The Petboy Contract von Sky- ================================================================================ Kapitel 49: Zeit zum Nachdenken ------------------------------- Insgesamt zwei Tage hatte Simon durchgeschlafen, ohne auch nur ein einziges Mal aufgewacht zu sein. Als er dann endlich nach knapp 46 Stunden Dauerschlaf aufgewacht war, war er vollkommen ausgehungert und saß die meiste Zeit in der Küche und plünderte den Kühlschrank. Er fühlte sich inzwischen wieder wesentlich besser und nachdem er sich gestärkt hatte, wollte er natürlich sofort wissen, wie Cyphers Behandlung verlaufen war. Wie er erfuhr, war die Behandlung ein voller Erfolg gewesen und auch wenn Cyphers Augen noch geschont werden mussten, brauchte er die Augentropfen bereits nicht mehr nehmen. Und auch seine Augen selbst waren endlich vollkommen normal. Das hatte dem 21-jährigen sämtliche Lebensgeister zurückgebracht und kaum, dass er von Cyphers erfolgreicher Behandlung erfahren hatte, bestand er natürlich selbst sofort darauf, ebenfalls behandelt zu werden. Er war so voller Vorfreude und Euphorie, dass Leron nicht wirklich etwas anderes übrig geblieben war, als sein Einverständnis zu geben und einen Termin bei Dr. Dawson zu machen. Und Simon hatte Glück, denn da bei seinem Bruder alles ohne Komplikationen abgelaufen war, konnte er noch am selben Tag vorbeikommen. Kaum, dass die gute Nachricht verkündet war, verfiel Simon in einen regelrechten Freudentanz und umarmte Leron überglücklich. Der Unternehmer selbst war von dieser Reaktion total überrascht und wusste das gar nicht erst einzuordnen. Die letzten Wochen war Simon mehr wie ein Häufchen Elend gewesen, hatte stets gekränkelt und hatte erst vor kurzem einen Nervenzusammenbruch gehabt. Und nun, da er nach einem fast schon unnatürlich langen Schlaf aufgewacht war, schien er wieder wie ausgewechselt zu sein. Auch Simon konnte es zunächst kaum glauben. Zur Sicherheit legte Leron ihm eine Hand auf die Stirn und fragte ihn „Geht es dir auch wirklich gut, Simon?“ „Klar doch“, antwortete der 21-jährige und grinste. „Ehrlich gesagt habe ich mich lange schon nicht mehr so gut gefühlt. Ich glaube, den langen Schlaf hatte ich echt gebraucht. Es heißt ja, dass Schlaf wahre Wunder bewirken kann, wenn es einem nicht gut geht.“ „Das vielleicht schon“, stimmte der Unternehmer zu. Doch er wirkte nicht ganz so glücklich wie erhofft, sondern eher ernst und besorgt. „Aber ehrlich gesagt hattest du mir schon wirklich Sorgen bereitet, als du gestern gar nicht mehr aufgewacht bist. Ich hatte gestern Abend schon versucht, dich zu wecken. Aber du warst so tief am Schlafen, dass dich rein gar nichts mehr geweckt hat. Ehrlich gesagt war ich drauf und dran gewesen, dich ins Krankenhaus zu bringen, weil ich Angst hatte, dass du gar nicht mehr aufwachst.“ Doch da schlang Simon seine Arme um ihn und gab ihm einen liebevollen Kuss. „Sorry, dass ich dir Angst gemacht habe. Ehrlich gesagt habe ich selber nicht gedacht, dass ich so lange schlafen kann. Aber zumindest geht es mir wieder besser und das ist doch wohl die Hauptsache, oder?“ Dem konnte Leron nicht widersprechen, aber es verwunderte ihn trotzdem, dass Simon so plötzlich wieder der alte war und es nichts weiter gebraucht hatte, als zwei Tage Schlaf. Nachdem der 21-jährige so ziemlich alles gegessen hatte, was der Kühlschrank hergab, begann er sich kurzerhand Pancakes zu machen und verputzte ganze acht Stück mit Ahornsirup. Leron beobachtete das Essgelage kommentarlos, bis Simons scheinbar endloser Hunger endlich gestillt war. Und es brauchte einiges dafür. Simon war selbst erstaunt darüber, wie viel er essen konnte und hatte das Gefühl, als hätte er kurz vor dem Hungertod