The Petboy Contract von Sky- ================================================================================ Kapitel 71: Die Zeitzeugin -------------------------- Der Himmel hatte sich deutlich verdüstert und auch der Wind hatte an Stärke zugenommen. Es war kühl und so hatte Leron seinen Mantel angezogen und war mit einem Regenschirm ausgerüstet mit dem Taxi in Richtung Wheatford aufgebrochen, wo früher einst die Farm der Familie seiner Mutter gewesen war. Zwar erhoffte er sich nicht allzu viel denn er wusste, dass die Farm damals niedergebrannt wurde und der klägliche Rest der Ruine nach dem Tod seines Onkels Nigel vollkommen verfallen war. Das Einzige, was er höchstwahrscheinlich vorfinden würde, waren nur ein paar Überreste. Aber dennoch wollte er zumindest seine Neugier befriedigen und sich den Ort ansehen, an dem seine Mutter damals aufgewachsen war. Der Taxifahrer, der sich als zuvorkommender und recht redseliger Mensch erwies, hielt während der Fahrt kurzen Smalltalk mit ihm und gab ihm den Tipp, noch bis zum Erntedankfest zu bleiben, da dies eines der wichtigsten Ereignisse von Annatown war. Doch sonderlich interessiert war Leron nicht. Bevor er sich irgendwelchen anderen Dingen widmen konnte, wollte er erst das von seiner Liste abhaken, weswegen er überhaupt ins Taxi gestiegen war. Nach einer knapp viertelstündigen Fahrt hatten sie Wheatford erreicht und wie sich herausstellte, war der Ort noch ländlicher und abgelegen als Leron erwartet hatte. Zwar gab es eine Art Stadtzentrum, welches sich jedoch nur aus einer Hauptstraße mit ein paar kleinen Lädchen, Cafés und einem Brauhaus zusammensetzte, aber ansonsten gab es sonst nur große Weizen-, Mais- und Kohlfelder. Es wirkte wie ein kleines Bauernkaff und man merkte auch an der Luft und an den Leuten, dass man hier noch sehr ländlich lebte. Er sah sogar einen Planwagen mit zwei Amischen. „Hier gibt es Amische?“ fragte er überrascht. Der Taxifahrer lachte, als hätte er einen lustigen Witz gehört. „Natürlich! Nicht weit vom Dorf gibt es eine amische Gemeinde und oft kommen ein paar von denen her, um Handel zu betreiben. Man muss sie halt nehmen wie sie sind, aber sie sind im Grunde ganz in Ordnung. Und wundern Sie sich nicht, wenn hier teilweise Deutsch gesprochen wird. Das ist hier auch recht üblich.“ Der Wagen fuhr die Hauptstraße an den kleinen Geschäften vorbei, bis sie das Dorf hinter sich gelassen hatten und an einer Schule vorbeikamen. Es dauerte nicht lange, bis sie dann endlich den Ort erreicht hatten, wo früher die Farm gestanden hatte. Da Leron nicht vorhatte, so schnell wieder zurückzufahren, bezahlte er den Taxifahrer und lief das letzte Stück zu Fuß. Das Gelände der alten Cohan-Farm war von einem alten und etwas reparierbedürftigen Zaun eingegrenzt, doch ansonsten war von einer Farm oder von einer verkohlten, geschweige denn verfallenen Ruine nichts zu sehen. Stattdessen waren überall Blumen gepflanzt, es gab einen kleinen Kräutergarten und sogar ein kleines Gewächshaus. Holzskulpturen zierten die Beete und es wirkte wie eine Mischung aus einem Garten und einer Art Kunstausstellung unter freiem Himmel. Ein kleines Häuschen stand, umgeben von großen Hortensiensträuchern, inmitten dieses Gartens. Es sah mehr aus wie eine Laube und Leron fragte sich, wer wohl der Eigentümer war. Da es kein Tor geschweige denn irgendwo eine Klingel gab, sah er sich alles etwas näher an und fragte sich, wer denn auf die Idee gekommen war, ausgerechnet an solch einem Ort Blumen- und Gemüsebeete anzulegen. Zumindest sah es bei weitem nicht so deprimierend aus, wie er zunächst befürchtet hatte. „Hey, das ist Privatgrundstück!