, okay?“ Leron seufzte geschlagen und erkannte, dass es keinen Sinn machte, Simon davon abzubringen. Und letzten Endes hatte dieser ja auch Recht. Er musste aufhören, den Jungen wie ein Kleinkind zu behandeln und ihn in Watte zu packen. Damit machte er niemanden von ihnen glücklich. Er musste Simon ein verantwortungsvoller Partner sein und kein Vaterersatz. „Womit habe ich dich nur verdient?“ Schließlich gingen sie wieder hinein und nachdem sich Charity erneut für diesen Patzer entschuldigt hatte, setzten sie sich wieder zusammen und versuchten, wieder zum normalen Smalltalk zurückzukommen. Die Stimmung lockerte sich auch deutlich und es wurden ein paar Anekdoten zum Besten gegeben. Sie lachten zusammen, scherzten miteinander und auch Lerons Stimmung hellte sich ein wenig auf. Als es dann aber langsam spät wurde und das Café bald schloss, löste sich die kleine Runde auf. Elion und Grace waren die ersten, kurz danach folgten Jesse und Charity. Letztere ließ sich aber nicht davon abhalten, ihre Cousins mit einer Einladung im Café zu überfallen und ihnen anzubieten, ihre preisgekrönten Regenbogencupcakes für sie zu backen. Als sie nach draußen gingen, hatten der Wind und der Regen stark nachgelassen und das Gewitter zog weiter in Richtung Nordwesten. Die Temperatur war stark abgefallen und Simon fröstelte ein wenig. Scott bot Cypher und Hunter an, sie mit dem Geländewagen zur Pension zurückzufahren und Rose bot sich Leron und Simon als Fahrerin an. Da es zu lange gedauert hätte, auf ein Taxi zu warten, nahmen sie das Angebot dankbar an. So setzten sie sich in den Wagen und fuhren los. Leron, der seine verbliebene Energie aufgebracht hatte, um an der munteren Familienrunde teilzunehmen, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Es war nicht so, dass er körperlich erschöpft war. Stattdessen hatte sich eine bleierne Trägheit über seinen Geist gelegt. Sein Kopf war müde und er hatte nicht einmal mehr die Kraft dazu, einen Gedanken zu fassen. Höchstwahrscheinlich würde er sofort einschlafen, sobald er sich ins Bett legte. Rose entging nicht, dass er ziemlich erschöpft war und meinte „So wie Sie aussehen, brauchen Sie sicher einen Erholungsurlaub.“ „Ja, das denke ich auch“, murmelte er halb geistesabwesend. „Aber zum Glück ist alles Wichtige in trockenen Tüchern und das einzige, was jetzt noch fehlt, wäre vielleicht ein Ferienhaus in Annatown. Ein wenig Landluft für ein paar Wochen wird uns gut tun.“ „Vielleicht kann ich helfen“, bot Rose an. „Scott und ich haben viele Freunde und Bekannte in Islesbury und es sollte nicht allzu schwer sein, ein Haus zu finden. Man muss nur die richtigen Leute kennen. Es sei denn natürlich ihr wollt lieber ganz aufs Land ziehen.“ Obwohl es vielleicht seine Vorteile haben mochte, stand Leron dieser Idee eher ablehnend gegenüber. Er als verwöhntes Stadtkind konnte sich nicht dazu durchringen, vollständig isoliert von der Zivilisation fernab auf dem Land zu leben. Auch wenn er seine Erholung brauchte, brauchte er zumindest die Nähe zu einer richtigen Stadt. „Ein Haus in Islesbury klingt gut“, pflichtete er deswegen bei. „Und vielen Dank für das Angebot. Ich werde auf jeden Fall darauf zurückkommen. Sie können mich auch ruhig duzen.“ „Sehr gerne! Das Gleiche gilt auch für dich!“ Es entging Leron nicht, dass Simons Mutter eine respektvolle und fast schon ehrfürchtige Scheu vor ihm hatte und ihn fast schon mit Samthandschuhen anfasste. Und er brauchte nicht wirklich lange nachzudenken um darauf zu kommen, woran es denn lag. Es war nicht das erste Mal, dass ihm so etwas passierte aber so wirklich daran gewöhnen konnte er sich nie. Obwohl er in ausgesprochen wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen war, hatte sich nie der Gedanke bei ihm entwickelt, er würde sich großartig von seinen Mitmenschen unterscheiden. Vielleicht war es der Einfluss seiner Mutter, womöglich aber auch Anthony, der an der Stelle seines Vaters die Erziehung übernommen hatte. Sie beide stammten aus einfachen Verhältnissen und hatten ihn dementsprechend so erzogen. Ob er sich anders entwickelt hätte wenn er von seinem Vater großgezogen worden wäre? Was für ein Mensch wäre er dann heute? Wäre er genauso kaltherzig, arrogant, selbstgerecht und engstirnig geworden? Höchstwahrscheinlich! Den einzigen Menschen aus seiner Verwandtschaft, der neben seiner Mutter einen tatsächlich menschlichen Charakter besessen hatte, war sein Onkel. Aber den hatte er auch schon seit der Beerdigung seiner Mutter nicht mehr gesehen. Ob er überhaupt noch lebte? Leron merkte langsam, dass er kaum noch in der Lage war, den roten Faden seiner Gedanken festzuhalten. Alles, woran er jetzt noch denken wollte, waren Schlaf und Erholung. Schließlich erreichten sie die Pension und verabschiedeten sich von Rose und versprachen ihr, zum nächsten Familientreffen auf der Farm vorbeizuschauen. Der Weg zu ihrem Zimmer kam dem 31-jährigen wie eine Ewigkeit vor und kaum, dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, warf er seinen Mantel über den Stuhl und ließ sich, sobald er seinen Pyjama angezogen hatte, ins Bett fallen. Noch nie in seinem Leben hatte er sich geistig derart erschöpft gefühlt. „Du siehst wirklich aus als könntest du viel Schlaf gebrauchen“, bemerkte Simon besorgt, der zwischenzeitig ins Bad verschwunden war. „Selbst deine Augenringe haben schon Augenringe…“ Er kam nun zu ihm ins Bett und kuschelte sich an seinen erschöpften Liebsten heran. Ein müdes, bestätigendes „Hm“ kam zur Antwort und Leron legte einen Arm um Simon. „Wahrscheinlich ist es einfach nur der ganze aufgestaute Stress. Ich denke, wir beide haben uns einen sehr langen Erholungsurlaub mehr als verdient, findest du nicht?“ Ein zustimmendes Nicken kam zur Antwort und Simon gab ihm einen liebevollen Kuss. „Wenn ich eines im Leben gelernt hatte, dann eines: wenn du ganz unten angelangt bist, dann kann es nur noch besser werden. Und hey… das vorhin habe ich wirklich ernst gemeint. Ich habe niemals dich verantwortlich gemacht für das, was passiert ist. Selbst wenn ich manchmal unfair zu dir war. Und auch dass ich mit dir zusammenbleiben und vielleicht irgendwann heiraten will, ist mein voller Ernst.