Ippo ni Yoko von MAC01 (Seto x Jou) ================================================================================ Kapitel 65: Einen Schritt der Offenbarung ----------------------------------------- Ich sitze im Wohnzimmer, der Fernseher läuft und irgendetwas grell-buntes flimmert über die Mattscheibe. Was genau da gerade läuft, kann ich nicht sagen. Es interessiert mich auch nicht wirklich. Ich hatte den Fernseher nur angemacht, weil ich die Stille nicht ertrage. Die Stille im Haus, wenn mein Bruder nicht daheim ist. Die Stille im Haus, wenn mein Bruder daheim ist. Die Stille... erinnert mich an früher, als Gozaberu noch lebte. Da musste ich immer ganz leise in meinem Zimmer sitzen. Durfte nur zum Essen heraus kommen oder wenn Isono mich irgendwohin mitgenommen hat. Konnte nicht zu meinem Bruder, wenn ich das Bedürfnis nach seiner Nähe hatte. In der Schule hör ich immer, dass jemand wie ich keine Probleme hat, weil wir so viel Geld haben. Aber Geld ist kein Garant für Glück. Als wir vor einigen Wochen im Unterricht darüber diskutiert haben und ich mir mal wieder diese dummen Sprüche anhören durfte flammte dieses Bild von Seto vor meinen Augen auf. Wie er von Gozaberu auf sein Bett gedrückt wurde. Dieser Schmerz. Diese Verzweiflung. Diese Grausamkeit von Gozaberu, der unerbittlich meinem Bruder Gewalt angetan hatte. Ohne auf sein Flehen einzugehen oder Gnade zu zeigen. Dieses Grinsen in seinem Gesicht, als sich Seto unter ihm wandte und darum bettelte, dass er aufhörte. Gozaberu hat es regelrecht genossen ihm das anzutun. Ihn zu... Ich halte inne. Ich weiß, wie es heißt. Es ist nur ein Wort! Dennoch... allein es zu denken jagt mir eine solche Angst ein, dass ich es dann doch lieber vermeide! Es dann noch mit meinem großen Bruder in Kontext zu setzen, geht gar nicht. Aber ich muss mich dem stellen, was es ist. Es bei seinem Namen nennen. Wenn ich das schon nicht kann, wie soll ich dann Seto helfen? Denn auch mein Bruder scheut sich es auszusprechen. Sicherlich auch es zu denken! Das Wort heißt Vergewaltigung! Ich spür, wie in mir Tränen aufsteigen. Wie kann ein einzelnes Wort nur eine solche Macht über Seto und mich haben? Vergewaltigung ist das nicht einverständliche, sexuell bestimmte vaginale, anale oder orale Eindringen in den Körper einer anderen Person. So steht es bei Wikipedia. Sachlich. Neutral. Aber Vergewaltigung bedeutet auch eine massive Verletzung der Selbstbestimmung des Opfers... Ich halte gedanklich wieder inne. Opfer... noch so ein Wort, welches ich sonst vermeide, weil es in meinem Weltbild einfach nicht zu Seto passt. Aber er ist genau das: Ein Opfer! Eine Person, die durch bestimmte Ereignisse zu Schaden gekommen ist. So steht es wieder bei Wikipedia. Mein Bruder ist zu Schaden gekommen. Ohne Zweifel. Seine Fähigkeit zu vertrauen wurde zerstört. Die Fähigkeiten bei normalen Menschen Emotionen zu erkennen und einzuschätzen ausradiert. Aber beiden Definitionen fehlt etwas Entscheidendes. Ihnen fehlt das Grauen! Sie vermitteln nicht ansatzweise die Grausamkeit, die eine Vergewaltigung für ein Opfer mit sich bringt. Klar, in Wikipedia werden die möglichen Folgen schön aufgelistet. Doch es fehlt die wirkliche Tragweite. Es werden in keinster Weise die Gefühle vermittelt, die die Opfer mit sich herum tragen. Die Gefühle, die sie vor sich und anderen ständig versuchen zu verbergen. Manche sind richtig gut darin... Seto war einer von ihnen. Wie lange hat er seine Gefühle hinter einer Maske verborgen? Hat mit seinem Verhalten versucht alle auf Abstand zu halten. Damit ihm auch ja niemand zu nahe kommt. Merkt, wie kaputt er in Wirklichkeit ist. Das er ständig Angst hatte. Ihm sein eigenes Leben und seine Gesundheit eigentlich egal waren. Die Scham und der Ekel zerrten ständig an ihm. Schuldgefühle, weil