gestanden. Und je mehr er aß, desto mehr hatte er das Gefühl, dass seine Kraft und Energie wieder zurückkehrte. Ihm war, als wäre er aus einem schlechten Traum aufgewacht und als wären alle negativen Erlebnisse nichts Weiteres als eine verblassende Erinnerung. Er fühlte sich quasi wie neugeboren und er war glücklich darüber. Was Besseres konnte ihm doch gar nicht passieren. Doch Leron schien sich nicht so wirklich zu freuen. Er war schweigsam und sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an. Und das war es, was er überhaupt nicht verstand. Warum freute sich Leron denn nicht, dass er sich endlich besser fühlte? Oder lag es an etwas anderem? Nachdem er sich sein drittes Glas Orangensaft eingeschüttet hatte, fasste er sich ein Herz und sprach es direkt an. „Bist du immer noch wütend wegen dem, was ich gesagt habe? Hör mal, es tut mir wirklich leid und ich wünschte ehrlich, ich könnte es ungeschehen machen. Ich war verdammt unfair gewesen und wenn du mich bestrafen willst, kannst du das tun. Ich war einfach nur mit den Nerven durch gewesen.“ „Ich bin dir nicht mehr böse deswegen“, versicherte der Unternehmer ihm, doch es sah nicht wirklich danach aus, als sich an seiner Stimmung etwas ändern. „Aber du hast dich nicht gesehen so wie ich es gesehen habe. Du warst schwer krank und hattest offensichtlich Depressionen. Und jetzt soll alles wieder in Ordnung sein? Nicht, dass ich dir das nicht gönnen würde, aber…“ „Warum kannst du dich nicht einfach freuen?“ rief Simon in einem Anflug von Ärger und knallte sein Glas auf den Tisch. „Ich habe mich ja selbst nicht ausstehen können, als es mir so beschissen ging und jetzt geht es endlich wieder bergauf. Aber anstatt, dass du dich für mich freust, meckerst du nur wieder herum.“ „Du überreagierst schon wieder“, entgegnete er ruhig. „Und ich bin natürlich froh, wenn du dich besser fühlst. Aber ich mache mir Sorgen, dass das nicht allzu lange anhält. Während du geschlafen hast, habe ich mir die Zeit genommen, mich genauer zu informieren. Und Stimmungsschwankungen sind bei einer depressiven Phase nichts Ungewöhnliches. Ich mache mir einfach nur Sorgen um dich.“ „Das musst du nicht“, blockte Simon ab und trank sein Glas leer. „Mir geht es hervorragend. Ehrlich gesagt ging es mir schon lange nicht mehr so gut. Und ehrlich gesagt ist mir jetzt auch nicht mehr wirklich nach ausruhen zumute.“ Damit stand er auf und ging direkt auf Leron zu. Er legte seine Arme um ihn und gab ihm einen Kuss. „Wie wäre es mit etwas körperlicher Betätigung, um wieder in Schwung zu kommen?“ Doch zu seiner noch größeren Verwunderung reagierte der Unternehmer nicht darauf und wirkte sogar ablehnend. Und als er das realisierte, war ihm, als würden sich glühend heiße Nadeln in sein Herz bohren. „Was ist los? Willst du etwa nicht?“ Mit einem langen Seufzer ergriff Leron seine Hand und hielt sie fest. Man konnte ihm ansehen, wie innerlich zerrissen er war und dass er nicht wusste, was er tun sollte. „Es ist nicht so, dass ich nicht will, Simon. Natürlich möchte ich es, aber ich habe auch Angst. Du hast dich in der letzten Zeit verändert. Du bist extrem dünnhäutig und sensibel geworden und ich habe die Sorge, dass du wieder getriggert werden könntest.“ „Dann hör doch einfach damit auf, dir Sorgen um mich zu machen“, erwiderte der 21-jährige frustriert. „Ich bin nicht aus Glas und ich will auch nicht in Watte gepackt werden. Ich brauche keine Vaterfigur, sondern einen Partner, der mir genauso vertraut, wie ich ihm vertraue.