Collide von Monstertier ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Das kühle Wasser fühlte sich angenehm an. Erfrischend, belebend. Cyril nahm noch eine Handvoll und benässte sein Gesicht, bevor er den Wasserhahn zudrehte. Er hob den Kopf, einige Wassertropfen auf der Haut, und betrachtete sein Spiegelbild. Zur Feier des Tages – immerhin war es sein erster Schultag an der neuen Schule, juhu!!! – hatte er versucht, seine Haare etwas zu bändigen, indem er die langen Ponyfransen zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte. Leider kamen dabei seine Sommersprossen und die helle Haut besonders gut zur Geltung, unterstrichen von seinen rotblonden Haaren. Danke, Mama, deine Gene hättest du ruhig behalten können... Er seufzte. Früher hatten ihn seine Mitschüler Karottenkopf und ähnliches genannt, bis sie auf schmerzhafte Weise gelernt hatten, dass er das so gar nicht geil fand. Es war nicht so, dass er sich als hässlich ansah, dafür wusste er nur zu gut, dass es nicht stimmte – nicht schön, aber definitiv zu süß für diese Welt –, aber ein ein bisschen sexieres Aussehen wäre schon ganz cool gewesen. Naja, er hoffte, dass das noch kam, sobald er diese Nicht-Fisch-nicht-Fleisch-Phase hinter sich gelassen hatte. Pubertät war doch was feines... Ein paar jüngere Jungs betraten die Jungentoilette. Sie sahen ihn nur uninteressiert an, bevor sie sich laut lachend auf die Toiletten verteilten. Durch die kurz geöffnete Tür hörte er jedoch den langsam ansteigenden Lärmpegel auf den Schulgängen. Die Mittagspause hatte angefangen. Zeit zu gehen und Thomas' Projekt 'Finde neue tolle besteste Freunde und hab ne superdupergeile Schulzeit' in Angriff zu nehmen. Innerlich verdrehte er die Augen, während er den Raum verließ und sich in den Strom der Schüler einreihte, die zur Kantine eilten. Muse hatte er ja wenigstens schon kennengelernt, auch wenn die Umstände eher suboptimal gewesen waren. Aber er war süß und nett. Sehr süß und sehr nett. Zu schade, dass er anscheinend schon einen Freund hatte. Nur Adam... Mit der Beschreibung, die ihm sein Onkel gegeben hatte, konnte er nicht allzu viel anfangen. Gut aussehend, er sollte davor aber keine Angst haben. Nett, aber manchmal etwas komisch. Sehr touchy-feely – Thomas hatte tatsächlich das Wort „touchy-feely“ verwendet –, aber nur zu den Leuten, die er wirklich mochte. Wovon es wohl nicht sehr viele gab, aber zumindest Muse und André gehörten wohl dazu. Und irgendeinen ominösen Lover-Nicht-Lover-Irgendwie-mega-heißen-Lover namens Leon. Alle andere hingegen hielt er auf meilenweiten Abstand. Cyril hatte nur genickt und gesagt, wie sehr er sich freute, aber eigentlich hatte er so gar kein Bock auf diesen Adam. Sympathisch klang anders. Er entdeckte Muse sofort, als er die Kantine betrat. Durch seine Größe, die blonden Haare und die Tatsache, dass er einer der wenigen Schüler mit einem dunkleren Hautton war, stach er selbst in einer größeren Menge heraus. Cyril musste innerlich seufzen. Muse war nicht der Typ Junge, der auf den ersten Blick gut aussah. Aber auf den zweiten und spätestens auf den dritten Blick hatte man all die kleinen Besonderheiten an ihm entdeckt, die einem das Herz flatterig machten. Die langen Wimpern zum Beispiel. Die warmen, haselnussbraunen Augen. Die Art, wie er skeptisch eine Braue hob. Die langen, schlanken Finger, die einen so richtig, richtig sanft berühren konnten. Dieses süße, schmale Lächeln, dass einem das Hirn schmelzen ließ. Schade, dass die besten Jungs immer schon vergeben waren. Er hielt kurz inne. Und eigentlich wäre Muse auch zu