The Petboy Contract von Sky- ================================================================================ Kapitel 61: Die ganze Wahrheit ------------------------------ Leron wusste nicht, wie ihm geschah und hatte das Gefühl, als würde sich alles in seinem Kopf drehen. Als wäre der gestrige Tag nicht schon ereignisreich genug gewesen, kam jetzt auf einmal eine alte Bekannte seiner Mutter an und hielt ihm nicht nur einen Vortrag über eine uralt Clan-Fehde in ihrer Heimatstadt. Nein, sie erzählte ihm auch noch, dass sein Vater ihn immer noch zu manipulieren versuchte und nicht mal davor zurückschreckte, seine eigene Krankheit dafür zu benutzen. Aber woher wusste sie das alles und wieso kam sie damit erst jetzt an? Sein Blick wanderte zu Azarias, der immer noch mit seinem Gummiband beschäftigt war, da ihm offenbar langweilig geworden war. „Weißt du irgendwas über meinen Vater, was ich nicht weiß?” „Eine ganze Menge”, meinte der 22-jährige, ohne jedoch den Blick zu heben. „Dass er ein misogynischer kaltschnäuziger und selbstgerechter Heuchler ist und dass er die Tatsache ausnutzt, dass du wegen seiner Erkrankung mit ihm Frieden schließen willst, damit er die Beziehung zwischen dir und Simon beenden kann.” „Und hast du vielleicht irgendwelche Beweise für diese Anschuldigungen?” fragte Leron und wusste nicht, ob er jetzt wütend sein sollte oder nicht. Auf der einen Seite war seinem Vater zuzutrauen, dass er unbedingt versuchte, seinen Willen durchzusetzen, aber er wollte nicht glauben, dass er selbst jetzt, nachdem sie sich endlich ausgesprochen hatten, immer derselbe kaltherzige Geschäftsmann ohne Nächstenliebe war. Kein Mensch konnte so abgebrüht sein, dass ihm selbst seine Krebserkrankung nicht zu schade war. „Ich weiß selbst, dass er ein mieser Vater ist, aber meine Mutter hat ihm das Leben zur Hölle gemacht und der Konzern ist das Einzige, was ihm geblieben ist. Wir haben uns ausgesprochen und er selbst hat zu mir gesagt, dass ich nicht so werden soll wie er.” „Und wer hat dich unbedingt ins Krankenhaus bestellt, damit du nicht bei Simons Behandlung dabei sein kannst?” hakte Azarias nach und schaute Leron mit seinen grasgrünen Augen eindringlich an. „Und wer hat so verzweifelt darauf beharrt, dass du den Konzern unbedingt behältst, egal was passiert?” Leron verstummte und fühlte sich plötzlich nicht mehr so sicher in seinen Ansichten. Zwar versuchte er immer noch daran zu glauben, dass wenigstens ein Funken von Menschlichkeit in seinem Vater steckte, aber es wurde immer schwieriger, daran festzuhalten. Das blieb Azarias nicht verborgen und er fuhr fort. „Als Lotta und ich nach New York geflogen sind, hat sie deinen alten Herrn im Krankenhaus besucht und an seine Ehrlichkeit appelliert. Sie hat ihm eine Frist von drei Tagen gesetzt, damit er dir die Wahrheit sagt, warum deine Mutter sich nie Hilfe gesucht hat und warum sie auch Michael nie in Behandlung gegeben hat obwohl sie wusste, dass er genauso krank war. Aber er hat dir rein gar nichts gesagt, nicht wahr? Er hat einfach nur versucht, dich weiter zu manipulieren, damit du seinen Konzern nicht verkaufst.” Die Wahrheit über seine Mutter? Gab es da wirklich etwas, das Lionel ihm verschwiegen hatte? Er hatte gedacht, dass seine Mutter nicht in Behandlung begeben hatte, weil sie Angst hatte, ihre Kinder nie wieder zu sehen. Zumindest war es das, was Anthony vermutet hatte und der hatte Katherine fünf Jahre lang gekannt. Doch nun sollte etwas ganz anderes dahinterstecken? Auf der einen Seite wollte er natürlich mehr wissen, aber auf der anderen Seite wusste er nicht, ob er das auch wirklich alles verkraften konnte. Es