The Petboy Contract von Sky- ================================================================================ Kapitel 46: Wiedersehen mit Ezra -------------------------------- Die Woche brachte viel Regen und Gewitter. der Himmel war die ganze Zeit grau verhangen und es schien, als würde sich die Sonne nie wieder zeigen. So düster wie es draußen war, fühlte sich auch die Stimmung an. Obwohl Simon viel Besuch von Cypher bekam, vermochte nichts seine Laune dauerhaft zu heben und er war in einer Art Schwermütigkeit gefangen. Leron war die meiste Zeit arbeiten und es gab immer noch keine Information darüber, was seinem Vater fehlte. Dieser lag noch im Krankenhaus, klagte über Atemnot und Schmerzen in der Brust und hatte nun auch hohes Fieber dazubekommen. Obwohl Leron immer noch hoffte, dass sein alter Herr sich wieder bald berappeln würde, sah es nicht danach aus als könne dieser das Krankenhaus so schnell wieder verlassen. Es war eine schwierige Situation für sie. Und obwohl Simon versuchte, Leron nicht auch noch zur Last zu fallen, hatte dieser trotzdem seine Sorgen. Zwar war ihm längst aufgefallen, dass Simon sich kalt anfühlte und irgendwie schwächer und kränklicher wirkte als sonst, aber nun fiel ihm auf, dass es sich langsam schleichend verschlimmerte. Also hatte er seinen Hausarzt Dr. Morris angerufen und einen Termin für Simon ausgemacht. Obwohl der 21-jährige beharrte, dass mit ihm alles in Ordnung sei und er vielleicht nur eine beginnende Winterdepression entwickelte, blieb Leron bei seinem Entschluss und schickte ihn zum Arzt. Nur mit Mühe konnte sich Simon dazu aufraffen, denn ihm fehlte gänzlich die Motivation für solche Dinge. Als er von Lerons Chauffeur zur Praxis von Dr. Morris gebracht wurde, empfing der Arzt ihn gut gelaunt und drückte ihm fest die Hand. „Schön Sie wiederzusehen, Mr. Cavanaugh. Was führt Sie denn heute zu mir?” Simon nahm auf einem der beiden Stühle Platz und zuckte unsicher mit den Schultern, denn so ganz wusste er auch nicht, warum er hier hingeschickt wurde. „Ich weiß es nicht so genau. Ich fühle mich in der letzten Zeit einfach nur müde und kaputt und bin oft ziemlich niedergeschlagen. Nun gut, ich hatte in den letzten Monaten ziemlich viel durchgemacht und das war halt ziemlich viel für mich. Und bei dem Wetter da draußen ist es ja eh kein Wunder, wenn man schlechte Stimmung hat. Hauptsächlich bin ich wegen Leron hier, weil er sich Sorgen macht. Er sagt, ich würde mich kalt anfühlen.” Dr. Morris betrachtete ihn mit einem prüfenden Blick und faltete die Hände. „Haben Sie irgendwelche Beschwerden? Frieren Sie häufiger oder haben Kopfschmerzen?” „Nicht wirklich”, murmelte Simon. „Ich bin halt nur ziemlich erschöpft und schlafe viel.” Nun stand der Arzt auf und holte ein Ohrthermometer aus einem Schrank, um die Temperatur zu messen. Simon ließ die Prozedur über sich ergehen, doch wie Dr. Morris feststellte, war es nichts Besorgniserregendes. Die Temperatur lag bei knapp 36,1°C. Zwar war das etwas niedrig, aber immer noch im Normalbereich. Als nächstes wurde der Herzschlag und der Puls untersucht, danach hatte der Arzt auch schon sein Resultat gezogen. „Also der Puls ist etwas niedrig, der Herzschlag ist in Ordnung. Ich will jetzt nicht die Pferde scheu machen und sagen, dass Sie schwer krank sind. Vermutlich sind diese Symptome einfach nur eine Mangelerscheinung.” Hier zog der 21-jährige die Augenbrauen zusammen und schaute den Arzt verwundert an. „Eine Mangelerscheinung? Wie meinen Sie das?” „Es kann durchaus ein Vitamin- oder anderweitiger Nährstoffmangel vorliegen. So etwas kann auch Depressionen und Müdigkeit hervorrufen. Bevor ich Diagnosen psychischer Art treffe, versuche ich zuerst alle körperlichen Probleme auszuschließen. In der heutigen Zeit diagnostizieren viele