schade für ihn. Perlen vor die Säue, sozusagen. Erst beim Näherkommen entdeckte er den anderen Jungen, der neben Muse an einem der Tische lehnte und sich mit ihm unterhielt. Adam. Gut aussehend, hatte Thomas gesagt. Und damit die Untertreibung des Jahrhunderts abgeliefert. Cyril hatte schon viele Jungs und Männer gesehen. Gut aussehend, sexy, süß, heiß, charmant, anziehend, mit dem Gewissen etwas. Es gab zahlreiche Wörter, um sie zu beschreiben. Schön war bis jetzt noch nie dabei gewesen. Perfekt auch nicht. Bis jetzt. Adam war die Verkörperung von beidem. Mit seinen glatten, schwarzen Haaren, die das richtige Maß an Widerspenstigkeit mit sich brachten, und seiner hellen Haut wirkte er wie die männliche Form von Schneewittchen. Unter seinem schwarzen Rollkragenpullover zeichnete sich ein wohl geformter Körper ab. Er war nicht so groß wie Muse, aber auch nicht klein. Seine hohen Wangenknochen gaben seinem Gesicht einen Ausdruck von edler Arroganz, der durch seine androgynen Züge jedoch abgemildert wurde. Alles an ihm war symmetrisch, vollendet und optimal auf einander abgestimmt. Als ob ein Künstler sein Meisterwerk geschaffen hatte. Und das krasseste – ja, ein anderes Wort als krass gab es dafür einfach nicht – Merkmal an ihm waren seine Augen. Kristallblau, so rein, so hell, so schmerzhaft stechend und kalt. Im ersten Moment, wenn er einen anblickte, tat es weh, als ob sie einen durchbohren würden. Wie Cyril genau jetzt feststellen musste, als Adam zufällig seinen Blick in seine Richtung schweifen ließ. Alles an ihm war perfekt und besonders. Er konnte ihn jetzt schon nicht leiden. Cyril atmete tief durch, bevor er zu den Beiden trat. Besteste Freunde und so. Man konnte es ja mal versuchen. „Hi!“ Adam musterte ihn so, wie er ihn selber gerade gemustert hatte. Seine Mimik drückte zumindest nicht die größte Herzlichkeit aus, eher eine Mischung aus Misstrauen und Nervosität. Die Antipathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. „Ah, Cyril, hi!“ Muse hingegen lächelte ihm freundlich zu und machte eine vermittelnde Geste zwischen den beiden Jungs. „Adam, das ist Cyril. Cyril, das ist Adam. Ich denke, Thomas hat dir von ihm erzählt?“ „Jaaaaa...“ Er streckte ihm die Hand hin, die Adam nur zögerlich und mit offensichtlich unterdrücktem Widerwillen ergriff. Was hatte Thomas gesagt? Er hielt alle außer die ihm nahestehenden Personen auf meilenweiten Abstand? Jetzt verstand er. So unerwünscht fühlte er sich normalerweise nur bei seiner Mutter. Die Mauer um Adam herum war nicht nur meterdick, die war auch noch mit Stacheldraht und einer Selbstschussanlage ausgestattet. Heilige Scheiße, wie hatte Muse es geschafft, sich mit diesem Typen anzufreunden? „Hallo... schön, dich kennenzulernen.“ Adams Stimme war tiefer als erwartet. Männlicher als sein androgynes Äußeres vermuten ließ. Und irgendwie weich. Trotz der dicken, fetten Lüge, die die Worte beinhalteten. „Hast du schon was gegessen?“ Muse sah sich um und deutete in eine Richtung. „Dort kannst du dir was holen. Oder hast du was dabei?“ Er blickte wieder Cyril an, offen und ehrlich interessiert. „Wie war eigentlich dein erster Tag? Hast du schon ein paar aus deiner Klasse kennengelernt?“ Cyril lachte auf. „Du klingst wie eine Mutter. Alles gut, ich brauch nichts zu essen. Und nein, ich hab die noch nicht kennengelernt. Kommt bestimmt noch, aber heute durfte ich mir eigentlich erstmal anhören, wo die sich gerade im Lernstoff befinden, was ich noch nachholen muss und so weiter und so fort. Und hab nen Riesenpacken an Krams und Aufgaben bekommen, die erledigt werden wollen.