The Petboy Contract von Sky- ================================================================================ Kapitel 27: Gefühlschaos ------------------------ Nachdem Cypher die Polizei angerufen hatte, kletterte er zusammen mit Simon, der den Rottweiler am Halsband festhielt, aus der Kuhle heraus und legte dabei einen Arm um seinen Begleiter, der ihn bei der Suche nach dem Hund unterstützt hatte. Zwar versuchte Brünette, einen Blick auf die Stelle zu erhaschen, ob es sich auch wirklich um eine Leiche handelte, aber er wurde mit den Worten „Lass es lieber. Wenn du nicht die Nerven dafür hast, kriegst du solche Bilder kaum wieder aus deinem Kopf raus!“ abgehalten. „Was sollen wir jetzt machen?“ fragte er unsicher. „Sollen wir hier bleiben oder zurück zur Straße und dort auf die Polizei warten?“ „Du gehst mit Archi zurück zur Straße“, wies Cypher an, der in dieser Situation der Einzige war, der genau zu wissen schien, was er zu tun hatte. „Ich bleibe hier und passe auf, dass keiner kommt und die Leiche wegschafft. Ist zwar unwahrscheinlich, aber sicher ist sicher. Ich habe Hunter geschrieben, dass er am Auto auf dich warten soll.“ „Okay…“, murmelte Simon und ihm wurde das Gefühl, als würde sich ihm der Magen umdrehen. Die Erinnerung kam zurück, als er an jenen Abend zu diesem Serienmörder in den Wagen gestiegen war und wie nur der Wink des Glücks ihn vor einem grausamen Tod gerettet hatte. Vor allem aber musste er an den Anblick der beiden blutüberströmten Jungs zurückdenken, die tot im Kofferraum gelegen hatten. Als er sie gesehen hatte, da waren sie ihm so unwirklich vorgekommen. Als wären es bloß ziemlich realistische Puppen aus einem Horrorfilm gewesen. Vielleicht war es aber auch der Schock gewesen, dass sein Verstand nicht in der Lage war, zu realisieren, dass das tatsächlich tote Menschen waren. Aber nun war sein Verstand nicht vom Schock benebelt und er fühlte sich sehr klar im Kopf. Er verstand sehr gut, was der Hund ausgegraben hatte und was der Blumenstrauß zu bedeuten hatte. Jemand war ermordet und im Wald verscharrt worden. Und dann hatte dieselbe Person einen Blumenstrauß vorbei gebracht. Angst überkam ihn und ihm wäre es wesentlich lieber gewesen, wenn Cypher bei ihm geblieben wäre, aber andererseits hatte dieser auch Recht: jemand musste am Fundort bleiben und aufpassen, dass niemand dort hinging und etwas verwüstete und dabei eventuell sogar Spuren vernichtete. Der Hund gab ein kurzes Winseln von sich, als wüsste er genau, wie es seinem menschlichen Begleiter gerade erging und als versuche er, dadurch sein Mitgefühl auszudrücken. Eine Weile hielt Simon ihn am Halsband fest, aber als er das Gefühl hatte, als würde Archi ihm bereitwillig folgen, ließ er ihn los und tatsächlich folgte der Hund ihm brav. Sie gingen den Weg wieder zurück und kamen Hunter und Ezra entgegen. Obwohl sich der Teenager bisher vollkommen distanziert und abweisend verhalten hatte, rannte er plötzlich auf sie zu und als hätte der Hund nur auf sein Herrchen gewartet, stürmte er ihm entgegen und es gab ein rührseliges Wiedersehen, als wären sie jahrelang voneinander getrennt gewesen. Überglücklich schloss Ezra seinen Hund in die Arme und hatte alles andere um sich herum vollkommen ausgeblendet. Hunter indessen betrachtete Simon mit seinen goldgelben Augen und bemerkte mit tiefer und ruhiger Stimme „Du bist ziemlich blass. Alles in Ordnung?“ „Da war eine Leiche“, murmelte der Angesprochene und das unwohle Gefühl wurde schlimmer. „Da hat jemand einen anderen umgebracht und im Wald ver…“ Den Rest schaffte er nicht mehr. Sein Magen rebellierte heftig und er flüchtete hinter einem Busch und übergab sich. Eine Hand legte sich auf seinen Rücken und er bemerkte, dass Hunter neben ihm stand. „Tut mir leid. Es sind nur ein paar Bilder wieder hochgekommen.