“ Abrupt blieb er stehen und drehte sich um. Eine Frau von knapp 37 Jahren kam auf ihn zu. Es war jedoch auf dem ersten Blick nicht ganz ersichtlich, ob sie auch wirklich eine Frau war, denn der kurze Haarschnitt und das androgyne Erscheinungsbild ließen auf dem ersten Blick Zweifel offen. Aber die Stimme selbst gehörte eindeutig zu einer Frau. Sie trug Overall Jeans, ein weißes Shirt und Handschuhe. Offenbar war sie woanders mit Gartenarbeit beschäftigt gewesen. Ihre Augen hatten eine türkisfarbene Iris und wirkten sehr temperamentvoll. „Entschuldigung, ich wollte keinen Landfriedensbruch begehen“, entschuldigte Leron sich hastig. „Meine Mutter hat hier früher auf einer Farm gelebt und die wollte ich mir mal ansehen. Ich wusste nicht, dass das Grundstück inzwischen längst verkauft wurde.“ Mit einem prüfenden und leicht misstrauischen Blick beäugte die Frau ihn und zog ihre Gartenhandschuhe aus. „Sie gehören zur Cohan-Familie?“ fragte sie nach. „Im Grunde ja“, bestätigte Leron und reichte ihr die Hand zum Gruß. Zuerst sah es nicht danach aus, als würde die Frau diesen Gruß erwidern, aber dann tat sie es doch und drückte ihm die Hand. Obwohl ihre Miene misstrauisch blieb, schien sie nicht abweisend zu wirken. Höchstens vorsichtig. „Mein Name ist Leron Evans, ich selbst bin hier nicht geboren. Meine Mutter Katherine Cohan ist hier damals auf der Farm aufgewachsen und hat dort gelebt, bevor sie nach New York zog. Ich wollte mir deshalb mal ihre Heimatstadt ansehen.“ „Jenna Brightside“, stellte sich die Frau vor. „Meine Mutter hat vor ein paar Jahren das Grundstück hier gekauft, als die letzten Besitzer der Farm verstarben. Ich habe nie wirklich verstanden, warum sie unbedingt dieses Grundstück haben wollte. Kein Mensch wäre je auf den Trichter gekommen, hier irgendetwas zu bauen bei all den Dingen, die sich hier ereignet haben. Wenn Sie mehr wissen wollen, kann Ihnen meine Mutter vielleicht weiterhelfen. Sie ist noch momentan auf dem Friedhof, aber sie wird bald kommen. Wenn Sie wollen, können Sie hier auf sie warten. Wollen Sie was zu trinken?“ Gerne nahm Leron das Angebot an und folgte Miss Brightside in das kleine Haus, das sich als eine bewohnbare Gartenlaube herausstellte. Es gab eine kleine Kochstelle, einen Kühlschrank und eine gemütliche Sitzecke. So wartete er bei einer Tasse Kaffee. Es dauerte knapp eine halbe Stunde, vielleicht auch etwas länger, bis sich die Tür der Gartenlaube öffnete und eine rüstige Dame von vielleicht 70 Jahren hereinkam. Ihr aschgraues Haar hatte sie elegant frisiert und sie trug goldene Ohrringe. Sie erinnerte Leron unfreiwillig an Helen Mirren, jedoch wirkte die alte Dame nicht sonderlich weiblich, sondern besaß das gleiche androgyne Erscheinungsbild wie ihre Tochter. Sie trug eine Bluse und einen knielangen Rock und hatte eine Handtasche bei sich, die sie mit beiden Händen umklammert hielt, als wollte sie diese benutzen, um sie jemanden auf den Kopf zu schlagen. Ihre Augen hatten dieselbe Farbe wie die ihrer Tochter und den gleichen temperamentvollen Ausdruck. Stirnrunzelnd beäugte sie den unerwarteten Besuch und schaute dann zu ihrer Tochter, die gerade neuen Kaffee aufsetzte. „Hast du schon wieder irgendwelchen Männerbesuch, Jenna?“ fragte die alte Dame leicht vorwurfsvoll. „Ich dachte, wir hätten letztens darüber gesprochen.“ „Mum!“ rief Miss Brightside protestierend. „Das hier ist ein Besucher. Mr. Evans sagt, seine Mutter hat hier früher auf der alten Cohan-Farm gelebt und möchte mehr darüber wissen. Ich habe ihm angeboten zu warten, weil du ja für gewöhnlich immer alle möglichen Geschichten kennst.