“ „Ich mache mir Sorgen, weil ich dich liebe“, versuchte der Unternehmer zu erklären, doch in seinem Unterton war ebenfalls ein Anflug von Ärger zu hören. „Du hast dir doch auch Sorgen gemacht, als es mir schlecht ging. Warum also darf ich nicht das Recht haben, mich um dich zu sorgen? Und nach allem, was die letzten Wochen passiert ist, kannst du mir ja wohl kaum verdenken, dass ich meine Zweifel habe, dass du körperlich und mental Belastungen aushalten kannst, geschweige denn mit mir schlafen kannst, ohne an diese schlimmen Dinge erinnert zu werden. Auch wenn es dir nicht gefällt, habe ich eine gewisse Verantwortung für dich. Nicht weil ich mich als Vaterfigur sehe, sondern ganz einfach aus dem Grund, weil ich zehn Jahre älter bin. Du bist noch jung und siehst dich selbst nicht, wie du auf andere wirkst. Und ich kann einfach nicht mit dir schlafen, wenn ich weiß, dass du psychisch instabil bist und diese ganzen Erlebnisse nicht verarbeitet hast.“ „Ich bin drüber weg!“ „Nein bist du nicht“, beharrte Leron und wurde langsam lauter. „Glaub mir, ich weiß sehr gut wie es ist, wenn man unter einem sehr traumatischen Erlebnis leidet. Mein psychopathischer Bruder Michael hat uns beiden schlimme Dinge angetan und ich habe dieselben Dinge durchlebt wie du, nur mit dem Unterschied, dass sich niemand interessiert hat, wie es mir ging. Ich will dir diese Tortur ersparen, ganz alleine mit diesen Dingen fertig zu werden, aber ich kann dir nicht helfen, wenn du ständig Hilfe ablehnst, oder dich wegen jeder Kleinigkeit sofort angegriffen fühlst. Du kannst nicht von mir erwarten, dass mir dein Leid am Arsch vorbeigeht und ich so tue, als wäre nie etwas passiert. So funktioniert eine Beziehung nicht.“ Hieraufhin riss sich Simon von Leron los und verschränkte die Arme. Er fühlte sich gekränkt und konnte einfach nicht verstehen, was das Problem war. Ihm fehlte nichts und nur weil er ein bisschen krank und nervlich angespannt gewesen war, hieß das noch lange nicht, dass gleich so ein Fass aufgemacht werden musste. Er konnte sich gut um sich selbst kümmern und er hatte nur ein bisschen Zeit gebraucht, um wieder auf die Spur zu kommen. Und jetzt, nachdem er endlich wieder normal war, spielte Leron plötzlich verrückt. Oder war dies alles vielleicht nur eine Ausrede, weil es in Wahrheit einen ganz anderen Grund gab? „Findest du mich nicht mehr attraktiv? Ist es das?“ „Was?“ platzte es aus Leron heraus, woraufhin ihm die Gesichtszüge völlig entgleisten. „Wie kommst du denn darauf?“ Doch Simon wandte sich von ihm ab und konnte ihm einfach nicht mehr in die Augen sehen. „Seien wir doch mal ehrlich. Es hat schon damit angefangen, nachdem das mit deinem Bruder passiert ist. Daran liegt es doch, nicht wahr? Du kannst mich nicht mehr anfassen, weil es an meinem verdorbenen Körper liegt.“ „Sag mal, hörst du überhaupt zu, was ich dir sage?!“ „Entschuldige, wenn ich nicht ändern kann, dass jemand anderes mit mir Sex hatte. Ich habe versucht, den Schmutz wegzuwaschen, aber ich kann die Dinge nicht ungeschehen machen! Ich kann nichts daran ändern, dass ich jahrelang das Sexspielzeug für irgendwelchen kranken Perversen war und ich nicht mehr attraktiv bin. Ich habe mir das alles nicht ausgesucht. Weißt du was? Es reicht mir. Ich muss echt raus, ansonsten explodiere ich noch endgültig.“ Damit verließ er die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Er zog sich seine Schuhe an und verließ die Villa, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken. Länger hätte er es einfach nicht mehr ausgehalten. Auch wenn er wusste, dass er überreagiert hatte, konnte er nichts daran ändern, dass er sich schäbig und abstoßend fühlte. Es war ein beschissenes Gefühl und wieder überkam ihn der Drang, einfach nur zu weinen. Doch er wollte sich nicht so fühlen. Er wollte das alles einfach nur vergessen und wieder von neu anfangen und wieder einen freien Kopf bekommen. Aber