reichte doch schon, dass er erfahren hatte, dass seine Mutter eine psychisch kranke Serienmörderin war. Was könnte es denn noch geben, was er noch nicht wusste? „Was ist zwischen meinen Eltern passiert?” „Du weißt ja bereits, dass dein Vater eine Affäre mit einer Kellnerin namens Lucy Witherfield hatte”, begann Lotta, wurde aber dann von einem etwas gereizten Leron unterbrochen. „Ja davon weiß ich bereits. Mum ist durchgedreht, weil sie rasend eifersüchtig war und daraufhin hat mein Vater sie verlassen und hat etwas mit einer anderen Frau angefangen. Und nachdem Mum Michael zur Welt gebracht hatte, brachte sie Lucy um und zwang meinen Vater, wieder zu ihr zurückzukommen.” Lotta verzog keine Miene und ihr Blick war seltsam fremd und es war schwer zu sagen, was ihr gerade durch den Kopf ging. Sie wartete geduldig, bis Leron fertig war und setzte dann wieder zum Reden an. „Das entspricht nicht gänzlich der Wahrheit”, erklärte sie. „Es stimmt, dass Katherine unter Eifersucht litt weil Lionel kaum zuhause war und sich nicht um sie gekümmert hat. Als dein Vater damals ins Energiegeschäft einstieg, hatte Katherine ihm mit ihrem eigenen Geld finanzielle Hilfe geleistet und hat ihn unterstützt wo sie konnte. Aber sie war mental labil. Nicht nur aufgrund ihrer Krankheit, sondern auch bedingt durch die Schwangerschaft. Sie wurde ihm zu anstrengend, also suchte er sich eine Geliebte. Seine Affäre mit Lucy Witherfield begann bereits vor Katherines Schwangerschaft. Deine Mutter begann Verdacht zu schöpfen und versuchte ihn zur Rede zu stellen. Er stritt alles ab und täuschte sie über Monate hinweg und vernachlässigte sie bis Katherine ein Telefonat zwischen ihm und Lucy belauschte. Sie stellte ihren untreuen Ehemann erneut zur Rede, doch er gab ihr die Schuld und sagte, er könne eine labile Ehefrau nicht gebrauchen und er hätte sie nur ihres Aussehens und ihres Geldes wegen geheiratet. Es kam zu einem Streit und Katherine schlug ihn daraufhin mit der Weinflasche nieder. Durch den Stress erlitt deine Mutter vorzeitige Wehen, aber er ließ sie zurück, ohne einen Krankenwagen zu rufen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte ihr Kind verloren.” Leron spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte und er konnte nicht glauben, was er da hörte. Sein Vater hatte zwar die Affäre zugegeben gehabt, aber es war nie die Rede davon gewesen, dass er schon eine hatte, als er noch mit seiner Frau zusammen war. Ganz zu schweigen davon, dass er sie derart provoziert hatte, dass sie ihn daraufhin in einer Kurzschlussreaktion mit einer Weinflasche schlug. Stattdessen hatte sein Vater ihm erzählt, dass sie ausgerastet sei, weil sie paranoid und rasend eifersüchtig gewesen sei. Und dann hatte er auch noch beinahe den Tod seines ersten Kindes verschuldet, weil er seiner hochschwangeren Frau keinen Krankenwagen rufen wollte? Er wusste zwar, dass sein Vater ziemlich kaltherzig sein konnte, aber das schlug dem Fass doch den Boden aus. „Also dann hat er meine Mutter verlassen wollen, nur weil sie hormonelle Stimmungsschwankungen hatte und sich einsam gefühlt hat?” „Das fasst es kurz und knapp zusammen”, stimmte Lotta kopfnickend zu. „Diese Worte und die Erkenntnis, dass Lionel sie nie geliebt hatte und sich nicht für sie interessierte, brach Katherine das Herz und brachte sie endgültig an ihr Limit. Sie hatte Lionel aufrichtig geliebt und viele Opfer für ihn gebracht, um sich ihren Traum von einer glücklichen Familie erfüllen zu können. Doch die Affäre und Lionels herablassende Worte zerstörten ihre Hoffnungen und sie sann auf Rache für das erlittene Unrecht. Und so tötete sie ihre