“ Die alte Dame stutzte und schaute nun zu Leron. Ihre Augen weiteten sich und sie war so erstaunt, dass sie sich erst einmal setzen musste. „Mein Gott“, murmelte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. „Man sieht Ihnen wirklich an, dass Sie nach Ihrer Mutter kommen. Ach ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Mein Name ist Molly Brightside.“ „Leron Evans“, stellte sich Leron seinerseits vor. „Dann kennen Sie meine Mutter also?“ „Das ist schon ziemlich lange her“, gestand die alte Dame und nahm legte ihre Handtasche auf dem Boden ab und faltete ihre Hände auf dem Tisch. „Katherine und ich sind damals zusammen zur Schule gegangen. Wir waren aber in verschiedenen Klassen. Ich weiß noch, dass sie oft abseits vom Pausenhof ganz alleine da saß und die Kinder beim Spielen beobachtete. Und dann waren noch die Kinsley-Jungs, die sie immer wieder gehänselt haben. Mir hat sie leid getan und so haben wir oft die Pausen zusammen verbracht. Sie kam oft mit blauen Flecken zur Schule und es war kein Geheimnis, dass ihr Vater ein gewalttätiger Säufer war. Die ganze Gemeinde wusste es und selbst die Kinder haben es mitgekriegt, wenn die Erwachsenen getratscht haben. Ja, so ist das auf dem Land. Jeder kennt hier jeden und so kennt man auch alle Gerüchte und Geheimnisse.“ „Und wie war ihre Familie so?“ „Sie waren allesamt verrückt“, erklärte die alte Dame mit schonungsloser Direktheit. „Die Mutter ist einer Sekte beigetreten und hat sich selbst auf einem Scheiterhaufen verbrannt und der Vater war wie gesagt ein Säufer, der seine Familie geschlagen hat. Und das war nicht das Einzige was er getan hat. Sein Sohn Nigel hat ihm alle Ehre gemacht. Als er alt genug war, wollte der die Farm wieder aufbauen und Tiere halten. Aber das einzige, was je bei ihm unterm Messer lag, waren Frauen. 10 Frauen hat er gefoltert und zerstückelt. Und Tabitha, die jüngste Schwester, trat der gleichen Sekte wie ihre Mutter bei und verbrannte ihre eigenen Kinder auf dem Scheiterhaufen. Später wurde sie mit 30 Axthieben von ihrem eigenen Sohn Jackson getötet, der die grausame Hinrichtung überlebte. Sein Bruder Darren starb jedoch. Katherine war bereits mit 14 oder 15 Jahren von Zuhause weggelaufen und seitdem hat niemand mehr etwas von ihr gehört. War ohnehin besser so. Was sich hier abgespielt hat, kann sich nicht einmal Hollywood ausdenken.“ Leron atmete geräuschvoll aus als er diese kurze Zusammenfassung dieser Horrorgeschichte hörte. Natürlich war er darauf gefasst gewesen, dass ihn eine ziemlich düstere Geschichte erwartete, aber trotzdem war das ziemlich harter Tobak. „Und wie lange waren Sie mit meiner Mutter befreundet?“ „Nicht lange“, gab Molly zu und seufzte betrübt. „Als meine Eltern von unserer Freundschaft erfahren hatten, wurde mir gesagt, ich solle den Kontakt zu Katherine abbrechen. Ich war damals zehn oder elf Jahre alt und meine Mutter hatte mir nicht die genauen Gründe genannt, aber sie hat mir zu verstehen gegeben, dass Katherine und ihre Familie gefährlich waren. Also bin ich ihr danach aus dem Weg gegangen und habe sie ignoriert. Rückblickend mache ich mir wirklich Vorwürfe, dass ich nicht zu ihr gehalten habe, aber… alle hatten Angst vor den Cohans, insbesondere vor ihrem Vater. Und meine Mutter wollte mich nur vor diesen Leuten beschützen. Ich habe versucht, den Kontakt wiederherzustellen, als wir älter waren, aber der Schaden war bereits angerichtet und Katherine konnte mir nicht vergeben. Tja… dann war da noch diese Sache…“ Hier begann Molly herumzudrucksen und es war offensichtlich, dass sie etwas wusste, was sie nicht aussprechen wollte. Doch Leron wurde umso neugieriger und wollte wissen, was Sache war und hakte weiter nach. Es dauerte aber, bis die alte Dame sich dazu durchringen konnte, es zu erzählen. „Der Tod ihrer Mutter war schon traumatisch genug. Aber… da war noch etwas anderes, das sie verändert