in der Villa schien ihm die Decke komplett auf den Kopf zu fallen und auch bei Cypher und Hunter kamen ihm nur schlechte Erinnerungen hoch. Aber wo sollte er denn hin, wenn er sich weder in der Villa noch bei seinem Bruder wirklich wohl fühlte? Alles, was er tun konnte, waren lange Spaziergänge zu machen, aber das war auch keine dauerhafte Lösung. Als er schließlich nach einem langen Spaziergang und einer Busfahrt war er schließlich an der Küste angelangt. Es war ein wenig kühl, aber eine angenehme Meeresbrise wehte ihm entgegen und kühlte seinen Kopf. Er setzte sich auf einen der größeren Steine und starrte auf das Wasser. Etwas weiter entfernt konnte er Long Island sehen, wenn auch in optisch weiter Ferne. Irgendwie hatte es was Beruhigendes, hier zu sein und er begann sich zu fragen, warum er nicht schon früher auf die Idee gekommen war, hierherzukommen. Es tat einfach mal gut, weit weg von den anderen zu sein. Weg von all den Sorgen und Problemen. „Ist schön hier, oder?“ Simon wurde aus seinen Gedanken gerissen und schaute in die Richtung der Stimme. Offenbar war er so in Gedanken gewesen, dass er gar nicht gemerkt hatte, dass da jemand neben ihm stand. Es war ein knapp 22-jähriger Junge mit unfrisiertem rotbraunem Haar und Augen, die so grün wie Efeu waren. Er trug einen Pullover, der ihm gut und gerne zwei Nummern zu groß war und auch seine Jeanshose war ihm zu lang. Seine Sneakers waren ziemlich ramponiert und selbst die Schnürsenkel waren offen. Sein Blick war auf das Wasser gerichtet und er nahm neben Simon Platz. „Die Menschen lieben das Wasser, weil das Meer ihnen ein Gefühl von Freiheit gibt. Als würden die Sorgen von den Wellen davongetragen werden.“ „Schön wär’s“, seufzte Simon und seufzte wehmütig. „Aber das Gefühl hält auch nur an, solange man hier ist. Spätestens wenn man wieder nach Hause in sein altes Zuhause zurückkehrt, ist man wieder in diesem Mix aus Wut, Leid, Unsicherheit und Selbsthass gefangen und alles scheint einem zu erdrücken. Und selbst die Menschen, die man liebt, scheinen einem die Luft zuzuschnüren.“ „Aber weglaufen ist auch schwierig“, erwiderte der Junge, ohne Simon auch nur ein einziges Mal anzusehen. „Du kannst es zwar versuchen, aber egal wo du hingehst, das Gefühl der Beengtheit wird dich trotzdem finden. Es hängt an dir wie ein Schatten und wird dir überallhin folgen. Und du wirst schnell realisieren, dass du nicht glücklich bist und versuchst wieder wegzulaufen. Du tust es immer wieder und versteckst dich in einer Scheinrealität, die du dir selbst erschaffst, bis dieses Kartenhaus über dir zusammenbricht und du in die grausame Realität zurückgeschleudert wirst. Aber nicht zu fliehen bedeutet, stehen zu bleiben und die Dinge zu konfrontieren, vor denen man davongelaufen ist. Und das ist der schwerste Part.“ „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe…“ „Das weiß niemand“, erklärte der Junge. „Natürlich ist es unangenehm und schmerzhaft. Aber es geht vorbei. Und man wächst an dem, was einen heruntergezogen hat. Niemand mag die unangenehmen Dinge sehen, aber das Leben besteht nicht nur aus glücklichen Momenten. Und wenn man so viel Leid zu tragen hat, sollte man sich vor die Frage stellen, ob dieses ganze Weglaufen die Mühe wirklich wert ist, oder ob man seine Energie nicht lieber dafür aufwenden sollte, an sich zu arbeiten. Anderen helfen ist immer leicht. Sich selbst zu helfen ist bei weitem das Schwerste.“ Der Junge hatte sich nun zusammengekauert und seine Arme um die Beine geschlungen. Er lächelte, aber es schien auch so, als läge etwas Bestimmtes in seinem Blick. Etwas tief verborgenes, was man nur schwer zu erkennen vermochte. Und sein Lächeln wirkte beinahe aufgesetzt oder einfach nur vorgespielt. Nun machte der Junge Simon doch ein wenig neugierig und er fragte „Sprichst du aus Erfahrung?