“ Er betrachtete kurz die Umgebung. Der Kantinenraum war groß genug, um ein paar Hundert Schüler zu fassen. Entsprechend unruhig und wuselig war es um diese Zeit. Nicht jeder hatte Nachmittagsunterricht, aber diejenigen, die ihn hatten, versammelten sich bei der Kälte, die draußen herrschte, lieber im Warmen und nahmen das ziemlich abwechslungsreiche Essensangebot in Anspruch. Nur machte es den Raum ungemütlich und laut, eine ruhige Ecke zu finden war nahezu unmöglich. „Seid ihr immer hier?“ „Nein. Normalerweise sind wir draußen oder in einem der leeren Klassenzimmer. Hier ist es... mögen wir es nicht so. Wir können es dir gleich zeigen, aber ich dachte, du willst dich vielleicht lieber etwas unter die Leute mischen.“ Muse antwortete ihm, während Adam sich in vornehmes Schweigen hüllte. Cyril schüttelte nur den Kopf. „Nicht nötig. Ich werde sie noch früh genug kennenlernen. Meinetwegen können wir gehen.“ Er wollte sich gerade abwenden, um den Ausgang anzusteuern, als sich beide Jungs vor ihm versteiften. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich Unmut ab, doch während Muse seinen Kopf senkte und den Blick auf den Boden richtete, starrte Adam etwas hinter Cyril an, die Kiefer angespannt. „Pete...“ Nur ein leises Knurren. „Woah, können sich Schwuchteln jetzt doch vermehren?“ Während die beiden Jungs zusammen zuckten, drehte Cyril sich neugierig um. In einigen Metern Entfernung stand ein Junge in Adams und Muse' Alter, die Hände locker in die Hosentaschen gesteckt, mit einem hämischen Grinsen sie drei abfällig anstarrend. Er war nicht so groß wie Muse, aber schien sich offensichtlich trotzdem für den Größten zu halten. In seinem Schlepptau hatte er ein paar Mädchen und Jungs, vermutlich sein persönlicher kleiner Fanclub, und um sie herum schien sich automatisch eine Art Vakuum zu bilden. Er kannte diese Typen zur Genüge. Reiches Elternhaus, hatte immer das beliebteste Mädchen der Schule als Freundin, und hielt sich für Adonis höchstpersönlich. Von den Lehrern verhätschelt, von den Mitschülern gefürchtet oder verehrt, hielt er sich für mächtig. Und für seinen persönlichen Stressabbau suchte er sich einen Punching-Ball unter seinen Mitschülern, damit er regelmäßig zeigen konnte, was für ein geiler Typ er war. Für diesen Typen hier – Pete – war die Wahl wohl auf Adam und Muse gefallen. „Na, wie oft musstet ihr euch gegenseitig in den Arsch ficken, um dieses Prachtbürschchen hinzukriegen?“ Pete lachte und musterte Cyril von Kopf bis Fuß. „Haben dir Papi und Papi denn auch schon gezeigt, wie man ordentlich den Schwanz lutscht?“ Cyril spürte, wie Muse ihn am Ärmel zupfte und leise „Wir gehen“ flüsterte. Er betrachtete Pete für einen Moment, und langsam zeichnete sich auf seinem Gesicht ein liebenswürdiges Grinsen ab. Ein Grinsen, das Pete eindeutig irritierte. Den Kopf leicht zur Seite gebeugt, Pete unschuldig von unten anlächelnd, trat er einen Schritt nach vorne und schüttelte damit Muse' Hand an seinem Ärmel ab. „Oh, keine Sorge, das mussten sie mir nicht zeigen. Das ist mir quasi schon in die Wiege gelegt.“ Sein Grinsen wurde eine Spur breiter. „Für nen 20er beweise ich dir auch, wie gut ich darin bin.“ Er trat noch einige Schritte nach vorne. „Für nen 50er kriegst du sogar meinen Arsch.“ Jetzt stand er direkt vor Pete. Obwohl er fast einen Kopf kleiner war als der ältere Junge, trotz seiner schmächtigen und alles andere als beeindruckenden Gestalt, starrte Pete ihn verwirrt, fast sogar schon etwas ängstlich an, und lehnte sich mit dem Oberkörper abwehrend nach hinten. Cyril grinste jetzt fast von Ohr zu Ohr, seine Augen leuchteten. „Aber extra für dich gibt es auch ein paar Sachen kostenlos.