“ Hier schlug Leron seine müden nussfarbenen Augen mit dem grünen Schimmer auf und schaute Simon an. Dessen kristallklare eisblaue Augen, die eine so offenherzige und liebevolle Ausstrahlung hatten, funkelten selbst in diesem dunklen Zimmer wie Sterne. Liebevoll strich er durch seine dunkelbraunen Locken und spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte. Er spürte diese Wärme, nach der er sich in der letzten Zeit so sehr gesehnt hatte und die er schon fast verloren geglaubt hatte. Ihm war so, als würde nach all den Strapazen und den körperlichen und seelischen Schmerzen langsam aber sicher Frieden einkehren. Wieder diese Wärme bei Simon zu spüren, kostete ihn fast den letzten kümmerlichen Rest seiner Selbstbeherrschung und ihm kamen fast wieder die Tränen. Für ihn gab es in diesem Moment nur eines, womit er seinen Gefühlen und seinen Gedanken Ausdruck verleihen konnte. Er drückte Simon an sich und hielt ihn in seiner Umarmung, als wollte er ihn nie wieder loslassen. „Das will ich auch“, sagte er mit tief bewegter Stimme. „Ganz gleich was auch geschehen mag, du wirst immer für mich der wichtigste Mensch in meinem Leben sein. Ich will für dich da sein, so wie du für mich da bist und nichts wird etwas daran ändern. Also lass uns all diese Hürden gemeinsam nehmen.“ Und mit einem leidenschaftlichen und innigen Kuss wurde es schließlich besiegelt. Kapitel 74: Extra: Jordan ------------------------- Die Welt war grau und monoton. Hätten äußere Reize oder irgendwelche Gefühle ganz gleich welcher Art ihre eigenen Farben besessen, dann wäre die Welt von Jordan Evans fast vollkommen farblos. Man hätte sie kaum von einem einfachen grau unterscheiden können und so war es schon seit langer Zeit gewesen. Seine Welt war genauso wie er selbst auf andere wirkte. Kaum etwas vermochte überhaupt noch so etwas wie Gefühle bei ihm auszulösen. Rein gar nichts strahlte er aus. Keine Kälte aber auch keine Wärme. In seinem Gesicht ließ sich kaum irgendeine Regung erkennen und es schien, als wäre er nicht einmal imstande, überhaupt die Mundwinkel zu verziehen. So erschien er nach außen hin und innerlich erging es ihm kaum anders. Gefühle waren ihm fremd geworden und was ihn vorantrieb, waren keine Wünsche und Sehnsüchte. Es war bloß Berechnung und Ziele, die er aus rein logisch nachvollziehbaren Gründen erreichen wollte. Er lebte sein Leben, weil es ihm gegeben wurde. Und er tat das, was ihm aufgetragen wurde, damit er weitermachen konnte. Im Grunde genommen war das Einzige, wofür er jemals gearbeitet hatte, zwei Dinge gewesen: die Firma seines Vaters und seine Familie, die er sich zusammen mit seiner Ehefrau Evelyn geschaffen hatte. Das waren die einzigen Dinge, die seinem grauen Leben zumindest einen schwachen Farbhauch verleihen konnten. Ansonsten war alles grau, monoton und hinterließ keine Spuren bei ihm. Wann es genau angefangen hatte, konnte Jordan nur spekulieren. Es hatte sich einfach im Laufe der Zeit entwickelt, dass er zu einem absolut gefühlskalten Menschen geworden war, der sich nur um andere Menschen kümmerte, weil er sich einen Vorteil daraus ersann oder weil es selbstverständlich war. Seine Brüder bezeichneten ihn als kaltherzig und manipulativ und er bestritt dies durchaus nicht. Er benutzte andere Menschen für seine Zwecke, weil er keinerlei Empathie für sie empfand. Mitgefühl war ihm schon vor langer Zeit absolut fremd geworden und die einzigen Menschen, die er niemals in selbstsüchtiger Weise manipuliert hatte, waren seine Frau und Töchter. Wobei… selbst sie hatte er benutzt, aber natürlich ohne sie emotional oder körperlich zu verletzen. Dass seine Familie ihm in der Erbfolge um die Firma einen großen Bonuspunkt eingebracht hatte, war bloß ein glücklicher Vorteil, aus den er seinen Nutzen zog. Und sie profitierten ja auch davon. Immerhin konnte sich seine Frau dadurch den Luxus gönnen, den sie sich wünschte und die Zukunft seiner Töchter war gesichert. So rechtfertigte Jordan Evans die Tatsache, dass er selbst seine Familie indirekt für seine eigenen Interessen benutzte. Insgesamt hatte es in seiner Vergangenheit zwei Kernmomente gegeben, die zu seinem kalten und stillen Wesen geführt hatten: seine Mutter und sein Bruder Michael. Das erste einschneidende Erlebnis, das sogar einer der physischen Ursachen für seine Gefühlskälte und seine Empathielosigkeit war, ereignete sich als er gerade mal neun Jahre alt gewesen war. Es war an einem kalten Wintertag gewesen. Sie waren zusammen mit ihrer Mutter unterwegs gewesen um gemeinsam Schlitten fahren zu gehen. Der Wind war schneidend kalt gewesen und es war einer der kältesten Winter seit Jahren gewesen. Dennoch hatte es sie nicht von ihrem Vorhaben abgehalten und ihr Weg hatte sie zu einem Hügel geführt, von wo man aus hervorragend mit dem Schlitten hinunterfahren konnte. Der Hügel selbst war steil und vom Eis glatt gewesen und während Michael immer wieder lachend mit dem kleinen Holzschlitten hinuntersauste, hatte Jordan Angst davor gehabt. Es war ihm zu gefährlich vorgekommen und so war er wie angewurzelt auf dem Hügel stehen geblieben und traute sich nicht hinunter. Selbst seine Mutter konnte ihn nicht dazu überreden und rutschte stattdessen mit ihrem älteren Sohn hinunter. Als sie jedoch abgelenkt war und ihre Kinder für einen Moment aus ihrem Blickfeld ließ, da war Michael an ihn herangetreten. „Fahr mit mir runter!“ hatte dieser ihn aufgefordert. Doch Jordan hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt „Ich will nicht. Das sieht gefährlich aus und ich habe Angst!“ Er hatte wirklich Angst gehabt und fast geheult, denn allein der Gedanke daran, dass er sich bei einem Unfall die Knochen brechen könnte, war zu schrecklich für ihn. Und er hatte wirklich gehofft, dass Michael es verstehen und ihn in Ruhe lassen würde. Obwohl es nur ein harmloses Nein war, hatte es gereicht um Michael so wütend zu machen, dass dieser seinen kleinen Bruder gepackt und den Hügel hinuntergestoßen hatte. Jordan war den ganzen Weg hinuntergestürzt und hatte sich dabei nicht nur den Arm gebrochen, sondern auch eine schwere Kopfverletzung hinzugezogen und er musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Er hatte den gefährlichen Sturz überlebt, doch sein Zustand war besorgniserregend gewesen. Und hatte sein Bruder sich entschuldigt oder sogar Reue gezeigt? Nein… Michael war wütend und erklärte „Wärst du nicht so eine Heulsuse gewesen, dann wäre das nicht passiert!