“ „Ich bin schon kaputt geboren worden“, antwortete der Junge mit den grünen Augen. „Schon als ich klein war, wusste ich, dass ich anders als die anderen war. Und ich wusste, dass meine Mutter oft geweint hat und sich wünschte, sie hätte einen normalen Sohn und nicht jemanden, der so ist wie ich.“ „Das klingt nicht gerade nach einer glücklichen Kindheit…“ „Meine Kindheit war okay. Ich verstehe mich wunderbar mit meiner Schwester und ich habe meinen Weg zu leben gefunden. Es gibt zwar Leute, die mich bemitleiden, weil ich seit meiner Kindheit in einer stationären Einrichtung lebe, aber es gibt keinen Grund dafür. Es kommt nicht darauf an, ob du ein schickes Haus, viel Geld oder einen coolen Wagen hast. Was einzig und allein zählt ist, dass du glücklich mit deinem Leben bist und mit dir im Reinen bist.“ „Du lebst in einer stationären Einrichtung?“ fragte Simon erstaunt und halb betroffen. „Darf ich fragen wieso?“ „Ich bin klinisch verrückt“, antwortete sein Sitznachbar. „Verfolgungswahn und mangelnde Zurechnungsfähigkeit. Sie sagen, ich kann die Gefühle anderer Menschen nicht verstehen und hätte kein moralisches Verständnis. Es stimmt schon, dass ich mich nicht in andere Menschen hineinversetzen kann und Gefühle nicht so wahrnehme wie andere es tun. Aber das bedeutet nicht, dass es mir egal ist zu wissen, dass meine Mutter sich die Schuld dafür gibt, mich zur Welt gebracht zu haben. Es tut mir weh und weil ich meiner Familie keinen Kummer mehr bereiten wollte, habe ich mich einweisen lassen. Und auch weil ich erkannt habe, dass selbst ich über gewisse Dinge keine Kontrolle habe.“ „Du hast wenigstens eine Familie“, entgegnete der 21-jährige unglücklich und musste unfreiwillig an sein altes Leben zurückdenken. „Ich hatte mein ganzes Leben lang niemanden gehabt und musste alleine klarkommen. Und zu wissen, dass der Mensch, den ich liebe, sich um mich sorgt, überfordert mich einfach.“ „Du lebst aber auch in einer ziemlich beknackten Doppelmoral“, kam es zurück und fassungslos wandte sich Simon zu dem Jungen um, der nun einen Lollipop aus seiner Hosentasche holte, das Papier entfernte und ihn dann in den Mund steckte. „Du jammerst hier rum, weil dein Leben beschissen ist und suhlst dich in deinem Selbstmitleid und spielst hier das arme Opferlamm. Aber wenn dann die Leute dann endlich Sorge zeigen, willst du das nicht und sagst, du willst deinen Freiraum. Du musst schon zugeben, dass das ziemlich bescheuert ist.“ „Ich weiß auch nicht so wirklich, was mit mir los ist!“ gab Simon gereizt zurück, schnappte sich einen Stein und warf ihn ins Wasser. „Leron hatte eigentlich Recht, dass es unfair von mir ist, dass ich mir Sorgen um ihn mache, ich aber nicht will, dass er sich um mich sorgt. Aber es kotzt mich einfach an, dass er meint, er wüsste, was das Beste für mich ist. Er will mir ständig einreden, dass ich dies und das nicht packe und will mich in Watte packen.“ „Aber das willst du doch eigentlich“, erwiderte sein Gesprächspartner vollkommen unbeeindruckt. „Du bemitleidest dich selbst und willst nichts an der Situation ändern. Wenn du dich in deiner Opferrolle so wohl fühlst, warum beschwerst du dich dann, dass man dich wie ein Opfer behandelt?“ „Ich habe nie gesagt, dass ich mich in meiner Opferrolle wohl fühle!“ rief Simon wütend und stand auf. „Ich habe nie darum gebeten, von anderen so schäbig benutzt und misshandelt zu werden und ich wollte nie in solch eine Situation hineingeraten!