Ärzte recht schnell eine Depression, lassen aber außer Acht, dass viele Probleme durch unseren eigenen Körper verursacht werden. Durch falsche Ernährung oder Lebensweise können Mangelerscheinungen auftreten und deswegen möchte ich gleich eine Blutabnahme vornehmen. Ich möchte einmal prüfen ob Sie eventuell einen Mangel haben oder ob vielleicht eine Schilddrüsenunterfunktion vorliegt.” Noch immer fiel es Simon schwer zu glauben, er könne so etwas tatsächlich haben. Ansonsten wäre es doch bei seiner Eingangsuntersuchung herausgekommen. Aber er vertraute auf die Meinung des Arztes und ließ ihn eine Blutabnahme machen. Danach riet ihm Dr. Morris noch, viel Tee zu trinken und sich zu schonen. Das Ergebnis der Blutuntersuchung würde er spätestens in zwei Tagen haben. Damit war der Arztbesuch auch schon wieder vorbei. Trotzdem war Simon nicht wirklich danach, nach Hause zurückzukehren. Er verspürte den Wunsch, einfach mal wegzugehen und für sich alleine zu sein. Also bat er den Chauffeur, ohne ihn zurückzufahren damit er einen Spaziergang machen konnte. Es regnete immer noch, aber glücklicherweise hatte er einen Regenschirm dabei. Die Luft war kühl, aber irgendwie wirkte es auch belebend auf ihn. Vielleicht war etwas Bewegung einfach das, was er brauchte. Nachdem Simon sich noch zusätzlich seine Sonnenbrille aufgesetzt hatte, um seine Augen zu verstecken, machte er sich auf zu seinem Spaziergang. Trotz beginnender Mittagszeit war erstaunlich wenig los. Zwar begegnete er einigen Fußgängern, aber selbst die hatten es eilig, so schnell wie möglich wieder ins Trockene zu kommen. Und offenbar war der Rest von New York nicht wirklich in Stimmung, bei diesem Wetter einen Fuß vor die Tür zu setzen oder die Leute waren noch arbeiten. Nun, es konnte ihm recht sein. Dann gab es zumindest weniger Leute, die ihn wegen seiner Sonnenbrille komisch von der Seite ansahen. Nachdem er eine Weile ziellos herumgelaufen war und hier und da in ein paar Geschäften Halt gemacht und ein paar Sachen eingekauft hatte, wollte er eigentlich wieder nach Hause gehen nur dummerweise wusste er nicht genau, wie er dorthin kommen sollte und setzte sich an einer überdachten Bushaltestelle, um sein Handy zur Hilfe nehmen zu können. Der Zufall aber wollte es, dass er dort auf ein vertrautes Gesicht traf: Ezra Parker. Zusammengekauert in der Ecke hockte er auf dem Boden, den Blick gesenkt und mit seinem Hund Archi bei sich. Er hätte auf dem ersten Blick mehr wie ein Ausreißer gewirkt, wenn man ihn nicht gekannt hätte. „Ezra?” Erschrocken schaute der 16-jährige auf und wirkte zuerst zutiefst verängstigt, doch dann entspannte er sich wieder, als er Simon sah. „Was willst du denn hier?” fragte er etwas schroff und wirkte ziemlich verstimmt. „Ich bin gerade auf dem Weg zurück nach Hause”, antwortete Simon. „Ich hatte nur einen kleinen Spaziergang gemacht, das war alles. Und was ist mit dir?” „Ich hatte keine Lust mehr”, kam es von dem etwas klein geratenen androgynen Jungen. „Ständig schreiben sie mir vor, was ich tun oder lassen soll und es kotzt mich an. Und was ich will, interessiert niemanden. Erwachsene sind doch alle gleich…” „Ist es wegen den Pflegefamilien? Hast du immer noch solche Angst davor, einer Familie angehören?” Ezra sah ihn nicht an und schwieg. Der Rottweiler ließ ein kurzes Winseln von sich hören, bevor er seinen Kopf auf dem Schoß seines Herrchens ablegte. Schließlich, nachdem eine Weile lang Stille zwischen ihnen geherrscht hatte, ließ Ezra ein leises Seufzen von sich vernehmen und erklärte „Menschen allgemein machen wir Angst.” „Warum denn?” wollte Simon wissen und rückte näher an ihn heran. „Sind sie denn so grausam zu dir gewesen?” „Ich weiß es nicht!” rief Ezra plötzlich in einem Anflug von Gereiztheit und schaute ihn wütend an. „Ich