Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 1: Teil 1 - Verflucht; Gregor ------------------------------------- Kleine Schweißtropfen rollten über meine Stirn und drohten, mir in die Augen zu fallen, während ich angestrengt auf das schwarzweiß gemusterte Brett vor mir starrte. Es war Hochsommer – August, um genau zu sein – und die Sonne stand als dicker, gelber Ball am azurblauen, wolkenlosen Himmel. Die Temperaturen waren innerhalb der letzten Wochen auf schweißtreibende 38°C geklettert und es wehte nicht mal ein klitzekleines Lüftchen, das ein wenig Abkühlung versprochen hätte. Ich saß auf einem unserer alten, durchgesessenen Liegestühle mit dem rotweißen Muster und beobachtete meine kleine Schwester aus den Augenwinkeln. Mel planschte mit ihrer besten Freundin Josephine durch unseren erst in diesem Frühjahr gebauten Pool und winkte zu unserer Mutter herüber, die sich irgendwo hinter mir mit einem störrischen, grünen Sonnenschirm abmühte. Ich fragte mich, ob Mel daran gedacht hatte, sich mit Sonnenschutz einzureiben, und schüttelte sogleich innerlich den Kopf über mich. Ich machte mir immer zu viele Gedanken um meine Schwester. Mit ihrem zierlichen Körperbau, den großen, dunkelgrünen Augen und dem süßen Schmollmund wirkte sie so fürchterlich zerbrechlich, dass ich ständig Angst hatte, sie könnte der Welt nicht gewachsen sein. Wenn sie nicht in meiner Nähe war, wurde ich sofort besorgt und malte mir aus, was ihr alles passieren könnte. Doch in letzter Zeit wurde ich selbst dann nervös, wenn sie sich in meinem Blickfeld aufhielt und ich meine Hand über sie halten konnte. Dann brach mir der Schweiß aus und das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Während ich ihren schmalen Körper betrachtete, der durch das glitzernde Wasser glitt, fragte ich mich wieder einmal, was eigentlich mit mir los war. Wieso bekam ich regelrecht Panik, wenn meine Schwester mich anlächelte? „Schachmatt.“ Überrascht blickte ich zu meinem Vater herüber, der mich breit angrinste und seinen weißen Springer kurz vor meinem König platzierte. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass er in der Lage gewesen war, mich Schach zu setzen – von Matt ganz zu schweigen. „Du hast ja geschummelt...“, murrte ich, als ich plötzlich das Patschen von blanken Füßen hinter mir hörte. Mel stand hinter mir und lehnte sich neugierig über die Rückenlehne meines Liegestuhls. Aus ihren langen, dunkelbraunen Haaren tropfte Wasser und auch ihre nackte Haut zwischen den schwarzen Bikiniteilen mit den knallroten Kirschen schimmerte nass. Mein Herz hämmerte plötzlich mit beinah doppelter Intensität. „Was ziehst du denn für einen Flunsch?“, neckte sie mich liebevoll. Ihre weiche Stimme brachte meine Nackenhaare dazu, sich aufzustellen. Warum zur Hölle spielte mein Körper so verrückt? Schließlich wusste ich doch genau, dass es nur meine Schwester war, die hinter mir stand – meine kleine Schwester, die ich seit dreizehn Jahren kannte und liebte und die der vermutlich wichtigste Mensch in meinem Leben war. Außerdem wäre von diesem Mädchen selbst dann keine Gefahr ausgegangen, wenn wir uns nicht so gut gekannt hätten. Selbst wenn sie eine messerschwingende Mörderin gewesen wäre, hätte ich keinen Zweifel daran gehabt, dass ich ihre dünnen Ärmchen von mir hätte fern halten können. Warum machte mich ihre Gegenwart neuerdings so nervös? „Greg hat mal wieder verloren.“ Paps verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, lehnte sich in seinem Gartenstuhl zurück und grinste breit. Auf seinem hellblauen Polohemd hatten sich dunkle Schweißflecken gebildet und das dunkelblonde Haar klebte ihm an der Stirn, doch trotzdem konnte ich noch immer verstehen, warum sich so manche Frau den Hals verrenkte, um ihm hinterher zu sehen. Mit seinem jugendlichen Auftreten, den makellosen weißen Zähnen und den leuchtenden, grünblauen Augen sah er wirklich gut aus – das musste ich sogar als heterosexueller Mann zugeben. Ich hoffte, ich würde in dreißig Jahren auch noch genauso viel Elan und Idealismus haben wie mein Vater. Mit seiner ruhigen Art und seiner Eigenschaft, jede kleine Tätigkeit mit so viel Liebe und Aufmerksamkeit zu erledigen als wäre sie die wichtigste der Welt, war er mein großes Vorbild. Mel grinste und zerzauste mir mit ihrer nassen Hand das Haar. Kleine Schockwellen zuckten durch meinen Körper und ich bekam Gänsehaut, die aber zum Glück gleich wieder verschwand, bevor Mel oder Paps sie bemerken konnten. „Mach dir nichts draus, Greg. Papa ist bei Schach einfach unschlagbar.“ Paps schüttelte langsam den Kopf, sodass seine Haare über die Stuhlpolsterung raschelten. „Eigentlich könnte Greg ohne Probleme gewinnen, aber er lässt sich leider einfach zu schnell ablenken.“ Sofort begannen meine Wangen zu brennen, obwohl ich nicht einmal wusste, für was ich mich eigentlich schämte. Ja, gut, ich hatte meine Schwester beobachtet, anstatt auf Paps’ Züge zu achten. Aber das war doch kein Grund, um gleich rot zu werden, oder? Um meine Verlegenheit zu überspielen, grinste ich ein wenig schief und murmelte: „Diesen da, beobachtet hab ich ihn eine lange Zeit. Sein ganzes Leben lang war sein Blick gerichtet auf die Zukunft, den Horizont. Nie war er ganz bei dem, was ihn umgab, nie bei dem, was er tat.“ Mein Vater lachte leise in sich hinein. „Gut gesprochen, junger Padawan.“ Ich rollte mit den Augen, während Mel irritiert ihre Stirn in Falten legte. So sehr ich meinen Vater liebte, manchmal nervte es mich, dass er nahezu immer zu wissen schien, wovon ich redete, auch wenn der Rest meiner Familie mich aus großen, ahnungslosen Augen anstarrte. Wobei dies in diesem Fall wohl eher der Tatsache geschuldet war, dass mein Vater und ich die Einzigen waren, die sich die „Star Wars“-Reihe angesehen und eine beinah zärtliche Liebe für diese Filme entwickelt hatten... Doch grundsätzlich gab mir das Ganze irgendwie das Gefühl, dass ich keinerlei Geheimnisse vor Paps haben konnte. Und mal ehrlich: Welchem Teenager gefällt schon der Gedanke, für seine Eltern ein offenes Buch zu sein? „Hat einer von euch Durst?“ Meine Mutter hatte den Kampf mit dem widerspenstigen Sonnenschirm inzwischen gewonnen und stand leise keuchend unter seinem aufgespannten Stoff. Mel klatschte begeistert in die Hände, nickte und rannte los, um Josephine zu holen, die am Rand des Pools hockte und die Füße ins Wasser baumeln ließ. Ich blickte ihr hinterher und seufzte. Es war leichtsinnig von ihr, so schnell auf den Pool zuzustürzen. Sie könnte ausrutschen, hinfallen und sich womöglich den Kopf anschlagen. Plötzlich berührte mich jemand an der Schulter und ich zuckte heftig zusammen. Sofort wurde die Hand zurückgerissen und eine leise Entschuldigung gemurmelt. Ich sah auf und entdeckte meine Mutter neben meinem Liegestuhl stehen und etwas verlegen lächeln. Ihr kurzes, gelbes Sommerkleid leuchtete wie die Sonne. „Schon okay. Ich war nur mit den Gedanken woanders.“, versuchte ich, mich zu erklären. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte Mutters Blick zu Mel hinüber. Oder bildete ich mir das nur ein? Dann strich sie sich eine Strähne ihres kinnlangen Haares, das mit blondgefärbten Strähnen durchzogen war, hinters Ohr. „Ich wollte nur wissen, ob du auch etwas trinken möchtest.“ Ich nickte stumm und fragte mich, ob es mir nur so vorkam oder ob Mutters Lächeln mir gegenüber tatsächlich jedes Mal ein wenig falsch war. Obwohl sie sich eigentlich immer Mühe mit mir gegeben und mich durchaus liebevoll erzogen hatte, hatten wir nie einen richtigen Draht zueinander gefunden und spätestens seit meiner Pubertät hatte ich jeden Tag das Gefühl, dass wir uns noch ein Stück mehr voneinander entfernt hatten. Kurz darauf kam Mel mit Josephine zurück. Schon von weitem konnte ich das breite Grinsen erkennen, das Mels beste Freundin mir zuwarf. Ich unterdrückte ein Schaudern und wandte mich schnell ab, um Paps beim Zusammenräumen der Schachfiguren zu helfen. So schmeichelhaft Josephines Schwärmerei für mich vielleicht auch sein mochte, mir war sie unangenehm – schließlich war Josephine noch ein halbes Kind. Außerdem interessierten mich Mädchen allgemein eher weniger, obwohl ich Ende des Jahres bereits achtzehn wurde. Mädchen waren hübsch anzusehen und ich hatte einige weibliche Freunde, doch bisher hatte mich keines von ihnen um den Schlaf gebracht. Wann immer einer meiner Freunde ins Schwärmen über seine Freundin geriet, stand ich leicht verwirrt daneben. So etwas war mir einfach fremd. Manchmal fragte ich mich, warum eigentlich. Mit hochkonzentrierter Miene sammelte ich die kleinen schwarzen und weißen Holzfiguren ein und steckte sie in den dafür vorgesehenen Beutel aus dunkelblauem Samt. Josephine kam mit einem koketten Lächeln auf mich zu, doch bevor sie etwas sagen konnte, öffnete sich die Terrassentür und Mutter kam mit einem Holztablett wieder heraus. Auf dem schwarzen, mit Pfingstrosen bemalten Tablett balancierte sie fünf hohe Gläser und einen Krug in dem ihre selbstgemachte, zartgelb gefärbte Zitronenlimonade hin und her schwappte. Bei dem Anblick des eisgekühlten Getränks lief mir augenblicklich das Wasser im Mund zusammen. Ich liebte Mutters Zitronenlimonade! Als Kind hatte ich ihr oft beim Herstellen geholfen und dabei erfahren, dass das Rezept ursprünglich von einem amerikanischen Besatzungssoldaten stammte, der eine Affäre mit meiner Urgroßmutter gehabt und ihr die Zutaten verraten hatte. Seitdem war die Limonade immer wieder verfeinert und verbessert worden, bis sie ihren jetzigen Zustand erreicht hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man sie jetzt noch weiter optimieren konnte. Mutters Limonade war einfach perfekt. Mel reichte mir ein Glas und ich musste augenblicklich grinsen. An jedem Strohhalm hingen verschiedenfarbige Folienschnipsel. Ich nahm an, Mutter war der Meinung, dieses Etwas sei Dekoration. Das war so typisch für sie, dass ich am liebsten laut gelacht hätte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ihr jegliche Wirkung nach außen und die Gedanken der anderen wichtiger waren als alles andere. Ich fragte mich, wie sie wohl reagieren würde, wenn ich ihr einfach aus Jux und Tollerei erzählen würde, ich wäre schwul. Nur mit Mühe konnte ich mir ein Lachen verkneifen. Das Limonadenglas fest in der Hand zog ich mich in den Schatten eines Ahorns zurück und betrachtete meine Familie, die sich im Garten zerstreute. Es war erstaunlich, dass wir alle zusammengehörten, obwohl wir so unterschiedlich waren. Paps war zwar ein sehr ruhiger, bedachter Mensch, konnte aber ein unverbesserlicher Querkopf sein, der sich nicht verbiegen ließ und niemandem nach dem Mund redete. Mutter hingegen war ein überaus geselliger Mensch, der auch schon mal die Gesellschaft von wirklich ätzenden Menschen ertrug, nur damit der Rest der Nachbarschaft sie mochte. Mel erschien wie eine perfekte Mischung aus unseren Eltern. Sie war ein aufgewecktes, neugieriges Mädchen, das zwar niemandem Sympathie heuchelte, den es nicht mochte, aber genau wusste, wie es seine Mitmenschen um den Finger wickeln musste, um zu bekommen, was es wollte. Und ich...? Ja... Wie war ich eigentlich? Wer war ich? In letzter Zeit hatte ich nicht das Gefühl, dass ich das noch wusste. Irgendwie war ich mir selbst fremd geworden, ohne dass ich es gemerkt hatte. Früher hatte ich gewusst, wer der Junge war, der mir im Spiegel entgegen blickte. Doch nun konnte ich mir nicht einmal meine beklemmende Atemnot oder die abnormalen Schweißausbrüche erklären, die mich neuerdings immer in Mels Nähe befielen. Ich hatte mich selbst verloren. Kapitel 2: Melanie ------------------ „Ein bisschen schief. Findest du nicht?“ Ich neigte den Kopf zur Seite und begutachtete den kleinen Pavillon, den Greg und ich aufgebaut hatten. Er war etwa drei mal drei Meter groß, hatte offene Seitenwände, ein Dach aus dickem, grünen Plastikstoff und eignete sich hervorragend als Schattenspender. Nur leider war er so gefährlich windschief, dass ich befürchtete, er könnte jeden Moment umfallen. Langsam wandte ich den Kopf und sah zu meinem großen Bruder herauf, der mit verschränkten Armen und verschlossener Miene neben mir stand. Offensichtlich grübelte er darüber nach, wie das Problem zu lösen war. Während er nachdachte, betrachtete ich sein Gesicht, das mir fast vertrauter war als mein eigenes. Das Licht der untergehenden Sonne brach sich auf seinem glänzenden, blonden Haar und ließ es in einem warmen Rotgold leuchten. Seine katzengrünen Augen hatte er fest auf den Pavillon geheftet und er zog immer wieder seine Unterlippe zwischen die Zähne. Greg hatte wirklich tolle Lippen: fein geschwungen und voll, aber nicht so sehr, dass sie unmännlich wirkten. Wieder einmal verspürte ich den kleinen, vertrauten Stich der Eifersucht. Warum konnte ich nicht ein bisschen mehr wie Greg aussehen? Eigentlich hätte es verboten gehört, dass ein Mann so feine, ebenmäßige Züge und eine so makellose Haut hatte. Greg schürzte die Lippen und verlagerte sein Gewicht aufs rechte Bein, während er weiterhin stumm grübelte. Ich betrachtete sein Profil und wieder einmal fiel mir auf, dass nicht nur ich kaum Ähnlichkeit mit meinem Bruder hatte. Streng genommen fiel Greg aus der ganzen Familie heraus. Keiner von uns hatte seine symmetrischen Gesichtszüge oder den Goldschimmer seiner Haare. Trotzdem erkannte man in Greg eindeutig unseren Vater. Sie hatten das gleiche Grinsen, dieselbe Art vorwitzige Strähnen wieder aus der Stirn zu streichen und die identische Angewohnheit, den Kopf hoch erhoben zu tragen, was ihnen Beiden eine leicht arrogante Ausstrahlung verlieh. „Halt bitte mal auf der rechten Seite fest.“ Gregs noch immer Stimmenbruch geplagte Stimme klang ein wenig brüchig und die Worte hüpften zwischen den Tonlagen hin und her wie Trampolinspringer. Schnell eilte ich auf den Pavillon zu und tat wie mir geheißen, während mein Bruder auf der anderen Seite mit voller Kraft rüttelte und rückte, bis das Gestänge so verschoben war, dass der Pavillon tatsächlich gerade stand. Ich trat einige Schritte zurück und schirmte meine Augen gegen die blendende Abendsonne ab. „Meinst du, das hält jetzt?“ Greg zuckte die Schultern und ließ vorsichtig die Stangen auf seiner Seite los. Dann grinste er und vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Keine Ahnung. Ich denke, wir werden einfach abwarten müssen.“ Irritiert legte ich die Stirn in Falten und warf Greg einen kurzen Seitenblick zu, bevor ich mich wieder auf unser Werk konzentrierte, damit er nicht merkte, dass ich mir Gedanken um ihn machte. Irgendwie war mein Bruder in letzter Zeit ziemlich komisch. Normalerweise hätte er mir in so einer Situation lachend die Haare zerzaust, anstatt seine Hände in den Taschen zu verstecken. Früher waren mein Bruder und ich ein Herz und eine Seele gewesen. Obwohl uns ein Altersunterschied von vier Jahren trennte, hatte Greg mich bis vor wenigen Wochen immer überall mit hin genommen. Ich kannte vermutlich mehr seiner Klassenkameraden als Jugendliche in meinem Alter. Ab und zu war Greg meinetwegen von ein paar Idioten aufgezogen worden, die ihn gefragt hatten, ob unsere Familie sich keinen Babysitter leisten könnte, doch er hatte es immer mit einem Schulterzucken abgetan und hatte stets zu mir gehalten. Wir waren wie Pech und Schwefel gewesen, unzertrennlich. Doch aus irgendeinem Grund distanzierte er sich plötzlich von mir. Er umarmte mich kaum noch und nahm mich erstrecht nicht mehr mit zu seinen Freunden. Ich fragte mich, ob es damit zusammenhing, dass er sich mit seinem besten Kumpel verkracht hatte. Christoffers Eltern hatten sich vor kurzem scheiden lassen und Chris zog es vor, in Kürze mit seiner Mutter weg zu ziehen, anstatt hier bei seinem Vater zu bleiben. Greg hatte diese Entscheidung bis ins Mark erschüttert, weil sie bedeutete, dass Chris ihn allein ließ. Doch anstatt dies einfach zuzugeben, hatte er einen belanglosen Streit vom Zaun gebrochen und weigerte sich nun beständig, sich wieder mit Chris zu vertragen. Greg sagte, wenn er sich seine Wut auf Chris bewahren würde, sei es einfacher zu ertragen, dass er gehen würde. Das konnte ich zwar nicht wirklich verstehen, doch ich konnte nachfühlen, dass er sich verraten fühlte. Aber vielleicht lag es auch an Josephin, die ich fast immer um mich hatte. Sie hatte mir vor ein paar Tagen gestanden, dass sie sich in meinen Bruder verguckt hatte. Ich konnte spüren, dass es Greg unangenehm war, wenn sie versuchte, mit ihm zu flirten. Aber zum Glück war Finchen nicht gerade beständig, wenn es um ihre Gefühle ging. Eigentlich verliebte sie sich alle zwei Wochen neu. Doch was immer der Grund für Gregs Zurückgezogenheit sein mochte, ich war mir sicher, dass es nichts mit mir zu tun hatte. Ich bemerkte, dass Greg mich ansah und schaute zu ihm herauf. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte zaghaft und deutete mit dem Kopf in Richtung Haus. „Na, was ist, Zwerg? Lust auf ’ne Runde ‚Mensch ärgere dich nicht’?“ Ich nickte begeistert und hakte mich bei ihm unter. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, sein Körper würde sich versteifen, schob den Gedanken dann aber beiseite. Warum sollte mein eigener Bruder abwehrend auf meine Berührungen reagieren? Kapitel 3: Gregor ----------------- Stunden später saß ich alleine am Küchentisch, stocherte gedankenverloren in meinem Salat aus Paprika, Tomaten und Feta-Käse herum und überlegte, seit wann mein Körper sich so merkwürdig verhielt, sobald meine kleine Schwester mir zu nahe kam. Früher war sie schließlich wie mein Schatten gewesen, ohne dass es mich gestört hatte – im Gegenteil. Ich hatte sie immer gern um mich gehabt, so wusste ich wenigstens immer, dass es ihr gut ging. Nicht, dass ich je daran gezweifelt hätte, dass es ihr in der Obhut unserer Eltern an etwas fehlte, aber trotzdem fühlte ich mich irgendwie sicherer, wenn ich Mel in meiner Nähe hatte. Verrückt, ich weiß. Doch dann war diese langsam schleichende Veränderung eingetreten, die immer schlimmer und schlimmer geworden war, bis es mir in Mels Gegenwart regelrecht die Luft abschnürte. Ich spießte ein Stück roter Paprika auf und betrachtete es nachdenklich. Es war von einer dünnen Schicht öligen Dressings überzogen und winzige Fettpartikelchen glänzten unter der Deckenleuchte wie Sterne. Ja, damit hatte es angefangen... Ich steckte mir das Paprikastück in den Mund und erinnerte mich bedächtig kauend an einen Abend vor zirka drei Wochen. Die Sommerferien hatten gerade begonnen, weswegen Mel länger aufbleiben durfte als gewöhnlich. Wir hatten ewig im Garten zusammengesessen, Karten gespielt und gelacht, bis Mel aufgefallen war, dass bereits die Sterne am Himmel gestanden hatten. Meine Schwester hatte mich daraufhin an die Hand genommen und von der Terrasse auf den Rasen gezerrt, wo wir uns im von der anhaltenden Trockenheit bereits leicht ausgedörrten Gras hingelegt und zu den Sternen hoch geschaut hatten. Mel hatte sich ganz nah an mich gekuschelt und ihren Kopf gegen meine Schulter gelehnt. So hatten wir einige Zeit still nebeneinander gelegen, stumm ergriffen von der überwältigenden Schönheit der Natur. Doch irgendwann hatte ich den Fehler gemacht, den Kopf zu drehen und Mel anzusehen. Ihr Gesicht war so nah neben meinem gewesen, dass ich beinah ihre Wange mit meiner Nase gestreift hätte. Ihre Augen waren auf das beeindruckende Firmament über ihr gerichtet gewesen und ich hatte beinah jeden einzelnen Stern in ihnen gespiegelt sehen können. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet gewesen, so als hätte sie die Schönheit des Nachthimmels stumm in Worte fassen wollen. Während ich ihr Gesicht betrachtet hatte, das ich schon so oft im Leben gesehen hatte, dass ich es ohne Probleme aus dem Gedächtnis hätte zeichnen können, hatte mich plötzlich ein Gedanke, eine Idee durchzuckt, die meinen ganzen Körper hatte krampfen und mich geradezu panisch die Flucht hatte ergreifen lassen. Mel hatte ich auf ihre anschließende Nachfrage hin geantwortet, mich hätte ein Insekt oder so etwas gebissen und ich sei deswegen so überstürzt ins Haus geeilt. Doch wenn ich ehrlich war, wusste ich noch immer nicht, was der wahre Grund dafür gewesen war. Noch immer konnte ich diese Idee, diesen Gedanken, der mich in dieser Nacht überkommen hatte, nicht in Worte fassen. Es war als hätte mein Bewusstsein ihn auf der Stelle verdrängt, bevor ich ihn wirklich zu fassen bekommen hatte. Doch trotzdem war das Ganze nicht spurlos an mir vorbei gegangen. Dieser Gedanke hatte mich erschreckt und verstört und ich hatte immer noch Angst, dass er wieder auftauchen könnte, wenn Mel sich in meiner Nähe aufhielt. Und das, obwohl ich ihn nicht einmal artikulieren konnte. Genervt stieß ich einen Seufzer aus. Das war doch vollkommen gaga! Ich ließ mich von irgendetwas in Panik versetzen, das ich nicht einmal klar bestimmen konnte. Schlimmer noch: Ich ließ zu, dass sich dieses Etwas auf meine Beziehung zu Mel auswirkte. Kopfschüttelnd räumte ich den Tisch ab und betrachtete mein Gesicht, das sich auf den weißen Wandfliesen spiegelte. Seit dieser einen Nacht wirkte ich verschlossener und ernster als früher, ja irgendwie verhärmt – das sah ich sogar selbst. Ich wollte gar nicht wissen, was für Gedanken sich meine Familie um mich machte. Ich holte tief Luft und warf einen letzten Blick auf mein Spiegelbild, während ich mir selbst einbläute, dass dieses Theater endlich ein Ende finden musste. Ich würde diese Idee, wie auch immer sie ausgesehen hatte, vergessen und mich wieder normal benehmen. Ich konnte das! Ich musste es nur wollen, dann konnte ich das schaffen! Zumindest redete ich mir das ein, als ich langsam die Treppe hinauf stieg und mich in mein Zimmer zurückzog. Kapitel 4: Melanie ------------------ Ich war so nervös, dass ich das Gefühl hatte, mein Magen würde Achterbahn fahren. Immer wieder krampfte er sich schmerzhaft zusammen, was beißende Übelkeit verursachte und mir Gänsehaut über den ganzen Körper jagte. Hilfesuchend blickte ich zu Greg hinüber, der sich ein wenig gelangweilt in seinen unbequemen Metallstuhl lümmelte und seine Nackenmuskeln dehnte, indem er den Kopf immer wieder von einer Seite zur anderen neigte. Ich war so dankbar, dass er mitgekommen war, dass mir vor Glück beinah das Herz zersprang. Nachdem er in den letzten Wochen so merkwürdig distanziert gewesen war, hatte ich fast nicht mehr daran geglaubt, dass er unsere Eltern und mich begleiten würde. Deswegen war ich ein wenig überrascht gewesen, als ich ihn vor ungefähr einer Dreiviertelstunde in Hemd, Stoffhose und Jackett gekleidet im Flur vorgefunden hatte, wo er zusammen mit Papa darauf gewartet hatte, dass Mama und ich endlich fertig wurden. Greg bemerkte, dass ich ihn beobachtete und wandte mir sein Gesicht zu. Das helle Licht der Neonröhren an der Decke malte silbrige Reflexe in sein volles, strubbeliges Haar. Als könnte er meine Unruhe in meinen Augen lesen, lächelte er mir aufmunternd zu. Trotz seines seltsamen Verhaltens in der letzten Zeit, war ich mir ziemlich sicher, dass er meine Hand genommen hätte, wenn nicht unsere Mutter zwischen uns gesessen hätte. Papa saß wie so oft am Gang, damit er so unauffällig wie möglich verschwinden konnte, falls das Krankenhaus ihn anpiepen würde. Da mein Vater einer der Chefärzte im hiesigen Krankenhaus war, kam dies leider ziemlich häufig vor. Manchmal hasste ich seine Patienten deswegen und schämte mich im selben Augenblick dafür. Ich warf wieder einen Blick auf Greg, der mich mit demonstrativ gedrückten Daumen angrinste. Sofort fühlte ich mich ein bisschen weniger nervös und ich lächelte in mich hinein. Mein Bruder war immer schon derjenige gewesen, der mich am schnellsten beruhigen konnte. Unsere Eltern waren toll, aber mit Greg verband mich ein noch viel stärkeres Band. Manchmal fragte ich mich, ob das allen Geschwistern so ging oder eine Besonderheit zwischen uns war. In diesem Moment trat der Direktor meiner Schule ans Rednerpult und augenblicklich brach das gedämpfte, aber trotzdem recht laute Murmeln der vielen Stimmen um uns herum ab, das bisher in der Aula geherrscht hatte. Sofort machte mein Magen wieder ein paar nervöse Hüpfer. Heute war die Premiere unseres Schulprojekts, das während des letzten Schuljahrs entstanden war. Die gesamte Sekundarstufe I hatte zusammengearbeitet, um es auf die Beine zu stellen. Schon allein die Auswahl des Projekts war schweißtreibende, harte Arbeit gewesen. Doch irgendwann hatten wir uns darauf einigen können, dass wir einen Film drehen wollten. Herausgekommen war eine Verfilmung von Andreas Schlüters Buch „Level 4 – Die Stadt der Kinder“, in der ich die Jennifer gespielt hatte. Eine Hauptrolle. Ich atmete zitternd aus und sofort legte sich eine Hand auf meinen Unterarm. An dem kühlen Metall eines Ringes merkte ich sofort, dass es meine Mutter war, die mir beistehen wollte. Doch irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass ihre liebevolle Geste den erwünschten Effekt hatte. Hilfesuchend wanderte mein Blick erneut zu meinem Bruder. Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass seine wachen, hellen Augen noch immer auf mir ruhten. Mit einem kurzen Zwinkern gab er mir zu verstehen, dass er bei mir war und sofort bemerkte ich, wie sich mein Körper ein wenig entspannte und meine Mundwinkel nach oben wanderten. Seit ein paar Stunden schien Greg wieder vollkommen der Alte zu sein, was mir einen riesigen Stein vom Herzen fallen ließ. Ich mochte mir kaum eingestehen, wie weh seine Distanziertheit getan hatte. Mein Schuldirektor ordnete laut raschelnd seine Notizzettel und beendete endlich seine schier endlose Rede. Kurzer Applaus brandete durch die Aula mit den bunt bemalten Wänden, doch sobald die Lampen erloschen, kehrte wieder Stille ein. In dem flackernden Licht des Projektors konnte ich erkennen, dass Greg mir ein letztes Mal aufmunternd zunickte, bevor er sich der Leinwand zuwandte, auf der bereits der Vorspann zu unserem Film zu sehen war. „Du warst einfach großartig!“ Mama drückte mich so herzlich an ihre Brust, dass ich Schwierigkeiten hatte, Luft zu bekommen. Papa, der wie durch ein Wunder noch immer hier war, stand breit grinsend neben uns. Man konnte ihm deutlich ansehen, dass er stolz wie Oskar war. Nur mein Bruder stand ein wenig abseits und lächelte fast ein bisschen schüchtern. Ich war ihm ehrlich dankbar, dass er mir nicht auch noch auf die Pelle rückte. Ich hatte genug mit der Begeisterung unserer Eltern zu tun. „Mama, du erwürgst mich...“ Als hätte sie meinen Einwand nicht gehört, drückte sie mich noch einmal fester an sich und rückte dann endlich von mir ab. Papa strich mir zärtlich übers Haar und blickte mich aus leuchtenden Augen an. „Deine Mutter hat Recht. Das war wirklich eine Spitzenleistung. Gerade zu Oskar-verdächtig.“ Ich rollte mit den Augen und seufzte über diese maßlose Übertreibung. Ich hatte es fürchterlich gefunden, mich selbst über die Leinwand flimmern zu sehen. Meine Stimme hatte jedes Mal geklungen, als würde ich ein auswendig gelerntes Gedicht aufsagen, und meine Gesten und Mimiken waren grauenvoll überzogen gewesen. Für mich hatte die letzte Stunde beinah an Folter gegrenzt. Doch Mama und Papa waren so von elterlichem Stolz verblendet, dass sie gar nicht anders konnten, als bei sämtlichen Umstehenden breit zu walzen, für wie unglaublich talentiert sie mich hielten. Am liebsten wäre ich auf der Stelle gegangen. Genervt drehte ich mich um und begegnete Gregs amüsiertem Blick. „Na, Hauptsache, du hast deinen Spaß.“, giftete ich ihn an, obwohl ich überhaupt nicht wütend auf ihn war. Er parierte meinen Gefühlsausbruch mit einem gleichgültigen Schulterzucken und grinste noch breiter. „Vielleicht solltest du schon mal dein Regal aufräumen, damit du Platz für den Plastik-Oskar hast, den Mutter und Paps dir garantiert schenken.“ „Oh, du...“ Ich schlug ihm spielerisch gegen den Oberarm, konnte aber nicht umhin, zu lachen. Irgendwo war die Begeisterung unserer Eltern ja niedlich, wenn auch leider nicht befriedigend. Sie hätten es mir niemals gesagt, wenn sie meine Schauspielleistung grauenhaft gefunden hätten. Greg hingegen konnte geradezu verletzend aufrichtig sein, wenn man ihn nach seiner Meinung fragte. Langsam trat ich ein wenig näher an ihn heran und blickte ein bisschen unsicher und verlegen zu ihm auf. „Sei ehrlich: Wie fandest du’s?“ Gregs Kehlkopf hüpfte lustig auf und ab, als er hart schluckte und zu Boden sah. Bildete ich mir das nur ein oder schwitzte er tatsächlich selbst in der klimatisierten Aula? Generell sah er ein wenig krank aus, so blass... Besorgt warf ich die Stirn in Falten, doch da atmete er schon tief durch und sah mir wieder direkt in die Augen. „Ich fand es okay. Du bist jetzt keine zweite Elizabeth Taylor, aber auch nicht schlecht. Mit ein wenig Übung und Training könnte vielleicht sogar etwas aus dir werden.“ Während er sprach, lehnte er sich kaum merklich nach hinten und machte einen zögerlichen Schritt zurück. Fing das schon wieder an? „Greg, was hast du?“ Vorsichtig streckte ich meinen Arm nach ihm aus, doch er zuckte vor meiner Hand zurück, als hätte ich ihn ohrfeigen wollen. Ein panisches Glänzen hatte sich in seine Augen mit dem rotbraunen Retinaring geschlichen und er blickte sich nervös nach unseren Eltern um, die in ein Gespräch mit anderen Erwachsenen vertieft waren. Ein dicker Schweißtropfen rollte langsam über seine linke Schläfe, als er sich ruckartig umwandte. Er nuschelte noch ein schnelles „Muss mal kurz an die frische Luft.“, verschwand in der Menschenmenge und ließ mich besorgt und ratlos zurück. Was war nur in ihn gefahren? Kapitel 5: Gregor ----------------- Wenn Mutter noch ein wenig mehr zudrücken würde, würde sie Mel noch zerquetschen. Mein armes Schwesterherz sah jetzt schon überfordert aus. Spätestens als auch noch Paps seinen überquellenden Stolz zum Ausdruck brachte, wirkte Mel vollkommen entnervt. Sie hatte nie gut mit Komplimenten oder Bewunderung umgehen können. Ich hielt mich vorsichtshalber zurück, bevor sie merkte, dass ich mindestens genauso begeistert war wie unsere Eltern. Mel auf der Leinwand zu sehen, war ein komisches Gefühl gewesen – vor allem, weil sie ihre Rolle mit einer solchen natürlichen Selbstverständlichkeit gespielt hatte, als hätte sie nie etwas anderes getan als geschauspielert. Der Film hatte mir eine völlig neue Seite meiner Schwester gezeigt, die ich noch gar nicht gekannt hatte. Irgendwie hatte sie auf der Leinwand erwachsener gewirkt, fraulicher. Innerlich zuckte ich bei dem Gedanken ein wenig zusammen. Fraulicher? Mel war noch ein halbes Kind und außerdem meine Schwester. Wieso fiel mir jetzt plötzlich auf, dass sie erste Ansätze einer weiblichen Brust und unverschämt sinnliche Lippen hatte? Als sie sich zu mir umwandte, schob ich diese Überlegungen schnell beiseite. Vermutlich hatte es sowieso nur an der Kameraführung gelegen. Man sollte einfach keinen pubertären Jungs eine Kamera an die Hand geben. Wobei... Vielleicht sollte man generell keinem Mann eine Kamera an die Hand geben, wenn eine hübsche Frau in der Nähe war. Auch im Fernsehen konnte man immer wieder beobachten, dass das Dekollete einer Frau manchmal mehr gefilmt wurde als ihr Gesicht. Bei dem Gedanken daran stahl sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht, das Mel fälschlicherweise auf sich bezog. Sofort verengte sie ihre Augen zu Schlitzen und schleuderte mir grünes Gift entgegen. „Na, Hauptsache, du hast deinen Spaß.“ Ich streifte ihren Zorn mit einem Schulterzucken ab und fühlte wie sich meine Mundwinkel noch weiter nach oben schoben. Mel war so niedlich, wenn sie wütend war. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste sie ein wenig necken, obwohl ich wusste, wie unangenehm ihr die schier endlose Begeisterung unserer Eltern war: „Vielleicht solltest du schon mal dein Regal aufräumen, damit du Platz für den Plastik-Oskar hast, den Mutter und Paps dir garantiert schenken.“ Das zornige Funkeln in ihren Augen wurde noch eine Spur intensiver und sie presste ihre Lippen zusammen. Jedem anderen hätte sie vielleicht weismachen können, dass sie ernsthaft sauer war, doch mich konnte sie nicht täuschen, dafür kannte ich sie einfach zu gut. Ich musste nicht einmal mehr besonders konzentriert hin sehen, um das Zucken zu entdecken, das ihre Mundwinkel umspielte, bevor Mel dann endlich in Lachen ausbrach. Fasziniert stellte ich fest, dass ihre moosgrünen Augen eine Spur heller zu werden schienen, während sie so losgelöst kicherte. Auf einmal ging sie jedoch noch ein paar Schritte mehr auf mich zu. Sie stand jetzt so nah, dass mir der fruchtige Duft ihres Parfums in die Nase stieg. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, welches der vielen kleinen Fläschchen im Bad sie wohl benutzt haben mochte, doch dann öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen. Und plötzlich war der ominöse, verschollen geglaubte Gedanke von jener Nacht vor ein paar Wochen wieder da. Küss sie. Eiseskälte breitete sich in meinem Körper aus, während ich im Schneckentempo begriff, was ich da gedacht hatte. Küss sie. Sofort hatte ich ein Bild vor Augen, wie ich meine Lippen auf ihre legte, ihren zierlichen Körper näher an mich zog... Genug! Schluss jetzt! Was zum Teufel war mit mir los? Mel war meine Schwester! Küss sie. Heftige Übelkeit ließ meinen Magen krampfen und mir brach der kalte Schweiß aus. So schnell ich konnte, riss ich meinen Blick von ihren Lippen los und starrte auf den Boden. Ich spürte wie sich bittersaurer Gallensaft meine Kehle hoch drückte und musste heftig schlucken, um mich nicht sofort zu erbrechen. Was zur Hölle war nur mit mir los? Wurde ich jetzt vollkommen verrückt? Wie konnte ich so etwas Ekelhaftes nur denken? Wie konnte ich es mir vorstellen? Das Schlimmste von allem war, dass ich den Gedanken gar nicht so abstoßend gefunden hatte, als er mich durchzuckt hatte. Im Gegenteil... Wenn ich ehrlich war, hatte ich nur ein aufgeregtes Kribbeln gespürt, als ich den Kuss vor meinem geistigen Auge gesehen hatte. Krank, krank, krank! Während ich verzweifelt um Fassung rang, spürte ich Mels Blick wie Feuer auf mir, fühlte die Sorge in ihren Augen. „Du wirst jetzt einmal tief durchatmen und dann vergisst du diesen Blödsinn sofort wieder. Mel ist deine Schwester. Deine Schwester!“, bläute ich mir selbst ein, während ich vergeblich darauf wartete, dass sich mein wilder Herzschlag wieder normalisierte. „Ich fand es okay. Du bist jetzt keine zweite Elizabeth Taylor, aber auch nicht schlecht. Mit ein wenig Übung und Training könnte vielleicht sogar etwas aus dir werden.“ Während ich sprach, wich ich unbewusst vor Mel zurück, so als würde körperliche Distanz irgendwie helfen. Ich wollte plötzlich einfach nur noch nach Hause und mich in meinem Zimmer verkriechen. Meine Schwester sah mich besorgt an und versuchte, mich am Arm zu berühren. „Greg, was hast du?“ Augenblicklich durchzuckten Bilder meinen Geist, wie ich ihre Hand packte, sie an mich zog und küsste. Nein! Ich musste hier raus. Weg von ihr. Schnell suchte ich mit den Augen nach unseren Eltern, in der Hoffnung, dass sie aufbruchsbereit waren. Doch zu meiner Enttäuschung waren sie tief in ein Gespräch versunken, was bedeutete, dass es noch Stunden dauern konnte, bis wir nach Hause fahren würden. „Muss mal kurz an die frische Luft.“ Ich presste die Worte atemlos zwischen den Zähnen hervor und hastete Richtung Ausgang, noch bevor Mel auch nur die Chance zu einer Antwort hatte. Draußen war es noch immer drückend schwül und ein fernes Grummeln kündigte ein baldiges Gewitter an. Ich ließ mich auf eine der vielen Holzbänke nieder und fühlte mich augenblicklich vollkommen kraftlos. Eigentlich war es ein Wunder, dass ich es auf meinen wackeligen Beinen bis zur Bank geschafft hatte. Müde ließ ich die Arme hängen, legte den Kopf in den Nacken und starrte zum Himmel hinauf. Obwohl die vielen leuchtenden und glitzernden Sterne sicherlich ein wunderschöner Anblick waren, nahm ich sie kaum wahr. Alles was ich sah, waren Mels Augen, die stets wie zwei geschliffene Smaragde funkelten. Irgendwo hatte ich gelesen, dass sich die Farben der Edelsteine je nach Schürfungsgebiet ein wenig unterschieden. Ich wusste nicht, welche Smaragdart Mels Augen am nächsten kam, aber das spielte auch gar keine Rolle. Mein Herz schlug noch immer so heftig, dass ich ein wenig Angst hatte, von Ohnmacht überwältigt zu werden. Ich atmete mehrfach tief durch und versuchte, meine Panik niederzukämpfen. Doch wie sollte man ruhig bleiben, wenn man gerade einen Tagtraum gehabt hatte, in dem man seine eigene Schwester geküsst und es auch noch genossen hatte? Hatte mein Körper deswegen in den letzten Wochen so merkwürdig auf Mels Anwesenheit reagiert, weil er bereits wusste, was der Geist nicht hatte begreifen wollen? Dass ich meine eigene Schwester begehrte? Wenn ich darüber nachdachte, stimmten die Symptome durchaus mit den Erfahrungsberichten von manchen meiner Freunde zusammen, die schon einmal richtig verliebt gewesen waren. In diese Richtung hatte ich bisher noch nie gedacht. Hatte ich mich in meine eigene Schwester verliebt? Ich schüttelte den Kopf. Das war doch Quatsch! Für all das hier gab es bestimmt eine vollkommen harmlose Erklärung. Ich war momentan einfach empfindlich, weil ich noch immer nicht den Verlust meines besten Freundes verwunden hatte und reagierte deswegen merkwürdig auf zwischenmenschliche Nähe. Und diese fixe Idee mit dem Kuss war bestimmt auf den Film zurückzuführen. Ich hatte nicht an Mel gedacht, sondern an ihre Rolle Jennifer. Ja, bestimmt. So war es gewesen. Ganz sicher... Doch während sich mein Herzschlag langsam beruhigte, nagte an mir die Gewissheit, dass ich mich selbst belog. Kapitel 6: Melanie ------------------ Ich beobachtete Greg über den Rand meines Löffels hinweg, bevor ich mir meine Frühstücksflakes in den Mund schob. Seit gestern Abend war er noch merkwürdiger als in den letzten Wochen. Er vermied jede Situation, in der ich mit ihm hätte allein sein können, und zuckte vor meinen Berührungen zurück, als ob ich ihn verbrennen würde. Auch jetzt saß er mir schräg gegenüber am Kopfende unseres Küchentischs und schien ins Nichts zu starren. Man konnte das Gefühl gewinnen, Greg würde seit dem vergangenen Abend in seiner eigenen Welt leben. Er schien kaum etwas von dem, was um ihn herum passierte, mitzubekommen. Er war regelrecht autistisch. Hilfesuchend warf ich einen Blick auf meine Mutter, die Greg mit ebenso sorgenvoller Miene musterte wie ich selbst. Was auch immer passiert sein mochte, es hatte meinen Bruder bis in seine Grundfeste erschüttert. Seit er aus der Aula gerannt war, hatte er kein Wort mehr gesprochen. Stattdessen hatte er reglos im strömenden Regen auf einer Holzbank gesessen, als wir ihn gefunden hatten. Sein Verhalten machte mir allmählich ernsthafte Angst und ich nahm mir vor, ihn spätestens am nächsten Tag zur Rede zu stellen. Warum ich das nicht gleich tat, konnte ich nicht sagen. Vielleicht hatte ich Furcht vor dem, was er mir hätte sagen können. Ich konnte mir einfach nichts vorstellen, das sein merkwürdiges Benehmen erklärt hätte. „Gregor, bist du sicher, dass du nicht frühstücken möchtest?