hat. Ich habe nicht mehr mit ihr gesprochen und nur aus der Ferne zugesehen. Manchmal hat sie Selbstgespräche geführt und ins Leere gestarrt als wäre sie ganz woanders. Und als sie 13 oder 14 Jahre alt war, hatte sie einen Schwangerschaftsbauch. Man konnte sich bereits denken wer ihr diesen Braten in die Röhre geschoben hat und derlei Geschichten waren bei den Cohans nichts Neues. Also war es kein großes Geheimnis, was da bei ihr Zuhause passierte. Eines Tages fehlte sie in der Schule und ich vermute, dass sie entweder von ihrem geisteskranken Vater zuhause festgehalten oder wieder mal verprügelt und ins Krankenhaus gebracht wurde. Während wir alle in der Schule waren, kam dann die Meldung dass die Farm ihrer Familie in Flammen stand. Gefunden wurde nur eine einzige Leiche, nämlich die ihres Vaters. Wenig später fand man zwei Kinsley-Jungs, die Katherine schon seit der ersten Klasse das Leben schwer gemacht hatten, grausam ermordet.“ „Glauben Sie, dass Katherine für das Feuer verantwortlich war und diese beiden Jungen getötet hat?“ „Da sind sich alle hier einig. Ich glaube aber weniger, dass sie im Sinn hatte, die gesamte Farm niederzubrennen. Ich gehe eher davon aus, dass sie einfach ihren Vater loswerden wollte. Verdient hatte er es alle Male. Ein gewalttätiger Säufer, Vergewaltiger und Mörder war er.“ Leron brauchte nicht wirklich lange um eins und eins zusammenzuzählen, wer seine Mutter damals geschwängert hatte. Und so langsam hatte er das Gefühl, als würde sich allmählich der Kreis schließen. Dennoch war es kaum zu glauben, dass seine Mutter diese Tortur so lange durchgehalten hatte und immer noch halbwegs bei Verstand bleiben konnte. Im Vergleich zu dieser Geschichte war seine eigene Kindheit ein harmloser Spaziergang. Schließlich war es Molly, die nun begann, Fragen zu stellen. „Wie ist es Katherine eigentlich ergangen? Hat sie wenigstens in New York ein besseres Leben gehabt?“ „Wie man’s nimmt“, antwortete Leron schulterzuckend. „Sie hat meinen Vater an der Uni kennen gelernt, aber die Ehe selbst war eine Katastrophe. Er war ein ziemlich misogynistischer Narzisst, weshalb sich ihr Zustand nur verschlimmert hat. Man muss ihr aber zugute heißen, dass sie mich und meine Brüder niemals geschlagen oder angeschrien hat. Sie war uns immer eine liebevolle Mutter gewesen. Vor knapp 25 Jahren ist sie dann an Krebs verstorben. Dass sie psychisch krank war und Menschen getötet hat, das habe ich erst vor kurzem erfahren.“ „Das Leben hat es nicht wirklich gut mit ihr gemeint…“ murmelte Molly und seufzte. „Ich habe sie, nachdem sie damals verschwunden ist, ein einziges Mal wiedergesehen. Ich glaube, zu dem Zeitpunkt war sie vielleicht 26 oder 27 Jahre alt gewesen und sie war obendrein schwanger gewesen. Sie wollte wahrscheinlich den Kontakt zu ihrer Schwester wiederherstellen, die sie damals zurückgelassen hatte. Sie hatten sich schon damals nahe gestanden. Aber… Katherine blieb nicht lange. Wer kann es ihr verübeln? Ihre kleine Schwester ist einer Sekte von Fanatikern beigetreten, die ihre Mutter dazu gebracht haben, sich selbst auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Und Tabitha hatte schon immer unter Nigel zu leiden. Dieser geisteskranke Verrückte war noch schlimmer als sein Vater und das zu steigern, hat schon an ein Wunder gegrenzt. Der Vater hatte seine Familie misshandelt und war ein Säufer, Nigel hingegen war ein Frauenmörder. Und Tabitha hat ihre eigenen Kinder verbrannt.“ „Und wie ging es ihr, als sie damals nach Annatown zurückgekehrt ist?