er seinen Wunsch, uns ein besseres Leben zu ermöglichen, als Grundlage für all das sieht oder weil er sich nicht wehren konnte. Wie oft ist er wohl von Depressionen heimgesucht worden und sah sich selbst alleine in der Dunkelheit verlieren? Wie groß muss seine Verzweiflung gewesen sein, dass er sogar einmal versuchte sich das Leben zu nehmen? Ganz zu Schweige von den Albträumen, die ihn nachts immer noch quälen und die ihn nach dem Aufwachen in Angstzuständen oder Panikattacken stürzten. Ja, ich habe in den letzten Wochen viel darüber nachgedacht. Viel dazu gelesen. Angefangen bei Wikipedia über diverse Seiten von Hilfs- und Selbsthilfeorganisationen, bis hin zu Foren. Hab in Foren die Erlebnisberichte anderer gelesen, die etwas Vergleichbares erlebt haben. Hatte gehofft, es würde mir helfen, mit meiner plötzlich wieder zurückgekehrten Erinnerung besser fertig zu werden. Doch... Fehlanzeige! Gozaberu hat mich niemals angefasst. Mir nie wirklich Beachtung geschenkt. War stets auf Seto konzentriert. Bei dem Gedanken, was dieses Monster meinem Bruder angetan hat flammt meine Wut wieder auf. Ich fühl mich schuldig. Nicht nur, weil ich es 'nur' gesehen und nichts getan habe. Immer wieder kommt mir der Gedanke, dass Seto das alles nur in Kauf genommen hat, um mir ein besseres Leben zu verschaffen. Aber... nach dem Gespräch mit Kai weiß ich, dass es normal ist, dass ich so empfinde. Er erklärte mir, dass es bei Soldaten ein ähnliches Phänomen gäbe, dass 'die Schuld des Überlebenden' genannt würde. Soldaten, die eine Kampfhandlung überlebt hatten, während andere aus ihrer Einheit gestorben sind, hätten danach enorme Schuldgefühle, weil sie überlebt hätten. Obwohl sie sich eigentlich glücklich schätzen sollten, dass sie noch am Leben waren. Kai... ein komischer Typ... Ich dachte immer Psychologen seien alte Männer, in Strickjacken, mit einer Brille auf der Nase, einem Block und einem Stift in der Hand, die sich unablässig Notizen darüber machten, was man ihnen auf der Couch liegend erzählte. Doch so ist er nicht. Er wirkt jugendlich, freundlich und offen. Gar nicht distanziert. Das Gespräch mit ihm hat sich auch gar nicht nach Therapie angefühlt, sondern wie... eben ein Gespräch. Leider... fand Kai keinen Zugang zu Seto. Okay, mein Bruder wirkte schon von Anfang an nicht glücklich, als er in den Wintergarten kam und von Kai's Anwesenheit überrascht wurde. Schon da hatte ich befürchtet, dass Seto auf dem Absatz kehrt machen würde. Hatte er aber nicht! Er setzte sich mit Katsuya auf die Rattancouch und war dann in die Defensive gegangen. Demonstrativ hatte er seine Beine übereinander geschlagen und die Arme vor der Brust verschränkt. Noch deutlicher hätte er nicht zeigen können, dass er nicht bereit war mit Kai zu sprechen. Deshalb hatte ich dann das Gespräch eröffnet, als Kai meinte, Katsuya hätte angedeutet, dass wir Gesprächsbedarf hätten. Ich hatte gehofft, wenn ich die ersten unerfreulichen Dinge in unserem Leben erzählte, würde es Seto leichter fallen, die dargebotene Hilfe anzunehmen. Doch Seto hatte mich nur völlig entsetzt angesehen. Als sich die nächste Gelegenheit bot, dass Seto sich in das Gespräch hätte einbringen können, wandte er sich von uns ab und blickte in den schneebedeckten Garten. Noch mehr Desinteresse hätte er nicht zeigen können. Also hatte ich meine Erzählung fortgesetzt und erzählte Kai, was für ein Drecksack Gozaberu war. Wie er seine Grausamkeit und Aufmerksamkeit vollständig auf Seto konzentrierte und immer wieder Spitzenleistungen von ihm gefordert hatte. Ich erzählte davon, wie er Seto geschlagen und erniedrigt hatte. Auch davon, dass er mich als Druckmittel gegen Seto einsetzte. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Seto aufspringen und mir den Mund verbieten würde. Doch er blickte nur unbeteiligt in den Garten. Als würde ihn das alles nichts angehen. Als ich an den Punkt kam, dass ich erzählen wollte, was Gozaberu meinem Bruder noch angetan hatte, brach meine Stimme weg. Ich hatte so gehofft, dass Seto dann endlich übernehmen würde. Doch das tat er nicht. Er blickte nur weiter stur aus der Fensterfront nach draußen. Für einen Moment dachte ich, er würde zittern. Doch im nächsten Moment war dieser Eindruck schon wieder verschwunden. Hilfe suchend blickte ich zu Isono, der daraufhin das Wort ergriff. Das löste dann endlich eine Reaktion bei Seto aus. Doch anstatt, dass er sich endlich einbrachte, stand er nur auf und meinte, er habe noch zu arbeiten! An einem Samstag? Wen wollte er hier eigentlich verarschen? Die Zeiten, dass er hier den Workaholic gab waren längst vorbei. Seit Katsuya bei uns war und ihm einen Weg zeigte hatte mein Bruder nur noch eine vier Tage Woche. Warum log er also so offensichtlich? Katsuya sprang ebenfalls auf, griff ihn am Handgelenk und zwang Seto dazu stehen zu bleiben. Für einen Moment dachte ich, der Blonde würde intervenieren und Seto davon überzeugen sich wieder hinzusetzen und endlich an dem Gespräch teilzunehmen. Doch nachdem er sich vor meinen Bruder geschoben und ihm in die Augen geschaut hatte nickte er uns nur zu und verließ mit ihm den Garten. Hatte mein Bruder ihn gerade um den Finger gewickelt? Warum ließ Katsuya zu, dass sich Seto dieser Möglichkeit Hilfe zu bekommen verweigerte? Nachdem die beiden gegangen waren sprang ich auf. Ich war so wütend und ärgerte mich. Da legte Isono seine Hände auf meine Schulter und ich blickte zu ihm auf. Er fragte mich behutsam, ob ich wüsste, warum mein Bruder gehen musste. Ich schüttelte den Kopf. Was heißt hier 'musste'? Er wollte gehen! Doch Isono belehrte mich sanft eines Besseren. Erklärte mir, dass Seto sich nicht einfach so offenbaren kann, wenn wir beide dabei sind. Er müsse es erst einmal schaffen, sich vor sich selbst zu offenbaren und einzugestehen, was man ihm angetan hatte. Und erst wenn das geschafft wäre... dann könnte er vielleicht auch vor uns darüber sprechen. Verständnislos blickte ich Isono an und fragte, warum das so ein Problem sein sollte. Wir wussten doch längst, was geschehen war! Wir beide waren Zeugen von der Vergewaltigung. In dem Moment, als dieses Wort über meine Lippen kam hielt ich erschrocken inne und schlug mir die Hände vor den Mund, während ich zwei Schritte von Isono zurück wich. Das laut zu sagen... das hatte irgendetwas in mir ausgelöst. Auf einmal konnte ich die Tränen nicht mehr zurück halten. Isono nahm mich in den Arm. Nachdem ich mich beruhigt hatte nahmen wir wieder auf den Sesseln Platz. Kai hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten. Er blickte zu Isono, dann zu mir. Er fragt noch einmal nach, ob er das richtig verstanden hätte, dass Gozaberu Seto missbraucht hatte. Missbraucht klingt so harmlos und spiegelt nicht einmal ansatzweise die Gewalt und den Horror wieder, denn ich dabei empfinde... Doch Isono bejahte. Dann fragte Kai mich, ob ich ihm davon erzählen möchte, was ich gesehen hatte. Ich tat mich schwer... zumindest am Anfang. Bis Isono mir eine Hand auf die Schulter legte und ich erzählte dem Mann von meiner Erinnerung. Danach fragte mich Kai, was ich dabei fühlen würde. Ich gestand ihm, dass ich mich noch immer schuldig fühlte. Sofort warf Isono ein, dass ich absolut keine Schuld trug. Auf einmal richtete sich Kai's Aufmerksamkeit auf Isono. Stellte fest, als würde es daran gar kein Zweifel geben, dass auch Isono große Schuldgefühle hätte. Isono schaute ertappt, bevor er zu mir schaute und langsam nickte. Kai fragte warum und Isono antwortete nur recht oberflächlich, dass er uns seit unserer Adoption kannte und er ALLES miterlebt hatte, aber nichts