“ Und damit hob er sein Knie und rammte es mit voller Wucht in Petes Weichteile. Mit einem durchdringend lauten Schmerzensschrei ging Pete zu Boden und hielt sich mit den Händen die schmerzende Stelle, während seine Freunde aus ihrer Beobachterrolle aufwachten, wie ein Schwarm Bienen um ihn herumschwirrten, auf ihn einredeten, versuchten, ihm aufzuhelfen, und trotzdem mit der Situation heillos überfordert schienen. Der Tumult zog auch die Aufmerksamkeit der anderen Schüler und der aufpassenden Lehrer auf sich, so dass sich innerhalb von Sekunden die Menschenmenge um sie herum verdichtet hatte. Cyril betrachtete interessiert die Szenerie, fast, als ob er daran gar nicht beteiligt war, bis er einen Ruck spürte und ihn jemand aus der Menge riss. Adam hatte ihn am Arm gepackt und zerrte ihn hinter sich her, den komplett fassungslosen Muse im Schlepptau. Durch das Durcheinander, die aufgeregten, neugierigen Schüler, die wissen wollten, was passiert war, und sich um Pete zusammen rotteten, verließen sie unbemerkt die Kantine, doch Adam hielt erst an, als sie im zweiten Stock ein verlassenes Klassenzimmer erreichten. Er bugsierte beide hinein und lehnte sich dann von innen gegen die geschlossene Tür. Für einen Moment starrten sie sich alle drei an, Muse immer noch fassungslos, Cyril mit einem erwartungsvollen, aber verwirrten Lächeln, Adam fast schon wütend. Dann brach Muse in schallendes Gelächter aus. Atemlos ging er in die Hocke, sich den Bauch haltend, und rang vergeblich nach Luft. Cyrils Verwirrtheit steigerte sich noch. Er hätte gerne mitgelacht, doch etwas in Adams Gesicht sagte ihm, dass es eigentlich gar nicht so witzig war wie es schien. „Muse...“ Adam atmete tief durch, versuchte, seinen Freund zu ignorieren, und wendete sich Cyril zu. „Was war das denn?“ Cyril sah ihn mit einem fragenden Ausdruck in den Augen an. „Was war was?“ „Das!“ Er versuchte, nicht laut zu werden. „Du hast dir grad den... keine Ahnung, wie man das nennt... Schulobermacker zum Feind gemacht. Der wird dich jetzt immer auf dem Kieker haben und versuchen, dich fertig zu machen!“ „Und?“ „UND???“ Adam biss sich auf die Unterlippe. „Ist dir das... – Muse... hör auf zu lachen!.... – Cyril, ist dir das egal?“ Muse holte tief Luft, setzte sich auf den Boden und atmete nochmal tief aus, bevor auch er Cyril seine Aufmerksamkeit widmete. „Adam hat recht. Die Aktion war... cool,“ er bemühte sich, nicht wieder in Lachen auszubrechen, „aber du kriegst damit so richtig Probleme.“ „Und?“, wiederholte Cyril und zuckte mit den Schultern. „Was, glaubt ihr, kann er machen?“ Adam und Muse wechselten einen Blick. „Nun...“, fing Adam an, unterbrach sich dann aber. Es gab einige Szenarien, die er sich vorstellen konnte. Aber irgendwas stimmte da nicht. Cyril lehnte sich gegen einen der Tische und strich sich ein paar Strähnen nach hinten. Seine regengrauen Augen blitzen auf. „Nun“, nahm er Adams Gedanken auf und fing an, an seinen Fingern abzuzählen, „er könnte mich immer wieder öffentlich beschimpfen und niedermachen. Hm, interessiert mich nicht. Er könnte Beleidigungen auf meinen Spind schreiben, irgendwas Ekliges reinstecken, mich bei Facebook oder so mit irgendwelchen Posts mobben. Interessiert mich nicht.“ Er überlegte kurz. „Er könnte natürlich ein paar seiner Freunde zusammen trommeln, mich in irgendeiner einsamen Gasse verprügeln. Naja... es wäre nicht das erste Mal, meine letzte Schule war nicht so nett wie diese hier. Ich habe gelernt, mich zu wehren.