“ Die Verletzung an seinem Kopf war verheilt, aber etwas hatte sich nachhaltig verändert. Sein Empfinden war nicht mehr so wie sonst und er schaffte es nicht mehr, so etwas wie Mitgefühl für andere zu empfinden oder sich in sie hineinzuversetzen. Andere Menschen erschienen ihm nicht mehr so wie vorher, aber das verstand er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Erst viele Jahre später sollte er erkennen, was dieser Sturz eigentlich mit seinem Kopf angerichtet hatte. Vor allem hatte dieses Ereignis ihn eines gelehrt: sein Bruder war gemeingefährlich und es brauchte nicht einmal eine Beleidigung, um ihn aggressiv zu machen. Und seit diesem Tag war das Einzige, was er für Michael empfand, nichts als eine Mischung aus Abscheu und Hass. Der zweite Schlüsselmoment in seinem Leben war eine Beobachtung gewesen. Es war eine heiße Sommernacht gewesen und er hatte schweißgebadet im Bett gelegen und konnte keine Ruhe finden. Unruhig hatte er sich in seinem Bett herumgewälzt und hatte schließlich beschlossen, sich eine kleine Abkühlung zu verschaffen. Also war er ins Bad gegangen, um sich mit kaltem Wasser zu waschen. Und als er danach wieder in sein Zimmer zurückkehren wollte, hatte er Stimmen gehört. Die Stimme gehörte seiner Mutter. Die Neugier hatte ihn übermannt und er war der Stimme gefolgt. Sie führte ihn direkt zum Kaminzimmer und er öffnete die Tür nur einen Spalt breit um nicht zu stören. Er wollte ja nur sehen, mit wem seine Mutter so spät in der Nacht redete. Und was er sah, verwirrte und ängstigte ihn. Denn er sah seine Mutter auf und ab laufen und mit sich selbst reden. Noch nie zuvor hatte er so etwas Seltsames gesehen und konnte es auch nicht verstehen. Wie denn auch? Er war nur ein Kind zu der Zeit gewesen. Und die Szene, die sich im Zimmer abspielte, wirkte bizarr und wie aus einem Film. Katherine lief rastlos auf und ab und schrie sich selbst immer wieder an. Und gleichzeitig lieferte sie sich selbst Konter. In der linken Hand hielt sie ein Küchenmesser und allein das zu sehen war schon verstörend genug für den 11-jährigen Jordan Evans. Und was er hörte, traf ihn tief in sein Innerstes und verfolgte ihn bis zum Tag seines Todes. „Es ist allein deine Schuld, dass dein Sohn ein Problemfall geworden ist. Ich habe es dir ja gesagt. Dein verdorbenes Blut hat ihn krank gemacht und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch dein anderer Sohn verrückt wird. Tu dir selbst und deinen Kindern einen Gefallen und erlöse sie von dem Leid, bevor es zu spät ist.“ Dabei hob sie das Messer und grinste. Ein mordlustiges Funkeln lag in ihren Augen und sie erinnerte Jordan an die gruseligen Mörder, von denen man immer in Horrorgeschichten erzählte. Er erstarrte und ihn überkam für einen Augenblick Angst vor seiner Mutter. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr und er verstand nicht, was mit ihr los war und warum sie sich so verhielt. Aber so wie sie im Moment aussah, glaubte er tatsächlich, dass sie gleich zu ihm kommen und ihn mit dem Messer umbringen wollte. Er wollte wegrennen und sich verstecken, doch sein Körper war wie erstarrt und er konnte sich nicht vom Fleck rühren. Etwas hielt ihn davon ab, wegzuschauen. Vielleicht war es allein dieses Bizarre und Unnatürliche an dieser Szene, das sein Hirn davon abhielt, klar zu denken. Er beobachtete, wie sich die Gesichtszüge seiner Mutter änderten. Das mordlustige und sadistische Lächeln schwand und wich Fassungslosigkeit, Angst und Wut. Sie packte mit der anderen Hand ihr linkes Handgelenk, als müsste sie sich selbst davon abhalten, mit dem Messer auf ihre Familie loszugehen. Es sah tatsächlich aus, als hätte eine fremde Macht Besitz von ihrer linken Körperhälfte ergriffen und als müsste sich der andere Teil von ihr mit aller Macht dagegen wehren. Schließlich schaffte der normale Teil von ihr, gänzlich die Kontrolle zurückzuerlangen, doch es sah aus, als müsste sie dafür ihre gesamte Kraft aufwenden. Sie umklammerte das Küchenmesser mit beiden Händen und drückte sich die Klinge gegen ihre Halsschlagader. „Wag es, meinen Kindern auch nur ein Haar zu krümmen und ich bringe dich um. Ich lasse nicht zu, dass du verdammte Schlampe ihnen wehtust und wenn ich mir dafür ein scheiß Messer in den Hals rammen muss. Solange ich hier noch etwas zu sagen habe, werde ich das nicht zulassen!“ „Bist du verrückt?“ rief dieses andere Ich und blanker Zorn glomm in ihren goldgelben Augen auf. „Wenn du mich umbringst, dann stirbst du ebenfalls.“ „Gut erkannt!“ erwiderte seine Mutter und schaffte es, sich weiterhin das Messer an der Kehle zu halten, obwohl es danach aussah, als wollte diese andere Seite in ihr sie gewaltsam davon abhalten. „Und ich meines es ernst: wenn du es wagen solltest, Hand an meine Kinder zu legen, dann bringe ich uns beide um. Lieber sterbe ich als zuzulassen, dass du meinen Kindern wehtust, du krankes Monster!!!“ Diese bizarre Szene hatte sich tief in Jordans Gedächtnis gebrannt und ihm waren sogar die Tränen gekommen, als er diese Beobachtung machte. Er konnte nicht fassen, dass seine Mutter so krank war und es die ganze Zeit vor ihnen erfolgreich versteckt hielt. Nun gut, er hatte bereits eine leise Ahnung gehabt, dass seine Mutter gewisse Dinge tat, wann immer sie sagte dass sie „die Dinge regeln werde“. Als eines der Hausmädchen ihn im Alter von sechs Jahren geohrfeigt hatte, weil er nach einem schlimmen Alptraum ins Bett gemacht hatte, da war er weinend zu seiner Mutter gerannt. Sie hatte ihn getröstet und ihm versichert, dass sie das regeln würde. Danach hatte er das Hausmädchen nie wieder gesehen. Doch sie in so einem Zustand zu sehen, war zu viel für seinen kleinen Verstand. Es schockierte ihn zutiefst, dass seine Mutter, die so liebevoll und beschützend war, in Wahrheit schwer krank war. Sie, die immer für sie da war, mit ihnen lachte, sie mit Liebe und Zuwendung überschüttete und ihnen Gutenachtgeschichten vorlas oder ihnen ein Schlaflied vorsang, rang mit sich selbst damit sie ihre eigenen Kinder nicht töten würde. Und noch eines wurde ihm bewusst: diese bösartige Seite in ihr… sie erinnerte ihn an Michael. Die Erkenntnis über die Krankheit seiner Mutter und der Ähnlichkeit mit Michaels Wahnsinn hatte Jordan wie ein Geist heimgesucht und ihn immer wieder darüber nachgrübeln lassen. Er hatte Angst vor dieser bösartigen Seite, aber dennoch war die Liebe zu