“ hakte Leron weiter nach. Hier musste Molly etwas länger nachdenken, denn immerhin war es bereits über 40 Jahre her und sie konnte sich nicht an jedes Detail erinnern. „Ich habe sie damals in der Stadt getroffen. Und sie war wirklich hübsch, das musste man ihr lassen. Aber man hat gemerkt, dass sie Annatown entwachsen war. Sie hatte sich so an das Großstadtleben gewöhnt, dass sie nicht mehr nach Annatown gepasst hat. Ganz zu schweigen davon, dass sie als Cohan nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurde. Ich glaube auch, dass sie nicht vorhatte, hier zu bleiben. Aber Sie sagten, dass Katherine an der Universität studiert hat, richtig?“ Leron nickte und überrascht runzelte die alte Dame die Stirn. „Also da bin ich sprachlos. Na, wenigstens hat sie versucht, etwas aus ihrem Leben zu machen und sie hatte Kinder, so wie sie es sich gewünscht hatte. Aber jetzt mal zu Ihnen: entschuldigen Sie, wenn ich etwas direkt bin, aber Sie scheinen nicht so verrückt zu sein wie der Rest der Familie.“ „Ich nehme das mal als Kompliment“, meinte Leron und lachte, auch wenn es eher gezwungen klang. „Nun, um ehrlich zu sein habe ich viel zu viel zu verlieren, als dass ich es mir leisten könnte, vollkommen wahnsinnig zu werden. Außerdem habe ich meiner Mutter damals versprochen, dass ich nicht dieselben Fehler mache wie sie.“ „Ein sehr kluger Entschluss“, stimmte die alte Dame zu und nickte. Etwas Wehmütiges lag in ihren türkisfarbenen Augen und es lag so etwas wie Reue und Kummer darin. „Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, junger Mann: hören Sie besser auf damit, alte Leichen auszugraben. Sie wurden vor langer Zeit begraben und sind längst verrottet. Alles, was Sie finden werden, ist nur Tod und Schmerz. Was bringt es denn schon, immer weiter in der Vergangenheit zu graben? Davon wird Katherine auch nicht mehr lebendig. Schauen Sie nach vorne, anstatt sich mit Dämonen herumzuschlagen. Die Stadt ist ohnehin schon voll davon. Und Ihre Mutter hätte so etwas auch nicht gewollt.“ Dämonen? Nun, das war in der Tat eine passende Bezeichnung für die Narben der Vergangenheit, die ihn so lange verfolgt hatten. Wie lange hatte er gebraucht, um über die Misshandlung und den Missbrauch durch seine älteren Brüder und die Kaltherzigkeit seines Vaters hinwegzukommen? Und nun, da er sich endlich von all diesen Lasten befreit hatte, beschäftigte er sich mit der Vergangenheit seiner geisteskranken Mutter. Im Grunde war das Einzige, was er tat, sich die Probleme von jemand anderem aufzubürden. Vielleicht war es wirklich vernünftiger, wenn er diese Geschichte einfach ruhen ließ und sich auf sein eigenes Leben konzentrierte. Was sollte es ihm schon bringen, wenn er noch weiter in seiner Familiengeschichte herumstocherte? Im Grunde würde er nur weitere unangenehme Kapitel ausgraben. Er wusste nun, wer seine Mutter wirklich war und was sie zu den Dingen getrieben hatte, die sie getan hatte. Das Einzige, was er jetzt tun konnte war, dass er nicht dieselben Fehler machte wie sie oder wie der Rest ihrer Familie. Seine Mutter hatte ihre Dämonen nicht loslassen können und sie hatten sie bis zu ihrem Tod verfolgt und ihren Verstand zerfressen. Das Gleiche durfte nicht mit ihm passieren. „Ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch und die Informationen, Mrs. Brightside. Ich habe jetzt alles erfahren, was ich wissen wollte.“ „Nichts zu danken“, erwiderte die alte Dame und winkte ab. „Es ist zumindest tröstlich zu wissen, dass wenigstens einer aus dieser Familie nicht völlig dem Wahnsinn verfallen ist.