“ „Also hast du schon mal eine Leiche gesehen?“ stellte der Bildhauer fest, ohne dabei sonderlich überrascht zu wirken. Simon nickte und wankte wieder zurück. Hunter gab ihm Halt, um ihn ein wenig zu stützen und um zu verhindern, dass sein Begleiter zusammenbrach. Er führte ihn zu einer Bank und ließ ihn Platz nehmen. Nun schaute Ezra zu ihnen herüber und sein Blick war schwer zu deuten. Es lag keine Besorgnis oder Mitgefühl in seinen Augen, aber etwas, das verriet, dass er Simons Zustand kannte und wusste, was dieser gerade durchlebte. Doch er sagte nichts und hielt weiterhin Archi im Arm. „Als ich noch auf dem Straßenstrich gearbeitet habe, bin ich an einen Serienmörder geraten“, berichtete der 21-jährige und bemerkte, wie heiser sich seine Stimme anhörte. „Ich hatte schon im Auto so ein merkwürdiges Gefühl gehabt, weil es so komisch im Wagen gerochen hat. Als ich aussteigen wollte, drückte er eine Pistole gegen meinen Kopf. Die Polizei tauchte schließlich auf und dann sah ich, wie sie den Kofferraum öffneten und zwei Leichen da drin waren. Zwei Jungs vom Strich, die ich kannte und die verschwunden waren.“ Hunters sonst so düsterer und bedrohlicher Blick hellte sich ein wenig auf, sodass man etwas in seiner Miene erkennen konnte, das an Mitgefühl erinnerte. Kein Wunder, immerhin hatte er als Kind mit ansehen müssen, wie seine Eltern starben und sein Vater war brutal ermordet worden. Er kannte dieses Gefühl, das Simon gerade durchlebte. Nun setzte er sich neben ihm hin, sagte aber nichts. Wahrscheinlich wusste er aber auch, dass es nichts geändert hätte, wenn er etwas zu sagen gehabt hätte. Dadurch würde sich niemand besser fühlen. Aber Simon war ihm schon dankbar genug, dass der sonst so schweigsame und furchteinflößende Hunter bei ihm war und ihm wenigstens auf diese Weise dieses entsetzliche Gefühl der Hilflosigkeit und Angst nahm. Doch insgeheim wäre es ihm lieber gewesen, wenn Leron da wäre und ihn in den Arm nahm, um ihn zu beruhigen. Er vermisste ihn. In dieser Situation sogar noch mehr als sonst. Als die Polizei eintraf, führte Simon sie zum Fundort, wo Cypher noch auf sie wartete und ihnen zuwinkte. Die beiden Polizisten nahmen die Aussagen der beiden auf, sahen sich den Fundort kurz an und kurz darauf begann auch schon ein Team der Spurensicherung den Fundort abzusperren. Nachdem die beiden unfreiwilligen Leichenfinder ihre Personalien angegeben hatten, kehrten sie zum Auto zurück und fuhren zusammen mit den anderen nach Hause. Auf dem Weg sprachen sie kein Wort und es herrschte ein bedrücktes Schweigen. Nicht einmal Cypher versuchte, die Stimmung zu lockern. Ezra seinerseits starrte beharrlich aus dem Fenster, während Simon sich in seinem Sitz zurückgelehnt hatte und die ganze Zeit an Leron dachte. Nachdem sie wieder zuhause waren, verkroch Simon sich auf sein Zimmer, während Ezra und Hunter wieder in den Hof verschwanden. Der 21-jährige blieb aber nicht lange alleine. Gerade, als er die Decke über seinen Kopf gezogen hatte, klopfte es vorsichtig an der Tür und Cypher kam herein. „Hey, darf ich stören?“ fragte dieser vorsichtshalber. „So wie du vorhin ausgesehen hast, könnest du sicher ein wenig Gesellschaft gebrauchen.“ Es folgte keine Antwort, aber es war auch nicht nötig, etwas zu sagen. Cyphers Schritte kamen näher und kurz darauf ging auch schon ein kurzer Ruck durch das Bett, als er sich auf die Matratze setzte. Trost spendend streichelte dieser seinen Kopf und seine schneeweiß wirkenden Augen zeigten ernste Besorgnis. „Willst du Leron anrufen?