“ In Mamas Stimme waren die stummen Tränen, die ihr über die Wangen liefen, deutlich zu hören, doch Greg blickte weiterhin dumpf an ihr vorbei ins Nirgendwo. Ich hatte das Gefühl, jemand würde mir mit einem dünnen Draht den Brustkorb abschnüren. „Gregor? Gregor, sieh mich an, bitte...“ Mama ballte immer wieder ihre schmalen Hände zu Fäusten. Offenbar fiel es ihr sehr schwer, meinen Bruder nicht zu nehmen und zu schütteln, damit er endlich irgendwie reagierte. Ganz, ganz langsam ließ Greg seinen Blick hoch ins Gesicht unserer Mutter wandern. Für einen kurzen Moment machte mein Herz einen kleinen Freudenhüpfer, doch dann sah ich, dass der stumpfe, irgendwie tieftraurige Ausdruck in seinen Augen geblieben war. „Was hat Papa eigentlich zu seinem Zustand gesagt?“ Als mir bewusst wurde, dass ich über meinen Bruder sprach, als wäre er gar nicht anwesend, lief mir ein Schauer über den Rücken. Aber eigentlich war er ja auch gar nicht wirklich da... Mama zuckte die Schultern und seufzte schwer. „Nur, dass es keine körperlichen Ursachen hat. Und du weißt wirklich nichts?“ Sofort schossen mir heiße Tränen in die Augen, als ich den Kopf schüttelte. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nichts wusste. Was hatte ich gestern Abend übersehen? Hielt ich den Schlüssel zu Gregs offenbar vollkommen tauben Geist in den Händen und merkte es einfach nicht? Hätte ich irgendetwas anders machen können? War es womöglich meine Schuld, dass er jetzt so war? Schluchzend wandte ich mich wieder meinem Bruder zu, der in diesem Moment von seinem Stuhl aufstand und wortlos Richtung Haustür schlurfte. Irgendwie wirkte er müde und ausgelaugt. „Moment mal. Wo willst du hin, junger Mann?“ Mama klang beinah zornig, dass er sich anscheinend ihrer schützenden Hand entziehen wollte. Wie in Zeitlupe wandte Greg seinen langen, schlaksigen Körper und mir fielen zum ersten Mal an diesem Morgen die dunklen Ringe unter seinen Augen auf. Offenbar hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Was war nur mit ihm los? Er wirkte wie ein Zombie. Mein Bruder, die lebende Leiche... Gruselig. „Constantin.“ Es war nur ein einziges Wort, doch trotzdem freute ich mich irrsinnig, seine leicht krächzende Stimme zu hören. Doch dann bemerkte ich dieses eigenartige Schimmern in Gregs Augen, das langsam durch die dumpfe Taubheit brach. Verachtung... Aber für wen? Für Mama? Für mich? „Ich hätte es lieber, wenn du hier bliebest, Gregor.“ Ja, Mama war definitiv verärgert. Ich fragte mich, was für einen Grund sie hinter seinem Verhalten vermutete. Ob sie mir auch die Schuld gab, so wie ich selbst? Mein Bruder zuckte einfach nur gelangweilt mit den Schultern und drehte sich wieder um. Bevor Mama angesichts dieses offensichtlichen Ungehorsams ihre Fassung wiedererlangt hatte, fiel die Haustür auch schon krachend ins Schloss. Ich sah ein wenig ängstlich zu meiner Mutter hinauf und rechnete beinah damit, dass sie mich noch einmal löchern würde, was am Abend passiert war, doch sie schüttelte nur stumm den Kopf und wischte sich ein paar Tränen von der Wange. Bevor sie sich zu dem Küchenfenster umwandte, murmelte sie ein leises: „Was ist nur mit dem Jungen los?“ Ich fühlte mich plötzlich sehr alleine. Kapitel 7: Gregor ----------------- Die Sommersonne schien mit langen, goldenen Strahlen aus einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel hinab. Obwohl es noch relativ früher Vormittag war, waren es bereits wohligwarme 22°C. Alles deutete darauf hin, dass heute ein weiterer heißer Bilderbuchsommertag werden würde, doch ich nahm davon so gut wie gar nichts wahr. Für mich war die Welt seit einigen Stunden ein einziger langgezogener, dunkler Schacht, aus dem es kein Entrinnen gab. Ich war gefangen, ohne Aussicht auf Rettung. Gefangen in meiner eigenen Hölle, in meinem höchstpersönlich eigenen Fluch. An der nächsten Kreuzung blieb ich kurz stehen und überlegte, welche Richtung ich als nächstes einschlagen sollte. Ich hatte meiner Mutter zwar gesagt, ich wolle zu meinem Freund Constantin, hatte aber nicht vor, wirklich dort aufzutauchen. Mir war klar, dass Mutter nach meinem Verhalten während des Frühstücks bei meinem Kumpel anrufen würde, doch das war mir ziemlich egal. Genau wie die Tatsache, dass ich höllischen Ärger bekommen würde, sobald ich wieder zu Hause wäre. Rechts von mir lag die nächste Bushaltestelle, von der aus ich in die Stadt hätte fahren können. Da meine Schule dort lag und meine Monatskarte noch nicht abgelaufen war, hätte ich nicht einmal etwas für die Fahrt bezahlen müssen. Trotzdem bog ich nach kurzem Zögern nach links ab. Ich wollte möglichst wenig Menschen begegnen. Die Straße, der ich nun folgte, führte eigentlich mitten ins Nirgendwo. Sie schlängelte sich an weiten Feldern, auf denen nun goldene Gersteozeane sachte im Wind hin und her wogten, vorbei, über eine Autobahnbrücke, hinein ins nächste Industriegebiet. Seit der momentan vorherrschende wirtschaftliche Abschwung jedoch auch unsere Stadt erreicht hatte, standen die meisten Fabriken und Büros hier nun leer. Bereits von Weitem wurde man hier von der Aura einer Geisterstadt umweht. Warum es mich nun ausgerechnet hierher zog, wusste ich selbst nicht. Vielleicht weil die verlassenen Gebäude eine ähnliche Trostlosigkeit ausstrahlten wie die, die ich tief in mir empfand. Auf der Autobahnbrücke blieb ich erneut stehen und blickte in die Tiefe. Unter mir rauschten unzählige Autos und etwas behäbig wirkende Lkws über den Asphalt. Vorsichtig lehnte ich mich ein wenig weiter über das Geländer. Selbst ohne die Blechlawinen die sich über die Autobahn wälzten, hätte man einen Sturz von der Brücke vermutlich nicht überlebt. Dafür war es einfach zu hoch und die asphaltierte Straße zu hart. Ich stützte die Ellbogen auf das schmutzige, von der Sonne unbarmherzig aufgeheizte Blechgeländer und ließ meine Gedanken vom Wind treiben. Mel... Ich hatte ihren verwirrten, verletzten Blick während des Frühstücks deutlich auf mir gespürt, doch ich war einfach nicht in der Lage gewesen, sie anzusehen. Zu groß war die Angst vor dieser aufdringlichen inneren Stimme gewesen, die mir immer wieder einflüsterte, ich solle meine Schwester küssen... oder Schlimmeres. Ich rieb mir über die Augen und gähnte. Ich war unglaublich müde. Die wenigen Stunden, die ich in der vergangenen Nacht geschlafen hatte, waren erfüllt gewesen von wirren Träumen, in denen ich unaussprechliche Dinge mit meiner Schwester getan hatte. Ich wagte kaum, daran zu denken... In diesen Träumen, die eigentlich nur aus einer Aneinanderreihung unzusammenhängender Bilder bestanden hatten, hatte ich wieder und wieder mit Mel geschlafen. Auf dem Bett, in der Dusche, auf dem Küchentisch. So viel zu meiner selbst ersponnen Theorie, dass ich definitiv kein bisschen in meine Schwester verliebt war... Mit den Augen verfolgte ich einen dunkel gefiederten Vogel, der über einem Feld in der Nähe seine Kreise zog. Vermutlich ein Mäusebussard, der auf der Suche nach Nahrung war. Sofort beneidete ich ihn um seine Fähigkeit, fliegen zu können. Fliegen musste etwas von unbegrenzter Freiheit haben. Ich wäre froh gewesen, wenn ich einfach meine Arme hätte ausbreiten müssen, um davonzufliegen. Ich widerte mich selbst dermaßen an, dass ich die Gegenwart meiner Familie kaum ertrug. Sie alle liebten mich so bedingungslos, dass ich mich meiner unnatürlichen Gefühle noch mehr schämte. Wie konnte man nur seine eigene Schwester begehren? Abgesehen davon, dass Mel mit mir verwandt war, war sie außerdem auch noch ein halbes Kind. Ein Schauer des Ekels vor mir selbst rieselte mir den Rücken hinab. Inzestuös und pädophil, sympathische Mischung... Ich dachte an meine Familie und daran, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie je herausfände, was wirklich mit mir los war. Dass ich feuchte Träume über meine kleine Schwester hatte... Komischerweise fürchtete ich mich vor der Reaktion meiner Mutter am meisten, obwohl ich das schlechteste Verhältnis zu ihr hatte. Paps und Mel würden trotz allem nach positiven Eigenschaften an mir suchen. Mutter hingegen würde mich als das sehen, was ich war: Ein abnormales Monstrum. Wieder warf ich einen Blick über das Brückengeländer, als sich mir ein Gedanke aufdrängte. Eigentlich... Eigentlich müsste ich nur einmal kurz meinen ganzen Mut zusammennehmen, über das Geländer klettern und mich fallen lassen. Dann hätten all der Selbsthass und diese widerlichen Phantasien ein Ende. Nur eine kleine Bewegung der Finger... Verstohlen sah ich mich um. Außer mir war weit und breit niemand auf der Straße. Es war keiner da, der mich hätte aufhalten können. Kalter Schweiß lief mir in breiten Bahnen über den Rücken und klebte mir mein altes, verwaschen blaues T-Shirt auf die Haut. Mit weichen Knien und zitternden Gliedern schwang ich mich über das Geländer, gerade als ein Lkw unter mir entlang donnerte. Hatte ich mir das nur eingebildet oder hatte mich der Fahrer tatsächlich entsetzt angesehen? Ich stemmte die Füße gegen die Brücke und ließ mich vorsichtig nach vorne kippen, bis ich an langen Armen über der Autobahn schwebte wie eine Galionsfigur. Jetzt brauchte ich nur noch los lassen und alles wäre vorbei. Ein Rettungswagen mit Blaulicht brauste vorbei und sein Fahrtwind schnitt mir scharf ins Gesicht. Während ich die vielen Autos unter mir beobachtete, wurde mir endlich bewusst, wie bescheuert meine Idee eigentlich war. Mit einem Sprung von einer Autobahnbrücke, würde ich nicht nur mich selbst, sondern womöglich auch noch unschuldige Personen umbringen. Schnell kletterte ich wieder auf die sichere Seite, bevor ich noch aus Versehen abrutschte. Sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, knickten meine Knie sofort ein und ich sank zitternd am Geländer hinab. Hatte ich nur deswegen nicht los gelassen, weil ich niemanden in meine Selbstzerstörungswut mit rein ziehen wollte, weil ich im letzten Augenblick doch noch an das Leid hatte denken müssen, dass ich über meine Familie gebracht hätte? Oder war ich einfach nur zu feige gewesen, weil ich trotz allem immer noch irgendwie am Leben hing? Vermutlich war es eine Mischung aus allen drei Gründen. Mühsam quälte ich mich wieder auf die Füße und trottete weiter in Richtung Industriegebiet. Ich wollte mich irgendwo verkriechen, mich selbst hassen und am liebsten nie wieder raus kommen. Kapitel 8: Melanie ------------------ Mama lief rastlos im Wohnzimmer auf und ab, während Papa wie zu Stein erstarrt in seinem Sessel saß und das Telefon anstarrte. Es wirkte fast, als wollte er es durch pure Willenskraft dazu bringen, zu klingeln. Ich zog meine dunkelrote Kuscheldecke enger um mich, denn trotz der sommerlichen Temperaturen draußen war mir kalt. Dann warf ich wieder einen Blick auf die Uhr und seufzte. Es war inzwischen zwei Uhr in der Früh, doch Greg war noch immer nicht wieder aufgetaucht. Er ging nicht einmal an sein Handy. Es schien als sei er seit dem Frühstück vom Erdboden verschluckt. „Und ich finde, wir sollten doch die Polizei anrufen, Paul.“ Mama verschränkte die Arme über ihrem zartrosa Bademantel und sah meinen Vater aus großen, flehenden Augen an. Doch dieser schüttelte nur den Kopf und hypnotisierte weiter das Telefon. Als er sprach, klang seine Stimme beherrscht, aber irgendwie weit weg. „Der Junge taucht schon wieder auf, Margarethe. Hab ein bisschen Vertrauen zu ihm.“ „Vertrauen? Nach seinem sonderbaren Verhalten heute Morgen, nein, in den letzten Wochen? Nachdem er mich angelogen hat?!“ Mama war geradezu hysterisch, doch ich konnte sie gut verstehen. Ich machte mir auch große Sorgen um meinen Bruder und flehte ihn stumm an, endlich wieder aufzutauchen. Wo zum Teufel konnte er nur stecken? Trotz seines merkwürdigen Benehmens beim Frühstück war ich aus allen Wolken gefallen, als ich erfahren hatte, dass er nie bei seinem Freund Constantin angekommen war. Ich hätte niemals gedacht, dass er Geheimnisse vor uns hatte. Kleine, ja, die hatte jeder. Aber Große, für die man seine Familie belügen musste? Das hatte ich ihm niemals zugetraut. Andererseits war er in der letzten Zeit eh nicht wirklich er selbst gewesen... Wieder einmal fragte ich mich, was mit ihm los war. Was hatte ich übersehen, dass ihn mir so fremd gemacht hatte? Ich war immer davon überzeugt gewesen, trotz des Altersunterschieds und der normalen Zankereien unter Geschwistern seine erste Vertrauensperson zu sein, diejenige, der er alles erzählte. Es tat unglaublich weh, sich so getäuscht zu haben. „Wenn du es nicht machst, ruf ich jetzt die Polizei an. Ist mir völlig egal, ob du Gregor noch Zeit geben willst!“ Mama war inzwischen fuchsteufelswild und durchbohrte Papa, der noch immer keine Anstalten machte, sich zu rühren, mit giftigen Blicken. Gerade als sie die Hand auf den Hörer legte, drehte jemand einen Schlüssel im Haustürschloss. Fast simultan seufzten wir alle erleichtert auf, doch sofort stieg Mama die Zornesröte ins Gesicht. „Na warte... Der Bengel kann was erleben!“ Papa versuchte, sie zu beschwichtigen und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Margarethe, er ist fast erwachsen...“ Mama warf ihm einen wütenden Blick zu und wollte gerade etwas entgegnen, als Greg ins Zimmer geschlurft kam. Er sah fürchterlich mitgenommen aus. Seine Augen waren leicht zugequollen und gerötet, so als hätte er lange und heftig geweint, seine Lippen waren aufgebissen und blutig, sein Haar stumpf und seine Gesicht kalkweiß. Bei diesem Anblick ballte sich mein Magen zu einem kleinen, harten Ball zusammen. Was in drei Teufels Namen war nur mit ihm los? Sogar Mama, die kurz zuvor noch fürchterlich getobt hatte, verstummte, als sie Greg erblickte, und erbleichte. Papa warf die Stirn in Falten und betrachtete seinen Sohn mit kritischen Blicken. Offenbar hatte er noch immer versucht, daran zu glauben, Greg hätte eine heimliche Freundin oder so. „Hey Leute. Tut mir leid, dass ihr euch Sorgen um mich gemacht habt. Aber ich wäre euch echt dankbar, wenn wir die Standpauke auf morgen verschieben könnten. Ich bin hundemüde.“ Seine Stimme klang so brüchig wie dünner Schiefer. Wir alle starrten ihn aus großen, ungläubigen Augen an, in denen die Sorgen der vergangenen Stunden deutlich geschrieben standen, doch Greg drehte sich einfach um und verschwand im Flur. Mama erwachte als Erste wieder aus ihrer Lähmung und eilte ihm laut brüllend hinterher, während Papa und ich uns hilf- und ratlos ansahen. Von oben drang gedämpft das Donnern von wildem Klopfen und Mamas schrille Stimme, die immer wieder „Gregor, mach auf, verdammt noch mal!