“ Auf seinen Lippen erschien ein leises Lächeln. „Sie würden es sich danach definitiv überlegen, ob sie mich nochmal anfassen wollen.“ Er betrachtete seine Hand, die Aufzählung, die nirgendwohin führte. „Er kann mir nichts. Nichts, was ich nicht schon hinter mir habe. Warum soll ich Angst vor ihm haben? Warum soll ich mich von ihm beleidigen lassen?“ Muse senkte seinen Kopf, starrte auf den Boden, die Finger nervös ineinander verschränkt. „Ich lass das mit mir machen. Seit Jahren. Nicht jeder ist so kämpferisch wie du.“ „Musst du auch nicht.“ Cyril zuckte mit den Schultern. „Aber dann lass mich doch kämpfen. Ich werde ihm keine Macht über mich geben. Ihr könnt machen, was ihr wollt, euch verstecken und den Schwanz einziehen, aber lasst mich da raus.“ „Das heißt, du willst dich öfter mit ihm prügeln?“, fragte Adam. „Das ist nicht sehr... elegant.“ „Ich bin auch nicht elegant.“ Er erwiderte Adams Blick. Er würde auch nicht vor diesen kalten, blauen Augen Angst haben. „Ich komme aus der Gosse, ich muss gar nicht elegant sein. Wenn mir jemand auf den Sack geht, wehre ich mich. Und einige verstehen keine andere Sprache. Pete gehört dazu.“ Fast ein wenig grimmig fixierte er die Beiden. „Sorry, so bin ich halt. Mein Onkel möchte zwar, dass ich mich mit euch anfreunde, aber wenn ihr ein Problem damit habt, oder euch Sorgen macht, dass ich euch irgendwo mit reinziehe, müsst ihr euch nicht mit mir abgeben. Ernsthaft, ich komme alleine klar. Wir müssen nicht irgendwelche lächerlichen Freundschaften erzwingen, für die wir uns verstellen müssen.“ „Das... ist nicht so gemeint.“, stammelte Muse. „Es ist okay. Lasst uns einfach Bekannte sein, uns auf den Gängen grüßen, sowas halt. Aber wir müssen nicht die Zeit miteinander verbringen. Ich glaube eh nicht, dass wir gemeinsame Interessen haben.“ Cyril lächelte. Ein ehrliches, offenes Lächeln. „Und wenn Pete mich jetzt auf dem Kieker hat, habt ihr ja auch vielleicht eure Ruhe.“ Er sah Adam freundlich, aber auffordernd an, der mit einen Nicken die Tür freigab. Mit einem liebenswürdigen „Bis dann“ verließ Cyril den Raum und ließ die beiden Jungs etwas ratlos zurück. Doch das störte ihn nicht. Auch wenn Thomas' Projekt damit schneller als erwartet gescheitert war, man konnte ihm zumindest nicht vorwerfen, es nicht versucht zu haben. Aber er war lieber frei als in nutzlose Beziehungen verstrickt. Nutzlose Beziehungen, die ihn in Passivität und ein Leben in Angst zwingen wollten. Mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lippen schlenderte er die fast leeren Gänge entlang. Jetzt musste er nur noch den einen Monat bei André überstehen, um dann vielleicht wieder in sein altes, altbekanntes und wesentlich spannenderes Leben zurück zu kehren. --- Die International Art School – kurz IAS – war eine Schule, die sich speziell auf die kreative Entwicklung ihrer Schüler konzentrierte. Sie begleitete ihre Schüler von der Grundschule bis zum Universitätsabschluss, wobei der Quereinstieg jederzeit möglich war. Dabei wurden die Schüler nicht nach ihren Finanzen ausgewählt, sondern rein nach Talent. Und dieses Talent konnte sehr weitgreifend sein. Prinzipiell fand die Ausbildung in den klassischen Künsten statt, doch in den höheren Klassen konnten sich die Schüler auch auf Disziplinen wie Modeln, Tätowieren, Modedesign, Schmiedekunst und ähnliches konzentrieren. Hier unterrichteten nur die Besten der Besten, und mit einem IAS-Abschluss gehörte man definitiv nicht zu der Riege der brotlosen Künstler. Während der Zugfahrt hatte sich Cyril die Homepage der Schule