habe keine Ahnung, warum! Und glaubst du, das macht Spaß, vor allem Möglichem Angst zu haben weil irgendetwas Schlimmes in deinem Leben passiert ist und du kannst dich nicht mal daran erinnern? Es ist doch jedes Mal der gleiche Mist…” Der 16-jährige fuhr sich durchs Haar und Simon sah, wie viele davon an seiner Hand hängen blieben. Zwar erinnerte er sich daran zurück, wie Cypher erwähnt hatte, dass Ezra bei Stress die Haare ausfielen, aber es sah trotzdem beunruhigend aus. Und auch wenn er ihn nicht so lange kannte, machte er sich trotzdem Sorgen um ihn. Der Junge erinnerte ihn einfach ein Stück weit an sich selbst. „Kriegst du Panikattacken, wenn du mit Erwachsenen zu tun hast?” „Nur bei Männern”, antwortete Ezra und machte sich noch kleiner als er ohnehin schon war. „Mein letzter Pflegevater war eigentlich ganz okay gewesen. Aber als er mich an der Schulter angefasst hat, da habe ich Panik gekriegt und ihn gebissen. Ich habe es ja gesagt: ich bin nicht für Familien geeignet.” Der Bus kam und mehrere Leute stiegen aus. Simon bemerkte, wie Ezra sich nervös anspannte und die Leute feindselig anstarrte wie ein in die Ecke getriebenes Tier. Er hatte Angst, das konnte man mehr als deutlich sehen.Also fasste sich Simon ein Herz und reichte Ezra seine Hand. „Sollen wir woanders hingehen, wo wir in Ruhe reden können?” Nur zögerlich nickte der 16-jährige, stand auf und folgte Simon wortlos. Sie gingen in ein Café, welches nur spärlich besucht war und setzten sich in eine kleine Ecke, wo sie ihre Ruhe hatten. Unruhig sah sich Ezra um und wirkte immer noch sehr angespannt, doch zumindest wirkte er nicht mehr ganz so angriffslustig wie vorhin. Nachdem Simon Getränke für sie beide bestellt hatte, versuchte er, mit Ezra ein wenig ins Gespräch zu kommen. „Wann bist du eigentlich ins Kloster gekommen? Und wieso ausgerechnet dort?” „Ich war neun oder zehn Jahre alt”, antwortete der 16-jährige und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß nicht genau was davor war, aber ich weiß noch, dass meine Mutter vor meinen Augen gestorben war. Dann ist irgendetwas mit meinem Vater passiert. Zuerst wollten sie mich in ein Heim stecken, aber ich kam nicht mit den anderen zurecht.” „Warum nicht?” „Weil sie sich die ganze Zeit über mich lustig gemacht haben. Für die war ich doch immer nur der Hundejunge.” Kinder können wirklich grausam sein, dachte sich Simon und musste an seine eigene Kindheit zurückdenken, die auch nicht wirklich die glücklichste war. „Und wie kommt es, dass du Hunde so sehr liebst?” Etwas unsicher zuckte Ezra mit den Schultern und begann den Kopf des Rottweilers zu streicheln. Der Hund machte es sich auf dem Boden gemütlich so gut wie es ging und blieb dort brav liegen. „Ich weiß es nicht genau. Wir hatten mal einen Hund gehabt, bevor mein Vater gestorben ist. Ich glaube, der Hund hatte mich damals beschützt gehabt. Aber ich kann mich halt an nichts erinnern. Jedenfalls… Tiere sind für mich wesentlich angenehmer als Menschen. Erwachsene machen mir Angst, vor allem Familien. Die einzigen Menschen, vor denen ich keine Angst habe, sind Cypher, Hunter und die Klosterbrüder.” „Und wieso bist du dann abgehauen?” „Weil sie ständig darüber reden, dass ich eine Familie brauche und ich nicht ewig im Kloster bleiben kann. Die verstehen einfach nicht, dass ich so etwas nicht will. Für mich ist das schlimmer als von Idioten in der Schule verprügelt und Hundejunge genannt zu werden. Ich will am liebsten irgendwo auf dem Land leben, auf einer Farm und mich um Tiere kümmern. Hier sind einfach zu viele Menschen.” Es fiel Simon schwer, sich vorzustellen, dass jemand die Gesellschaft von Menschen so sehr hassen und fürchten könnte. Auch wenn er selbst nicht gerade ein einfaches Leben hatte, konnte er sich nicht vorstellen, völlig