“ rief. Erneut standen mir Tränen in den Augen, zum zweiten Mal an diesem Tag. Greg hatte mich nicht eines Blickes gewürdigt. Warum nur mied er mich so? Das heißt, eigentlich ging er nicht nur mir aus dem Weg, sondern der ganzen Familie. Trotzdem fühlte ich mich wie eine Aussätzige behandelt. Warum redete er einfach nicht mit mir darüber, was ihn bedrückte? Ich nahm mir erneut vor, ihn am nächsten Tag zur Rede zu stellen. Kapitel 9: Gregor ----------------- Als ich am Nachmittag erwachte, war es seltsam dunkel im Raum. Ich warf die blaugemusterte Bettdecke zur Seite und setzte mich langsam auf. Jeder Muskel meines Körpers brannte und schmerzte, so als hätte ich mehrere Stunden Hochleistungssport hinter mir. Anscheinend war es für einen Körper fast genauso anstrengend, wenn sein Besitzer sich aus vollem Herzen hasste und verabscheute wie Leichtathletik. Merkwürdige Sache. Müde schleppte ich mich zum Fenster und warf einen Blick auf unseren Garten, wo einige trockene Blätter, die wegen des Wassermangels von den Bäumen gefallen waren, von einem böigen Wind hin und her getrieben wurden. Dicke, schwarze Wolken jagten über den Himmel und versperrten die Sonne. Trotz des aufkommenden Gewitters zog ich mich schnell an, stürmte ins Bad und schlich mich anschließend aus dem Haus, ohne dass Mel und Mutter mich bemerkten. Ich hatte einfach keine Lust auf ihre anklagenden, sorgenvollen Blicke und den Ärger, der mir noch bevor stand. Ich zog es vor, mir meine Standpauke abzuholen, wenn Paps wieder da war. Irgendwie schaffte er es, auch in solchen Momenten Ruhe in die Situation zu bringen. Während die ersten Regentropfen auf den warmen Asphalt klatschten, zog es mich unaufhaltsam wieder Richtung Industriegebiet. Dort konnte ich alleine sein und nachdenken. Schließlich konnte es so nicht weiter gehen. Ich konnte nicht für den Rest meines Lebens meiner Schwester aus dem Weg gehen. Dafür liebte sie mich viel zu sehr. Ich wollte ihr nicht wehtun. Doch ich konnte auch nicht länger in ihrer Nähe bleiben. Als ich in der Nacht nach Hause gekommen war, hatte ich Mels Präsenz auf dem Sofa deutlich gespürt, obwohl ich mir große Mühe gegeben hatte, sie nicht anzusehen. Es war so gewesen als hätte jemand neben mir ein großes Feuer angezündet, das mir die ganze rechte Körperhälfte verbrannt hatte. Und zu allem Überfluss hatte ich auch noch die ganze Zeit über diese Stimme im Ohr: Geh zu ihr. Nimm sie in den Arm. Küss sie. Ein eisiger Schauer des Selbstekels kroch mir über den Rücken und mir wurde ein wenig übel, während ich mich zwischen den hohen, verfallen aussehenden Backsteingebäuden einer alten Fabrik hindurch drückte. Mit ihren leeren, hohen Fenster, die wie unendlich tiefe, schwarze Schlunde anmuteten, fühlte ich mich irgendwie von ihnen verstanden und beschützt. Augenscheinlich wurde ich allmählich verrückt. Ich suchte mir wieder den Platz, den ich auf meinem Streifzug am letzten Tag gefunden hatte. Er lag gut versteckt hinter einem wild wuchernden Brombeerstrauch und war auf drei Seiten von hohen Mauern umschlossen. Selbst wenn außer mir noch ein Mensch hier herum laufen würde, würde mich dort so schnell niemand entdecken. Ich rutschte im immer stärker werdenden Regen an den warmen Steinen entlang auf den Boden, lehnte den Kopf auf meine angezogenen Knie und starrte vor mich hin. Ich hatte das Gefühl, dass die ganze Sache mehr und mehr außer Kontrolle geriet. Es war, als wäre an dem Abend der Filmvorführung mein Schutzpanzer, der in dieser einen Nacht vor inzwischen fast vier Wochen erste Risse bekommen hatte, vollständig von mir abgefallen. Nun konnten all die Gedanken und Gefühle, die ich vermutlich immer schon in mir gehabt hatte, ungehindert durch mein Bewusstsein wirbeln und mir das Leben zur Hölle machen. Ich war verflucht. Für einen kurzen Moment musste ich grinsen. Hatte man es nicht im Mittelalter immer auf die Anwesenheit einer Hexe geschoben, wenn zwei Menschen bei inzestuösen Handlungen ertappt worden waren? Ja, vermutlich hatte man das bedauernswerte Mädchen der Hexerei bezichtigt und verbrannt, während sein männlicher Verwandter als armes Opfer ungeschoren davon gekommen war. Mel eine Hexe? Manchmal konnte sie definitiv eine sein, aber nein, ich gab lieber mir selbst die Schuld. Ich war derjenige, der diese Gedanken hatte. Ich war derjenige, der ganz eindeutig krank im Kopf war. Es musste eine Lösung her und zwar schnell. Aber wie sollte eine solche aussehen? Betrachtete man den Anteil der rückfälligen Pädophilen, schien der Erfolg einer Therapie bei einer verqueren Sexualität doch mehr als fraglich. Außerdem drehte sich mir der Magen um, wenn ich daran dachte, jemandem davon erzählen zu müssen, dass ich nachts von Sex mit meiner kleinen Schwester träumte. Das war schon abstoßend genug, ohne dass ich es aussprach. Und wenn ich einfach von zu Hause fort lief? Irgendwohin, wo mich niemand kannte, wo ich Mel nie, nie wieder begegnen würde? Mit einem tiefen, kehligen Seufzen gestand ich mir ein, dass das auch keine Lösung war. Wenn ich einfach verschwinden würde, würde das meiner Familie – allen voran Mel – das Herz zerreißen. Außerdem würde besonders Paps niemals Ruhe geben. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, bis er mich gefunden hätte. Ich lehnte den Kopf gegen die kalte, raue Wand aus roten Ziegeln. Der Regen, der sich inzwischen in Strömen aus den Wolken ergoss, rann in einem nicht enden wollenden Bach meinen Rücken entlang, während meine völlig durchnässten Kleider an meinem Körper klebten. Plötzlich musste ich heftig gähnen. Ich fühlte mich so müde, völlig ausgebrannt, leer... Eine Windböe drückte sich in mein Versteck und ließ mich frösteln. Plötzlich war mir eiskalt... Mein Körper schien gar nicht mehr mit dem Zittern aufhören zu wollen. Vielleicht sollte ich einfach zurück nach Hause gehen und mich in mein warmes Zimmer verkriechen. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Inzwischen wäre sogar mein Vater wieder daheim. Vielleicht sollte ich einfach heimkehren und mit Paps über alles reden. Ich war mir sicher, er würde es zwar nicht verstehen, aber er würde mich auch nicht verurteilen. Vermutlich würde er mich damit beruhigen, dass ich ja nichts für die merkwürdige Synapsenbildung in meinem Hirn könne. Als ob das ein Trost wäre... Warum konnte ich nicht einfach aufhören zu existieren? Mich einfach auflösen? Dass ich für Selbstmord zu feige war, hatte ich mir am vergangenen Tag ja hinreichend bewiesen. Wieso konnte das Schicksal nicht so gnädig sein und mir einen Meteor auf den Kopf fallen lassen oder so? Ein gleißender Blitz erhellte den tiefschwarzen Himmel für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er von einem krachenden Donnergrollen abgelöst wurde. Ein Seufzer entstieg meiner Brust und mein Kopf sackte schlaff zur Seite. Ja, ich musste mich endlich aufraffen und nach Hause gehen. Ich konnte nicht einfach aufhören, zu existieren. Es gab Menschen, die mich trotz allem liebten und die sich auf mich verließen. Die ich mit meinem momentanen Verhalten tief verletzte und enttäuschte. Ich war nicht allein auf dieser Welt, auch wenn ich mich momentan so fühlte. Ich musste endlich mit meiner Familie oder zumindest mit meinen Eltern reden und nach einer Lösung suchen, anstatt mich zu verkriechen und mich selbst zu bedauern. Dadurch änderte sich schließlich gar nichts. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend hievte ich mich wieder auf die Füße. Ich war inzwischen vollkommen durchnässt und Kleidung und Haare klebten mir unangenehm am Körper. Während des Fußmarschs nach Hause würde mir der nasse Stoff bestimmt die Haut aufscheuern. Na ja, geschah mir ganz recht. Was verkroch ich mich auch wie ein streunender Hund an so einem Ort? Ich atmete noch einmal tief durch und machte mich dann auf den Heimweg. Mein Herz raste und trommelte, so als wollte es sein Gefängnis aus Knochen und Fleisch sprengen. Mir war klar, dass ich alles auf eine Karte setzte. In nur wenigen Stunden könnte ich meine ganze Familie verlieren, weil sie sich vor mir ekeln und mit einem abnormalen Monstrum wie mir nichts mehr zu tun haben wollen würde. Aber dann könnte ich wenigstens gehen, diesem Albtraum aus Lust und Scham entfliehen, irgendwo neu anfangen. Egal, wie das Gespräch mit meinen Eltern ausgehen würde, es wäre eine Erleichterung. Und vielleicht gab es ja auch einen Weg raus aus meinem Elternhaus, bei dem Mutter und Paps nicht die volle Wahrheit erfahren müssten. Während ich durch den prasselnden Regen stapfte, arbeitete mein Verstand fieberhaft an einem Plan. Kapitel 10: Melanie ------------------- Ich saß auf Gregs altem, ausgesessenem Schreibtischstuhl mitten im Raum und sah mich in seinem Zimmer um. Das Bett war nicht gemacht und das zerwühlte Laken sah aus, als hätte mein Bruder eine unruhige Nacht hinter sich. Die fast bodenlangen, schwarzen Vorhänge aus dickem, steifem Stoff waren jedoch ordentlich zur Seite geschoben. Auch Gregs Kleidung befand sich noch immer in seinem Schrank und war – so weit ich das beurteilen konnte – vollzählig. Alles in allem wirkte es nicht, als wäre mein Bruder abgehauen und doch hatte er sich irgendwann aus dem Haus geschlichen, ohne dass Mama oder ich etwas bemerkt hatten. So etwas sah ihm gar nicht ähnlich. Mama war fuchsteufelswild gewesen und hatte sogar Papa aus dem Krankenhaus kommen lassen. Nur mit Mühe und Not hatte dieser sie davon abhalten können, gleich los zu stürmen und nach Greg zu suchen. Irgendwie hatte ich dabei ein ungutes Gefühl. Sicher, mein Bruder wurde bald volljährig und konnte dann sowieso tun und lassen, was er wollte... Aber trotzdem konnte ich Mamas Sorgen besser verstehen als Papas stoische Ruhe. Hatte er denn gar keine Angst um seinen Sohn? Zum wahrscheinlich hunderttausendsten Mal fragte ich mich, was bloß mit Greg los sein konnte. Hatte er sich falsche Freunde ans Bein gebunden, die ihn in irgendeine krumme Sache mit rein gezogen hatten? Nein, ich kannte eigentlich alle seine Freunde und die waren echt okay. Das konnte es nicht sein. Hatte er womöglich in der Schule irgendeinen Mist gebaut? Nein, dann hätte er schon vor den Sommerferien so schräg drauf sein müssen. War es die plötzliche Angst vorm Abitur, das relativ kurz bevor stand? Nach den Ferien würde Greg in die zwölfte Klasse wechseln und wäre damit in dem Bereich, wo fast jede Note bereits für den Numerus Clausus zählte, der später über die Zulassung für diesen oder jenen Studiengang entscheidend sein konnte. Setzte mein Bruder sich damit selbst so sehr unter Druck? Eigentlich hätte er das gar nicht nötig. So weit ich wusste, war Greg von Natur aus immer schon ein guter Schüler gewesen, dem alles zuzufliegen schien. Eine Tatsache, die ich stets als extrem unfair empfunden hatte. „Vielleicht hat er Liebeskummer.“, platzte Finchen in meine Gedanken hinein. „Was?“ Irritiert drehte ich mich zu ihr um, wobei der Drehstuhl protestierend quietschte. Ich fragte mich, wie Greg auf diesem Ding sitzen und arbeiten konnte. Josephine stand vor dem Schreibtisch meines Bruders und blätterte völlig ungeniert einige seiner Schulhefte durch. Ihr rückenlanges, rötliches Haar wickelte sie dabei immer wieder um ihren linken Zeigefinger. Sie schien das vollkommen unbewusst zu machen, so wie Greg, der immer auf der Unterlippe kaute, wenn er nachdachte. Als ich mich vollständig zu ihr umgedreht hatte, klappte Finchen gerade eines der Hefte zu und sah mich aus ihren unglaublich großen, blauen Augen mit den blassen Wimpern an. „Na, Liebeskummer halt.“ Ich schüttelte vehement den Kopf, wobei mein Pferdezopf durch die Luft peitschte. „Er hat ja nicht einmal eine Freundin.“ Hatte er doch nicht, oder? Möglicherweise war unser Vertrauensverhältnis doch nie so eng gewesen, wie ich gedacht hatte. Er erzählte mir ja auch jetzt nicht, was mit ihm los war. „Vielleicht ist ja genau das der Knackpunkt...“, beharrte Finchen. Ich sah sie verständnislos an. „Wie meinst du das?“ Schnaufend rollte sie mit den Augen, so als hätte ich eine selten dämliche Frage gestellt. „Na, vielleicht ist er ja unglücklich verliebt.“ Sie sah mich herausfordernd an und fügte dann, damit auch ein begriffsstutziger Klotz wie ich verstand, was sie meinte, hinzu: „Also, vielleicht hat er sich in eine Frau verliebt, die nichts von ihm wissen will. So etwas kann weh tun...“ „Hm.“ Grübelnd zupfte ich an einem Hautfetzen an meinem rechten Daumen. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob Josephine noch immer in meinen Bruder verliebt war und aus Erfahrung sprach, wenn sie sagte, unerwiderte Liebe könne weh tun. Wobei das eigentlich gar keine Rolle spielte. Wichtig war in diesem Moment eigentlich nur, dass sie recht haben könnte. War Greg unglücklich verliebt? Nun, das würde seinen leidenden Gesichtsausdruck, seine offensichtliche Appetitlosigkeit, seine verweinten Augen und seine Zurückgezogenheit erklären. Vielleicht hatte er die fragliche Frau bei der Filmvorführung entdeckt und war deswegen aus der Aula geflohen. Doch warum sprach er dann mit niemandem darüber? Oder tat er das mit jemand anderem? Bis vor zwei Monaten wäre ich jede Wette eingegangen, dass er sich Chris anvertraut hatte, doch mit dem wechselte er inzwischen kein einziges Wort mehr. Mit wem könnte er sonst über so etwas sprechen? Und wohin entschwand er in den letzten Tagen immer wieder? Ohne drüber nachzudenken stellte ich diese beiden Fragen laut: „Wenn es so ist, warum spricht er dann nicht mit mir darüber? Und wo ist er jetzt?“ Finchen legte den Kopf schief und sah an mir vorbei aus dem Fenster, wo das Sommergewitter endlich weiter zog. „Vielleicht schämt er sich, weil er sich in eine Lehrerin verliebt hat oder so.“ „Möglich. Aber wo ist er?“ „Woher soll ich das denn wissen?!“ In dem Moment ging ein Leuchten über Finchens Gesicht, als sie eine Idee hatte. „Vielleicht ist er ja gar nicht unglücklich verliebt!“ Weil ich ihr nicht folgen konnte, warf ich irritiert die Stirn in Falten. „Häh? Wie denn jetzt?“ „Na, stell dir mal vor, du wärst mit jemandem zusammen, der dir zwar peinlich ist, den du aber trotzdem sehen willst. Dann würdest du dich auch heimlich aus dem Haus schleichen, oder?“ Ungläubig verzog ich den Mund. Gut, Finchens Theorie war durchaus irgendwie logisch, aber die Vorstellung, dass Greg sich genötigt sah, wegen ein paar Dates eine solche Heimlichtuerei an den Tag zu legen, widerstrebte mir. „Und was sollte das für eine Person sein?“ Ich hörte selbst, dass meine Stimme irgendwie bockig und patzig klang. Doch Finchen ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie zuckte einfach nur die Schultern und sah für einen kurzen Moment nachdenklich zur Decke. „Weiß nicht. Vielleicht wirklich seine Lehrerin oder...“ Sie machte eine Kunstpause, für die ich sie am liebsten geohrfeigt hätte. „... vielleicht handelt es sich ja auch um einen Mann.“ Kaum dass ich begriffen hatte, was meine beste Freundin gesagt hatte, brach ich in schallendes Gelächter aus. Greg und schwul? Nein, das passte einfach nicht. Er war immer schon ein Mädchenschwarm gewesen, auch wenn er momentan noch so wirkte, als müsste er erst noch richtig in seinen Körper hineinwachsen, der noch auf der Schwelle zwischen Junge und Mann stand. So lange ich denken konnte, hatte Greg von unzähligen Mädchen Liebesbriefe und dergleichen bekommen. Das Lachen blieb mir in der Kehle stecken, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Warum war mir das früher nie aufgefallen? In all den Jahren, in denen all diese Mädchen ihn umgarnt hatten, hatte Greg sich kein einziges Mal für eines von ihnen interessiert. Und er war schon auffällig eng mit Chris befreundet gewesen... Finchen sah mich wegen meines Lachkrampfs ein wenig beleidigt, doch noch immer herausfordernd an, während ich darum kämpfte, meine eigenen Gedanken zu verdauen. Konnte das sein? War Greg tatsächlich schwul? Kapitel 11: Gregor ------------------ Als ich wieder zu Hause ankam, war es schon recht spät geworden. Feige wie ich war, hatte ich einen extra langen Weg hierher gewählt, der mich viel Zeit gekostet hatte. Immer wieder hatte ich es vor mir selbst damit gerechtfertigt, dass ich noch Zeit brauchte, um mir einen Plan zurechtzulegen, doch in Wirklichkeit hatte ich einfach nur Angst gehabt. Angst davor, dass es nicht klappen würde, dass sie mich durchschauen und angewidert vor mir zurückweichen würden. Egal wie lange und oft ich mir ihre Reaktionen ausmalte, dieses Szenario verlor kein bisschen seines Schreckens. Seufzend blieb ich vor meinem Elternhaus stehen und blinzelte irritiert. Alle Fenster waren dunkel, kein einziges Licht brannte. Wo konnte meine Familie nur sein? Ich warf einen Blick auf die Auffahrt, doch es war kein Auto zu sehen. Entweder war tatsächlich niemand zu Hause oder die Fahrzeuge standen in der Garage. Mit einem nervösen Flattern in der Magengegend schloss ich die Haustür auf und horchte. Das Haus lag still und düster da, kein Laut war zu hören. Langsam schlich ich in den Flur, wobei ich das Gefühl hatte, das Quietschen meiner noch immer nassen Schuhe würde monströs laut durchs ganze Haus schallen. Wo zum Teufel waren sie alle? Am liebsten hätte ich nach meiner Familie gerufen, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Irgendwie lag eine seltsam bedrohliche Atmosphäre auf dem Haus. Vorsichtig schielte ich ins Wohnzimmer, in die Küche und ins Esszimmer, doch nirgends war auch nur eine Menschenseele zu entdecken. Schnell warf ich einen prüfenden Blick auf den Schlüsselhalter neben der Haustür. Paps’ Schlüsselbund fehlte. Anscheinend war meine Familie unterwegs. Sofort machte sich das bohrende Gefühl des Ausgeschlossenseins in mir breit. Aber was hatte ich erwartet? Dass sich die Welt meiner Familie zu drehen aufhörte, nur weil ihr fast erwachsener Sohn rum bockte? Wohl kaum. Eigentlich hätte ich mich nun entspannen können, schließlich war augenscheinlich niemand außer mir zu Hause. Damit war das Gespräch mit meinen Eltern erst mal verschoben und ich lief auch nicht Gefahr, Mel zu begegnen, was wieder dieses brennende Verlangen in mir geweckt hätte. Doch irgendwie konnte ich einen kleinen Rest meiner nervösen Anspannung einfach nicht abschütteln. Langsam stieg ich die gewundene Holztreppe zu den Schlafräumen hinauf. In dem kleinen Flur blieb ich erneut kurz stehen und lauschte. Noch immer war kein Mucks zu hören, doch komischerweise ließ mir genau das einen Schauer über den Rücken laufen. Irgendwie war es zu ruhig... Ich schüttelte innerlich den Kopf über mich. Zu ruhig? Wie konnte es in einem leeren Haus zu ruhig sein? Wie von selbst wandte ich den Kopf nach links und betrachtete im Dunkeln Mels Zimmertür. Warum ich kein Licht angemacht hatte und lieber wie ein Einbrecher durch die Düsternis schlich, wusste ich selbst nicht. Gerne hätte ich die Tür geöffnet und einen Blick in ihr Zimmer geworfen, um ihr auf unschuldige Art ein wenig nah zu sein. Mich so distanziert von ihr zu halten, schmerzte heftiger als ich jemals erwartet hätte. Sie fehlte mir, obwohl ich sie täglich sah. Paradox. Endlich riss ich meinen Blick von der dunklen Maserung der Tür los und wandte mich meinem eigenen Zimmer zu, das genau gegenüber lag. Langsam drückte ich die Klinke herunter und hoffte aus irgendeinem Grund, dass Paps die Scharniere geölt hatte. Warum ich nicht wollte, dass die Tür jetzt knarrte, konnte ich nicht sagen. Mein Zimmer lag in vollkommener, undurchdringlicher Finsternis vor mir wie ein Höllenschlund. Bereit, mich bei der kleinsten Unachtsamkeit zu verschlingen. Verwirrt zog ich die Stirn kraus. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Vorhänge geöffnet gelassen hatte, als ich gegangen war. Eigentlich hätte der fahle Mondschein mein Zimmer in silbriges Licht tauchen müssen. In diesem Moment schaltete jemand meine Schreibtischlampe ein. Erschrocken taumelte ich ein paar Schritte rückwärts und starrte mit schockgeweiteten Augen auf die Person, die mit übereinander geschlagenen Beinen auf meinem alten, dunkelblau bezogenen Schreibtischstuhl saß und mich streng musterte. Mutters rosafarbener Bademantel ergoss sich in einem Wasserfall aus Flanell auf den graublauen Teppichboden. Paps saß auf meinem Bett, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich intensiv an. In seinen Augen lag eine erdrückende Mischung aus Wut, Enttäuschung und Sorge. „Wo kommst du her?