Konkurrentin und erpresste deinen Vater. Sie verfiel immer mehr ihrem Wahnsinn und begann Stimmen zu hören, die sie dazu drängten, schreckliche Dinge zu tun. Manchmal gelang es ihr, die Stimme in ihrem Kopf zu ignorieren. Aber manchmal verlor sie die Kontrolle und war nicht mehr sie selbst. Es ging sogar so weit, dass die Stimme ihr befahl, ihre eigenen Kinder zu töten. Obwohl Katherine einen Groll gegen Lionel hegte, hatte sie immer noch Gefühle für ihn und bat ihn um Hilfe. Sie hoffte, dass sie sich aussprechen und eine Lösung finden könnten.“ „Und er war nicht interessiert?“ fragte Leron, doch ihn beschlich das Gefühl, als würde da weitaus mehr dahinterstecken. Zuerst sah es aus, als wollte Azarias darauf antworten, doch ein leises Räuspern von Lotta änderte augenblicklich seine Meinung und er hüllte sich lieber in Schweigen. „Lionel hat sich bereit erklärt, unter bestimmten Bedingungen zu ihr zurückzukehren. Erstens: Katherine gibt ihre Kinder zur Adoption frei und zweitens: sie stimmt einer Lobotomie zu.“ „Eine Lobotomie?“ fragte er ungläubig und schüttelte den Kopf. Zwar wusste er, was eine Lobotomie war, aber war das nicht eine ziemlich veraltete Behandlungsmethode aus den 40ern? „Gab es denn keine anderen Behandlungsmethoden?“ „In den 60ern und 70ern hatte man leider noch nicht das psychiatrische Verständnis, was man heute hat“, gestand Lotta mit Bedauern. „Und leider wurden selbst zu dieser Zeit Lobotomien durchgeführt. Lionel hat deine Mutter unter Druck gesetzt, diese Behandlung an sich durchführen zu lassen.“ „Er hat ihr gesagt, dass eine Lobotomie die einzige Methode sei, ein unheilbar krankes Hirn zu kurieren“, ergänzte Azarias mit einer Spur von Verachtung im Unterton. „Und wenn sie sich nicht behandeln lässt, dann wird man sie wegsperren und ihr die Kinder wegnehmen. Das wäre weniger bösartig, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass die Schwester deines alten Herrn selbst lobotomiert und danach zum Pflegefall wurde und er darauf spekulierte, dass deine Mum genauso endet, damit er sie in eine Anstalt abschieben und euch ebenfalls loswerden konnte. Und da er deiner Mum solche Angst gemacht hatte, da hatte sie zu viel Schiss gehabt, sich überhaupt Hilfe zu suchen. Und als dein ältester Bruder auffällig wurde, hatte sie Angst, dass ihn dasselbe erwarten würde, wenn sie ihn in Behandlung gibt.“ Also hatte sie tatsächlich Angst gehabt, dachte Leron und hatte das Gefühl, das alles hier konnte nicht noch schlimmer werden. Zwar musste er zugeben, dass seine Mutter trotzdem hätte versuchen können, sich Hilfe zu suchen. Aber wenn sein Vater sie tatsächlich so manipuliert hatte, dass sie wirklich glaubte, es gäbe keine vernünftigen Behandlungsmethoden außer der, sich einweisen zu lassen oder sich lobotomieren zu lassen, dann konnte er ihre Angst gut nachvollziehen. Wenn er derart mit dem Rücken zur Wand stehen würde und mit diesen Ängsten zu kämpfen hatte, vor allem wenn er auch noch Kinder hatte, dann würde er vielleicht genauso ratlos sein. Aber warum das alles? „Wieso haben sie sich dann nicht einfach voneinander getrennt? Bei allem, was ich von diesen Geschichten lerne ist, dass meine Eltern die wahrscheinlich ungesundeste Beziehung hatten, die man sich vorstellen kann. Warum konnten sie sich nicht einfach scheiden lassen und allen Beteiligten diesen ganzen Alptraum ersparen?