“ Nun, so wirklich konnte er das nicht von sich behaupten. Er hatte den Wahnsinn der Cohans geerbt, so wie sein ältester Bruder. Der einzige Unterschied war, dass er sich in Behandlung begeben hatte. Der Einzige, der wirklich frei von diesem Fluch war, das war sein Bruder Jordan gewesen. Und dieser war genau nach seinem Vater gekommen. Was hatte er denn schon geerbt? Den Wahnsinn seiner Mutter? Vielleicht war es aber auch ihre Fähigkeit, Liebe und Fürsorge zu empfinden trotz aller Dinge, die passiert waren. Sie hatte ihre Kinder gehabt und sie hatte jahrelang gegen ihren eigenen Wahnsinn gekämpft um sie zu beschützen. Nicht nur vor Menschen, die vermeintlich etwas Böses wollten, sondern auch vor ihr selbst. Und er hatte das Gleiche getan. Er hatte gegen seine Halluzinationen angekämpft um Simon zu beschützen. In der Hinsicht kam er wirklich nach ihr. Und jetzt war es an der Zeit, die Vergangenheit ein für alle Male ruhen zu lassen. Simon brauchte ihn jetzt mehr denn je und es war an ihm, eine Stütze für den Jungen zu sein und ihm all die Hilfe zu geben, die er brauchte. Es war genug passiert und Simon durfte nicht noch weiter mit all diesen Dingen belastet werden, die in erster Linie nicht mal sein Problem waren. Nachdem er sich von Molly Brightside und ihrer Tochter verabschiedet hatte, verließ er die Gartenlaube und machte einen kleinen Spaziergang. Inzwischen hatte sich der Himmel deutlich verdüstert und es begann in der Ferne zu donnern. Ein kalter Wind wehte und die Luft war frisch und klar. Es war ein merklicher Unterschied zu der stickigen Stadtluft von New York. Zugegeben, das Landleben an sich empfand er als etwas stumpfsinnig und er vermisste ein wenig seine Stadt in der es so ziemlich alles gab. Hier, in diesen kleinen Städtchen, musste man sich mit einfachen Dingen begnügen und das war nicht wirklich das, was er von Zuhause aus gewohnt war. Aber andererseits war dies auch die Art von Abstand die er momentan brauchte. Es musste ja nicht für immer sein. Nur solange sich die Wogen geglättet hatten und bis es Simon wieder besser ging. Wie es ihm wohl gerade ging? Ob das Treffen mit seiner Mutter so verlief wie er es sich erhofft hatte? Nun, mit Sicherheit würde er es noch heute Abend erfahren wenn Simon wieder zurückkam. Für heute würde er sich erst einmal ein wenig ausruhen. Auch wenn er es erfolgreich vor dem Jungen verheimlichen konnte, war er so ziemlich am Ende seiner Kräfte. Er war müde und erschöpft, selbst wenn er länger schlief als gewöhnlich. Der ganze Stress und die Belastungen waren einfach zu viel geworden. Simons Zustand, die Auseinandersetzungen mit seinem Vater, der Verkauf des Konzerns… all diese Dinge waren äußerst nervenaufreibend gewesen und er war froh, wenn er sich endlich mal davon erholen konnte. Fernab von New York, weit weg von allem, was ihn an seine Brüder und seinen Vater erinnerte. Auch wenn das Landleben nicht wirklich das war, was er sich für den Rest seines Lebens vorstellte, erschien es ihm wie eine hervorragende Gelegenheit um sich auf das zu konzentrieren, was wichtig war. Da es in Wheatford nicht viel Sehenswertes gab und es ohnehin eher ein kleines Dörfchen als eine Stadt war, beschloss Leron, wieder in Richtung Islesbury zurückzufahren. So wie er mitbekommen hatte, gab es in den anderen Ortsteilen ohnehin nicht viel zu sehen. Und so wie er den Eindruck hatte, lebten die Orte mehr von ihren Horrorgeschichten und Legenden als von irgendwelchen Attraktionen. Backwater hatte das große Feuer und die Legende eines Geistermädchens, Wheatford hatte eine angebliche besessene Vogelscheuche, Arkala rachsüchtige Geister. Und Hallow Grove, welches sogar noch kleiner und unbedeutender war als Wheatford, hatte ein angebliches „Grauen“, das im Brunnen einer alten Wassermühle hauste. Im Grunde war Islesbury die einzige Stadt, die frei von irgendwelchen Spukgeschichten war und Leron war sich auch sicher, den Grund dafür zu kennen: weil Islesbury keine Märchengeschichten und Legenden brauchte, um interessant zu sein. Es war eine moderne Stadt, die