“ Mutters Tonfall war schneidend und sofort breitete sich auf meinem ganzen Körper eine Gänsehaut aus. Schon als Kind hatte ich mich vor ihren Zornesausbrüchen gefürchtet und seitdem war es keinen Deut besser geworden. Hilfesuchend warf ich einen Blick auf meinen Vater, doch dieses Mal schien er nicht besänftigend eingreifen zu wollen. Das war seine Art, mir zu zeigen, dass er ebenfalls vor Wut kochte. Ich schluckte hart und atmete tief durch, während ich mir wieder und wieder ins Gedächtnis rief, dass ich nur meinen Eltern gegenüberstand. Meinen Eltern, die mich liebten – auch wenn man das Mutter kaum anmerkte, wenn sie erst einmal richtig in Rage war. Scheu warf ich einen Blick auf meine Mutter, die mich ungnädig ansah. Ich wusste, dass ich irgendetwas sagen musste, um mich zu verteidigen, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Als ich es endlich schaffte, einen Satz hervor zu würgen, kamen jedoch nicht die Worte heraus, die ich mir eigentlich zurecht gelegt hatte: „Wo ist Mel?“ Für einen kurzen Moment blinzelten mich meine Eltern irritiert an, so als könnte ich ihnen erklären, warum ich in dieser Situation nach meiner Schwester fragte. Dabei war ich selbst fast genauso überrascht von dieser Frage wie sie. Innerlich seufzte ich auf. Vermutlich würde eher die Hölle zufrieren, bevor ich aufhörte, mir Gedanken um Mel zu machen, sobald ich nicht wusste, wo sie war. Paps kratzte sich nachdenklich am Kinn, entschied sich dann aber doch dafür, meine Frage zu beantworten: „Mel ist bei Josephine. Wir haben uns gedacht, es wäre vielleicht ganz gut, wenn sie nicht hier ist, während wir mit dir reden.“ Bei dem letzten Satz zuckte ich kaum merklich zusammen und begann leicht zu zittern. Das klang nach einer Kopfwäsche, wie sie im Buche stand. Ich wagte kaum zu atmen, als Mutter mich auch schon wieder ankreischte: „Ich habe dich gefragt, wo du warst!“ „Draußen.“ Ich drückte mich ins Zimmer, damit ich nicht mehr so doof im Flur stand, durchquerte mit wenigen langen Schritten den Raum und lehnte mich gegen meine Fensterbank. Mutter sah mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an, so als hätte sie meine Antwort überrascht, doch dann kehrte der Zorn zurück. „Draußen?“ „Ja.“ „Und was hast du draußen gemacht?“ Ich seufzte unterdrückt. Die Wahrheit würde sie mir nie glauben. „Ich bin nur ein wenig rum gelaufen.“ Mutter machte einen abfälligen Laut, um mir zu zeigen, für wie bescheuert und unglaubwürdig sie meine Antwort hielt. Vermutlich hätte sie mir eher geglaubt, wenn ich behauptet hätte, mit Nutten und Kinderschändern gekokst zu haben. Doch bevor sie etwas dazu sagen konnte, erklang Paps’ normalerweise ruhige, klare Stimme: „Doch nicht etwa in Richtung Industriegebiet, oder?“ Überrascht zog ich die Augenbraunen in die Höhe, wobei ich nicht sagen konnte, ob ich mich mehr darüber wunderte, dass er wusste, wo ich gewesen war, oder darüber wie seine Stimme geklungen hatte. Alarmiert. Gab es irgendetwas zwischen den alten, verlassenen Gebäuden, von dem ich nichts wusste? Ich befeuchtete meine Lippen mit der Zungenspitze, bevor ich ein leises, zögerliches „Doch?“ ausstieß. Es klang mehr wie eine Frage denn wie eine Bestätigung. Paps kniff die Augen zusammen und holte tief Luft, was ihn irgendwie leidend wirken ließ. Schnell warf ich einen Seitenblick auf meine Mutter, doch sie sah genauso verwirrt aus wie ich mich fühlte. Als Paps wieder sprach, klang seine Stimme gepresst, angespannt: „Und diesen Weg bist du gestern auch schon gegangen, nicht wahr?“ Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, worauf mein Vater hinaus wollte. Auch Mutter schüttelte leicht verärgert den Kopf. „Was sollen diese Fragen, Paul? Du glaubst ihm diesen Blödsinn doch nicht etwa?!“ „Ich will es einfach wissen, Margarethe. Okay?!“ Ob der Heftigkeit und der Lautstärke seiner Stimme, zuckte ich unwillkürlich zusammen. So kannte ich Paps gar nicht. Normalerweise blieb er immer ruhig, ganz egal, um was es ging. Selbst als ich im letzten Jahr während meines Schulpraktikums im Krankenhaus mal wichtige Patientenakten verschlampt hatte, war er nicht so laut geworden. Mich beschlich eine leise Ahnung, was meinen Vater so aufwühlen konnte. „Ja, ich bin auch gestern in diese Richtung unterwegs gewesen.“ Meine Stimme war so leise, dass es an ein Wunder grenzte, dass meine Eltern mich verstanden. Tiefer Schmerz und Gram machten sich auf Paps’ Gesicht breit, während Mutters Blick verwirrt zwischen meinem Vater und mir hin und her zuckte. „Oh, Greg...“ Paps’ Stimme war so voller Trauer und Verzweiflung, dass es mir die Kehle zuschnürte. Er ahnte es. Irgendwie ahnte er es... Mutter wurde langsam ungehalten, weil sie nicht verstand, was vor sich ging. „Würde mich bitte jemand aufklären? Paul? Gregor?“ Ich starrte stumm auf meine Schuhspitzen. Ich konnte es ihr einfach nicht sagen. Fasziniert stellte ich fest, dass ich trotz der Situation bemerkte, dass ich dringend neue Schuhe benötigte. Der Linke meiner grauen Chucks würde bald über dem großen Zeh ein prächtiges Loch haben. Nach schier endlosen Minuten fand Paps seine Stimme wieder: „Ich habe heute Dietmar getroffen.“ Er warf mir einen Seitenblick zu, so als müsste ich wissen, wer Dietmar war. „Das ist einer unserer Rettungssanitäter.“ Wieder pausierte er für einen kurzen Moment und es machte endlich Klick bei mir. Der Rettungswagen. Ich spürte wie mir das restliche Blut aus den Wangen entwich und sich meine Haut aschfahl färbte, während ich langsam begriff, dass Paps’ nicht nur eine Ahnung von meinen Suizidgedanken hatte, sondern von meinem halbgaren Versuch wusste. Ich starrte ihn aus großen Augen an und suchte noch nach Worten, um es ihm irgendwie zu erklären, als Mutter auch schon ungeduldig fragte: „Ja, und?“ „Er hat gestern Vormittag einen jungen Mann auf der Autobahnbrücke gesehen, dessen Beschreibung sehr genau auf unseren Gregor passt. Einen Jungen, der springen wollte.“ Paps sah mich aus traurigen Augen an und endlich fand ich meine Stimme wieder. „Das stimmt so gar nicht... Ich wollte eigentlich gar nicht... Ich hatte nicht vor... Ich wollte wirklich nicht...“ Doch bevor ich einen Satz zu Ende stammeln konnte, unterbrach mich Mutters schrille Stimme: „Und das erzählst du mir erst jetzt?!“ Mutter war so weiß wie eine Kalkwand geworden und die feinen Äderchen unter ihrer dünnen Haut schimmerten rot und bläulich im grellen Licht der Schreibtischlampe. Paps schüttelte müde den Kopf. „Ich hatte gehofft, dass er sich geirrt hat. Dass es nicht Greg gewesen ist.“ Schuldgefühle schwappten wie Säure durch meine Adern. Wieso nur hatte ich diese fixe Idee gehabt? Und warum war ich dann auch noch auf die andere Seite vom Geländer geklettert? Paps wandte mir das Gesicht zu. Irgendwie wirkte er plötzlich um viele Jahre gealtert. Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen schossen, doch ich versuchte, sie zurück zu halten. Auch wenn meine Eltern mich nie so erzogen hatten, hatte sich bei mir doch irgendwie das alte Klischee festgesetzt, dass Männer nicht weinen durften. Stattdessen biss ich mir so heftig auf die Unterlippe, dass ich Blut schmeckte, das mir salzig und mit einem leichten Metallgeschmack in den Mund sickerte. „Was hast du dir dabei gedacht, Greg?“ Paps Stimme klang hohl, so als hätte sie jedes Leben verloren. Meine Antwort hingegen fiel ziemlich patzig aus, weil ich noch immer mit den Tränen kämpfte: „Wo ist das Problem? Ich bin doch gar nicht gesprungen. Ich bin hier und an einem Stück. Müsst ihr daraus jetzt so ein Drama machen?“ Paps schnaufte ungläubig und schüttelte den Kopf, während Mutter ruckartig aufstand und auf mich zu kam. Mein Schreibtischstuhl wurde durch den Schwung ein wenig nach hinten geschleudert und rollte leise quietschend durch den Raum, bis er gegen mein Bücherregal stieß, wo ein paar Bände wackelten und mit einem dumpfen Dröhnen auf die Seite fielen. Mutter packte mich grob an den Oberarmen und schüttelte mich so heftig, dass meine Zähne gegeneinander schlugen. „Nicht so ein Drama machen? Nicht so ein Drama machen?!“ Ihre Stimme überschlug sich und schließlich brach Mutter schluchzend zusammen. Sie umklammerte meine Unterschenkel und lehnte sich heftig weinend gegen mich, während ich unfähig war, mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Das war einfach alles zu viel für mich. Paps betrachtete seine Frau mit einem leidenden Blick, blieb aber auf meinem Bett sitzen. Schließlich ließ ich mich doch noch auf den Boden sinken und nahm meine Mutter in den Arm. „Es... es tut mir leid. Hör auf zu weinen, bitte.“ Weinende Frauen machten mich immer verlegen und hilflos. Sie legte ihre tränennasse Wange gegen meine Schulter und atmete mehrfach tief durch, um sich zu beruhigen. Dann begann sie, über mein Haar zu streichen und mein Gesicht mit Küsschen zu übersäen, so als wäre ich immer noch der kleine Junge, dem sie Gute-Nacht-Geschichten vorlesen musste. Normalerweise hätte ich sie weggeschoben, doch dieses Mal traute ich mich nicht, obwohl auch diese Zuneigungsbekundung irgendwie etwas Falsches an sich hatte. Zwischen den Küsschen murmelte sie immer wieder: „Was ist im Moment nur mit dir los? Was hast du nur, dass du solche Sachen tust?“ Jetzt war es wohl an der Zeit, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Auf dem langen Weg nach Hause hatte ich mir etwas einfallen lassen. Eigentlich war ich ein Idiot, dass ich nicht eher auf die Idee gekommen war. Ein Internat war die Lösung für mein Problem. Ich wäre weit weg von zu Hause, hätte Abstand zu Mel und würde mir dennoch nicht meine Zukunft verbauen. Außerdem erschien mir die Idee auch noch ziemlich gefühlsschonend für meine Familie. So würde ich niemanden mehr verletzen. Das hatte ich in den letzten Wochen schon zu genüge getan. Doch bevor ich etwas sagen konnte, sah mich Paps mit strengem Blick an und fragte: „Hast du irgendwelche Probleme, Junge? Nimmst du Drogen?“ Für einen kurzen Moment starrte ich ihn irritiert an, doch dann brach ich in Lachen aus. Diese Vermutung war so weit von der Wirklichkeit entfernt, dass ich es mir nicht verkneifen konnte. Dafür wurde ich dann allerdings auch von zwei Seiten mit vernichtenden Blicken gestraft. Mutter schob mich ein Stück von sich und stand wieder auf. Ich hingegen blieb weiterhin auf dem Boden sitzen, obwohl ich mich ihr so noch unterlegener fühlte als normal. „Könntest du mir bitte erklären, was daran so witzig ist, junger Mann?“ Von der Liebe und Wärme, die sie vorher gezeigt hatte, war nicht einmal mehr ein Hauch geblieben. Stattdessen hatte ihre Stimme den alten, schneidenden Tonfall wiedergefunden. Ich zuckte mit den Schultern. „Abgesehen davon, dass diese Theorie völliger Schwachsinn ist?“ Mutter setzte sich neben Paps und strich ihr in Unordnung gekommenes Haar glatt. So wie die Beiden nun nebeneinander saßen, hatte man das Gefühl, sie würden eine Front gegen mich bilden. Ob das so in irgendwelchen Pädagogikbüchern stand? Wohl eher nicht. Wobei Paps auch regelmäßig Mutters Autorität untergrub. Das stand bestimmt auch nicht in der Top Ten der besten Erziehungskniffe. „Gut, wenn unsere Idee so abwegig ist, warum erzählst du uns dann nicht, was wirklich in deinem Kopf vorgeht?“ Ich holte tief Luft und sammelte all meinen Mut. Jetzt kam es drauf an. Hopp oder Topp. Alles oder nichts. „Ich möchte auf ein Internat.“ Meine Eltern sahen mich aus großen Augen an. Ich hatte sie überrumpelt. Gut. Dies nutzte ich aus, um schnell den Rest meines auswendiggelernten Textes herunter zu rasseln. „Das hat nichts mit euch zu tun, aber mein Abitur steht ja nun relativ bald vor der Tür und gerade in der heutigen Leistungsgesellschaft sind gute Schulnoten das A und O und ich denke, auf einem Internat könnte ich bessere Ergebnisse erzielen als auf einer normalen Schule. Ich hatte nur Angst, es euch zu sagen, weil ich befürchtet hab, dass ihr glauben könntet, dass ich weg von euch will. Deswegen war ich so komisch. Tut mir leid.“ Ich war stolz auf mich. Ich hatte mein Sprüchlein aufgesagt, ohne mich auch nur einmal zu verhaspeln, und hatte nur hier und da kleine Kunstpausen gemacht, um den Eindruck zu erwecken, dass es mir schwer fiel, darüber zu reden. Mutter wiegte den Kopf hin und her und schien zu überlegen. Doch als ich Paps’ Blick traf, sank meine Hoffnung sofort wieder. „Gregor...“ Oh, oh. Mein Vater benutzte im Gegensatz zu meiner Mutter nur äußerst selten meinen vollen Namen und das in der Regel auch nur dann, wenn er meinte, streng sein zu müssen. „Gregor, du weißt, dass du mich nicht anlügen kannst. Aber wenn du’s schon trotzdem versuchst, dann beleidige mich bitte nicht und denk dir etwas besseres aus. Jemand, der einfach nur so auf ein Internat will, spielt nicht mit dem Gedanken, von Autobahnbrücken zu springen. Also: Try again.“ Verzweifelt durchforstete ich mein Hirn nach irgendwelchen Ideen, das Ganze doch noch irgendwie zu retten. Doch nach nur kurzer Zeit gab ich auf. Es hatte einfach keinen Sinn, zu schwindeln. Also würde ich ihnen doch ein Bröckchen Wahrheit hin werfen. „Ich... ich hab mich verliebt.“ Paps’ Mundwinkel zuckten ein winziges bisschen nach oben, so als ob er sich freute, des Rätsels Lösung endlich ein wenig näher gekommen zu sein. Mutter legte den Kopf schief und sah mich neugierig an. „Aber das ist doch schön.“, versuchte sie, mich zum Weiterreden zu animieren. „Nein, das ist es nicht.“ Ich schüttelte zur Untermalung meiner Worte mit dem Kopf, wobei mir einige Strähnen in die Augen fielen. Ich musste dringend mal wieder zum Friseur. „Sie und ich, das wird nie etwas werden.“ Ich sah ihre fragenden Gesichter und konnte schon förmlich Paps’ amüsierte Stimme hören, die mich neckte, warum ich so früh aufgab. Also fuhr ich fort: „Es geht einfach nicht. Es darf einfach nicht sein. Aber ich will auch nicht weiter drüber reden. Ich werde drüber weg kommen mit der Zeit. Ich will nur auf irgendein Internat, damit ich weg von ihr komme.“ Das war jetzt so nah an der Wahrheit wie es nur ging. Ich setzte den flehendsten Blick auf, den ich zu bieten hatte. „Bitte Paps. Bitte... Mama.“ Seit wir uns immer mehr entfremdeten, kam mir dieser Kosename immer schwieriger über die Lippen. Mein Vater machte ein nachdenkliches Gesicht und kratzte sich an der Nase. „Du bist dir sicher, dass du das willst?“ Ich nickte heftig und versuchte, mir meine Anspannung nicht all zu sehr anmerken zu lassen. „Also schön...“ Innerlich jubelte ich auf. Ja! Die Freiheit, da war sie und winkte mir zu. Wenn ich an einen Gott geglaubt hätte, hätte ich ihm in diesem Moment sicherlich überschwänglich gedankt. Jetzt musste ich mir nur noch für die Ferien irgendwelche Ausreden einfallen lassen, warum ich nicht nach Hause kommen konnte, bis ich meine widernatürlichen Gefühle für meine Schwester überwunden hatte. Mutter lächelte mich zum ersten Mal seit Wochen wieder an und dieses Mal wirkte es vollkommen echt. War sie froh, mich los zu werden oder freute sie sich einfach, dass ich kein halbkrimineller Junkie war? Sie rückte ein Stück näher an die Bettkante und sah mich aufgeregt an. Irgendwie wirkte sie plötzlich wie ein pubertäres Mädchen und nicht mehr wie der furchteinflößende Drache, der sie noch vor einer Stunde gewesen war. „Wer ist sie denn?“ Es hätte mich nicht weniger geschockt, von einem Blitz getroffen zu werden, als diese Frage zu hören. Seit wann interessierte sich meine Mutter dafür, für welche Mädchen ich schwärmte und für welche nicht? Gut, ich hatte vorher noch nie überlegt, von einer Brücke zu springen. So gesehen musste ihr klar sein, dass dieses Mal etwas anders war. Mit mürrischem Gesichtsausdruck sammelte ich mir ein paar Fusseln von der inzwischen fast trockenen Jeans. „Spielt das eine Rolle? Ich hab doch gesagt, es hat keine Zukunft.“ „Es interessiert mich einfach.“ In ihren dunkelblauen Augen spiegelte sich Neugierde. Riesige Neugierde. Wenn ich ihr nicht irgendeinen Namen lieferte, würde sie mich damit nie in Ruhe lassen. „Ich... äh...“ Während ich verzweifelt nachdachte, wanderte mein Blick wie von selbst zu dem kleinen, gerahmten Foto in meinem Bücherregal. Die Fotographie war vor einigen Monaten entstanden und zeigte Mel und mich, wie wir Arm in Arm vor einem prasselnden Osterfeuer standen und in die Kamera lachten. Da war meine Welt noch in Ordnung gewesen. Ich glaubte nicht, dass Mutter sich einen Reim darauf machen konnte, dass ich in diesem Moment dieses Bild ansah, doch plötzlich wurde sie kreidebleich und schlug sich die Hand vor den Mund, während sie mich aus kreisrunden Augen anstarrte. Paps sah sie verwirrt mit kraus gezogener Stirn an und legte ihr sacht einen Arm um die Schultern. Panik kroch mir langsam das Rückgrat entlang, stahl sich in meine Brust und presste mir die Luft aus den Lungen. Mutter starrte mich weiterhin unverwandt an, durchbohrte mich mit ihren Blicken, schälte mir Haut und Muskeln von den Knochen, bis sie mein kleines, schmutziges Geheimnis in dem schwarzen Klumpen, der mein Herz war, freigelegt hatte. „Mel...“ Ihre Haut bekam einen leichten Graustich, als sie den Namen ihrer Tochter aussprach, so als ob ihr dadurch erst wirklich bewusst wurde, dass es die Wahrheit war. „Du hast dich in Mel verliebt!“ Jetzt kreischte sie nur noch, aber es war interessant, dass sie es gar nicht in Frage stellte. War es so offensichtlich gewesen? Oder hielt sie mich generell für ein seelenloses Monster, dem alles zuzutrauen war? Paps sah mich aus schockgeweiteten Augen an und schien mich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich zu sehen. Zittern erfasste meinen ganzen Körper, während ich darauf wartete, dass sie mich aus dem Haus warfen. „Mach dich nicht lächerlich, Margarethe.“ Noch wollte mein Vater mich in Schutz nehmen, doch selbst ich hörte die Zweifel in seiner Stimme, obwohl ich von ganzem Herzen daran glauben wollte, dass wenigstens er zu mir halten würde. Mutter schüttelte wie in Trance mit dem Kopf. Ihr Blick klebte noch immer an meinem Gesicht. Suchte sie nach äußeren Anzeichen, die den Fluch erkennen ließen, der auf mir lastete? „Ich mach mich nicht lächerlich. Das passt doch alles zusammen, Paul. Wer war die Erste, von der er sich distanziert hat? Mel. Wer war dabei als er aus der Aula geflohen ist? Mel. Und danach ist er immer vor ihren Berührungen zurückgeschreckt, als hätte sie die Pocken.“ Paps machte ein nachdenkliches Gesicht. Vermutlich dachte er daran, dass sich in seine eigene Schwester zu verlieben durchaus ein nachvollziehbarer Grund war, von einer Brücke zu springen. Etwas kitzelte mich an der Wange. Als ich es weg wischen wollte, stellte ich überrascht fest, dass ich weinte. Ich war so auf die Reaktion meiner Eltern konzentriert gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie sich die ersten dicken Tränen aus meinen Augenwinkeln gestohlen hatten. Mutter sah mich mit einer Mischung aus Sorge und Abscheu an. Sofort fragte ich mich, ob ihre Sorge mir galt oder Mel. „Jetzt sag doch auch mal was dazu!