seiner Mutter ungebrochen. Doch die Angst davor, genauso zu werden wie sie oder sein Bruder, quälten ihn Tag und Nacht. Und schließlich war er nach vielen schlaflosen Nächten zu einer Schlussfolgerung gekommen, die sein Wesen nachhaltig prägte: wenn er sich innerlich völlig verschloss und unauffällig wurde, dann würde er seiner Mutter keine Sorgen mehr bereiten. Wenn Gefühle zu verschließen bedeutete, nicht wie sein Bruder zu werden, würde es vielleicht seiner Mutter helfen, sich besser gegen ihren eigenen Wahnsinn durchzusetzen. Er wollte ihr keinen Kummer bereiten oder ihr eine zusätzliche Last sein. Auch wenn ihm die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, verloren gegangen war, konnte er es nicht ertragen, seine Mutter leiden zu sehen. Nicht sie, die ihm als einziger Mensch Liebe schenkte. Also war es an ihm, möglichst still und unauffällig zu sein, wann immer Michael laut und verhaltensauffällig wurde. Und so verschloss Jordan sich innerlich vor der Welt. Er wurde still und ließ nicht zu, dass auch nur irgendein Gefühl von ihm nach außen drang. Keine Wut, keine Freude, keine Trauer… Nichts von ihm drang mehr nach draußen. Wann immer der Drang ihn überkam, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, hielt er sich selbst die Szene im Kaminzimmer vor Augen um sich daran zu erinnern, wie sehr seine Mutter zu leiden hatte. Es war nicht immer einfach, aber irgendwann wurde es für ihn zum Normalzustand. Die Farben seiner Gefühlswelt wurden matter und nichts vermochte irgendeine emotionale Reaktion bei ihm hervorzurufen. Dann schließlich, ein paar Jahre später, wurde sein kleiner Bruder Leron geboren und Jordan kam zu einer weiteren Erkenntnis: er empfand für seine Brüder nichts als Abscheu. Dass Michael ungefähr so liebenswert wie ein Kaktus war, das war nichts Neues und es gab allen Grund, ihn zu meiden oder zu hassen. Er verprügelte regelmäßig andere Kinder und tötete kleine Tiere, nachdem er sie lange genug gequält hatte. Hätte Jordan sich dem ganzen nicht angepasst und sich seinem Bruder angeschlossen, dann wäre er genauso ein Opfer geworden. Seine emotionale Verschlossenheit machte es für ihn einfacher, mit Michael zu harmonieren, der seinerseits unkontrollierbar war und seine eigenen Gefühle nicht in Zaum halten konnte. Aber es änderte nichts daran, dass er seinen älteren Bruder zutiefst verachtete. Nicht nur für den Vorfall beim Schlittenfahren, für den Michael allen Ernstes ihn verantwortlich gemacht hatte. Nein, er verachtete ihn vor allem dafür, dass er in ihm nichts anderes sah als die Krankheit seiner Mutter. Und nicht anders war es mit Leron. Obwohl sein jüngster Bruder noch viel zu klein war, um das ganze Ausmaß der Krankheit seiner Mutter und seines ältesten Bruders zu verstehen, hasste Jordan ihn. Er hatte ihn von dem Zeitpunkt an gehasst, als Leron das Licht der Welt erblickt hatte. Seine Brüder waren für ihn nichts weiter als die Erinnerung an die Krankheit seiner Mutter. Sie waren nichts als ein lebendes Krankheitsgeschwür, das man am besten loswerden sollte. So etwas war in seinem Augen keine Menschen… sie waren eine Plage! Und während er all seine Gefühle verschlossen hatte, um seiner Mutter keine Last zu sein, hatten seine Brüder nichts Besseres zu tun, als Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen. Michael war gewalttätig, jähzornig und grausam und Leron war eine Heulsuse, die immer nach seiner Mutter schrie und herumflennte, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie waren selbstsüchtig und egoistisch in seinen Augen. Und darum hatte er nie auch nur einen Anflug von Schuldgefühlen gehabt, wenn er seinen jüngsten Bruder festhielt, wenn Michael ihn quälte. Zum einen hatte er ohnehin keine große Wahl gehabt. Hätte er sich Michael widersetzt, dann wäre ihm wieder etwas Ähnliches widerfahren wie beim Schlittenfahren. Vielleicht wäre er blutig geprügelt oder genauso missbraucht worden. Es war somit einfacher und vor allem besser, sich Michael nicht zum Feind zu machen. Jordans Gefühle gegenüber seinen Brüdern hatten sich nie geändert. Sie waren allerhöchstens stärker geworden, als seine Mutter schließlich ins Hospiz gebracht wurde, nachdem bei ihr Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium festgestellt worden war. Sie hatte bereits zu Lebzeiten häufig mit Magenproblemen zu kämpfen gehabt und bereits ein Magengeschwür gehabt, das sie sogar zu einem mehrwöchigen Kuraufenthalt gezwungen hatte. Und als sie nun in diesem schäbigen Zimmer in einem heruntergekommenen Hospiz lag, da konnte er nicht anders als seine Brüder dafür zu hassen. Obwohl sie den Krebs ihrer Mutter nicht verschuldet hatten, so gab Jordan ihnen dennoch die Schuld an der Tatsache, dass ihrer Mutter kein glücklicheres Leben vergönnt war und sie all die Jahre mit sich selbst kämpfen musste. Die geistige Krankheit seiner Mutter, die sich in seinen Brüdern widerspiegelte, hatten sie in den Tod getrieben. Der Krebs hatte ihr nur endgültig den Rest gegeben. Selbst viele Jahre später, als Jordan erwachsen war, verband er die gesundheitlichen Beschwerden seiner Mutter mit seinen Brüdern. Ihr Magengeschwür, das allein durch schweren Stress ausgelöst wurde, hatte seine Ursache allein darin, dass sie sich Tag für Tag mit Gewalt davon abhalten musste, ihren Kindern nichts anzutun. Und seine Brüder hatten nichts Besseres zu tun, als ihr noch mehr Stress zu machen. Letzten Endes waren sie für ihren Tod verantwortlich! Als Jordan schließlich älter wurde und an der Universität studieren ging, lernte er ein Mädchen kennen und sie hatte sich sogar in ihn verliebt. Doch wirklich geliebt hatte er sie nicht. Selbst als sie mit ihm Schluss machte und ihn für einen anderen verließ, empfand er kaum etwas dabei. Und als er später Evelyn kennen lernte und fest stand, dass sie heiraten würden, empfand er nicht das, was er sich eigentlich erhoffte. Er liebte sie, das wusste er genau. Aber dieses Gefühl war kaum spürbar und er war nicht in der Lage, ihr die Art von Liebe zu geben, die sie verdient hatte. Evelyn selbst hatte sich damit abgefunden und verstand, dass er kein Gefühlsmensch war. Aber Jordan selbst beschäftigte es. Inzwischen hatte selbst seine eigene Familie den Eindruck gewonnen, als wäre er gar nicht zu Gefühlen imstande. Dabei war das überhaupt nicht der Fall. Er empfand