“ „Nein, ich will nicht, dass er sich Sorgen macht“, murmelte Simon leise. „Er hat selber genug Probleme.“ „Na gut, dann bin ich ja jetzt da.“ Ohne überhaupt um Erlaubnis zu fragen, legte sich der 25-jährige zu ihm aufs Bett, verzichtete aber darauf, unter die Decke zu kriechen. Er lag auf dem Rücken, hatte ein Bein angewinkelt und die Hände auf dem Bauch zusammengefaltet, was ein wenig den Eindruck eines Patienten erweckte, der beim Psychiater auf der Couch lag und über seine Probleme redete. „Ich kann zwar schlecht den Ersatzmann für ihn spielen, aber du kannst trotzdem reden, wenn es dir dadurch besser geht. Und wenn du nicht reden willst, können wir auch einfach schweigend nebeneinander im Bett liegen. Ist deine Entscheidung.“ Doch es verging eine Weile, bis Simon sich dazu durchrang, zu reden. Er begann Cypher von seiner Vergangenheit zu erzählen. Von seiner Zeit im Waisenhaus und auf dem Straßenstrich und was dann passiert war. Schließlich erzählte er ihm, wie er Leron kennen gelernt hatte und was es mit dem Petboy Vertrag auf sich hatte. Als er fertig erzählt hatte, kehrte wieder für eine Weile Stille ein und er wandte sich unsicher an Cypher. „Was denkst du eigentlich über mich?“ Nun drehte der Künstler seinen Kopf zu ihm zog die Augenbrauen zusammen. Aber dann streckte er seine Hand nach Simon aus und streichelte seinen Kopf. Fast genauso wie Leron es getan hatte, allerdings eher in einer brüderlichen Art und Weise. „Echt kein tolles Leben“, sagte er und sah seinen Gast mitfühlend an. „Da hast du ja echt Glück gehabt, dass sich alles zum Guten für dich gewendet hat und dass Leron dich von dort weggeholt hat. Es wird schon wieder werden, da bin ich mir sicher. Hey, wie wäre es, wenn wir uns nachher was Lustiges ansehen, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Ich habe ein paar Trashfilme, die ich von Freunden gekriegt habe. Ist zwar nichts Weltbewegendes, aber immer noch besser, als sich unter der Decke zu verkriechen und sich mit unangenehmen Erinnerungen zu quälen.“ Das Angebot klang verlockend, auch wenn Simon am liebsten im Bett liegen geblieben wäre. Andererseits würde es auch nichts bringen, sich zu verschanzen und alleine zu sein. So würden die Bilder auch nicht aus seinem Kopf verschwinden. In diesem Punkt hatte Cypher ja Recht. Und doch fühlte er sich einfach nur elend in diesem Moment. Mit einem Male überkamen ihn die Gefühle und er schluchzte heftig auf. Unkontrolliert flossen Tränen seine blassen Wangen hinab und sein Körper begann zu beben. Hieraufhin setzte sich Cypher auf und nahm ihn tröstend in den Arm und sprach dabei beruhigend „Hey, ist ja alles gut“, während er ihm tröstend über den Rücken streichelte. „Das alles ist Vergangenheit und kann dir nichts mehr anhaben. Du bist nicht mehr alleine und du kannst stolz auf das sein, was du bis jetzt geschafft hast und dass du das alles hinter dir lassen konntest. Du bist ein wirklich starker Mensch, viel stärker als du glaubst. Und es ist nicht schlimm, sich auch mal schwach und hilflos zu fühlen. Weine ruhig so viel wie du willst. Danach fühlst du dich besser.“ Schluchzend vergrub Simon sein Gesicht in Cyphers Schulter und weinte, wie er noch nie zuvor in seinem Leben geweint hatte. Emotional brach gerade alles über ihn herein. Das Leid der letzten Jahre, welches er stillschweigend erduldet hatte, der Schmerz über die Ablehnung seiner Mitmenschen, der Serienmörder, Michaels Übergriffe und Lerons Kontrollverlust. Er konnte es nicht mehr länger zurückhalten. Die Leiche im Wald war nicht einmal das, was diesen emotionalen Zusammenbruch bei ihm ausgelöst hatte. Es waren die Einsamkeit, die Hilflosigkeit und die Erkenntnis, dass