isoliert zu leben und dann auch noch glücklich damit zu sein. Aber anscheinend waren manche Menschen so. Und was auch immer mit Ezra passiert war, dass er solch eine Angst vor Menschen entwickelt hatte, es musste ihn zu dem Punkt gebracht haben, dass allein die Vorstellung einer Familie für ihn unerträglich war. Zwar konnte er die Ansichten der Mönche verstehen, aber er glaubte, dass es auch nicht der richtige Weg war, Ezra zu drängen, in einer Familie zu leben und ihn somit einem derartigen Stress auszusetzen. „Hast du schon mal über eine Therapie nachgedacht? Vielleicht hilft es dir, besser mit deiner Angst umzugehen. Womöglich hilft es dir sogar, dich daran zu erinnern, was damals mit deiner Familie passiert ist. Wenn du alleine leben willst, ist das okay. Aber solch eine Angst vor Menschen zu haben ist doch nicht normal.” Ezra zuckte wieder nur mit den Schultern und schwieg dazu. Er schien nicht genau zu wissen, ob er das wirklich tun sollte oder nicht und Simon hatte auch nicht vor, ihn weiter zu bedrängen. Während Ezra seinen Milchshake trank, den die Kellnerin gebracht hatte, herrschte Stille zwischen ihnen und Simon spürte, wie ihn erneut Müdigkeit überkam. Er fühlte sich erschöpft und rieb sich müde die Augen. Anscheinend war der Spaziergang anstrengender gewesen als gedacht. Na hoffentlich gab das Ergebnis der Blutuntersuchung Aufschluss darüber, warum er seit einiger Zeit neben der Spur war. „Du siehst scheiße aus”, meinte der 16-jährige, sah ihn aber nicht direkt an. „Stimmt was nicht mit dir?” „Keine Ahnung”, murmelte Simon und gähnte. „Vermutlich ist es nur irgendetwas Harmloses. Aber sehe ich wirklich so schlimm aus?” „Du bist kreidebleich und du riechst komisch”, erklärte Ezra und nahm noch einen Schluck von seinem Milchshake. „Aber du riechst nicht wie ein Kranker.” „Du kannst riechen, ob jemand krank ist?” Der klein geratene Teenager nickte und erklärte, dass er einen sehr sensiblen Geruchssinn besaß, der ihm manchmal Probleme bereitete, weil er viele Gerüche intensiver wahrnahm als andere Menschen. Aber es ermöglichte ihm auch, Gerüche wahrzunehmen, die normale Menschen nicht bemerken würden. So konnte er tatsächlich Menschen am Geruch erkennen und ebenso riechen, ob jemand krank sei oder nicht. Das machte Simon umso neugieriger und natürlich wollte er sofort wissen, wie kranke Menschen denn riechen würden. Doch es fiel Ezra schwer, Gerüche vernünftig zu beschreiben. Natürlich wusste er wie verschiedene Dinge oder Lebewesen rochen, aber es mit Worten zu beschreiben, war wesentlich schwieriger. „Es kommt auf die Krankheit an. Die meisten aber riechen nach Pisse oder nach etwas Fauligem. Es stinkt fürchterlich und selbst eine Grippe stinkt nach alten Socken und selbst Zuckerkranke riechen wie billiger Nagellackentferner. Kranke Menschen mit Organproblemen stinken oder riechen extrem sauer wie eine Flasche Essig.” „Und wie rieche ich?” Wieder musste Ezra überlegen, wie er den Geruch mit Worten beschreiben konnte. „Du und Cypher, ihr riecht normalerweise ähnlich wie Sonnenblumen. Aber nun stinkst du eher nach vertrockneten Blumen an einem eisigen Wintertag. Wenn du krank wärst, würdest du sauer stinken, aber das tust du nicht. Ehrlich gesagt habe ich noch nicht erlebt, dass ein Mensch so gerochen hat wie du.” Da Simon sich mit diesen Dingen nicht auskannte, konnte er damit noch weniger anfangen als Ezra. Er holte sogar sein Handy hervor um herauszufinden, was das genau bedeutete und wie kranke Menschen riechen, aber fand nichts, was auf Ezras Beschreibung passte. Letzten Endes blieb ihm also nur, die Diagnose des Arztes abzuwarten. Aber das Ganze kam ihm recht merkwürdig vor. „Leron und Hunter haben auch schon gesagt, dass ich kalt bin aber ehrlich gesagt merke ich nicht einmal etwas. Mir