tiefe Abneigung gegen seine Brüder und sein Vater war ihm herzlich egal. Und Evelyn… er glaubte zumindest, dass er Liebe für sie empfand. Zumindest wollte er sie glücklich machen. Aber sie so zu lieben wie er als Kind seine Mutter geliebt hatte, dazu war er nicht in der Lage. Auch wenn er wusste was Freude, Trauer, Neid und Wut waren, fühlte er sich außer Stande, diese Emotionen so zu empfinden wie andere Menschen es taten. Irgendetwas in ihm war vollkommen abgestumpft und er kam nicht mehr aus dieser verkümmerten Gefühlswelt heraus. Es war, als hätte er inzwischen vollkommen verlernt wie es war, Gefühle zu empfinden und auszuleben. Alles, was er verspürte, waren nur noch sehr schwache Funken und selbst die erloschen nach kurzem wieder. Ihm wurde klar, dass seine Entscheidung von damals, keine Gefühle mehr nach außen zu tragen, ihn mehr verändert hatten als ihm lieb war und er als Erwachsener verlernt hatte, wie man Gefühle zeigte oder bewusst wahrnahm. Seine innere Welt hatte ihre Farben verloren und war grau geworden. Die einzigen Gefühle, die er noch intensiv wahrzunehmen vermochte, war der Hass gegen seine Brüder und die Liebe zu seiner Mutter. Aber inzwischen waren es eher Erinnerungen an diese Gefühle, denn wirklich fühlen konnte er sie nicht mehr. Er erinnerte sich lediglich lebhaft daran, wie er damals gefühlt hatte . Und so grau, wie er sich innerlich fühlte, so wirkte er auch nach außen. Und ohne es zu wissen, hatte er sein Wort gehalten, dass er seiner sterbenden Mutter gegeben hatte: er würde nie wieder jemanden so lieben wie sie. Ganz einfach aus dem Grund weil er keinen Mensxhen mehr wirklich lieben konnte. Seine Frau Evelyn hatte Verständnis gezeigt und war trotz allem nie von seiner Seite gewichen. Als er ihr in einem sehr intimen Gespräch vor dem Heiratsantrag klar gemacht hatte, dass er unfähig war, Gefühle zu zeigen, da war es ihr egal gewesen. Und selbst das Wissen, dass sie von ihm nie die gleiche Leidenschaft und Hingabe erwarten konnte wie von anderen Männern, hatte sie nicht gestört. Sie hatte ihn trotz dieser Tatsachen aufrichtig geliebt und war ihm stets treu geblieben. Und auch wenn er diese Art von Liebe nicht erwidern konnte, so hatte Jordan andere Wege für sich gefunden, seiner Frau die Aufmerksamkeit zu widmen, die sie verdient hatte. Er überraschte sie mit Blumen, dachte rigoros an ihren gemeinsamen Jahrestag und Hochzeitstag und machte sich stets ernste Gedanken, wenn es um ein Geburtstagsgeschenk für sie ging. Das war die einzige Art von Zuwendung, die er ihr zeigen konnte. Als sie schwanger wurde und er schließlich Vater zweier Töchter wurde, da begann diese unentrinnbare Gefühlskälte an ihm zu nagen. Er wollte seinen Töchtern dieselbe Zuwendung geben, die seine Mutter ihm damals gegeben hatte. Ja er wünschte sich sogar, er könnte mit anderen Menschen mitfühlen und mit ihnen Gefühle wie Freude oder Leid teilen. Und doch konnte er es nicht. Sein Herz war so kalt geworden, dass er zu solchen Dingen nicht mehr imstande war. Und egal was er auch versuchte, er konnte dieser inneren Kälte nicht entkommen. Das Einzige, was er tun konnte war, anderweitig für seine Familie da zu sein und sie zu beschützen. Er begann sich von Michael mehr und mehr zu distanzieren, um nicht in seine Skandale hineingezogen zu werden. Zwar pflegte er ein „freundschaftliches“ Verhältnis zu ihm oder besser gesagt ließ er ihn das glauben, aber sie sahen sich fast nur noch geschäftlich. Für Jordan stand fest, dass er alles tun würde, damit Michael nicht auf die Idee kam, seinen Wahnsinn an Evelyn und seinen Töchtern auszulassen. Also tat er das, was er als notwendig ansah, um Michael nicht zu verstimmen… bis zu dem Tag, an dem er von der Diagnose seines Bruders erfuhr. Als sich der für ihn glückliche Zufall ereignet hatte, Leron im Restaurant über den Weg zu laufen und dabei erfuhr, dass dieser mit einem von Michaels Lustknaben ausging, hatte Jordan einen Plan gefasst gehabt. Um seine verhassten Brüder endlich aus dem Weg zu räumen und sie für das zu bestrafen, was sie ihrer eigenen Mutter angetan hatten, hatte es sich Jordan zum Ziel gemacht, sie gegeneinander auszuspielen. Er wollte sie beide ein für alle Male loswerden, um nie wieder an die Vergangenheit erinnert zu werden. Und er wollte Gerechtigkeit. Also hatte er Michael sofort von seiner Entdeckung erzählt mit dem Wissen, dass sein geisteskranker großer Bruder sich das nicht gefallen lassen würde. Und Leron, der fast genauso verrückt war wie Michael, würde entweder von ihm untergebuttert werden, oder vielleicht sogar zum Gegenschlag ausholen. Alles war ihm Recht gewesen. Hauptsache war, dass sie endlich für immer aus seinem Leben verschwanden. Und als er an diesem einen Tag, der sein letzter werden sollte, einen Anruf von Michael erhielt und von dessen bevorstehenden Tod erfuhr, da überkam es ihm. Nach all den Jahren dieser inneren Gefühlskälte und Monotonie empfand er etwas so intensiv, dass es ihm beinahe die Luft raubte: Genugtuung. Erleichterung und Genugtuung. Nach all diesen vielen Jahren war es ihm endlich vergönnt, seinen Bruder fallen zu sehen und ihn für das bezahlen zu sehen, was er getan hatte. Und wie bitter war doch die Ironie, dass ein Hirntumor Michael den Rest geben sollte, nachdem dieser gemeingefährliche Verrückte ihm als kleines Kind einen irreparablen Hirnschaden eingebrockt hatte, der ihn unfähig machte, überhaupt noch Empathie zu empfinden. Die Schadenfreude hatte ihn überwältigt und er konnte endlich tun, was er schon seit langem hatte tun wollen. Also hatte er ihm klar zu verstehen gegeben, dass sein Bruder ihm herzlich egal war und er sich einen Dreck um dessen Diagnose scherte. Sollte sich dieser Wahnsinnige allein um seine abartigen Triebe und Vorlieben kümmern, er war nicht auf ihn angewiesen. Wäre Jordan überhaupt noch in der Lage gewesen, seiner Wut und seinem Hass Ausdruck zu verleihen, dann wäre es nicht bloß bei einer kalten Abfuhr geblieben. Nein, er hätte ihm die schlimmsten Verwünschungen in den Hörer gebrüllt und vermutlich sogar Dinge gesagt, die nicht einmal seine selige Mutter in den Mund genommen hätte. So aber behielt er seinen Hass und seine Abscheu für sich, nicht ahnend dass dies sein Todesurteil endgültig besiegelte als Michael wenig später zur Waffe griff und auf blutige Rache sann… Epilog: Jahresende ------------------ Der Winter hatte die Stadtgemeinde Annatown in seinem eisigen Griff und ein kalter Wind pfiff durch die Straßen. Die ganze Landschaft war von einer dicken Schneedecke eingehüllt und es hatte lange gedauert, die Straßen wieder freizuschaufeln. Schon seit Tagen dauerte dieses Schneetreiben an und es sah auch nicht danach aus als würde es bald enden. Die Heizungen waren aufgedreht und wer sich draußen aufhielt, der hatte sich dick angezogen und trug Stiefel. Der Schnee ging inzwischen kniehoch und die Kinder hatten ihre helle Freude dabei, Schneemänner zu bauen oder Schlitten zu fahren. Simon hätte am liebsten den ganzen Tag am Fenster gesessen und das muntere Treiben auf den Straßen beobachtet. Er selbst hatte es sich mit einer Tasse Kakao und einem dicken Rollkragenpullover, den seine Großmutter ihm gestrickt hatte, im beheizten Wohnzimmer ihres neuen Ferienhauses gemütlich gemacht. Ein Feuer prasselte im Kamin und der leichte Geruch des brennenden Holzes versetzte ihn in eine fast schon nostalgische Stimmung. Vielleicht mochte es aber auch daran liegen, weil nach all diesen ereignisreichen Wochen und Monaten das Jahr sich langsam seinem Ende zuneigte. Es war wirklich kaum zu glauben. So viel war passiert und sein Leben hatte eine so drastische Wendung genommen. Nicht nur, dass er seine Familie gefunden hatte, es war auch sein allererstes Weihnachtsfest gewesen, das er nicht alleine verbringen musste. Und was das für ein Weihnachtsfest gewesen war! Leron und er waren zu Rose und Scott auf der Evergreen Farm eingeladen worden und auch seine anderen Verwandten waren zu Besuch gekommen. Grace, ihre Enkel Charity und Elion, sein Onkel Seth der sonst immer in der Backwater Klinik arbeitete, seine Halbschwester Faith und sogar Cypher und Hunter waren von New York hierhergereist. Es war eine wirklich ausgelassene Stimmung gewesen und noch nie in seinem Leben hatte Simon so viel Spaß gehabt. Die Weihnachtsabende im Waisenhaus waren nichts im Vergleich gewesen und es wurde viel erzählt und gelacht. Vor allem Faith und Cypher zu beobachten, war genug um jedem, der sich das Schauspiel ansah, ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Faith, die sich nichts Sehnlicheres wünschte als ein vollwertiges Mädchen zu sein, hatte schon einen Weg für sich gefunden, sich weiblich zu kleiden und sein lang gewachsenes Haar entsprechend zu frisieren. Aber Cypher hatte dem Ganzen schließlich die Krone aufgesetzt. Obwohl der Künstler selbst nicht allzu viel von der Damenwelt verstand, hatte er es sich in den Kopf gesetzt, mit seiner kleinen Schwester über Styling zu sprechen und sogar Ratschläge zu geben. Dies war schnell darin ausgeartet, dass sie sogar damit begannen, aus der Weihnachtsfeier eine Art kleine Privatmodenschau zu machen. Schließlich hatte er Faith sogar dazu überredet gehabt, es mal mit Punkstyle auszuprobieren. Für Faith, die noch den Körper eines Jungen hatte, wurde der Tag noch besser, als Leron selbst anbot, die Geschlechtsumwandlung zu spendieren, da Rose und Scott dafür das Geld fehlte. Diese versuchten zunächst, Leron davon abzubringen weil es sie regelrecht in Verlegenheit brachte, dass er ihnen solch eine große Summe spenden wollte. Aber Leron ließ sich davon nicht abbringen und erklärte, dass er selber sehr gut nachvollziehen konnte wie es war, nicht für das akzeptiert zu werden was man war. Und so war es beschlossene Sache und wenn es nach Faith gegangen wäre, dann wäre sie noch am selben Abend nach New York geflogen um sich umoperieren zu lassen. Simon selber hatte sich mehr mit seiner Cousine Charity unterhalten, die für ihn inzwischen seine beste Freundin geworden war. Auch wenn sie immer wieder durch irgendwelche unachtsamen Kommentare in Fettnäpfchen treten konnte, eines musste man ihr zugutehalten: ihre Hartnäckigkeit. Dies hatte sich insbesondere gezeigt, als Leron versucht hatte, in Islesbury ein Haus zu kaufen. Als sich nämlich herausgestellt hatte, dass er ein Angehöriger der Cohans war, wollte man ihm nichts verkaufen. Eine Erklärung gab es zunächst nicht, erst später erfuhren sie, dass den Cohans lange Zeit verboten wurde, in Islesbury zu wohnen. Und man wollte sichergehen, dass die Stadt nicht durch „unliebsame Störfaktoren“ ihren guten Ruf verlor. Kaum, dass Simon dies seiner Familie erzählt hatte, hatte Charity sich der Sache angenommen und nur gesagt, sie würde das klären gehen. Nur zwei Anrufe ihrerseits hatten genügt, um diesen Vorfall zu klären und Leron konnte endlich das Haus kaufen. Wie Charity es geschafft hatte, das Kinsleyoberhaupt nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, hatte sie nicht gesagt. Sie hatte aber angedeutet, dass sie etwas gegen die anderen in der Hand hätte. Dieses Ereignis hatte sie schließlich bei der Weihnachtsfeier zum Besten gegeben und sich darüber amüsiert, wie schnell die Kinsleys klein bei gegeben hatten, als sie mit ihnen geredet hatte. Und als der Alkohol floss und die Konditorin sichtlich angeheitert war, erfuhren Simon und Leron schließlich den Grund, warum sie die Kinsleys in der Hand hatte. Seit diesem Zeitpunkt erachtete keiner von ihnen die Konditorin mehr als naiv oder zu gutmütig. Schließlich, nachdem sich die Stimmung sichtlich gelockert hatte und man in bester Stimmung war, hatte die Bescherung begonnen. Und das war einer der schönsten unvergesslichen Augenblicke in seinem Leben gewesen. Während Roses Pflegekinder sich mit Begeisterung ihren eigenen Geschenken gewidmet hatten und aufgeregt durcheinander redeten, hatte Leron ihn beiseite genommen und ihm sein Geschenk überreicht. Simon hatte mit einigem gerechnet, aber nicht damit, dass Leron ein kleines Schmuckkästchen hervorholte und ihm einen Ring darin präsentierte. Einen Verlobungsring. Glücklich lächelnd betrachtete Simon seinen Verlobungsring und immer noch fühlte es sich an, als würde er träumen. Obwohl bereits fast eine Woche vergangen war, konnte er sich noch nicht so wirklich an den Gedanken gewöhnen, dass er und Leron jetzt offiziell verlobt waren. Und immer wieder betastete er den Ring, als wolle er sichergehen, dass es keine Einbildung war. Der Ring bestand aus Titan und wurde an der Außenseite von zwei Streifen Carbon eingerahmt. Es war eine nette Abwechslung zu den klassischen Goldringen und Simon musste zugeben, dass es vor allem