“ „Deine Mutter hat sich eine Familie gewünscht, weil jene, in der sie aufgewachsen ist, lieblos und grausam war. Und mit den Jahren, als sich ihr Zustand immer weiter verschlechtert hat, ist ihr Wunsch zu einer krankhaften Obsession geworden und sie wollte nicht, dass ihre Kinder ohne Vater aufwachsen. Außerdem waren die damaligen Verhältnisse für alleinerziehende Mütter sehr schlecht“, erklärte Lotta. „Gesellschaftlich waren sie schlechter gestellt und nachdem deine Mutter all ihr Geld in Lionels Firma investiert hatte, um ihn zu unterstützen, hatte sie keine finanziellen Rücklagen, um alleine für euch zu sorgen. Und wie bereits gesagt: sie war so besessen von ihrem Wunsch nach einer perfekten Familie, dass sie nicht mehr in der Lage war, objektive Entscheidungen zu treffen. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht weiterhin versucht hätte, Hilfe zu suchen. Sie ist zu Selbsthilfegruppen gegangen und hat sogar Hilfe bei kirchlichen Institutionen gesucht. Aber sie wurde leider abgewiesen und sie hatte zu große Angst davor, sich professionelle Hilfe zu suchen.“ Leron atmete tief durch und faltete die Hände. Er dachte über alles nach, was sein Vater ihm bezüglich zu seiner Mutter gesagt hatte und was er soeben erfahren hatte. Und obwohl er eigentlich nicht sonderlich überrascht sein sollte, dass sein Vater schon damals so kaltherzig und manipulativ gewesen war, hätte er trotzdem nie gedacht, dass dies so weitreichende Konsequenzen hatte. Und nun begann er auch zu verstehen, was seine Mutter damit wirklich bezweckt hatte, als sie ihm das Versprechen abgenommen hatte, niemals so zu werden wie sie und dass er nie dieselben Fehler machen sollte wie sie. Katherine hatte zum Schluss erkannt gehabt, dass ihre Obsession von einer perfekten Familie nur dazu geführt hatte, dass sie in einer Hölle gefangen gewesen war, die sie sich selbst geschaffen hatte. Sie hatte am Sterbebett erkannt gehabt, dass sie auch andere Optionen gehabt hätte und sie wollte nicht, dass er sich zu irgendetwas drängen ließ. So viele Dinge waren in seiner Familie schief gelaufen. Wäre sein Vater von Anfang an ehrlich gewesen und hätte für klare Verhältnisse gesorgt, dann hätten manche Dinge gar nicht so eskalieren müssen. Und hätte er seiner Mutter nicht solche Angst gemacht und ihr eingeredet, die einzige Behandlungsmethode wäre eine Lobotomie, hätte sie sich vielleicht in professionelle Behandlung gegeben. So viele Fehler hätten vermieden werden können, wenn sein Vater nicht so stur und egoistisch und seine Mutter nicht so paranoid gewesen wäre. Selbst die Geschichte um die Clan-Fehde von Annatown hatte gezeigt, welch weitreichende Konsequenzen diese Starrsinnigkeit haben konnte. Aber eines stand mit Gewissheit fest: dieses Mal war sein Vater endgültig zu weit gegangen. Dass er ein furchtbarer Ehemann und Vater gewesen war, das war eine Sache. Aber dass er ihn so schamlos belogen und die Wahrheit über seine Mutter verdreht und sich als das Opfer dargestellt hatte, obwohl er offenbar erheblich an ihrem seelischen Absturz beteiligt war, das war zu viel. Und dass er auch noch so schamlos seine Krankheit benutzte, nur weil er unbedingt einen Nachfolger haben wollte, schlug dem Fass endgültig den Boden aus. Wäre er nicht so geschockt darüber gewesen, dass sein Vater noch kaltherziger und manipulativer war als gedacht und dass selbst diese Reue über die Vergangenheit nur gespielt war, dann wäre er sofort zum Krankenhaus gefahren und hätte den schlimmsten Ausraster seines Lebens gehabt. Wie tief konnte ein Mensch eigentlich sinken? Allmählich begann er sogar zu glauben, sein Vater hätte einen Eisblock an der Stelle, wo andere Menschen für gewöhnlich ein Herz hatte. War dieser Mensch überhaupt zu Gefühlen imstande? „Dieser verdammte…“ Er fuhr sich durchs Haar und versuchte, ruhig zu bleiben. Doch es kostete ihn erhebliche Mühe. Lottas Blick nahm etwas Besorgtes an als