angeschaut. Sie lag etwas außerhalb der Stadt, was er zwar im ersten Moment seltsam fand, jedoch verstand, als er die Bahn verließ. Die Haltestelle war extra für die IAS eingerichtet worden. Die IAS, die fast schon einer kleinen Stadt glich. Neben den Wohnheimen, die für die Internatsschüler gedacht waren, gab es zahlreiche Ateliers, Werkstätten, Tanzräume, Theaterbühnen, Proberäume und und und. Sie hatten ihre eigenen Cafés und Bäckereien, Mensen und Kantinen, Sportplätze und Fitnessstudios. Aufgelockert wurde der Campus durch kleine Parks, Wiesen und Gärten, die zum Ausruhen, Verweilen und vermutlich kreativen Input dienen sollten. Es war ein gigantischer Komplex, der all seine Energie darauf verwendete, aus den einzelnen Schülern Ausnahmekünstler zu machen. Tatsächlich war Cyril ein wenig beeindruckt. Wenn André hier unterrichtete, dann musste er ziemlich gut sein. Fragte sich nur, warum er dann in einer Schwulendisco als GoGo-Tänzer arbeitete. Er überlegte nochmal. Nein, eigentlich war die Frage falsch gestellt. André war von seiner ganzen Art her ein Vorzeige-GoGo-Tänzer. Nur der Job als Tanzlehrer passte nicht so richtig zu ihm. André hatte ihm eine genaue Wegbeschreibung geschickt, so dass er ziemlich gut das richtige Gebäude und den entsprechenden Raum finden konnte, auch wenn er sehr lange brauchte, um den Campus zu überqueren. Vermutlich hatte jeder Schüler seinen eigenen Campusplan immer dabei, sonst würde man sich nur heillos verlaufen. Die Tür des angegebenen Raumes stand offen, so dass Cyril einen Blick hineinwerfen konnte. Eine junge Frau übte einige Tanzschritte, die ein wenig wie Ballett aussahen, es jedoch nicht ganz waren, während André ihre Haltung korrigierte oder sie an einigen Stellen unterbrach und einzelne Schritte nochmal durchging. Cyril hätte irgendwie bei beiden formellere Kleidung erwartet, immerhin war es hier quasi eine Eliteschule, doch André trug nur ein Muskelshirt und eine lockere Stoffhose, die an den Waden enger wurde, und die Schülerin hatte kurze Leggings und ein Yogashirt an. Eigentlich logisch, er würde ja auch nicht im Anzug Basketball spielen. Der Raum hatte fast die Größe von Andrés Loft, war an zwei Seiten komplett verspiegelt, während sich an der dritten Wand eine Theke befand, und hatte an der Seite mit der Tür noch eine Garderobe. Vor einer der Spiegelwände befand sich zusätzlich ein Podest. Die Ausstattung war aus schlichtem Holz, so dass kaum etwas von den wirklich wichtigen Dingen ablenkte, nämlich den Tänzern, die hier ihre jeweiligen Choreografien einübten. Es dauerte einen Moment, bis André ihn bemerkte. Mit einem kurzen Handzeichen bedeutete er ihm, zu warten, während er mit dem Mädchen noch einige Schritte besprach, und sie sich schließlich verabschiedeten. Sie nickte ihm zu, bevor sie an ihm vorbei nach draußen verschwand. „Tanzunterricht ohne Musik?“ Cyril betrat den Raum und ließ seine Tasche auf den Boden plumpsen. „Manchmal geht es erstmal um die Technik.“ André ging zur Theke und bedeutete Cyril, ihm zu folgen. „Hast du gut hergefunden?“ „Mhm.“ „Willst du was trinken?“ Er ging in die Hocke, um in den Kühlschrank zu schauen, der sich unter der Theke befand. Cyril trat hinter ihn, beugte sich vor und stützte sich auf seinen Schultern ab, um ebenfalls einen Blick hineinzuwerfen, als er merkte, wie André seinen Kopf zu ihm wendete und ihn skeptisch betrachtete. „Hey!“ Cyril hob seine Hände und richtete sich wieder auf. „Darf ich dich gar nicht anfassen oder was?“ „Nein.