zu Leron passte. Der Ring sah außerordentlich elegant und hochwertig aus das Design gefiel ihm sehr. Ein traditioneller Goldring hätte auch nicht wirklich zu ihnen beiden gepasst. Und mit Sicherheit hatte sich Leron lange Gedanken darüber gemacht. Das Schönste am Ring aber war die geschwungene elegante Gravur in der Titanoberfläche: Yours forever. Und an der Innenseite war nicht etwa bloß Name und Datum eingraviert. Stattdessen war Lerons Fingerabdruck eingraviert worden. Mit so etwas hatte Simon im Leben nicht gerechnet, auch wenn es ihm ein wenig merkwürdig vorgekommen war, dass Leron Wochen zuvor nach einem Fingerabdruck von ihm gefragt hatte. Er hatte sich aber auch noch nie zuvor mit solchen Themen beschäftigt und hatte nicht einmal gewusst, dass es überhaupt so etwas gab, dass man Fingerabdrücke in den Verlobungsring eingravieren lassen konnte. Aber gleichzeitig hatte es auch etwas viel intimeres als bloß ein eingravierter Name. Vor allem aber gab es ihm das Gefühl, dass, egal was auch in Zukunft passieren mochte, sie zusammenhalten würden. Mehr noch als das Halsband, was er inzwischen wieder trug, war der Ring der unumstößliche Beweis, dass sie zueinander gehörten. Und ganz gleich was bei ihren Sessions passierte, sie beide waren nach wie vor gleichberechtigt und trugen gleichermaßen die Verantwortung für ihre Beziehung. Das war ihm am Wichtigsten gewesen: nicht mehr wie ein schutzbedürftiger kleiner Junge behandelt zu werden, sondern als gleichgestellter Partner. Und nun, nachdem die Wochen seit ihrer Ankunft in Annatown ins Land gezogen waren, spürte er auch, wie sehr es ihnen beiden diese Flucht aus New York gut getan hatte. Sechs Wochen hatten sowohl er als auch Leron in der Pension verbracht und gleichermaßen Kuren und Therapien in Anspruch genommen, um wieder zu sich selbst zurückzufinden und sich von den ganzen Strapazen zu erholen. Es hatte ihnen beiden mehr als gut getan und nicht nur seine eigene Stimmung und körperliche Verfassung hatten sich deutlich gebessert. Es hatte lange gebraucht, bis er endlich seine Depression und seine Selbstzweifel überwinden und mit neuer Energie und neuem Selbstbewusstsein weitermachen konnte. Auch Leron wirkte nun wesentlich entspannter und weniger ernst und bedrückt als sonst. Er schlief besser, war nicht mehr blass und übermüdet und vor allem weniger angespannt und unruhig. Seine Laune besserte sich zusehends und er genoss auch mal die Ruhe, anstatt sich stets und ständig in Arbeit zu stürzen und sich immer mehr Last aufzubürden. Bei der Weihnachtsfeier hatte er sogar lauthals mit Grace und Charity gelacht und ein paar lustige Anekdoten zum Besten gegeben. Es war so, als wäre der Schatten, der jahrelang auf seiner Seele gelegen hatte, von ihm abgefallen. Und auch Simon selbst hatte sich selten besser gefühlt als jetzt. All die Unsicherheit und Traurigkeit war aus seinem Herzen verschwunden und alles, woran er jetzt noch denken wollte, war an seine Zukunft mit Leron. Selbst der Gedanke, nach New York zurückzukehren, erschien ihm nicht mehr so schrecklich wie zu Beginn seiner Zeit in Annatown. Inzwischen freute er sich sogar darauf, bald wieder zurückzukehren und ihr neues Heim zu beziehen. Zwar war Annatown ein idealer Ort für eine Kur, aber tief in seinem Herzen war er einfach ein Stadtkind und ihm fehlte so langsam aber sicher New York. Und wer weiß, vielleicht würden sie zu Beginn des Frühlings wieder zurückkehren. Dann konnten sie ihren ersehnten Neuanfang starten. So wie er Leron kannte, wollte dieser sich so oder so etwas Neues suchen. Sich ein sorgloses Leben zu machen und von seinem Privatvermögen zu leben, war keine Option für ihn. Er brauchte die Arbeit und die Herausforderung und er würde definitiv etwas finden, daran hatte Simon keinen Zweifel. Was ihn selbst betraf, so hatte er mit Leron bereits geredet und sein Wunsch stand fest, vernünftige Arbeit zu finden und etwas zu haben, worauf er selber stolz sein konnte. Sich auf Lerons Kosten ein schönes Leben zu machen, war für ihn keine Zukunft. Nein, er wollte einer vernünftigen Arbeit nachgehen, sein eigenes Geld verdienen und sich selbst beweisen, dass er für sich selbst sorgen konnte. Tief in Gedanken versunken bemerkte Simon erst gar nicht, dass die Haustür geöffnet wurde. Immer noch schaute er nach draußen und beobachtete die Kinder beim Spielen im Schnee. Als er dann aber eine eiskalte Hand an seiner Halsbeuge spürte, da zuckte er erschrocken zusammen und drehte sich um. Leron stand vor ihm, sein Mantel von geschmolzenen Schneeflocken nass und sein Gesicht gerötet von der Kälte. Er bedachte Simons Reaktion mit einem schelmischen Grinsen und nahm seinen Schal ab. „Na da ist aber jemand schreckhaft. Plagt dich etwa ein schlechtes Gewissen.“ „Als ob du dich nicht erschrecken würdest, wenn dir jemand seine eiskalten Hände an den Hals hält“, gab Simon neckisch zurück und musste lachen. „Und? Ist es sehr kalt draußen?“ Ein Nicken kam zur Antwort und Leron warf seinen Mantel über die Couch und rieb sich seine Hände um sie zumindest ein wenig zu wärmen. Glücklicherweise brannte noch Feuer im Kamin und spendete genügend Wärme. Simon erhob sich von seinem Platz und ging in die Küche, um dem Zurückgekehrten etwas zu trinken zu bringen. Ein heißer Kaffee war jetzt genau das Richtige, um ihn wieder aufzuwärmen. „Und wie sieht es in der Stadt aus?“ rief er quer durch die Räume, während er die Kaffeemaschine anschaltete. „Bist du gut durchgekommen?“ „Der Verkehr ist ein Witz, aber es gibt Schlimmeres. Aber wenigstens habe ich alles gekriegt, was wir für einen gemütlichen und romantischen Abend brauchen.“ „Also keine Feuerwerksraketen und Böller?“ „Könnten wir auch machen, aber ich meine mich zu erinnern, dass du etwas von einem ruhigen und entspannten Abend an einem gemütlichen Feuer und einem Gläschen Wein gesagt hast.“ Schließlich kam Simon mit einer Tasse Kaffee mit einem Schuss Milch zurück ins Wohnzimmer. Leron hatte es sich bereits auf der Couch bequem gemacht und wartete bereits auf ihn. Er hatte eine Weinflasche auf den Tisch gestellt, die er beim Weinhändler gekauft hatte und merkte noch an „Lieblich, extra für dich.