ist nicht mal kalt. Der Arzt meinte zwar es könne eine Schilddrüsenunterfunktion sein, aber...” „Dann würdest du anders riechen”, unterbrach Ezra ihn. „Menschen mit Schilddrüsenprobleme riechen eher nach Essig. Was auch immer es ist, es hat nichts mit deinen Organen zu tun.” Nachdem Simon für die Getränke gezahlt hatte, bot Ezra ihm überraschend an, ihm das Kloster zu zeigen, in welchem er lebte. Da dies auch der Ort war, an dem Cypher aufgewachsen war, wurde Simon natürlich neugierig und nahm das Angebot an. Sie mussten mit dem Bus fahren, da sich der 21-jährige nicht imstande fühlte, die Strecke zu Fuß zu laufen. Das Kloster lag etwas außerhalb der City und war ein überraschend modernes und unscheinbares Gebäude. Simon hätte es niemals als Kloster identifizieren können, wenn er es nicht von Ezra erfahren hätte. Es gab eine Kirche nicht weit von dort und im Innenhof befand sich ein kleines Gewächshaus, in welchem Gemüse gezüchtet wurde. Sie stiegen die Stufen hoch und öffneten die große und schwere Tür. Simon seinerseits war noch nie in einem Kloster gewesen und hatte deshalb auch keine Vorstellung davon, wie ein solches von innen aussah. Er erwartete fast schon etwas Mittelalterliches, doch zu seiner Überraschung war das Kloster modern eingerichtet. Natürlich war es schlicht gehalten und die hauptsächliche Dekoration waren Bilder von Heiligen, der Jungfrau Maria oder Kreuze. Die Wände waren weiß gestrichen und es wirkte fast gemütlich. Zwar konnte man immer noch sehen, dass hier Menschen lebten, die Reichtümern abgeschworen haben und ein einfaches Leben bevorzugten, aber es war trotzdem wesentlich häuslicher eingerichtet als die Bruchbude, in der Simon gehaust hatte, bevor er zu Leron gezogen war. Sie gingen in einen großen Raum, der einen langen Tisch mit mehreren Stühlen, ein paar Schränke, Kruzifixe an den Wänden und ein paar nette Dekorationen beinhaltete. Es schien so etwas wie der Speiseraum zu sein und ein paar Männer mittleren und fortgeschrittenen Alters in Kutten saßen am Tisch und unterhielten sich. Als sie hereintraten, schauten die Männer auf und erhoben sich von ihren Plätzen. Ein knapp 60-jähriger halbglatziger Mönch, der eine Halbmondbrille auf der Nase trug, trat auf sie zu und fragte überrascht „Du hast Besuch mitgebracht, Ezra?” Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich direkt an Simon und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. „Willkommen im St. John Kloster. Ich bin Bruder Benedict. Freut mich sehr.” „Freut mich ebenfalls, ich bin Simon Cavanaugh”, stellte sich der 21-jährige vor und erwiderte den Händedruck. Nachdem er sich als Bekannter von Ezra vorgestellt hatte, wurde er auch von den anderen Mönchen begrüßt, die sich allesamt mit Namen vorstellten, die man hauptsächlich aus der Bibel kannte. Und da ihm der Name Benedict so bekannt vor kam, erlaubte er sich schließlich die Frage „Kennen Sie vielleicht Cypher?” „Wen?” fragte der alte Mann stirnrunzelnd und konnte erst gar nichts mit dem Namen anfangen, bis er sich dann aber erinnerte. „Ach Sie meinen Bartholomew? Natürlich erinnere ich mich an ihn. Ich habe den Jungen immerhin aufgezogen zusammen mit den anderen. Es ist für mich immer noch unverständlich, wie er einen so wundervollen Namen einfach ausgetauscht hat. Immerhin ist er nach zwei Aposteln benannt worden! Und woher kennen Sie ihn?” „Ich bin sein jüngerer Bruder”, antwortete Simon mit einem leichten Schmunzeln und schilderte dem Mönch, wie er Cypher gefunden hatte. Zwar wusste er selbst, wie merkwürdig die Geschichte war, doch es reichte aus, dass Benedict den Kopf schüttelte und darauf nichts anderes zu sagen wusste als „Wahrlich… die Wege des Herrn sind unergründlich. Ich habe so einiges in meinem Leben erlebt aber das hier überrascht mich nun