sie sah, wie er mit sich zu kämpfen hatte. „Es steht nicht in meiner Absicht, dich gegen deinen Vater aufzuhetzen oder dich zu irgendetwas zu drängen. Ich möchte nur verhindern, dass du vom Schatten deiner Mutter oder deinem Vater manipuliert wirst. Deine Mutter bat mich dafür zu sorgen, dass du dein eigenes Leben lebst und du deine eigenen Entscheidungen triffst und nicht die deines Vaters. Ich werde dir weder zu etwas raten, noch werde ich dir etwas abraten. Ich habe deinem Vater die Chance gegeben, dir die Wahrheit zu erzählen. Da er sie nicht genutzt hat, habe ich dir alles erzählt und mein Versprechen eingelöst. Es tut mir leid, dass du so viele familiäre Probleme durchstehen musst. Es stand nicht in meiner Absicht, dir noch mehr Belastungen aufzubürden.“ „Ich frage mich echt, was noch alles kommen muss…“, seufzte Leron und sank kraftlos auf seinem Sessel zusammen. „Simons Zustand verschlechtert sich und unsere Beziehung steht auf der Kippe, meine Eltern hatten eine absolute Horrorbeziehung und nun erfahre ich, dass mein Vater mich selbst jetzt noch belügt und manipuliert. Anstatt, dass alles wieder in geregelte Bahnen verläuft, wird alles nur noch schlimmer.“ „Sieh es mal von der positiven Seite“, meinte Azarias, der sein Gummiband wieder einsteckte und nun an einem Lollipop zu kauen begann. „Ist immer noch besser, als wenn du genauso wirst wie dein Vater.“ „Und ich wüsste eine Möglichkeit, wie ich dir zumindest eine Last von den Schultern nehmen kann“, meldete sich Lotta zu Wort und überrascht schaute der 31-jährige auf. Sie wollte ihm helfen? „Inwiefern wollen Sie mir helfen?“ „Ich weiß, an welcher Krankheit Simon leidet und ich kann ihn behandeln.“ „Sie können ihn behandeln?“ fragte er und konnte es kaum glauben. „Sie sind Ärztin?“ Doch Lotta schüttelte den Kopf und erklärte überraschenderweise, dass sie in erster Linie Bibliothekarin sei. Allerdings kenne sie sich mit der Krankheit bestens aus, da sie offenbar schon einige aus Simons Familie behandelt hatte, die an derselben Krankheit litten. Das machte Leron natürlich neugierig und er wollte mehr darüber wissen, damit er wenigstens verstehen konnte, woran Simon eigentlich litt. „Was genau ist das für eine Krankheit?“ „Nun…“, begann die schwarzhaarige Schönheit zögerlich und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Es ist so, dass die fünf Gründerclans sich durch besondere Eigenschaften auszeichnen, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. Die Witherfields hatten schon immer eine Ausstrahlung, die sie als sympathisch, warmherzig, liebevoll und offenherzig auszeichnete. Sie haben eine außerordentliche Vitalität und Energie und sind lebensfroh und sehr mitfühlend und sensibel. Leider macht sie Letzteres besonders anfällig für etwas, das wir schlicht „Schattenkrankheit“ nennen.“ „Schattenkrankheit?“ fragte Leron verwirrt. Er hatte noch nie in seinem Leben von solch einer Krankheit gehört und bezweifelte auch, dass es so etwas gab. Was sollte auch ein Schatten mit der gesundheitlichen Verfassung zu tun haben? Da seine Besucherin merkte, dass er nichts mit dieser Krankheit anzufangen wusste, erklärte sie es ihm genauer. „Die Kinsleys glauben, dass alles Leben aus dem Licht geboren wird und die Dunkelheit den Tod verkörpert. Folglich liegt also alles, was wir in unserem Leben an Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen sammeln und erleben, zwischen dem Licht und der Dunkelheit. Somit ist das, was wir unter Schatten verstehen, nicht physischer Natur, sondern eine Art Sammelbegriff von allem, was uns als das ausmacht, was wir sind. Solange wir ein Gleichgewicht wahren und positive