“ „Und doch willst du nichts tun, um dich besser zu fühlen“, kam es als Konter zurück. „Mit diesem selbstzerstörerischen Verhalten wirst du nicht wirklich etwas erreichen, außer der Tatsache, dass du die Menschen vergraulst, die dir helfen wollen. Du kannst jetzt hier auf einem Stein sitzen und über die Dinge jammern, die du nicht mehr ändern kannst. Oder du kriegst deinen Arsch hoch und änderst etwas. Ich mag zwar unzurechnungsfähig und gefühlsarm veranlagt sein, aber ich kann dir sagen, dass du mit diesem selbstzerstörerischen Verhalten nur gegen die Wand laufen wirst. Und so kaputt kannst du nicht sein. Denn wenn dein Leben so verdammt beschissen ist, kannst du eigentlich aufhören zu jammern und dir einfach selbst die Kugel geben. Damit hättest du den einfachen Ausweg gewählt und gehst niemandem mehr auf dem Sack. Ich bin klinisch verrückt geboren worden und es besteht keine Hoffnung, dass meine psychischen Krankheiten jemals geheilt werden können. Wie sieht es mit deinen aus?“ Simon schwieg und wusste nichts darauf zu antworten. Auf der einen Seite machten ihn diese harschen Worte ziemlich wütend und am liebsten hätte er dem Jungen eine reingehauen, aber irgendwie war auch etwas an diesen Worten dran. Wenn er wirklich ehrlich zu sich selbst war, wollte er sich mit all diesen schlimmen Dingen nicht auseinandersetzen. Er hatte einfach viel zu große Angst davor, wieder durch das gleiche Elend gehen zu müssen, welches er bereits durchlebt hatte. Und er wusste nicht, ob er das wirklich schaffen würde. „Warum erzählst du mir das alles eigentlich?“ Der Junge zuckte mit den Schultern und erklärte „Du sahst halt aus, als hättest du Depressionen und ich kenne da jemanden in meiner Klinik, der das Gleiche hat. Also habe ich das erzählt, was unser Therapeut ihm erzählt hat.“ „Und wie schaut es bei dir aus? Hat sich etwas für dich geändert?“ „Nein“, antwortete der Junge mit dem rotbraunen Haar und schüttelte den Kopf. „Ich wurde bereits kaputt geboren, da kann man nichts machen. Ich kann höchstens Pillen schlucken, um meinen Verfolgungswahn unter Kontrolle zu halten.“ „Und was ist mit deiner Familie?“ „Ich habe den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen. Meine Mum denkt zwar, dass ich sie hasse, aber ich will nur, dass sie mich vergisst und aus ihrem Leben streicht, damit sie glücklicher wird. Es war das Beste für uns beide. Mein Vater hat es verstanden und akzeptiert und ich bekomme hauptsächlich Besuch von meiner Schwester, weil sie damit umgehen kann, dass ich so bin wie ich bin. Die Frage ist: willst du das auch? Dich von allen Menschen isolieren, weil du ein hoffnungsloser Fall bist, oder dir selbst in den Arsch treten und für dein Glück kämpfen? Mein Glück ist die Isolation der Klinik, wo Leute wie ich hingehören. Und wo liegt dein Glück?“ Simon wurde nachdenklich und schaute den Jungen unsicher an. Dieser starrte ihn mit seinen grasgrünen Augen an und lächelte immer noch. Es wirkte so fehl am Platze und fremd. Als würde ein Kind vor ihm sitzen, das nur wiederholte, was es aufgeschnappt hatte, ohne wirklich die Bedeutung dieser Worte zu verstehen. Und auch die Art wie er redete, wirkte unnatürlich. So als wüsste er nicht, wie man Emotionen ausdrückte. Er hatte keine Ahnung, wer dieser Kerl war und warum er mit ihm redete, aber er musste zugeben, dass viel Wahres dran war. Und es hatte ihn nachdenklich gemacht. „Danke für das Gespräch. Ich glaube, ich sollte langsam gehen.“ „Und wohin gehst du?“ wollte der Junge wissen, während er auf seinem Lollipop kaute. „Nach Hause“, antwortete Simon. „Ich muss über einige Dinge nachdenken.“ Damit machte er sich auf den Weg zur Bushaltestelle und bekam nicht mehr mit, wie der Junge leise kicherte und meinte „Na dann bis zu unserem nächsten Treffen, Simon Cavanaugh.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)