der Mensch, den er liebte und der ihm so viel Halt gab, nicht da war um ihn aufzufangen, die ihn in diesen Zustand trieben. Er fühlte sich schwach und Leron war dieses Mal nicht hier und wahrscheinlich wäre dieser ohnehin nicht stark genug gewesen, um ihn aufzufangen. Aber dafür war es jetzt jemand anderes. Cypher war da. Er kannte sein Leid, wenn auch nicht im ganzen Ausmaß und auch er war lange einsam gewesen. Und nun war dieser nun an Lerons Stelle für ihn da, um ihn zu trösten. So war es also, einen Freund zu haben, der ihn auffangen konnte. Oder war es vielleicht sogar das Gefühl, eine Familie zu haben? „Ist alles scheiße“, bestätigte der Künstler, der sich gut vorstellen konnte, was gerade im Kopf des Jungen vor sich ging. Nämlich das totale Chaos. „Und du hast alles Recht der Welt zu weinen und dich schlecht zu fühlen. Du musst nicht immer den Starken spielen und immer nur alleine kämpfen. Jeder braucht mal seine schwache Phase.“ „Ich vermisse Leron“, schluchzte Simon in seine Schulter hinein. „Bei ihm habe ich mich so geborgen gefühlt und konnte bei ihm meine ganzen Probleme vergessen.“ „Und jetzt ist er nicht da und wäre auch nicht in der Lage, dir zu helfen“, ergänzte er. „Das kenne ich selbst ganz gut. Aber mit der Zeit findet ihr schon eine ausgleichende Basis. Das braucht halt seine Zeit. Das war bei mir und Hunter auch nicht anders. Und du bist erst 21 Jahre alt. Gerade erst alt genug, um legal Hochprozentiges zu trinken. Da ist es ja kein Wunder, dass dich das alles ziemlich überfordert. Aber sieh es auch mal so: du bist hier und wir können uns näher kennen lernen und uns eine nette Zeit machen. Leron ist ja nicht für immer weg und wenn er sich erholt hat, ist er auch wieder da und ihr seid wieder zusammen. Dann wird es für dich auch nicht mehr ganz so einsam sein.“ Natürlich war es Simon klar, dass es nur ein paar Tage sein würden, in denen er von Leron getrennt bleiben würde. Aber emotional kam es ihm dennoch wie eine unerträgliche Ewigkeit vor. Er hatte so etwas noch nie erlebt und war dementsprechend überfordert mit diesem Gefühl und wusste nicht damit umzugehen. Noch nie in seinem Leben hatte er jemanden vermisst und nun war dies der Auslöser für seinen emotionalen Zusammenbruch. Mit einem weiteren Schluchzer schaffte er es, ein paar Worte hervorzubringen: „Tut mir leid, dass ich solche Umstände mache.“ „Ach Quatsch mit Soße“, winkte Cypher lässig ab. „Dafür sind Freunde und große Brüder doch da, oder nicht? Als es mir nicht gut ging, hab ich mindestens genauso viel geheult wie du. Aber es hat echt gut getan und ich habe mich danach wesentlich befreiter gefühlt. Seinen Gefühlen auch mal freien Lauf zu lassen, hilft auch, den ganzen Ballast abzuschmeißen, den man mit sich herumträgt.“ Es klopfte plötzlich an der Tür und Simon löste sich von ihm um die Tür sehen zu können. Sie wurde vorsichtig geöffnet und zuerst erwartete er, dass es Hunter sein könnte, doch zu seiner Überraschung war es Ezra. Was machte der denn hier? Kurz sah er die beiden an und etwas wie Unsicherheit und Verwirrung war in seinem Gesicht zu sehen, dann aber schloss er die Tür wieder wortlos hinter sich und ließ sie wieder alleine. Einen kurzen Moment saßen die beiden überrascht und verwundert auf dem Bett, dann aber musste der 25-jährige Künstler amüsiert schmunzeln. „Ach sieh an. Scheint so als hätte sich Ezra Sorgen um dich gemacht.“ „Echt?“ fragte sein Gast überrascht und wischte sich die Tränen weg. Dieser plötzliche Überraschungsmoment hatte ihn völlig aus seinen chaotischen Gedanken gerissen, sodass er auch instinktiv zu weinen aufgehört hatte. Stattdessen war ihm so, als wäre eine große seelische Last von seinen Schultern genommen worden. Er fühlte sich befreiter, genauso wie Cypher gesagt hatte. „Ich dachte, er könnte mich nicht ausstehen.