Erfahrungen sammeln, haben wir auch eine gesunde Seele. Aber sammeln wir zu viele negative Erfahrungen und leiden unter schlimmen Erinnerungen, führt dies zu psychischen Krankheiten. Für uns sind das Schattenkrankheiten, weil uns unser Schatten psychisch und später auch körperlich krank macht. Der Witherfield-Clan ist dafür besonders anfällig. Zwar haben sie eine hohe Belastbarkeit, aber wenn diese überschritten ist, erkranken sie an der Schattenkrankheit. Und dies hat weitaus schlimmere Folgen für sie als für andere Menschen. In modernen medizinischen Fachkreisen würde man es als psychosomatische Symptome bezeichnen. Die Witherfields haben Seelen wie aus Glas. Sie können nur schwer getrübt werden und sind dennoch so zerbrechlich. Psychosomatische Symptome können bei ihnen zu schweren Erkrankungen führen, die nur schwer wieder zu kurieren sind. Befindet sich die Krankheit im Anfangsstadium, kann eine ganz normale Therapie helfen. Schreitet die Krankheit jedoch zu weit voran, ohne dass eine Behandlung erfolgt, kann es sogar lebensgefährlich werden. Der Körper versucht die negative Energie zu kompensieren und verbraucht dabei extrem viel Energie und das Immunsystem wird immer schwächer. Dies kann sogar dazu führen, dass der Körper unter der Erschöpfung zusammenbricht und stirbt. Die Psyche der Witherfields hängt stark mit ihrer körperlichen Verfassung zusammen, was also bedeutet: ist der Geist krank, wird auch der Körper krank.“ Also hatte ich mit meiner Vermutung richtig gelegen und der Stress macht ihn krank, dachte sich Leron und war insgeheim froh, dass er endlich jemanden gefunden hatte, der ihm endlich eine nachvollziehbare Erklärung gab, warum Simon so krank war und immer schwächer wurde. Aber eine Frage beschäftigte ihn trotzdem: „Wie kann es sein, dass er sich so kalt anfühlt, obwohl seine Körpertemperatur normal ist?“ „Das liegt an der besonderen Verbindung zwischen den Cohans und Witherfields“, antwortete Lotta und ein fast wehmütiger Ausdruck lag in ihren rubinroten Augen. „Es herrscht schon seit langer Zeit eine besondere Art der Seelenverwandtschaft zwischen den Witherfields und Cohans. Viele von ihnen fühlen sich instinktiv zueinander hingezogen, weil sie sich in ihren Eigenschaften perfekt ergänzen. Ich vermute, es ist diese innige Verbundenheit zueinander, die es den Cohans ermöglicht, instinktiv solche Schattenkrankheiten zu erkennen. Sie nehmen es als Kälte wahr, die die Betroffenen ausstrahlen. Simon gehört dem Witherfield-Clan an und du den Cohans und ihr seid ein Paar, das erklärt warum du seine Krankheit instinktiv gespürt hast, auch wenn du vielleicht nicht erklären konntest, was es bedeutet.“ Nun, das erklärte, warum auch Hunter diese merkwürdige Kälte bei Simon bemerkt hatte aber sonst niemand. Und anscheinend war die Krankheit auch genauso gefährlich wie er gedacht hatte. „Und wie genau sieht die Behandlung aus? Würde denn nicht auch eine stationäre Behandlung in einem Krankenhaus helfen?“ „Sein Körper muss von der negativen Energie, die ihm so zusetzt, entgiftet werden und Psychopharmaka und ähnliche pharmazeutische Medikamente werden nicht helfen“, meinte Lotta kopfschüttelnd. „Die chemischen Stoffe, die in diesen Medikamenten enthalten sind, werden entweder keinerlei Effekt erzielen, oder sie könnten ihm zusätzlich schaden. Sein Körper ist nicht mehr in der Lage, die in diese künstlichen Stoffe richtig zu verarbeiten. Was er braucht, ist natürliche Medizin. In Annatown wachsen spezielle Pflanzen, die einen positiven Effekt auf die Vitalität haben und außerdem ist es wichtig, nicht nur seinen Körper zu behandeln, sondern auch seinen Geist. Solange dieser getrübt ist, kann auch die beste Medizin nicht viel ausrichten.