“ André holte eine Cola raus und reichte sie Cyril, ohne ihn weiter anzusehen. Sein Nacken kribbelte. Seit ihrem Deal vor ein paar Tagen hatten sie sich beide bemüht, den anderen weitestgehend zu ignorieren. Ihre Interaktion bestand hauptsächlich aus kurzen Begrüßungen, wenn sie morgens aufstanden oder einer von beiden wieder zurück nach Hause kam. Er wusste nicht, ob Cyril sich komplett an den Deal hielt – er war mehrmals alleine unterwegs gewesen, da hätte er durchaus einige Typen abschleppen können –, aber zumindest kam er ihm körperlich nicht zu Nahe. Dabei wollte er es auch belassen. Cyril verkniff sich eine entsprechende Bemerkung. „Okay, okay, und was ist mein Job hier?“ „Nicht viel. Du wirst hauptsächlich dann arbeiten, wenn ich Klassen unterrichten muss, nicht beim Einzelunterricht. Vor und nach jeder Stunde muss einmal der Boden grob sauber gemacht werden. Dann kannst du die Anwesenheit überprüfen, die Handtücher müssen gewechselt werden, und wenn jemand was zu trinken will, gibst du es raus. Wenn nichts zu tun ist, kannst du meinetwegen was für die Schule machen oder lesen oder so. Vielleicht finden wir auch noch ein paar andere Aufgaben für dich.“ Er verzog unbegeistert das Gesicht. „Dieser Job ist wirklich nur dafür da, dass du ein Auge auf mich werfen kannst, richtig?“ „Korrekt.“ André versuchte nicht mal, irgendetwas anderes vorzutäuschen. „Und damit du ein wenig Geld verdienen kannst. Vielleicht siehst du dann von deiner anderen Nebentätigkeit ab.“ Er sah auf die Uhr, die über der Eingangstür hing. „Heute kommen nur noch zwei Klassen. Viel zu tun wird nicht sein, aber für deinen ersten Tag ist das vielleicht ganz gut.“ Mit einem Seufzen ließ sich Cyril auf einem der Barhocker nieder, holte seine Tasche zu sich und packte einige seiner Hefte und Schulbücher auf den Thresen. „Wunderbar, hab heute nämlich jede Menge aufgebrummt bekommen. Für's Nichtstun bezahlt zu werden ist auch nicht schlecht.“ „Übrigens“, André setzte sich ihm gegenüber, „war nicht der Deal, dass du keinen Ärger machst?“ „Ich hab nichts angestellt.“ „Aha. Und das mit Pete?“ Cyril kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Woher weißt du das?“ „Adam hat mir davon erzählt. Und bevor du sauer auf ihn bist, ich hab ihn gefragt.“ „Und er muss es natürlich direkt ausplaudern.“, fauchte er. Adam wurde ihm immer unsympathischer. „Adam kann nicht lügen. Außerdem bist du selber Schuld.“ Der Tänzer betrachtete ihn mit einem schiefen Lächeln. „Diesmal lass ich es dir durchgehen, weil Pete wirklich ein Arsch ist und von den Lehrern scheinbar keiner gecheckt hat, was passiert ist, aber zügel ein wenig dein Temperament. Thomas wird nicht sehr begeistert sein, wenn er wegen einer Prügelei in die Schule gerufen wird.“ Cyril nickte nur, schwieg aber. Thomas, der eine Art vorübergehendes Sorgerecht für ihn hatte, solang seine Mutter, mal wieder, auf Entzug war, hatte ihn immerhin zu André abgeschoben. André, der kein Geheimnis daraus machte, dass er ihn für die Pest persönlich hielt und prinzipiell einen Sicherheitsabstand von zwei, drei Metern wahrte. Muse und Adam, die seine Freunde werden sollten, und dabei eigentlich nur zwei Feiglinge waren, die sich versteckten, sobald es Ärger gab. Keiner, dem er in den letzten Tagen begegnet war, wollte ihn wirklich hier haben. Ernsthaft, was hatte er hier eigentlich verloren? Es dauerte nicht lange, bis die erste der zwei Stunden anfing. Es war eine Gruppe von zehn, zwölf Kindern um die zwölf Jahre, Jungen wie Mädchen. Sie begrüßten André aufgeregt mit Vornamen, umschwirrten ihn wie Bienen eine besonders leckere Blüte, und schnatterten ununterbrochen auf ihn ein. André