“ „Anscheinend hat er seine Angst vor dir verloren. Wahrscheinlich, weil du ihm Archi zurückgebracht hast. Der Hund ist quasi seine einzige Familie. Oder vielleicht war es auch deine Reaktion wegen der Leiche, die ihn zum Nachdenken gebracht hat. Und jetzt wollte er offenbar nach dem Rechten sehen. Respekt, damit hast du seine Sympathie schneller gewonnen als Hunter.“ „Dann hat der Ausflug in den Wald wohl doch etwas Positives gehabt.“ „Das mit Sicherheit. Die Gelegenheit sollten wir gleich nutzen und uns gemeinsam ins Wohnzimmer setzen und was gucken. Wir bestellen uns was beim Pizzaservice und haben dann wenigstens einen schönen Nachmittag.“ Simon nickte und kroch aus dem Bett. Cyphers Vorschlag war wesentlich besser, als die ganze Zeit nur herumzuliegen. Also gingen sie zurück ins Wohnzimmer, wo Ezra zusammen mit Archi auf der Couch saß und ihm den Hals kraulte. Hunter stand ihm gegenüber und redete mit ihm, allerdings sprach er recht leise, sodass Simon nichts verstehen konnte. Der 16-jährige hatte einen sehr nachdenklichen Blick und sah Hunter nicht an. Zwischendurch schien sein nachdenklicher Gesichtsausdruck kindlichem Trotz zu weichen und gereizt fragte er „Warum wollt ihr mich ständig in so eine blöde Pflegefamilie abschieben? Ich will lieber bei euch bleiben! Wieso geht das denn nicht?“ „Weil wir vom Jugendamt keine Erlaubnis bekommen.“ „Scheiß auf das verdammte Jugendamt!“ rief der Teenager wütend. „Die interessiert es doch eh nicht, wie es mir dabei geht. Ich will nicht, dass sie mich in irgendeine Familie reinstecken, wo ich eh nur ein Fremder bin.“ Einen Moment kehrte Ruhe ein und Ezra senkte seinen Blick so tief, dass man sein Gesicht nicht sehen konnte. Er zog die Beine an und verschränkte die Arme vor der Brust, woraufhin er sich so klein machte, dass er schon fast winzig wirkte. „Ich kann das einfach nicht“, sprach er mit trauriger Stimme. „Du weißt doch auch, wie es ist, wenn man Angst vor Menschen hat. Ich habe Angst vor Erwachsenen.“ „Cypher und ich sind auch Erwachsene.“ „Das ist nicht dasselbe. Ihr verhaltet euch nicht so wie die anderen Erwachsenen! Sag dem Jugendamt, dass ich für Familien nicht tauge, damit ich bei euch bleiben darf!“ Das Gespräch endete abrupt, als beide bemerkten, dass Simon und Cypher zu ihnen kamen. Der 25-jährige ging zu Ezra hin und streichelte ihm aufmunternd den Kopf. „Wir haben dich gerne bei uns und das weißt du auch“, versicherte er. „Aber die Sache ist halt nicht einfach. Du weißt, dass du jederzeit zu Besuch kommen kannst. Ich kann gerne noch mal mit dem Jugendamt reden, aber mach dir bitte keine falschen Hoffnungen, ja? Hunter und ich hätten dich gerne bei uns, aber wir müssen uns auch an Regeln halten.“ „Ihr versucht es doch nicht einmal, das Jugendamt zu überzeugen!“ erwiderte Ezra aufgebracht und warf eines der Sofakissen nach ihm. „Ihr versucht doch auch nur, mich loszuwerden.“ Damit sprang der klein geratene Teenager von der Couch auf und rannte weg. Kurz darauf hörte man auch schon laut eine der Türen zuknallen. Nach kurzem Zögern folgte Simon ihm und erreichte schließlich das andere Gästezimmer, in welches sich Ezra verkrochen hatte. Einen Augenblick zögerte er, dann klopfte er schließlich an die Tür. „Ezra? Darf ich kurz mit dir reden?“ „Geh weg!“ kam es zurück. „Lasst mich doch alle in Ruhe.