“ „Was sie damit sagen will: dein Herzblatt braucht dringend eine Luftveränderung. In Krankenhäusern wird er sofort eingehen wie ein Gänseblümchen weil solche Orte momentan absolutes Gift für ihn sind“, erklärte Azarias und grinste. „Auf dem Land kann er frei atmen und Kraft tanken. Außerdem kann er dort seine Familie treffen. Und das wird ihn definitiv wieder auf die Beine bringen. Dann kommt er endlich aus seiner Depression raus und außerdem wirkt sich die Anwesenheit anderer Witherfields ziemlich gut auf die seelische Verfassung aus. In Krankenhäusern fühlt sich doch niemand wohl. Man geht nur dort hin, um möglichst schnell wieder von dort abzuhauen. Lottas Pension in Annatown ist hingegen der perfekte Kurort für dein Schatzilein.“ Also dann gab es letztendlich nur eine vernünftige Option, die ihm blieb. Wenn er Simon helfen und seine familiären Angelegenheiten bereinigen wollte, musste er jetzt konsequent bleiben und auch ein paar drastische Entscheidungen treffen. „Ich verstehe… dann wäre es in der Tat das Beste, Simon so schnell wie möglich nach Annatown zu schicken. Ich werde allerdings nicht so schnell mitkommen können, weil es das noch einige Dinge gibt, die ich noch unbedingt erledigen muss.“ „Na das sollte ja wohl das kleinste Problem sein“, meinte Azarias und wandte sich Lotta zu. „Rose will die beiden ja sowieso persönlich kennen lernen. Da können wir sie doch mitnehmen und er kommt dann nach, sobald er mit seinen Erledigungen fertig ist.“ „Ich denke, Simon sollte das selbst entscheiden“, erwiderte Leron zögerlich. „Außerdem wäre es ohnehin schwer, einen kurzfristigen Flug nach Ohio zu bekommen.“ „Keine Bange! Lotta hat ein Privatflugzeug und wegen mir brauchst du eh keine Sorgen zu haben. Die Familie Wyatt steht immer hinter den Witherfields und wir alle wollen, dass es deinem Herzblatt wieder besser geht.“ Leron runzelte ungläubig die Stirn als er das hörte? Ein Privatjet? Eine Bibliothekarin, die nebenbei als Naturheilpraktikerin tätig war, konnte sich wirklich so etwas leisten? Er war zwar nicht in dieser Branche tätig, aber selbst Leron wusste, dass man in diesen Berufen nie und nimmer so viel Geld verdiente. Nun, im Grunde genommen ging es ihn ja auch überhaupt nichts an. Zumindest schien Lotta ihnen wirklich helfen zu wollen. Er hatte immer noch seine Zweifel über Azarias aber andererseits musste er ihm zugutehalten, dass er Simon geholfen hatte, seine leibliche Mutter zu finden. Also beließ er es fürs Erste dabei, dass dieser keine bösen Absichten hegte und eigentlich bloß Simon helfen wollte. Doch jetzt im Moment fühlte er sich einfach nur müde und hoffte, dass dies die letzten Hiobsbotschaften waren, mit denen er klar kommen musste. „Und sonst? Ist da noch irgendetwas, das ich wissen muss?“ Hier erhob sich Lotta und ging zu ihm. Ihre rubinroten Augen hatten etwas sehr Mitfühlendes und Vertrautes angenommen. Sie wirkten fast wie die Augen einer Mutter, die ihr Kind trösten wollte. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und wieder durchfuhr Leron ein kalter Schauer, nur war es nicht so schlimm wie bei ihrem Händegruß vorhin. „Nur noch eine einzige Sache: deine Mutter hat dich aufrichtig geliebt und wenn sie sehen könnte, wie weit du es gebracht hast und was du schon alles geschafft hast, wäre sie unendlich stolz auf dich. Lebe dein Leben, wie du es für richtig hältst und lass dich von niemanden beeinflussen. Du hast es verdient, glücklich zu werden und solltest du Rat oder Hilfe brauchen, werde ich da sein.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)