lächelte sie an, flachste, ging auf ihre Witze ein und behandelte sie erstaunlich – erstaunlich ebenbürtig vor allem. Cyril, den André nebenbei als Aushilfe vorgestellt hatte, war fasziniert. Scheinbar ging André in der Rolle des Lehrers komplett auf, wie auch der Unterricht selber bewies. Sie studierten eine Choreografie zu einem gängigen Song aus den Charts ein, und er behandelte jeden einzelnen Schüler individuell, passte sein Tempo ihnen an, verbesserte freundlich, wo es nötig war, und wurde es nicht müde, schwierige Stellen immer und immer wieder zu erklären. Die Bewunderung, die die Kids für ihn hatten, war nicht zu übersehen. Dieser Eindruck setzte sich auch in der zweiten Stunde fort, diesmal mit älteren Schülern, die einige Standardtänze lernten. Sie waren nicht ganz so aufgedreht, nicht ganz so schnatterhaft, aber dass sie ihren Lehrer schätzen und sich von ihm geschätzt fühlten, war eindeutig. Cyril hatte die ganze Zeit nur wenig zu tun, so dass er sich eigentlich wunderbar seinen eigenen Aufgaben hätte widmen können. Sein Blick wurde jedoch immer wieder von den Personen vor ihm abgelenkt. Mit Tanz hatte er bisher wenig zu tun gehabt, und sowohl die Kraft und Beherrschung, die die jüngeren Kids in ihrer Choreografie zeigten, wie auch die Ausdrucksstärke und Harmonie der Standardtänze beeindruckte ihn. Er wartete noch einen Moment, nachdem die letzten Schüler gegangen waren. André stand noch an der Musikanlage und stellte irgendetwas ein, während er sich mit einem Handtuch den Nacken abwischte. Cyril rutschte von seinem Stuhl und trat ein paar Schritte in den Raum hinein, betrachtete sich in den riesigen Spiegeln. Betrachtete Andrés Spiegelbild. „Kannst du mir das beibringen?“ „Was?“ André sah nicht mal auf. „Tanzen.“ Cyril lächelte sanft sein Spiegelbild an. „Ich kann es nicht, auch wenn der Regen manchmal dazu einlädt.“ Das Spiegelbild warf ihm einen misstrauischen Blick zu. „Wofür brauchst du es?“ „Ich lerne gerne.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, wofür ich es mal gebrauchen kann.“ Mit einem fetten Grinsen drehte er sich zu André um. „Vielleicht werde ich ja mal Edelnutte und kann damit meine Freier beeindrucken.“ Jetzt sah André ihn ganz an. Mit einem ausdruckslosen Gesicht. „Dafür würde ich es dir nicht beibringen.“ „War nur ein Witz. Sei doch nicht immer so ernst.“ André seufzte und trat näher. „Meinetwegen. Auch wenn du dir meinen Unterricht eigentlich gar nicht leisten kannst...“ Er rieb sich kurz über die Augen. „Welchen Tanz willst du lernen?“ „Alle?“ Er hob skeptisch eine Augenbraue. „So viel Zeit haben wir nicht. Du solltest es nicht unterschätzen. Wenn du wenigstens grundlegend was können willst, solltest du dich auf einen beschränken.“ Cyril grinste verschmitzt. „Wart es doch ab. Ich bin ziemlich schnell von Begriff.“ „Na, wie du meinst.“ André überlegte kurz. „Fangen wir mit Rumba an.“ Cyrils Augen blitzten siegessicher auf. Wie weit konnte er gehen, ohne den Deal zu verletzen? Wie schnell konnte er seinen Aufenthalt hier verkürzen? Er streckte seine Hand aus. „Die Frauenschritte. Als Edelnutte brauch ich die Männerschritte bestimmt nicht.“ André musterte ihn für einen Moment. Die graublauen Augen, die im gedämmten Licht trotzdem leuchteten. Die Lippen, die ihn herausfordernd anlächelten. Die leichte Neigung des Kopfes, selbstbewusst, verspielt. Es würde ein sehr langer Monat werden. Langsam berührte er die Fingerspitzen von Cyrils ausgestreckter Hand mit seinen eigenen. Nur das, nicht mehr. „Fangen wir an.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)