“ Unsicher legte der 21-jährige ein Ohr an die Tür und hörte hinter der Tür etwas, das wie ein leises Schluchzen klang. Trotz der klaren Abfuhr öffnete er nach kurzem Überlegen die Tür und sah den klein geratenen Teenager in einer Ecke kauern wie ein verängstigtes Kind, das man ganz alleine gelassen hatte. Ein Anblick, den er von sich selbst nur allzu gut kannte. Langsam trat er näher, um Ezra nicht zu erschrecken und hockte sich vor ihm hin, um zumindest auf seiner Augenhöhe zu sein. Ohne von ihm aufzusehen, rief der aufgewühlte Teenager „Ich habe doch gesagt, ihr sollt mich in Ruhe lassen!“ „Hör mal, Hunter und Cypher mögen dich wirklich sehr“, begann er, ohne dabei auf Ezras Worte einzugehen. „Und sie machen sich auch große Sorgen um dich. Sie wünschen sich für dich, dass du ein ganz normales Leben führen kannst und eine liebevolle Familie findest. Warum wehrst du dich so sehr dagegen?“ „Ich will keine Familie“, erklärte der uneinsichtige Jugendliche und wischte sich die Tränen am Ärmel ab. „Warum kapiert das denn keiner? Die wollen mich doch sowieso alle nicht, weil ich ein Fremder für sie bin. Ich kenne diese Leute alle nicht und soll dann mit denen zusammenleben? Was denken die sich eigentlich dabei? Dass alle auf heile Welt machen und alles super läuft? Die denken doch eh, dass ich nicht normal bin.“ „Warum sollten die das denken?“ „Weil es immer gleich heißt, ich bin von Tieren aufgezogen worden und hätte deshalb keine Ahnung was es heißt, wie ein richtiger Mensch zu leben. Die behandeln mich alle wie einen Freak oder wie einen Zurückgebliebenen. Hunter und Cypher sind die Einzigen, die mich ganz normal behandeln.“ „Und deshalb willst du unbedingt bei ihnen bleiben, sehe ich das richtig?“ Ein Nicken kam zur Antwort und mit einem frustrierten und zugleich aufgewühlten Ausdruck in den Augen blickte Ezra zur Seite und sah nichts. Als er dann eine Haarsträhne zurückstrich, die sich von seinem Zopf gelöst hatte, bemerkte Simon beim näheren Hinsehen einen hellen Ansatz. „Hast du deine Haare gefärbt?“ fragte er überrascht, um ein wenig vom Thema abzulenken und Ezra somit fürs Erste auf andere Gedanken zu bringen. Doch dieser sah ihn immer noch nicht an. „Meine Haare sind irgendwann weiß geworden“, erklärte er. „Seitdem muss ich sie färben.“ „Wie können Haare plötzlich weiß werden?“ Ezra zuckte mit den Schultern und meinte „Der Arzt meinte, es ist irgendein Syndrom oder so. Kein Plan.“ „Hm…“ Simon überlegte, ob er den dickköpfigen Teenager vielleicht irgendwie dazu bewegen konnte, wieder ins Wohnzimmer zu kommen und sich zu beruhigen. Diskussionen hatten ja sowieso keinen Zweck und bei seiner Gemütsverfassung würde er ohnehin keine große Einsicht zeigen. „Wie wäre es, wenn ihr dieses Thema fürs Erste aufschiebt? Cypher hat ja angeboten, dass du erst mal eine Weile hier bleiben kannst und da wäre es doch schade, wenn ihr nur am Diskutieren seid, solange du da bist. Cypher will gleich Pizza bestellen und zusammen mit uns einen Film gucken. Und es wäre schön, wenn du auch dabei bist.“ „Warum bist du eigentlich hier?“ wollte Ezra plötzlich wissen und sah ihn nun direkt an. Es lag immer noch eine Spur Misstrauen, aber auch Eifersucht in seiner Miene. Er war wirklich ein bisschen wie ein unreifes Kind. „Ich habe dich noch nie hier gesehen. Woher kennst du Cypher und Hunter überhaupt?“ Da alles andere nur noch unnötig komplizierter geworden wäre, beschloss Simon, ihm gleich die Wahrheit zu erzählen. „Ich habe Cypher beim Augenarzt kennen gelernt, weil wir beide unter derselben Augenkrankheit leiden und wir vermuten, dass wir eventuell verwandt sein könnten, weil unsere Krankheit erblich bedingt ist und wir beide ohne Familie aufgewachsen sind. Ich bin mit einem Verwandten von Hunter in einer Partnerschaft, allerdings geht es ihm nicht gut und er ist in der Klinik. Ich hatte Angst davor, alleine im Haus zu bleiben und die beiden haben mich dann hier aufgenommen.