im Hier und Jetzt lebte. Der einzige Unterschied war, dass die Leute dieser Stadt trotzdem an diese Schauergeschichten glaubten, so als hätten sie sie selbst miterlebt. Und wirklich jeder schien sie in allen Details zu kennen. Nun, vielleicht machte dies das Leben auf dem Land aus und man musste die Leute einfach so nehmen wie sie waren. Leron hatte noch nie an diese ganzen Legenden und Schauermärchen geglaubt und war überzeugt, dass es für alles eine vernünftige Erklärung gab. Nur bei Lotta und diesem durchgeknallten Azarias war er sich da nicht ganz so sicher. Diese beiden Zeitgenossen waren ihm ein Rätsel und er fragte sich, was es mit ihnen wohl auf sich hatte. Wie konnte diese Frau nur so jung aussehen, wenn sie seine Mutter schon von klein auf gekannt hatte? Und wie hatte sie es geschafft, seinen Vater dazu zu bringen, die ganze Wahrheit zu gestehen? Woher hatte dieser Spinner Azarias gewusst, dass er über Simons Erzeuger Bescheid gewusst hatte? Nun, er konnte vielleicht vieles mit Lügen oder Bluffs erklären, doch das erschien ihm wenig überzeugend. Diese Stadt hatte durchaus ein paar Merkwürdigkeiten, anders konnte man es nicht beschreiben. Und es würde garantiert eine Weile dauern, bis er sich daran gewöhnt hatte. Schließlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen als plötzlich sein Handy zu klingeln begann. Im ersten Moment befürchtete er schon fast, es könnte wieder sein Vater sein und er war drauf und dran, das Klingeln zu ignorieren. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass er seinen Vater geblockt hatte. Sowohl auf dem Festnetz als auch auf dem Handy. Also schaute er nach, wer sich denn meldete und da sah er mit Überraschung und auch leichter Besorgnis, dass es Simon war. Zuerst befürchtete er, dass etwas passiert war und er nahm sofort den Anruf an. „Simon, was ist los? Ist alles in Ordnung bei dir?“ „Sorry wenn ich störe“, kam es vom anderen Ende von dem 21-jährigen zurück, der offenbar ein schlechtes Gewissen hatte, dass er ihn angerufen hatte. „Ich hoffe, ich störe dich gerade nicht.“ „Nein, überhaupt nicht“, beschwichtigte der Milliardär ihn sofort und wurde unruhig, denn er befürchtete instinktiv schon das nächste Unglück herannahen. „Ist etwas nicht in Ordnung bei dir?“ „Nein“, alles bestens!“ erwiderte Simon und klang, als hätte er ziemlich gute Laune. Erleichtert atmete Leron aus und spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Wann war es das letzte Mal, dass der Junge so gut gelaunt klang? Es schien eine gefühlte Ewigkeit her zu sein. „Wir wollten nachher zu einem kleinen Familientreffen gehen, weil unsere Mutter uns dem Rest der Familie vorstellen will. Und sie wollte dich dabei auch gerne kennen lernen. Wir fahren gleich zum Café Amber Garden, sollen wir dich abholen?“ „Nein, schon gut. Ich fahre mit dem Taxi.“ Ein kleines Familientreffen? Nun, das klang doch interessant. Dann würde er gleich Simons Mutter persönlich kennen lernen und vermutlich noch andere Verwandte. Zugegeben, er war neugierig und natürlich interessierte es ihn, was aus ihr geworden war nach allem, was sie so durchgemacht hatte. Zumindest schien es den Eindruck zu machen, als wäre die Rückkehr in ihre Heimatstadt die beste Entscheidung für sie gewesen. Und Simons Stimme am Telefon nach zu urteilen schien sie ihre verlorenen Söhne mit offenen Armen aufgenommen zu haben. Als er so darüber nachdachte, da fühlte er sich in seinem Entschluss umso sicherer: in Annatown zu bleiben war die beste Entscheidung! Und auch wenn das Landleben vielleicht nicht so abwechslungsreich war wie in New York, diese Abgeschiedenheit und Ruhe tat sicherlich auch ihrer Beziehung gut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)