tun konnte, um uns zu helfen. Irgendetwas daran klang komisch. So, wie Isono sich ausdrückte... er habe ALLES miterlebt. Was meinte er mit 'alles'? Ich schaute ihn an und er brach den Blickkontakt mit mir. Kai fragte in dem Moment, ob es da noch mehr gäbe, als das von dem ich wüsste. Isono reagierte erstmal gar nicht. Erst als ich seinen Namen rief blickte er mich schuldbewusst an und nickte. Ich schüttle meinen Kopf, als ich mich an diese Stelle im Gespräch erinnere. Noch immer kann ich es nicht glauben, dass da noch 'mehr' ist. Was könnte noch schlimmer sein, als das, von dem ich weiß? Schlimmer als die... Vergewaltigung meines Bruders durch Gozaberu? Doch Isono bleibt mir nach wie vor eine Antwort auf diese Frage schuldig. Kai... lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf mich und meine Gefühle zurück. Er erklärte mir, dass wir an meinen Schuldgefühlen arbeiten würden. Einmal die Woche. Jeden Samstag! In Einzelsitzungen! Einzelsitzungen! Also alleine! Ohne Seto! Ohne Isono! Nicht ganz, was ich erwartet hatte. Doch das erkannte der Mann und meinte, dass er erstmal mit jedem von uns Einzelsitzungen führen würde und in ein paar Wochen oder Monaten, wenn wir alle soweit wären, dann würde er uns zusammen führen. Damit wir diese Mauern zwischen einander überwinden und einreißen könnten. Damit wir gemeinsam damit umzugehen lernten. Mir ist ein Rätsel, wie Kai das schaffen möchte! Als ich Samstagabend mit Seto über die Sitzung und den Behandlungsplan sprechen wollte, wiegelte er ab. Verweigerte das Thema komplett. Auch sonntags beim Essen versuchte ich erneut das Gespräch auf dieses Thema zu lenken, doch er verließ unter einem Vorwand den Tisch und die Küche. Katsuya legte mir eine Hand auf den Arm und lächelte mich aufmunternd an. Meinte zu mir, dass Seto sich erst noch an den Gedanken gewöhnen müsse, dieses und andere Themen so offen anzusprechen. Ich solle nicht sauer oder enttäuscht sein. Das würde mit der Zeit schon werden. Da ich bislang immer gut beraten war auf Katsuya zu vertrauen nickte ich nur. Der Blonde versteht meinen Bruder und seine Situation wirklich ausgesprochen gut. Eigentlich viel zu gut! Und ich habe mich von Anfang an gefragt, woher er weiß, wie er mit Seto umzugehen hat? Wie er wann reagieren muss und woher er weiß wie viel er ihm zumuten kann oder wann er Seto's Grenzen erweitern muss ohne ihn unter zu viel Druck zu setzen... Wie schon oft in der Vergangenheit purzelte genau diese Frage aus mir heraus und Katsuya's Lächeln wich aus seinem Gesicht. Er atmete tief ein. Dann meinte er, er wüsste wie sich Seto fühlte, weil er selbst einmal an diesem Punkt gewesen war und es ihm genauso gegangen war. Auch einmal an diesem Punkt? Genauso gegangen? Als er merkte, dass ich nicht ganz verstand strich er mir sanft über die Wange, bevor er mir offen sagte, dass auch er als Kind missbraucht worden war. Diese Offenbarung traf mich völlig unvorbereitet und ich ließ mich völlig baff nach hinten gegen die Stuhllehne fallen. Katsuya gab mir die Zeit, die ich brauchte, um diese neue Info zu verarbeiten. Ich saß bestimmt eine halbe Stunde reglos auf meinem Stuhl. Dann blickte ich ihn wieder an und konnte nicht anders als ihn zu umarmen. Ihn fest an mich zu drücken. Und er drückte mich fest an sich. Meinte nur, dass das bei ihm schon so lange her wäre und Kai ihm damals sehr bei der Bewältigung dieses Erlebnisses geholfen hätte. Er wäre sich sicher, dass Kai Seto ebenso helfen könnte, wie er ihm geholfen hatte. Wie machte der Blonde das nur? Eigentlich wollte ich irgendetwas sagen, um mein Bedauern auszudrücken und ihm Trost zu spenden. Doch es ist genau andersrum. Er spendete mir Trost. Ich bin so froh das Katsuya ein Teil unseres Lebens geworden ist! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)