“ „Das ist nicht fair“, sagte der Kleingeratene mit Verbitterung in der Stimme. „Dich nehmen sie einfach auf, obwohl sie dich nicht einmal kennen. Und mich wollen sie wieder loswerden.“ „Sie wollen dich nicht loswerden“, versicherte Simon. „Sie wünschen sich doch nur für dich, dass du eine richtige Familie findest. Ich denke sie tun es deshalb, weil sie selber keine richtige Familie hatten. Cypher ist im Kloster aufgewachsen und Hunter hat seine Eltern verloren. Sie hatten nie das Glück, unbeschwert aufzuwachsen und eine Familie zu haben, die andere Kinder vielleicht haben. Keine liebevollen Umarmungen, keine aufmunternden Gespräche oder Bestrafungen wenn man Mist gebaut hat, kein Vater der mit einem Baseball spielt oder eine Mutter, die einem bei den Hausaufgaben hilft. Ich musste auch ohne Familie auskommen und habe mir selbst immer eine gewünscht. Aber für mich ist der Zug abgefahren. Meine Kindheit ist vorbei und sie kommt auch nie wieder zurück. Für dich ist der größte Teil deiner Kindheit auch schon vorbei und du bist schon 16 Jahre alt. Aber du hast noch eine Chance, das zu haben, was wir nicht haben. Eine Familie ist keine Strafe. Und nur weil früher in deiner eigenen Familie viel Schlimmes passiert ist, bedeutet es nicht, dass alle Familien schrecklich sind. Versuch mal darüber nachzudenken. Hunter und Cypher tun das nicht, um dich zu bestrafen, sondern weil sie sich wirklich das Beste für dich wünschen und dass du nicht ganz so alleine bleibst.“ Ezras Wut und emotionale Verletzung wich allmählich aus seinem Gesicht und stattdessen schien er nachdenklich zu werden. Wahrscheinlich hatte er eine andere Sichtweise auch mal dringend gebraucht um zu verstehen, warum Hunter und Cypher ihn lieber in einer Pflegefamilie sehen wollten. „Natürlich bist du in einer Familie erst mal fremd“, fuhr Simon schließlich fort. „Aber solche Dinge brauchen einfach ihre Zeit. Man kann nicht alles von jetzt auf gleich erzwingen. Aber wenn diese Menschen bereit sind, dich aufzunehmen, muss ihnen doch etwas an dir liegen. Vielleicht solltest du ihnen mal eine Chance geben, dich besser kennen zu lernen und dich zu verstehen. Versuch es einfach mal. Was hast du denn schon zu verlieren? Eigentlich kannst du doch nur dazugewinnen.“ „Du bist echt wie Cypher“, seufzte Ezra und stand schließlich auf. Anscheinend hatte er es endlich aufgegeben, sich stur und uneinsichtig zu stellen und sich im Zimmer zu verschanzen. „Dieselbe Art zu reden, derselbe Blick und sogar der gleiche Geruch…“ Geruch? Simon roch irritiert an seinen Klamotten, konnte aber nichts dergleichen feststellen. Und soweit er sich richtig erinnerte, hatte er bei Cypher auch kein Parfum oder Aftershave oder sonst dergleichen wahrgenommen. Die einzige Erklärung, die er im Moment für Ezras Bemerkung hatte, war „Cypher war vorhin bei mir im Zimmer gewesen und hat mich kurz in den Arm genommen. Vielleicht…“ „Du hast schon so gerochen, als ich heute Morgen zu euch gekommen bin. Ich habe einen etwas anderen Geruchssinn als normale Menschen.“ Da sich Ezra wieder beruhigt hatte, gingen sie zusammen wieder zurück ins Wohnzimmer, wo Hunter und Cypher auf sie warteten. Nachdem sie ihre Wünsche für ihre Pizza an Cypher weitergegeben hatten, rief dieser bei einem Pizzaservice in der Nähe an und gemeinsam setzten sie sich schließlich auf die Couch und schauten sich eine Reihe von Trash-Horrorfilmen wie Sharknado und Jurassic Shark an. So endete der Tag zumindest nicht in einem kompletten Desaster und sie hatten wenigstens zwischendurch ein bisschen was zum Lachen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)