“ Zum Dank gab Simon ihm einen Kuss, reichte ihm den Kaffee und kuschelte sich zu ihm. Er war wirklich stolz auf Leron, dass er so hart an sich gearbeitet hatte. In der Anfangszeit war es ihm schwer gefallen, alltägliche Aufgaben ohne Hilfe seines Butlers zu erledigen und so hatte er sich relativ unbeholfen angestellt, was Einkäufe oder Aufgaben im Haushalt erledigte. Aber Simon musste zugeben, dass es ihm auch Spaß machte, Leron etwas beizubringen. So hatte er zur Abwechslung auch mal das Gefühl, dass er die Zügel in der Hand hatte. Ihm das Kochen beizubringen, hatte ihm am allermeisten Spaß gemacht. Nicht zuletzt weil Leron absolut hilflos gewesen war und vor allem Probleme hatte, Gemüse vernünftig zu schneiden. Aber es waren Momente wie diese, die sie noch mehr zusammenschweißte. Doch etwas fehlte trotzdem. Mit einem leichten Seufzer legte er seinen Kopf auf Lerons Schulter und nahm seine Hand. Dabei wanderte sein Blick zu Lerons Verlobungsring, wo der gleiche Spruch eingraviert war wie auf seinem eigenen. Und sein persönlicher Fingerabdruck zierte die Innenseite des Rings. „Wann sollen wir eigentlich wieder nach New York zurückkehren?“ fragte er schließlich. „Um ehrlich zu sein vermisse ich die Trainingsstunden im Keller.“ Leron schmunzelte und legte einen Arm um seinen Verlobten. „Du vermisst die Sessions? Dabei habe ich dich erst gestern eingeschnürt und dir den Hintern versohlt.“ „Es ist halt nicht das Gleiche“, gestand Simon. „Fesselspielchen im Bett sind eine Sache. Aber die Rollenspiele im Keller und dieser Nervenkitzel der besonderen Art sind etwas ganz anderes. Und ich glaube, dir geht es genauso wie mir.“ Das stritt Leron durchaus nicht ab. Sie beide vermissten es und sie waren jetzt auch endlich wieder soweit, dass sie sich darauf einlassen konnten. Simon wusste, dass Leron sich am meisten zurückhalten musste und Opfer für ihn gebracht hatte. Und das alles nur, weil er der wichtigste Mensch für ihn war. Und jetzt war die Zeit der Opfer vorbei. „Wie wäre es, wenn wir nach Neujahr zurückkehren?“ schlug Leron vor. „Ende Januar ist die neue Villa fertig renoviert und dann können wir einziehen. Ich hatte gestern noch mal mit dem Innenausstatter telefoniert und schon die ersten Bilder von den fertigen Räumen erhalten. Ich glaube du wirst es lieben. Vor allem habe ich eine kleine Überraschung für dich vorbereitet.“ Eine Überraschung? Hier wurde Simon neugierig und fragte sofort nach. Aber Lerons Lippen blieben versiegelt und er sagte nur „Lass dich einfach überraschen.“ „Du bist so fies“, grummelte Simon ein wenig beleidigt, denn er hasste es, auf Überraschungen warten zu müssen. Dazu fehlte ihm einfach die Geduld. „Ich hoffe, dass es das wert ist.“ „Worauf du wetten kannst“, versicherte ihm sein Verlobter und gab ihm einen Kuss. „Eventuell habe ich auch schon etwas Neues in Aussicht. Kein Energieunternehmen, sondern etwas ganz anderes. Eine alte Freundin von der Universität hat vom Konzernverkauf gehört und Anthony angerufen. Der hat ihr daraufhin meine Nummer gegeben und sie hat mir angeboten, bei ihr einzusteigen. Sie leitet eine sehr erfolgreiche Hotelkette und braucht noch einen Investor um nach Europa zu expandieren. Dafür ist sie bereit, mir 25% zu geben.“ Simon, der nicht allzu viel von diesen Dingen verstand, konnte mit den 25% zuerst nicht viel anfangen und meinte zuerst „Bist du sicher, dass 25% Zinsen nicht schon Wucher sind?“ Der Milliardär lachte und musste es ihm etwas näher erläutern. „Nein Simon, das sind keine Zinsen, sondern Anteile. Wenn Firmeninhaber finanzielle Mittel brauchen, haben sie folgende Möglichkeiten: entweder Bankkredit oder einen Gesellschafter. Und um das Geld zu bekommen, müssen sie auch etwas dafür hergeben. Darum verkaufen sie Anteile ihres Unternehmens. Indem ich Geld in die Hotelkette stecke, erhalte ich Anteil am Gewinn und je höher mein Anteil ist, desto mehr Entscheidungsgewalt habe ich.“ „Ach so…“, murmelte Simon und nickte. Nun verstand er es so langsam und kam zu der Schlussfolgerung „Also bist du nicht mehr alleiniger Inhaber, sondern quasi Teilhaber. Ist das überhaupt in Ordnung für dich? Ich meine… wenn du keine alleinige Entscheidungsgewalt hast, kannst du das Ruder nicht rumreißen, wenn jemand anderes den Karren an die Wand fährt.“ „Es ist aber auch von Vorteil“, argumentierte Leron dagegen. „Wenn ich falsch liege und ich verrenne mich in irgendetwas, dann kann man mir auch in die Parade fahren. Klar ist es weniger einfach, Entschlüsse umzusetzen, aber im Geschäft sind mehrere Meinungen wichtig. Es ist quasi wie eine Art Miniaturdemokratie, nur mit dem Unterschied, dass derjenige mit den meisten Anteilen auch die meisten Stimmen hat. Folglich ist es also klug, einen gewissen Anteil zu haben. Ganz abgesehen davon mache ich mir nicht allzu viele Sorgen. Ich kenne Claudia und sie versteht auch was vom Geschäft. Außerdem habe ich die letzten Bilanzen mehr als gründlich studiert und ich denke, dass es eine gute Investition ist.“ Vor allem aber hast du dann weniger Ärger und weniger Verantwortung, dachte sich Simon und beließ es dabei, dass Leron diese Entscheidung als vernünftig ansah und damit zufrieden war. Wahrscheinlich wollte er auch einfach nicht mehr diese extreme Verantwortung schultern und hatte sich deswegen entschieden, Gesellschafter zu werden. Wirklich verübeln konnte er es ihm nicht nach dem ganzen Ärger, den er mit seiner Familie hatte. Und wenn diese alte Unifreundin eine gute Geschäftspartnerin war, dann gab es ja auch keinen Grund zur Sorge. Die Hauptsache war doch, dass Leron zufrieden mit seiner Entscheidung war. „Na das klingt doch super!“ sagte er schließlich. „Dann haben wir ja einiges, worauf wir uns freuen können, wenn wir wieder in New York sind.“ „Ein ereignisreiches Jahr geht zu Ende und ein besseres Jahr steht kurz bevor. Lass uns das nachher feiern.“ Simon ahnte schon, worauf sein Verlobter damit anspielen wollte und konnte sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen. „Sex zur Jahreswende? Auch eine Art ins neue Jahr reinzufeiern.“ „Du kennst mich gut“, gab der Milliardär ohne Umschweife zu. „Das wird aber nur eine kleine Feier zum Aufwärmen sein. Sobald wir wieder in New York sind, wird richtig Party gemacht.“ „Ich freue mich jetzt schon darauf!“ Und damit wurde es mit einem Kuss besiegelt und sie ließen das Jahr in trauter Zweisamkeit ausklingen, nicht ahnend dass das darauf folgende Jahr fast genauso ereignisreich werden würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)