doch sehr. Aber es freut mich auch für Bartholomew, dass er zumindest einen Familienteil gefunden hat. Trotzdem ist es immer noch sehr bedauerlich, dass wir seine Eltern nie ausfindig machen konnten. Wir sind sehr bemüht, zumindest für unseren Schützling Ezra eine liebevolle Pflegefamilie zu finden, aber es ist leider auch nicht einfach.” „Und ich habe es dir schon gesagt, dass ich keine Familie will!”, gab Ezra gereizt zurück und seine Miene verfinsterte sich. Doch davon ließ sich der ältere Mönch auch nicht beeindrucken und er erklärte mit einem leisen Seufzen „Gott hat Eva erschaffen, weil es in der Natur des Menschen liegt, in Gesellschaft mit seinesgleichen zu leben. Und ein Kind braucht eine Familie.” „Ich bin 16 Jahre alt und kein Kind mehr!”, kam es zurück und Ezra wandte sich von Benedict ab. „Ich habe nie darum gebeten, in irgendwelche Familien reingesteckt zu werden, die ich nicht kenne. Und nur weil ihr der Ansicht seid, ich müsse unbedingt zu irgendwelchen Fremden abgeschoben werden, heißt das noch lange nicht, dass ich damit einverstanden sein muss! Das ist mir jetzt echt zu blöd.” Damit ergriff Ezra Simons Hand und zog ihn mit sich. Sie verließen den Speiseraum und gingen den langen Flur entlang, bis sie nach einer Weile vor einer Tür stehen blieben, die Ezra öffnete. Dahinter lag ein gemütlich eingerichtetes Zimmer mit einem einfachen Bett, einem Schreibtisch, einem großen Kleiderschrank und einem Hundekorb für Ezras vierbeinigen Freund. Es gab sogar einen kleinen Fernseher und eine Spielekonsole. An den Wänden hingen einige Fotos, die Ezra zusammen mit seinem Hund Archi zeigten. Auf manchen waren auch die Mönche zu sehen und man sah deutlich, wie sehr sie sich um Ezra kümmerten. Aber ein Bild zog Simons Aufmerksamkeit auf sich: das Foto einer Frau mit dünnen blonden Locken und trüben grauen Augen. Sie wies ähnliche Gesichtszüge wie Ezra auf, was darauf schließen ließ, dass es höchstwahrscheinlich Ezras Mutter war. Um sicherzugehen fragte er den 16-jährigen danach, doch der zuckte nur mit den Schultern und meinte, er wüsste nicht, ob es seine Mutter war oder nicht. Denn er konnte sich nicht einmal an das Gesicht seiner Eltern erinnern. Sie setzten sich aufs Bett und für eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann aber wagte Simon den Anfang. „Ich kann verstehen, wie du dich fühlst. Aber denkst du nicht auch, du tust ihnen Unrecht? Sie wollen dir doch nur helfen.” „Ich weiß”, murmelte der Teenager und seufzte leise. „Aber wie würdest du dich fühlen, wenn man dich drängt oder zwingt, etwas zu tun, obwohl du es nicht willst und auch verdammt noch mal Angst davor hast?” Instinktiv musste Simon wieder an diesen schrecklichen Abend zurückdenken, wo Michael ihn aufgespürt, Cypher niedergeschossen und ihn vergewaltigt hatte. Sofort zog sich sein Innerstes zusammen und er kostete ihn Mühe, dieses Bild wieder zu verdrängen. „Ja”, antwortete er. „Das Gefühl kenne ich sehr gut. Und ich kann gut verstehen, dass es ein großes Problem für dich darstellt. Ehrlich gesagt weiß ich nicht wie ich dir helfen kann, aber du solltest wirklich mal überlegen, dir Hilfe zu suchen. Vielleicht bekommst du dann dein Problem besser in den Griff.” Der 16-jährige schwieg und Simon beschloss, ihn nicht mehr weiter zu bedrängen. Da es langsam etwas spät wurde, beschloss er, sich wieder auf den Weg nach Hause zu machen und verabschiedete sich von Ezra. Doch kaum, dass er aufstand, wurde ihm plötzlich schwindelig und alles begann sich um ihn herum zu drehen. Er verlor den Halt unter den Füßen und er fühlte sich, als würde alles Blut aus seinem Kopf weichen. Ihm wurde schwarz vor Augen und das letzte, was er spürte war ein dumpfer Schmerz, als er zu Boden stürzte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)