“ Meine Stimme klang durch die unterdrückten Schluchzer noch brüchiger und krächzender als sonst. Ich konnte kaum abwarten, endlich aus dem Stimmenbruch raus zu sein. „Muss ich dazu wirklich noch was sagen? Ja, verdammt, du hast Recht.“ Es zu leugnen, hatte angesichts meiner Tränen eh keinen Sinn. „Aber deswegen will ich doch weg. Ich will diese Gefühle nicht. Und ich will sie schon gar nicht ausleben.“ Ekel überzog Mutters Gesicht, als sie sich offenbar ausmalte, was ich unter „ausleben“ verstand. Ihren Gesichtsausdruck zu sehen, war als ob mir jemand mit Tausend langen, glühendheißen Nadeln in Herz und Magen stach. Am liebsten hätte ich mich an Ort und Stelle übergeben. „Mel wird dich niemals einfach gehen lassen.“ Paps sprach wieder mit seiner ruhigen, geschmeidigen Stimme, die den Eindruck vermittelte, ihn könnte nichts auf der Welt erschüttern. Verwundert wandte ich meinen Blick von Mutter ab und richtete ihn auf meinen Vater. Paps sah mich zwar ein wenig wehmütig an, doch ich erkannte weder Hass, noch Abscheu, noch Ekel in seinen Augen. Nur Sorge und Bedauern. Was zur Hölle war mit ihm los? Er musste mich doch genauso abstoßend finden wie meine Mutter. „Wie meinst du das?“ Ich hatte es endlich geschafft, mein albernes Geheule einzustellen. „Mal angenommen, wir würden dich wirklich auf ein Internat schicken – was ich ehrlich gestanden für eine blöde Idee halte – dann würde sie dich besuchen kommen wollen. Sie würde darauf bestehen, dass du in den Ferien nach Hause kommst.“ Ich brauchte gar nicht nachzufragen, warum er die Idee nicht mochte. In seinen Augen lief ich davon, anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen. Doch leider sah ich keine Möglichkeit, meine Gefühle einfach auszustellen. Und wenn ich hier blieb, würde ich womöglich doch noch irgendwann meine eigene Schwester küssen. Dann wäre das Drama erst wirklich groß. „Dann muss ich sie halt belügen. Ich erzähl ihr einfach, dass Besuch untersagt ist.“ „Und du glaubst, dass du damit im Zeitalter des Internets lange durch kommst? Das hat Mel doch schneller auf der Internatshomepage überprüft als wir dich dahin bringen können.“ Paps schüttelte matt den Kopf. „Und außerdem würde sie dir niemals glauben, dass du in allen Ferien irgendetwas zu tun hast und nicht nach Hause willst. Ohne einen triftigen Grund würde sie das nicht akzeptieren.“ Ich sah mich hilflos im Zimmer um. Ich wusste ja, dass er Recht hatte, aber ich wollte unbedingt auf ein Internat. Irgendeins. Egal wo. Ich wollte einfach nur raus hier, bevor ich doch noch eine Dummheit machte. Für einen Moment blieb mein Blick an meiner Mutter hängen. Sie sah mich noch immer so angewidert und geschockt an, dass mich das Gefühl überkam, dass sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher wünschte als, dass ich nicht ihr Sohn war. Dass sie diese abstoßenden Monstrosität, die ihr gegenübersaß, nicht neun Monate im Bauch getragen und unter Schmerzen geboren hatte. Da kam mir eine Idee. Kapitel 12: Melanie ------------------- „Meinst du, dein Bruder ist inzwischen wieder aufgetaucht?“ Josephine balancierte über eine niedrige Mauer, die an der Straße zu meinem Elternhaus entlang führte. Dass es am vergangenen Tag noch wie aus Kübeln geregnet hatte, sah man inzwischen nicht mehr. Die Sommersonne brannte hell und heiß vom Himmel und ließ die Luft auf dem aufgeheizten Asphalt flirren. Ich zuckte träge mit den Schultern und versuchte, möglichst gelassen zu wirken, doch in Wirklichkeit drehte sich mir bei dem Gedanken daran, dass mein Bruder immer noch verschollen sein könnte, der Magen um. Ich hatte auch während der Nacht aus Sorge kaum ein Auge zugetan und wenn ich dann doch einmal eingeschlafen war, hatte ich wildes, unzusammenhängendes Zeug geträumt, das mich mehr als einmal hatte hochschrecken lassen. Falls Finchen etwas davon bemerkt hatte, ließ sie sich dies jedoch netterweise nicht anmerken. Kurz vor meinem Heim trennten sich unsere Wege. Josephine wollte ihre Großmutter besuchen, die in einer Querstraße wohnte und ich wollte nur noch nach Hause und nachsehen, ob Greg endlich wieder da war. Meine Hände zitterten leicht, als ich den Schlüssel ins Schloss schob und aufsperrte. Die Kühle, die mir aus dem Flur entgegen wehte, war ein unglaublich angenehmer Kontrast zu der unwirtlichen Hitze draußen. Schnell schlüpfte ich ins Haus und lauschte mit angehaltenem Atem. Von draußen hörte man das gedämpfte Motorengeräusch eines vorbei fahrenden Autos, doch ansonsten war alles still. Enttäuschung machte sich in mir breit und ich ließ mutlos die Schultern hängen. Niemand war hier, um mich zu begrüßen. Papa war garantiert im Krankenhaus, Mama war vermutlich einkaufen und Greg... keine Ahnung. Missmutig stapfte ich in die Küche und riss die Kühlschranktür ein wenig zu heftig auf. Ketchup-, Saucen- und Getränkeflaschen schlugen laut klirrend gegeneinander. Mit einem schnellen Blick prüfte ich das Angebot der kaltgestellten Getränke, doch nichts sagte mir wirklich zu. Dafür war ich einfach zu frustriert. Wo zur Hölle war Greg? Und warum wusste ich es nicht? Schließlich entschied ich mich resigniert seufzend für eine kleine Flasche roter Fruchtschorle und schubste die Kühlschranktür mit der Hüfte wieder zu. Die Flaschen klirrten wieder und ich grinste. Wäre meine Mutter hier gewesen, hätte ich dafür einen Rüffel bekommen. Ich schraubte den Verschluss von meiner Plastikflasche, stellte mich ans Fenster und sah hinaus auf unseren Garten, der in dem grellen Sommerlicht in bunten, kräftigen Farben leuchtete. Ich nahm einen ersten Schluck von der leicht säuerlich schmeckenden Schorle und dachte wieder an Greg. Konnte es wirklich sein, dass er schwul war? Irgendetwas störte mich an dieser Theorie. Nach nur wenigen Minuten stach mir das helle Sonnenlicht in den Augen und ich wandte mich vom Fenster ab. Was sollte ich nun mit dem angebrochenen Tag anfangen? Normalerweise wäre ich jetzt zu meinem Bruder hoch gegangen. Ihm wäre bestimmt irgendetwas spaßiges eingefallen. Stattdessen wandte ich mich dem Esszimmer zu, durch das man ins Wohnzimmer gelangte. Ich wollte ein wenig fernsehen und mich ablenken. Doch bevor ich auch nur einen Schritt tun konnte, fuhr mir der Schreck in alle Glieder. Dort, am Esszimmertisch, saß jemand. So unbewegt und ruhig, dass ich ihn bisher nicht bemerkt hatte, obwohl Küche und Esszimmer nur durch eine Theke getrennt wurden. Die Person hatte flachsblondes, verwuscheltes Haar, so als wäre sie gerade erst aus dem Bett gefallen, eine gerade, schlanke Nase und kräftige, leicht gebräunte Arme mit heller Behaarung. Sie trug ein altes, ausgeleiertes, graues T-Shirt und trotz der Hitze Jeans. Die ganze Zeit über hielt sie den Kopf gesenkt und saß so still da, als wäre sie nur eine besonders real wirkende Statue oder vielleicht eine von Madame Tussauds Wachsfiguren. Greg. Erleichterung erfasste mich wie eine Flutwelle und plötzlich fühlte ich mich von innen heraus irgendwie kuschelig warm und plüschig. Glücklich. Doch sofort krochen mir wieder leise, bohrende Zweifel den Rücken hinauf. Warum hatte er mich nicht begrüßt? Warum reagierte er auch jetzt noch nicht? Schlief er womöglich in dieser unbequemen Position – Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Gesicht fast in den Händen vergraben? Ich stellte meine Schorleflasche ab und näherte mich langsam und vorsichtig meinem Bruder. Falls er wirklich schlafen sollte, wollte ich ihn nicht wecken. Ich rechnete jeden Moment damit, dass er plötzlich den Kopf herum reißen und mich erschrecken würde, doch er rührte sich selbst dann nicht, als ich direkt neben ihm stand. Dabei hatte er nicht einmal die Augen geschlossen. Oder irrte ich mich? Gänsehaut machte sich auf meinen Unterarmen breit und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Hätte man nicht so deutlich sehen können, dass Greg ruhig und gleichmäßig atmete, hätte ich vermutlich einen Panikanfall bekommen. Wieso nur war er so weggetreten? Es schien, als hätte er sich vollkommen in sich selbst zurückgezogen. Blöderweise hatte er dabei anscheinend die Welt um ihn herum ausgeschlossen. Ich beugte mich ein wenig herab, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Ich hatte mich nicht getäuscht! Seine Augen standen offen, starrten jedoch mit einem völlig leblosen, leeren Ausdruck auf den Tisch. Eisenketten legten sich um meinen Brustkorb und ich schaffte es nur mit Mühe und Not, die langsam aufkeimende Panik herunter zu schlucken. Dafür liefen mir schon wieder die Tränen übers Gesicht. Manchmal nervte es mich selbst, dass ich so nah am Wasser gebaut war, aber ich konnte einfach nichts dagegen tun. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass Gregs Augen blitzschnell zu mir huschten und sein Kiefermuskel zuckte. Doch als ich genauer hinsah, war es schon wieder vorbei. Hatte ich es mir eingebildet oder war mein Bruder doch nicht so weggetreten wie er mich glauben machen wollte? Zum ersten Mal fiel mein Blick auf die Tischplatte vor ihm. Dabei fiel mir auf, dass er gar nicht die Holzmaserung anstarrte, wie ich gedacht hatte, sondern ein Din-A-4 großes Stück leicht vergilbtes Papier. Neugierig verrenkte ich mir den Hals, um zu lesen, was darauf geschrieben stand, doch es hatte keinen Sinn. So wie Greg es mit seinen Armen abschirmte, konnte ich nicht einmal ein ganzes Wort entziffern. Achselzuckend wandte ich mich wieder meinem Bruder zu. Tat er nur so apathisch? Wenn ja, warum? Mit kurzen Schritten ging ich um ihn herum, bis ich direkt hinter ihm stand. Ich wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn jemand in seinem Rücken stand. Dann fühlte er sich irgendwie schutzlos und bedroht. Vorsichtig legte ich ihm meine Hände auf die Schultern, wo sich seine Muskeln unter meiner Berührung sofort verkrampften. Irritiert schob ich die Augenbraunen zusammen. Lag diese Reaktion an mir, meiner Position oder daran, dass er momentan generell nicht angefasst werden wollte? Zaghaft begann ich die betroffenen Muskelstränge zu massieren. Mit dermaßen harten Verspannungen musste er geradezu höllische Schmerzen haben. Oder war er so sehr in seiner eigenen Welt, dass er davon gar nichts mehr bemerkte? Langsam bekam ich ernsthafte Angst um meinen Bruder. Finchen hatte sich geirrt. Hier war mehr im Spiel als eine peinliche oder unglückliche Liebe. Irgendetwas machte Greg vollkommen fertig. Er wirkte so zerbrechlich und irgendwie ausgehöhlt, dass es mir beinah das Herz zerriss, ihn so zu sehen. Würde er da jemals wieder von alleine heraus kommen? Oder verlor ich meinen Bruder an ein dunkles Irgendwas, von dem ich nicht einmal wusste, was es war? „Greg?“ Meine Stimme war kaum mehr als ein zögerliches Flüstern und ich musste mich räuspern, bevor ich mich verständlich wiederholen konnte. „Greg?“ Ich musste ihn einfach ansprechen. Angst und Sorge, die sich langsam vermischten und zu Panik steigerten, verknoteten meinen Magen zu einem winzigen Knäuel und ließen meine Handinnenflächen schwitzig werden. Ich knetete seine steinharten, ungesund verspannten Muskeln und schluchzte immer wieder seinen Namen, doch er reagierte kein winziges bisschen. Kein Muskelzucken mehr, kein Kopfschütteln, kein Wort. Langsam wurde ich wütend. Warum schloss er mich so aus und ließ mich mit meiner Furcht um ihn allein? Ich riss ihn grob am Saum seines T-Shirts, doch auch das führte zu nichts. Er gab nur einmal einen keuchenden Laut von sich, weil der Kragen gegen seinen Kehlkopf drückte. Resigniert ließ ich den Stoff los und setzte mich auf den nächsten Stuhl. Greg starrte noch immer dumpf auf den Zettel vor sich, doch für einen kurzen Moment blitzte etwas in seinen verschleierten Augen auf. Wut? Nahm er es mir etwa übel, dass ich ihn gewürgt hatte? Gerade als ich mit dem Gedanken spielte, ihm zu drohen, dass ich das wieder tun würde, wenn er nicht endlich mit mir sprechen würde, schloss jemand die Haustür auf. Nur wenige Augenblicke später erschienen Papa und Mama in der Tür, beide mit großen Tüten voller Leckereien. Plötzlich war Greg wieder voller Leben. „Hattet ihr eigentlich vor, mir das hier auch irgendwann mal selbst zu erzählen?!“ Ich zuckte heftig zusammen. Gregs Stimme war vor Wut ganz verzerrt, als er von seinem Stuhl aufsprang und unsere Eltern aus vollen Lungen anbrüllte. So langsam verstand ich. Er hatte sich in sich selbst zurückgezogen, um sich für das kommende Gespräch zu wappnen. Ich hätte zu gerne gewusst, was auf dem Blatt Papier stand, das er Mama und Papa nun unter die Nase rieb. Papa stellte seine Tüten auf der Theke ab und sah Greg aus fragenden Augen an. „Dir was zu erzählen?“ „Stell dich nicht dumm!“ Greg war rasend vor Zorn. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Und von was redete er überhaupt? Verwirrt ließ ich meinen Blick zwischen meinem Vater und meinem Bruder hin und her huschen, während Mama ihre Tüten zur nächsten Arbeitsfläche trug. Anscheinend wollte sie sich aus dem Gespräch raus halten. „Was hast du da eigentlich für einen Zettel?“ Ich spürte die Anspannung bis in die Haarwurzeln, als Papa die Hand nach dem ominösen Papier ausstreckte. „Das solltest du eigentlich wissen.“ Greg schleuderte ihm das Blatt entgegen, sodass es mit einem knatternden Flattergeräusch durch die Luft segelte. Papa schien nur einen kurzen Blick zu brauchen, um zu erfassen, was auf dem Zettel stand, und erbleichte leicht. Oder war es nur das Licht, das ihn blasser wirken ließ? Als er das Blatt aufgefangen hatte, hatte er einen kaum merklichen Schritt gemacht – raus aus dem Schatten des Flurs, rein in eine breite Bahn hellen Sonnenlichts, das durch die hohen Fenster fiel. Er ließ die Arme hängen und sah Greg mit leidender Miene an, doch bevor er etwas sagen konnte, brüllte mein Bruder bereits wieder: „Ihr hattet kein Recht, es mir zu verschweigen. Ihr hattet einfach kein Recht dazu!“ Nun schaltete sich auch Mama aus der Küche heraus ein: „Jetzt mach aber mal einen Punkt, Gregor. Es spielte doch gar keine Rolle. Das war vollkommen irrelevant für uns. Wir haben es einfach vergessen.“ Scheinbar wusste sie, um was es ging, ohne den Zettel gelesen zu haben. Ich beneidete sie darum und versuchte, möglichst unauffällig einen Blick auf den Text zu werfen. Doch so wie Papa das Papier hielt, konnte ich nur den Anfang eines großen, in geschwungenen Lettern geschrieben Wortes erkennen: „Ado...“ „Vollkommen irrelevant?!“ Gregs Stimme überschlug sich fast, als er ungläubig Mamas Worte wiederholte. Um was zum Teufel ging es hier eigentlich? Ich stieß gerade einen genervten Laut aus, weil ich überhaupt nicht folgen konnte, da brachte Greg Licht ins Dunkel: „Du hältst also die Tatsache, dass ich überhaupt nicht euer Sohn bin, für irrelevant?“ Erschrocken starrte ich meinen Bruder an. Nicht ihr Sohn? Wie meinte er das? Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, was auf dem ominösen Zettel stand: Adoptionsurkunde! Ich fühlte mich wie vom Donner gerührt, vollkommen sprachlos und bewegungsunfähig. Greg war nicht mein Bruder? Sofort schüttelte ich den Kopf über mich. Natürlich war Greg trotzdem mein Bruder. Das Band zwischen Geschwistern bestand aus sehr viel mehr als einer Blutsverwandtschaft. „Du drehst deiner Mutter die Worte im Mund um.“ Papa versuchte, einen beruhigenden Tonfall anzuschlagen, doch auf Greg schien es eher den gegenteiligen Effekt zu haben. „Diese Frau ist nicht meine Mutter!“ Mama schnappte verletzt nach Luft und Papa versuchte, Greg eine Hand auf die Schulter zu legen, um ihn endlich zu besänftigen. Doch dieser schlug den Arm unseres Vaters einfach zur Seite. „Fass mich nicht an!“ Wie bei einem gehetztes Tier jagte sein Blick zwischen uns umher, dann schüttelte er beinah fassungslos den Kopf. „Ich... Ich kann hier nicht bleiben – bei Leuten, die es nicht für nötig halten, mir zu sagen, wer ich wirklich bin. Die mich zwingen, eine Lüge zu leben.“ Der latente Ekel, der sich nun in seine Stimme schlich, war fast schlimmer als die unkontrollierte Wut, die er bisher gezeigt hatte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, drückte er sich an Papa vorbei und schnappte sich seinen Rucksack, den er offenbar schon vorher gepackt und im Flur deponiert hatte. Warum war mir die Tasche nicht bereits bei meiner Ankunft aufgefallen? Ich wusste es nicht. Doch ich wusste, was das Gepäck zu bedeuten hatte. Schnell stürzte ich meinem Bruder hinterher, der bereits an der Tür war. „Greg!“ Ich war fast erstaunt, wie viel Verzweiflung man in ein einziges Wort stecken konnte. Greg hatte die Klinke bereits in der Hand, zögerte dann aber doch. Für einen Moment schien er einen inneren Kampf auszufechten, dann wandte er sich langsam um. Er betrachtete mich mit einem unglaublich traurigen und gequälten Gesichtsausdruck und streckte den Arm nach mir aus. Irgendwo hinter mir sog Mama scharf Luft ein. Fürchtete sie etwa, Greg könnte mich ohrfeigen? Stattdessen legte er mir liebevoll die Hand auf die Wange und schaute mir lange und intensiv in die Augen, wobei mir die Wehmut, die ich in seinem Blick sah, das Herz brach. „Es tut mir leid.“ Mit diesen Worten strich er mir ein letztes Mal zärtlich über die Wange, riss dann die Haustür auf und stürmte hinaus. Dicke Tränen kullerten mir die Wange hinab und ich hatte das Gefühl mein Brustkorb müsste unter dem heftigen Schluchzen bersten. Auch als Greg schon lange nicht mehr zu sehen war, blickte ich ihm noch immer hinterher. Ich fühlte mich unglaublich leer, entzwei gerissen. Plötzlich legte mir jemand die Hand auf die Schulter. Überrascht sah ich auf und entdeckte Papa, der ebenfalls noch immer in die Ferne sah. Als er bemerkte, dass ich zu ihm hoch schaute, lächelte er mich warm an. „Mach dir nicht zu viele Gedanken, Mel. Greg kommt schon wieder, wenn er sich wieder abgeregt hat. Du kennst ihn doch.“ Ja, ich kannte meinen Bruder und wusste, dass er dazu neigte, grenzenlos überzureagieren, wenn er wütend oder gar verletzt war. Trotzdem zweifelte ich irgendwie daran, dass ich ihn so bald wiedersehen würde. Ich wusste nicht einmal genau, warum. Es war einfach so ein Gefühl. Es fühlte sich an, als hätte ich ihn für immer verloren. Schaudernd wandte ich mich endlich von der Straße ab und ging zurück ins Haus, während ich mir einredete, dass Papa vermutlich doch Recht hatte. Greg würde bestimmt bald wieder hier auftauchen und ziemlich beschämt um Vergebung für seinen heftigen Gefühlsausbruch bitten. So war es bisher immer gewesen. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Kapitel 13: Gregor ------------------ Die Sommerhitze schlug mir wie eine undurchdringliche Wand entgegen, als ich die Haustür aufriss. Ich musste hier raus. Schnell. Fast hätte ich es in den letzten Sekunden noch vermasselt. Ich war schon so nah dran gewesen, nach draußen zu stürzen, hinaus in die Freiheit, wo kein Schreckgespenst in Form verquerer, verbotener Gefühle auf mich wartete. Doch dann hatte Mel nach mir gerufen und ihre Stimme war so voller Schmerz und Angst gewesen, dass ich mich einfach hatte umdrehen müssen. Sie hatte so verzweifelt gewirkt, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen und an mich gedrückt hätte. Doch mir war klar, dass ich das nicht gedurft hatte. Zu groß wäre die Gefahr gewesen, dass ich mich hätte vergessen können und sie doch noch geküsst hätte. Schon als ich ihr über die Wange gestreichelt hatte, um sie irgendwie zu trösten, und sie sich schutzsuchend an meine Handinnenfläche gepresst hatte, hatte die Stimme hinter meiner Stirn unaufhörlich gehetzt, ich solle Mel endlich küssen, sie wolle das doch auch. Wie paralysiert hatte ich auf ihre Lippen gestarrt, diese vollen, das Paradies versprechenden Lippen, und hatte mich, ohne es selbst zu merken, ein winziges Stück vorgelehnt. Wie ich es geschafft hatte, mich dann doch noch loszureißen, ohne alles kaputt zu machen, wusste ich selbst nicht mehr. Vielleicht war ich doch stärker, als ich es mir selbst zugetraut hatte. Ich hastete die Straße hinunter und blieb wieder einmal an der Kreuzung stehen, von der aus ich sowohl Richtung Stadt als auch Richtung Industriegebiet weiter gehen konnte. Der Schweiß rann mir in breiten Bahnen den Rücken hinab und der Träger meines nur einseitig geschulterten Rucksacks schnitt mir unangenehm ins Fleisch. Wohin sollte ich jetzt gehen? Ich gab es ungern zu, doch so weit hatte ich nicht im Voraus gedacht. Da noch einiges an organisatorischem Kram mit dem Internat, auf das meine Eltern und ich uns letzte Nacht noch geeinigt hatten, zu klären war, musste ich mir für die nächsten Tage eine Bleibe suchen. Aber wo? Ungefragt tauchte ein Bild vor meinem geistigen Auge auf, wie ich früher unzählige Nächte bei Chris verbracht hatte. Sollte ich über meinen Schatten springen und zu Chris gehen? Noch waren er und seine Mutter in der Stadt... Mit einer unwirschen Handbewegung vertrieb ich diesen Gedanken. Nein. Chris hatte mich bereits einmal im Stich gelassen. Ich brauchte ihn nicht. Ich kam auch ganz gut ohne ihn zurecht. Das leise „Wirklich?“, das durch meinen Geist huschte, ignorierte ich einfach. Also, wohin jetzt? Ich wandte den Kopf nach links. Ich hätte mir ein kleines Lager in einem der leer stehenden Fabrik-Gebäude einrichten können. Sicher, es wäre nicht gerade eine Luxusbleibe gewesen, aber es sollte ja auch nicht für lange sein. Ich wäre frei gewesen, zu tun und zu lassen, was ich wollte, ohne dass ich jemandem Rechenschaft schuldig gewesen wäre. Trotzdem entschied ich mich dagegen. Egal, wie tief ich vielleicht gefallen war, ich war nicht bereit, mich wie ein Obdachloser zu benehmen. Dafür war ich dann doch noch immer zu stolz. Ich wuchtete meinen Rucksack wieder ein Stück hoch und wandte mich nach rechts. Während ich auf die Bushaltestelle zuging, ließ ich meine letzten Minuten zu Hause Revue passieren. Mels Schauspieltalent lag definitiv in der Familie. Ich hatte die halbe Nacht wachgelegen und mir ausgemalt, was passieren würde, sollte meine Schwester uns dieses kleine Theaterstück nicht abkaufen. Erstaunlicherweise war diese Angst vollkommen unbegründet gewesen. Paps hatte seine Rolle so überzeugend gespielt, dass ich mich für einen kurzen Moment gefragt hatte, ob ich nicht vielleicht wirklich adoptiert war. Und auch Mutter hatte zur richtigen Zeit die richtigen Worte gefunden – dabei war das gar nicht abgesprochen gewesen. Sie hatte einfach ein Talent dazu, bei Streitigkeiten mit mir immer das Falsche zu sagen. Sie hatte mich nie verstanden. Umso erstaunlicher war es, dass sie meine Gefühle für Mel so schnell begriffen hatte... An der Haltestelle angekommen, lehnte ich mich gegen das kleine Häuschen aus Plastikglas und Metall, das an regnerischen Tagen die Fahrgäste trocken halten sollte. Nicht nur der überzeugende Auftritt meiner Eltern hatte mich verblüfft. Ich hätte mir vorher nie träumen lassen, dass ich in der Lage war, sie grundlos so fürchterlich anzuschreien. Aber ich hatte einfach all die Wut, die ich über die ganze Situation empfand, in meine Stimme gelegt und plötzlich war es wie von selbst gegangen. Irgendwie erschreckte mich das ein wenig. Wäre ich womöglich auch in der Lage dazu gewesen, Mutter oder Paps zu schlagen? Wie viele Abgründe, von denen ich bislang nichts geahnt hatte, hatte meine Seele? Ein näherkommendes Motorengeräusch erweckte meine Aufmerksamkeit. In einiger Entfernung bog gerade ein langer, rotbrauner Linienbus auf die Hauptstraße ein und hielt auf die Haltestelle zu, an der ich stand. Überrascht warf ich einen Blick auf die Uhr in meinem Handy. Normalerweise kam der Bus hier niemals pünktlich. Wenige Augenblicke später hielt das große Fahrzeug neben mir, wobei sein Motor seltsam ratterte und gurgelte. Scheinbar war es nicht mehr das allerneuste Modell. Ich hielt dem Fahrer, der desinteressiert nickte, meine Monatskarte unter die Nase und ließ mich auf eine der ersten freien Bänke fallen. Aus dem graurot gemusterten Polster stieg eine ekelige Wolke Staub und Dreck auf. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was ich da alles einatmete. Außer mir waren kaum andere Fahrgäste im Bus. Auf der hintersten Bank fummelte ein junges Pärchen, das sich offenbar weder zu ihm noch zu ihr nach Hause traute, und einige Reihen schräg hinter mir saßen zwei ältere Damen, die aufgeregt miteinander tuschelten und mir immer wieder heimliche Seitenblicke zuwarfen. Ich wusste, dass ich fast genauso mitgenommen aussah wie ich mich fühlte. In den letzten Nächsten hatte ich kaum Schlaf bekommen, weswegen ich tiefdunkle Ringe unter den Augen hatte. Außerdem war meine Kleidung alt und ausgefranst und ich hätte mir eigentlich dringend die Haare waschen müssen. Vermutlich überlegten die alten Frauen, ob ich ein Junkie war und Probleme machen würde. Absurd. Früher einmal hätte ich ohne mit der Wimper zu zucken gesagt, ich sei ein guter Mensch. Ich bemühte mich stets um Gerechtigkeit und war in meinem Freundeskreis ein beliebter Streitschlichter. Ich las lieber zu Hause in meinem Zimmer, anstatt auf der Straße herum zu lungern. Ich war ein guter Schüler und hatte mich bisher nur einmal auf dem Schulhof geprügelt. Ich nahm keine Drogen, rauchte nicht und trank nur selten – und wenn, dann achtete ich darauf, dass ich mich nicht zu sehr betrank. Doch konnte ein Mensch, der seine eigene Schwester begehrte, überhaupt gut sein? War es jetzt nicht total egal, was ich tat? Ich lehnte den Kopf gegen die heiße Fensterscheibe und überlegte, ob ich meine Seele, mein Karma oder was auch immer noch mehr verderben konnte oder ob ich tatsächlich schon ganz unten angekommen war. Ich konnte es mir richtiggehend bildlich vorstellen, wie ich nach meinem Tod in der Warteschlange vorm Himmelstor stand und Kinderschänder, Mörder und andere Kriminelle herzlich empfangen wurden, ich jedoch in die Hölle geschickt wurde. Der steht ja auf seine Schwester, igitt. Pfui, so etwas wollen wir hier nicht haben. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, an der nächsten Haltestelle auszusteigen, in den nächstgelegenen Supermarkt zu schlendern, mir hochprozentigen Alkohol zu kaufen und mich anständig zu betrinken. Vielleicht hätte ich so die ganze Sache zumindest für eine kurze Zeit vergessen können – und so gewaltig wie mein Sündenberg durch meine Gefühle für Mel geworden war, hätte dieses kleine Saufgelage doch eigentlich gar nicht auffallen dürfen. Ich schüttelte den Kopf und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Wir wohnten in einem kleinen, ländlichen Vorort, dessen Umgebung von flachen Feldern und saftig grünen Wiesen bestimmt war, doch schon bald tauchten die ersten grauen Gebäude der Stadt auf. Sich zu betrinken war auch keine Lösung. Es war einfach nur feige und dumm. Trotzdem hatte mich dieser Gedanke auf eine Idee gebracht. Ich wusste jetzt, wo ich die nächsten Tage verbringen würde. Markus! Dafür, dass mir diese Möglichkeit nicht eher eingefallen war, hätte ich mir am liebsten in den Hintern getreten. Ich konnte zwar nicht sagen, dass ich Markus übermäßig mochte, aber er stellte wenigstens keine Fragen und war mindestens genauso herunter gekommen wie ich. Er würde ohne große Erklärungen akzeptieren, dass ich für ein paar Tage nicht nach Hause konnte, und mich bei ihm schlafen lassen. Vermutlich würde er sich irgendeine absurde, schauerliche Theorie dazu einfallen lassen, warum ich nicht heim wollte, und sich köstlich darüber amüsieren, dass ich, der brave Sohn aus gutem Hause, gefallen war, aber das war mir egal. Ich musste sein schmieriges, pickeliges Gesicht und seine lahme, bekiffte Art ja nur ein paar Tage ertragen. Ich hoffte nur, dass ich vor lauter Passivrauchen nicht so high wurde, dass ich ihm von Mel erzählte. Kapitel 14: Melanie ------------------- Die Wipfel der Bäume schwankten sacht im Wind hin und her, wobei ihre dunkelgrünen Blätter ein leises, raschelndes Lied sangen. Ich setzte mich auf die Fensterbank von Gregs geöffnetem Fenster und betrachtete das kleine Wäldchen, das hinter unserem Grundstück stand. Früher hatten mein Bruder und ich dort oft gespielt. Wir waren auf Bäume geklettert und hatten uns als Indianer verkleidet auf Jagd oder den Kriegspfad begeben. Unser Baumhaus, das wir an einem Nachmittag in die weit ausladenden Äste einer Eiche gebaut hatten, war leider nicht besonders stabil gewesen und bei dem ersten Sturm auf den belaubten Waldboden gekracht. Ich seufzte und lehnte den Kopf gegen den Fensterrahmen, als eine warme, nach Heu duftende Abendbrise mein Gesicht streichelte. Greg fehlte mir jetzt schon so sehr, dass ich das Gefühl hatte, daran ersticken zu müssen – dabei war er gerade mal vier Tage fort. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es noch werden würde, wenn er nie wieder kam. Ich brauchte meinen Bruder einfach, er war ein Teil von mir. Wo mochte er jetzt wohl sein? Hatte Finchen doch Recht und er hatte irgendwo eine geheime Freundin oder einen versteckten Freund, zu dem er sich nun geflüchtet hatte? Oder erklärte die Tatsache, dass er herausgefunden hatte, dass er nur adoptiert war, sein merkwürdiges Verhalten der letzten Wochen hinreichend? Wenn man davon ausging, dass er eine Ahnung schon länger mit sich herum geschleppt hatte, machte es durchaus Sinn. Vielleicht hatte er einen Tipp von irgendjemandem bekommen oder irgendetwas gefunden, dass ihn auf die Idee gebracht hatte, adoptiert zu sein. Ich versuchte, mir das Ganze vorzustellen, mich in Greg hineinzuversetzen. Ich stellte mir vor, wie er etwas fand, das in ihm den Verdacht regte, adoptiert zu sein – ein Bild von seiner leiblichen Mutter vielleicht. Wie hätte ich darauf reagiert? Während ich einem Flugzeug hinterher sah, das leise rauschend über unseren kleinen Vorort hinweg flog, gestand ich mir ein, dass ich vermutlich ähnlich reagiert hätte wie Greg. Ich hätte mich ebenfalls in mich selbst zurückgezogen, wäre still und schweigsam geworden und hätte versucht, das Problem für mich selbst zu lösen. Ich hätte mich immer und immer wieder gefragt, ob meine Befürchtungen der Wahrheit entsprechen könnten und was es für mich bedeuten würde, wenn dem so wäre. Hatte Greg sich dieselben Fragen gestellt? Mit einem Stich im Herzen dachte ich an einen möglichen Grund, für seine Distanziertheit mir gegenüber. Hasste er mich dafür, dass ich das leibliche Kind unserer Eltern war? Nein, das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Dafür hatte er mich beim Abschied viel zu liebevoll angesehen. Wahrscheinlicher erschien mir, dass er einfach nur verwirrt und vielleicht ein wenig neidisch auf mich war. In meiner Vorstellung sprang ich zeitlich hin und her. Nachdem ich jetzt für mich die Frage, ob die Sache mit der Adoption der einzige Grund für Gregs Zurückgezogenheit sein konnte, mit einem Ja beantwortet hatte, ließ ich meine Gedanken zu seinen letzten Tagen zu Hause schweifen. Die letzten zwei Tage, bevor er gegangen war, hatte er sich extrem merkwürdig verhalten. Er war stundenlang weg geblieben, ohne jemandem zu sagen, wo er hin ging, nur um dann verweint und völlig apathisch wieder nach Hause zu kommen. Ich war mir sicher, dass er zu diesem Zeitpunkt die Adoptionsurkunde bereits gefunden und mit der unumstößlichen Gewissheit gekämpft hatte. Vermutlich hatte er sich irgendwo verkrochen und Kraft und Mut gesammelt, um unsere Eltern damit zu konfrontieren. Doch was war mit seiner Flucht aus der Aula? Wie passte das ins Bild? Ich richtete meinen Blick wieder auf die rauschenden Baumkronen des kleinen Wäldchens. Wie wäre ich an seiner Stelle mit so einer Situation umgegangen? Ich vermutete, dass Greg auch an diesem Abend bereits in Besitz der Adoptionsurkunde gewesen war. Vermutlich hatte er mir zu Liebe versucht, sich zusammenzureißen, doch irgendwann war sein Schmerz angesichts der familiären Situation so groß geworden, dass er hatte fliehen müssen. Hatte er sich womöglich sogar gefragt, ob unsere Eltern nur deswegen so stolz auf mich gewesen waren, weil ich ihre leibliche Tochter war? Hatte er sich etwa als Kind zweiter Klasse gefühlt? Ich atmete erleichtert auf, als ich feststellte, dass sein sonderbares Verhalten der letzten Wochen endlich einen Sinn ergab. Es bedeutete mir viel, dass ich meinen Bruder endlich wieder verstand. Dadurch fühlte ich mich ihm wieder ein kleines bisschen näher, obwohl er noch immer weg war. In diesem Moment klingelte irgendwo unten das Telefon. Ich ließ mein linkes Bein an der Fensterbank hinab ins Zimmer baumeln und ignorierte das Läuten einfach. Hier am Fenster, in Gregs Zimmer, mit dem kleinen idyllischen Wäldchen am Horizont war es so friedlich, dass ich gar keine Lust hatte, aufzustehen. Außerdem war Mama ja auch noch da. Eine kleiner, schwarzweißer Vogel flog in einer eleganten Schleife am Fenster vorbei. Vermutlich war es eine Schwalbe, die sich einige Mücken und Fliegen zum Abendbrot fing. Das Telefon bimmelte noch immer unablässig. Langsam nervte es. Gerade als ich überlegte, warum Mama nicht abhob, erschien sie in der offenstehenden Tür – vollbepackt mit einem riesigen Berg Wäsche. „Würdest du bitte endlich ans Telefon gehen, Mel?“ Ihre Stimme klang so genervt und gereizt, dass ich ohne zu murren aufsprang und nach unten hastete. Seit Greg uns verlassen hatte, war Mama öfter mal übellaunig und barsch. Wahrscheinlich vermisste sie ihn trotz der Spannungen zwischen ihnen genau so sehr wie ich. In meiner Eile sprang ich vom untersten Treppenabsatz und rutschte mitsamt dem Flurteppich ziemlich unsanft gegen die Wand. Sofort fuhr mir ein stechender Schmerz ins Knie, doch ich humpelte so schnell ich konnte weiter aufs Telefon zu. Langsam war ich neugierig, wer so viel Ausdauer hatte und was so extrem wichtig war, dass der Anrufer es jetzt schon seit fast fünf Minuten klingeln ließ. Als ich endlich den Hörer abhob, war ich völlig außer Atem und schaffte es nur, ein schwaches „Ja?“ zu keuchen. Auf der anderen Seite der Leitung blieb es gespenstisch still. Ich fragte mich, ob ich zu spät gekommen und der Anrufer es doch noch aufgegeben hatte, da hörte ich die Atemgeräusche. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinab. War das einer von diesen perversen Anrufen, bei denen Männer sich einen Kick holten, indem sie Frauen Furcht einflößten, weil sie am Telefon einfach nur atmeten oder stöhnten? Ängstlich hielt ich den Atem an und lauschte. Der Anrufer schien mehrfach tief Luft zu holen und räusperte sich dann. Und dann sagte er endlich etwas: „Hey, Schwesterherz. Wie geht’s dir?“ „Greg!“ Vor Überraschung ließ ich beinah den Hörer fallen. Meine Hände waren plötzlich schweißnass und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich war so unendlich froh, endlich etwas von ihm zu hören. „Greg! Wo... Wo bist du?“ Wieder hörte ich unendlich lange nur seine gleichmäßigen Atemzüge, doch dieses Mal jagte es mir keine Angst mehr ein. Jetzt, wo ich wusste, dass mein Bruder am anderen Ende der Leitung war, hätte ich ihm stundenlang beim atmen zuhören können, einfach nur, um ihm nah zu sein. „Ich bin bei Markus.“, kam mit etlichen Minuten Verzögerung die Antwort, wobei Gregs Stimme zögerlich, unwillig klang. Wieso wollte er mir nicht verraten, wo er war? Hatte er Angst, ich könnte es unseren Eltern verraten? Eigentlich hätte er wissen müssen, dass ich im Ernstfall immer zu ihm halten und niemals sein Versteck ausplaudern würde. Unbewusst schob ich die Unterlippe vor und zog einen Schmollmund. Sein fehlendes Vertrauen enttäuschte mich und bohrte sich wie ein stumpfes, gezacktes Messer in mein Herz. Dennoch machte ich mir sofort wieder Gedanken um Greg. Wieso zur Hölle war er bei Markus und nicht bei einem seiner Freunde? Sicher, auf der einen Seite konnte ich das durchaus nachvollziehen. Markus’ Eltern interessierten sich kein Stück für ihren Sprössling, weswegen er tun und lassen konnte, was er wollte – also auch Bekannte auf unbestimmte Zeit beherbergen. Damit hatte Greg ohne lästige Fragen und schmerzende Erklärungen ein Dach über dem Kopf. Aber trotzdem störte mich etwas daran. Wollte er nicht mit jemandem darüber reden, was in ihm vorging? Brauchte er nicht eine Schulter, an die er sich anlehnen konnte oder wenigstens jemanden, der sich anhörte, was ihn belastete? Dafür war Markus sicherlich keine Wahl. Es war der ganzen Schule bekannt, dass Markus in seiner eigenen kleinen, verrauchten Welt lebte, in der vermutlich alles aus Marihuana bestand. Doch ich schob diese Gedanken und die Trauer über Gregs Misstrauen einfach zur Seite. Ich wollte diese Gelegenheit mit ihm zu reden nicht damit verschwenden. Wer wusste schließlich, wann er das nächste Mal anrief? „Wann kommst du wieder nach Hause?“ Wieder nur Atmen am anderen Ende der Leitung. Überlegte er nun, ob er es mir sagen wollte oder grübelte er darüber nach, wann er zurückkommen würde? Ich spürte bis in den kleinen Zeh, wie heftig mein Herz schlug. Ich war so gespannt auf seine Antwort, dass ich sogar mein eigenes Blut in den Ohren rauschen hörte. Doch als Greg endlich antwortete, machte sich herbe Enttäuschung in mir breit. „Gibst du mir mal bitte Mutter. Ich muss da was mit ihr bereden.“ Es hätte weit weniger wehgetan, wenn er mir ins Gesicht geschlagen hätte. „Wann... Wann kommst du denn nun wieder?“, versuchte ich es noch einmal, doch das Ergebnis blieb gleich. „Holst du mir bitte Mutter ans Telefon?“ Wie so oft strömten mir die Tränen übers Gesicht. Hieß das jetzt etwa, dass er nie wieder nach Hause zurückkommen würde? Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich weinte, als ich antwortete, doch Greg hörte es, bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte. „Es tut mir leid, Mel. Ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme. Aber ich denk die ganze Zeit an dich.“ Irrsinnigerweise fühlte ich mich sogleich besser. Wenn er an mich dachte und ich an ihn, waren wir dann nicht trotzdem irgendwie einander nah? Irgendwo in einer transzendenten Gedankenwelt? Mit einem kleinen Lächeln legte ich den Hörer neben das Telefon. Vermutlich waren wir weit und breit die Einzigen, die noch kein schnurloses Exemplar hatten... Irgendwie musste ich dabei jedoch versehentlich an den Knopf für den Lautsprecher gekommen sein. Jedenfalls schallte plötzlich Gregs leicht verzerrte Stimme durch den Raum, nachdem Mama den Hörer an sich genommen und ihn begrüßt hatte. Zwar versuchte Mama geradezu panisch die Freisprechfunktion wieder auszustellen, doch bis sie die richtige Taste gefunden hatte, hatte Greg bereits ausgesprochen: „Hallo Mutter. Mir geht’s gut. Ich wollte mich nur mal erkundigen, wie’s jetzt aussieht mit dem Internat.“ Kapitel 15: Gregor ------------------ Irgendwo in einem der Bäume neben mir saß ein kleines Käuzchen und rief in die Nacht hinaus. Gänsehaut kroch mir das Rückgrad hinauf, als mir wieder einfiel, dass die Menschen früher geglaubt hatten, dass der Ruf eines Käuzchens den Tod eines Menschen ankündigt. Es war paradox, dass mein Körper auf solche Schauergeschichten reagierte, obwohl ich nicht an sie glaubte. Wozu auch? Ich lebte meine eigene Horrorstory. Ich verlagerte mein Gewicht auf das rechte Bein und betrachtete gedankenverloren das kleine Häuschen, das so still und dunkel auf der anderen Straßenseite lag. Die unterschiedlichen Rot-Töne des Ziegelwerks fielen zu dieser Uhrzeit gar nicht mehr auf. Es war als hätte das fahle Mondlicht allem um mich herum die Farben entzogen. Alles wirkte schwarzgrau, mit einer dünnen Schicht Silberpuder. Ich warf einen Blick auf die Uhr in meinem Handy. Inzwischen stand ich schon fast drei Stunden hier, gut versteckt im Schatten einer großen Linde. Ich hatte das Haus und seine Bewohner beobachtet, wie sie langsam ein Licht nach dem anderen gelöscht hatten. Zu meiner Schande musste ich gestehen, dass meine Aufmerksamkeit ganz besonders einem Fenster und der sich manchmal darin zeigenden, zierlichen, dunklen Silhouette gegolten hatte. Mit einem Seufzer legte ich den Kopf schief und warf erneut einen Blick auf Mels Fenster. Hinter den wie so oft schlampig zugezogenen, dünnen Vorhängen war noch immer ein sanfter Lichtschimmer zu erkennen. Vermutlich lag meine Schwester im Bett und las noch oder war über einem Buch eingeschlafen – es wäre nicht das erste Mal gewesen. Am nächsten Tag sollte mein erster Tag auf dem Internat sein, mein erster Tag von meinem neuen Leben. Deswegen stand ich nun schon seit Stunden in der Dunkelheit und beobachtete die Geschehnisse rund um mein Elternhaus. Ich versuchte, mit meinem alten Leben abzuschließen. Denn wenn ich wieder kam, dann wollte ich ein neuer Greg sein. Einer, der sich nicht nach seiner Schwester verzehrte. Ich hoffte, dass der Abstand zu Mel mir helfen würde, meine widernatürlichen Gefühle zu überwinden, und ich nicht dem anderen Impuls nachgab, den ich in den letzten Tagen all zu oft verspürt hatte: das plötzliche Bestreben, einfach alles hin zu werfen und damit zu leben, dass ich ein schlechter Mensch, nein, ein Monster war – und mich auch dementsprechend zu verhalten: saufen, rauchen, rumhuren und die ganze verhasste Existenz einfach wegwerfen. Doch wann immer ich mit diesem Gedanken spielte, kam mir Mel wieder in den Sinn. Dann musste ich mir jedes Mal vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn sie von diesem Lebenswandel erfahren würde. Sie wäre enttäuscht und angeekelt. Vielleicht würde sie mich sogar hassen, weil ich all die Chancen, die ich gehabt hätte, einfach weggeworfen hätte. Die Vorstellung, meine Schwester könnte mich abstoßend finden – sei es wegen meiner Gefühle für sie oder weil ich mich aufgab – schnürte mir die Kehle zu. Ich konnte mit vielem leben. Ich würde irgendwie verkraften, dass ich ein Monstrum war, und ich würde es überstehen, dass ich meine Familie nicht mehr sehen konnte. Doch ich würde niemals damit leben können, wenn Mel mich mit Ekel in den Augen ansehen würde. Das Licht hinter den Vorhängen erlosch. Anscheinend hatte sich meine Schwester endlich dazu entschlossen, sich schlafen zu legen. Ich murmelte einen leisen Gute-Nacht-Gruß und schickte ihr einen Kuss hoch, bevor ich mich abwandte und zurück auf den Weg zu Markus machte. Morgen war mein erster Tag vom neuen Leben. Ich würde diese Chance nutzen, das nahm ich mir ganz fest vor. Ich würde meine Gefühle überwinden und dann hierher zurückkehren – so wie ich es Paps versprochen hatte. Ja, es schien fast als hätte ich den ersten Schritt zum neuen Greg mit der Anmeldung am Internat bereits getan. Kapitel 16: Teil 2 - Neubeginn: Gregor -------------------------------------- Knarsch, knarsch... Die kleinen, weißen Kiesel unter mir machten bei jedem meiner Schritte lustige Geräusche. Der gepflegte Kiesweg wand sich in einem leichten Bogen hinauf zu dem grauen Gebäude, das in einiger Entfernung auf einem kleinen Hügel stand. Um mich herum erstreckten sich weite, ordentlich gemähte Rasenflächen, die stellenweise von bunten Beeten voller Sommerblumen unterbrochen wurden. Die Sonne leuchtete hell an einem tiefblauen Mittagshimmel voller Schäfchenwolken. Alles wirkte friedlich und einladend. Trotzdem spürte ich wie Nervosität mir langsam durch den Brustkorb nach unten kroch, mir das Atmen schwer machte und sich schließlich in meinem Magen einnistete. Ganz plötzlich hatte ich das Gefühl, ich müsste mich augenblicklich übergeben. Ich versuchte, meine Aufregung hinunter zu schlucken und setzte meinen Weg eisern fort. „Es wird dich niemand beißen. Stell dich nicht so an.“, ermahnte ich mich selbst, als mein Magen erneut schmerzhaft krampfte. Wieso war ich so nervös? Hatte ich etwa Angst vor der ungewohnten Umgebung, den neuen Lehrern oder den anderen Schülern? Das war doch albern! Ich war nicht einmal schüchtern... Zurückhaltend und still ja, aber nicht schüchtern. Also kein Grund zur Panik. Inzwischen hatte ich das gewaltige Internatsgebäude erreicht und legte den Kopf in den Nacken, um an den hohen Mauern aus dicken, grauen Steinen hinauf zu sehen. Kleine Türmchen mit spitz zulaufenden Dächern schraubten sich in den leuchtendblauen Himmel und einige Fenster waren mit Buntglas geschmückt. Von hier aus konnte ich nichts erkennen, doch ich vermutete, dass darin irgendwelche Jagdszenen oder Ritterspiele abgebildet waren. Von meinem Vater hatte ich erfahren, dass dieses Gebäude früher einmal ein kleines Jagdschlösschen eines gutbetuchten Grafen gewesen war, bevor es schon vor über Hundert Jahren zu einem Internat umgebaut worden war. Zögerlich legte ich meine Hand auf die imposante, reichverzierte Klinke, die sich trotz der Sommerhitze kühl und glatt anfühlte. Mit einem nervösen Brennen im Magen atmete ich mehrfach tief durch und stieß dann die breite, mit Schnitzereien geschmückte Holztür auf. Die Angeln knarrten protestierend und mir schlug der feuchtkalte Muff von alten Gemäuern entgegen. Überrascht zog ich die Nase kraus. Irgendwie hatte ich erwartet, dass es in einem bewohnten Schloss anders riechen würde als in denen, die lediglich als Museum genutzt werden. Ich zupfte am Riemen meiner Reisetasche, der mir unangenehm auf der Schulter scheuerte. Paps hatte mir die Tasche, die zu meiner Überraschung voller neuer Klamotten war, an diesem Morgen heimlich mitgebracht. „Ein kleines Abschiedsgeschenk.“, hatte er gesagt, als ich mit großen Augen abwechselnd ihn und den Inhalt der Tasche angestarrt hatte. Dann hatte er mich mit einem „Komm bald wieder.“ fest an sich gedrückt, was mich noch mehr irritiert hatte. Dass er mich noch immer anfassen konnte, obwohl er von meinen widerlichen Gefühlen für Mel wusste, wollte einfach nicht in meinen Kopf. Die ganze Zeit, während Paps und ich auf den Zug gewartet hatten, hatte ich darauf gehofft, dass Mutter auch noch kommen würde, doch sie war nicht aufgetaucht. Natürlich nicht. Im Gegensatz zu Paps zeigte sie genau die Reaktion, mit der ich von Anfang an gerechnet hatte: Sie mied mich, wo sie nur konnte. Sogar am Telefon war sie jedes Mal kurzangebunden und abweisend gewesen. Obwohl ich stets davon ausgegangen war, dass es so sein würde, schmerzte es mich dennoch überraschend stark. Das Innere des Internats war angenehm kühl und durch die hohen Fenster fiel das Licht in breiten, goldenen Bahnen auf dicke, aus roter Wolle geknüpfte Teppiche, die jedes Schrittgeräusch schluckten. Generell war es hier drin erstaunlich ruhig dafür, dass über Hundert Schüler an dieser Schule angemeldet waren. Ich fragte mich, ob überhaupt schon einer meiner zukünftigen Mitschüler aus den Ferien zurück war. Nach einem kurzen Blick auf eine neben der ausladenden Treppe, deren Fuß gut die Hälfte der Eingangshalle einnahm, aufgestellten Informationstafel wandte ich mich nach links. Vor mir lag ein langer, schlauchförmiger Korridor mit unzähligen wie poliert wirkenden Türen aus dunklem Holz. Irgendwo da musste die Direktorin ihr Büro haben. Langsam ging ich den Gang hinab, wobei ich es befremdlich fand, meine eigenen Schritte nicht zu hören. Wieder rieselte eine neue Welle der Nervosität durch meinen Körper. Noch konnte ich umdrehen, davon laufen, mir zu Hause die Decke über den Kopf ziehen und hoffen, dass meine Gefühle auch dann verschwanden, wenn ich mich nicht selbst ins Exil schickte. Paps war der Meinung gewesen, dass ich lieber daheim bleiben und mich meinen Dämonen stellen sollte. „Niemand hier will dich vermissen müssen.“, hatte er mir eindringlich zugeflüstert. Ich hatte betreten geschwiegen und auf den Boden gestarrt. Erstens war ich mir nicht sicher gewesen, ob er tatsächlich für alle Mitglieder unserer Familie gesprochen hatte oder ob nicht zumindest meine Mutter insgeheim ganz froh darüber war, dass ich ging, und zweitens hatte ich große Zweifel daran, dass ich stark genug wäre, Mels Nähe noch lange auszuhalten, ohne dem Drängen meiner Verdorbenheit nachzugeben. Doch wenn ich jetzt das Büro der Direktorin betrat, wäre mein neuer Weg besiegelt. Dann würde ich meine Familie und Freunde für eine vermutlich sehr lange Zeit nicht mehr sehen. Ich würde völlig neu anfangen. Erneut meldete sich das nervöse Kribbeln tief in meiner Magengrube. Nein, ich würde jetzt nicht kneifen und mich in meinem kuscheligen Bett verkriechen. Ich würde hier bleiben und diesen Weg gehen, auch wenn das bedeutete, dass ich das erste Mal in meinem Leben allein und völlig auf mich gestellt war. Ich konnte das. Ein wenig zaghaft klopfte ich an die Bürotür von Frau Dr. Andersen, während mein Magen auf und ab hüpfte. Alles auf Null. Ein Neuanfang. Ich würde das jetzt durchziehen und kämpfen. Ich mochte zwar vielleicht von Geburt an ein Monster mit tiefschwarzer Seele sein, doch ich würde diese Chance nutzen, mich neu zu finden, neu zu definieren. Hinter der Tür rief jemand mit lauter, fester Stimme: „Herein!“ Ich holte tief Luft und wischte meine schwitzigen Hände an meiner Jeans ab, dann trat ich ein. Das Büro von Frau Dr. Andersen war ein großer, heller Raum mit hohen Decken, die in einem blütenreinen Weiß strahlten. Die großen Fenster, die von schweren Vorhängen aus dunklem Samt eingerahmt wurden, sorgten für einen herrlichen Ausblick auf die Parkanlagen hinter dem kleinen Schlösschen. An den Wänden erstreckten sich langgezogene Bücherregale, die bis zum Bersten gefüllt und so hoch waren, dass ich die obersten Bücher nur mit Mühe erreicht hätte. Auf dem Boden waren polierte Holzbohlen aus fast schwarzem Holz – Mooreiche? – verlegt und in der Mitte des Raums lag einer der offenbar typischen, dicken, roten Teppiche. Auf dem Teppich stand ein wuchtiger Schreibtisch, der nur eine Nuance heller war als die Bodendielen und den ganzen Raum zu dominieren schien. Hinter dem Tisch saß eine zierliche Frau mittleren Alters, die mich streng musterte. Frau Dr. Andersen legte einen silbernen Füllfederhalter zur Seite und strich sich eine Strähne ihres langen weißblonden Haares, die sich aus dem strengen Knoten an ihrem Hinterkopf gelöst hatte, hinters Ohr. Dann schob sie ihren Stuhl, der nahezu geräuschlos über den Boden glitt, zurück, streckte ihre grazilen Beine aus und rückte ihre rahmenlose Brille auf der Nase zurecht. Die ganze Zeit über sah sie mich so intensiv an, dass ich vollkommen vergaß, wie man sprach. Nach schier unendlichen Minuten zog sie die rechte Augenbraune in die Höhe und befeuchtete ihre knallrot geschminkten Lippen. Irgendwie erinnerte sie mich eher an eine Femme fatale als an eine Schuldirektorin. „So, du bist also der junge Gregor?“ Vor Überraschung klappte mir der Mund auf, was Frau Dr. Andersen ein spöttisches Lächeln ins Gesicht zauberte. Mit einiger Verzögerung fiel mir wieder ein, dass meine Eltern zusammen mit der Bewerbung ein Foto von mir hatten schicken müssen – für den Schülerausweis. Noch immer betrachtete mich Frau Dr. Andersen mit diesem stechenden, strengen Blick aus ihren kornblumenblauen Augen. Wunderte sie sich darüber, dass ich allein, ohne Eltern angereist war? Fragte sie sich, was ich Schlimmes angestellt hatte, dass weder meine Mutter noch mein Vater sich in der Lage sahen, mich hier her zu begleiten? Oder roch ich noch immer nach Markus’ unzähligen Joints? Ich versuchte unauffällig an meinem T-Shirt zu riechen und zog die Nase kraus. Ich hätte meine Idee, meine Kleidung während der Bahnfahrt aus dem offenen Zugfenster zu halten, doch in die Tat umsetzen sollen. „Dann will ich dir mal als Erstes dein Zimmer zeigen.“ Frau Dr. Andersens Stimme war tief und rauchig und stand in starkem Kontrast zu ihrem schmalen, fast elfenhaften Körper. Während ich ihr durch die langen, kühlen Gänge des Internats folgte, fragte ich mich, wie es diese zierliche Person schaffte, sich genügend Respekt zu verschaffen, um eine ganze Schule zu leiten. Auf dem Weg zu meinem Zimmer durchquerten wir wieder die große Eingangshalle, in der sich inzwischen ein paar Menschen eingefunden hatten. Ich entdeckte einige junge Kinder, die sich mit großen, ängstlichen Augen an ihre Eltern klammerten. Neuankömmlinge, genau wie ich. Frau Dr. Andersen nickte einigen, mit Gepäck beladenen Jugendlichen zu, die sich gerade von ihren Eltern verabschiedeten. Auf der Treppe kam uns ein Mädchen mit kurzem, strubbeligem Haar entgegen, das etwa mein Alter hatte. Doch mehr als das Mädchen selbst stach mir sein schwarzes, leicht schlabberiges T-Shirt ins Auge. Auf der Vorderseite prangte ein weißhaariger Mann in einem roten Ledermantel, der mit Pistolen bewaffnet war und vor einem großen, mit einem Totenkopf verzierten Schwert stand, während noch weiter im Hintergrund rotgleißende Blitze niedergingen. Etwa auf Höhe des Oberschenkels des Mannes war ein sanft geschwungener Schriftzug. Ich riss den Kopf herum und starrte dem Mädchen hinterher. Kein Zweifel, es trug tatsächlich ein „Devil May Cry“-Shirt! „Devil May Cry“ war schon immer eines von Chris’ Lieblingsspielen gewesen und ich hätte Dante, den Hauptprotagonisten, vermutlich sogar im Halbschlaf erkannt, weil ich Chris so oft beim Zocken über die Schulter geschaut hatte. Überrascht beobachtete ich das Mädchen, wie es schwungvoll um die Ecke bog und aus meinem Blickfeld verschwand. Frau Dr. Andersen hatte inzwischen schon die Hälfte der Treppe erklommen. Irgendwie hatte ich nie gedacht, dass es Mädchen gab, die Videospiele wie „Devil May Cry“ spielten. Angesichts dieser jungen Frau, die mir gerade begegnet war, fühlte ich mich sofort wie ein Chauvinist. Warum sollten Mädchen keine Beat ’em Ups spielen? Plötzlich riss mich jemand so brutal herum, dass ich beinah die Treppe herab gestürzt wäre. „Glotzt du meiner Schwester hinterher oder was?!“ Vor mir stand ein riesiger, bulliger Typ, den ich auf Anfang Zwanzig schätzte. Er sah mich aus vor Wut geweiteten, braunen Augen an, die eine derartige Aggression zeigten, dass ich ein wenig verschreckt rückwärts taumelte. Irgendwo hinter dem Typen grölten ein paar andere Jungs, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Vermutlich waren es Freunde von diesem Schläger, der mich anstarrte, als wollte er mir an Ort und Stelle die Arme aus den Gelenken reißen. Ich hätte mich gerne nach Frau Dr. Andersen umgesehen, doch irgendwie spürte ich, dass das ein Fehler gewesen wäre. Stattdessen drückte ich meinen Rücken durch und presste die Lippen aufeinander. Ich würde mich nicht rum schubsen lassen. „Vielleicht. Aber selbst wenn: Was willst du dagegen machen?“ Dem Schläger stieg langsam die Zornesröte ins Gesicht und seine Halsschlagader pochte gefährlich. Ich biss mir von innen auf die Wange und versuchte, mir einzureden, dass ich mich nicht von ihm einschüchtern lassen würde. „Ich zeig dir gleich, was ich dagegen machen will!“ Mein Gegenüber packte mich am Kragen und hob seine massige Faust, während ich die Augen zusammen kniff. Das würde gleich sehr, sehr wehtun... Was hatte ich auch so eine große Klappe haben müssen? Doch anstatt das Knirschen meiner eigenen Knochen zu hören, drang plötzlich die schneidende Stimme der Direktorin an meine Ohren: „Manuel! Lass ihn los, sofort!“ Ich blinzelte vorsichtig und begegnete dem rasenden Blick meines Gegenübers. Für eine unendlich lange Minute schien Manuel der Aufforderung von Frau Dr. Andersen nicht nachkommen zu wollen, doch als sie ihm drohte, seine Eltern darüber in Kenntnis zu setzen, senkte er mit einem irritierend verletzten Flackern in den Augen endlich seine erhobene Faust. Mit einem wilden Knurren schubste er mich grob nach hinten, sodass ich mit dem Unterrücken schmerzhaft gegen das Treppengeländer stieß. „Das wird ein Nachspiel haben, Blondie. Wenn du meine Schwester auch nur noch einmal ansiehst, mach ich dich fertig.“ Dann wandte er sich um und verschwand mit seinen Kumpels, die mir alle mit einer Geste zu verstehen gaben, dass ich ein toter Mann war, sollte ich Manuels Schwester zu nahe kommen. Ein wenig verängstigt und mit weichen Knien sah ich dem Schlägertrupp hinterher und fragte mich, was gerade passiert war. Als hätte mich dieses Mädchen interessiert... Ich atmete tief durch, rückte mein Gepäck zurecht und sah zu meiner Direktorin auf, die mit einem ungeduldigen Gesichtsausdruck auf mich wartete. Während ich die vielen Stufen in den zweiten Stock hinaufstieg, fragte ich mich, womit ich es verdient hatte, gleich an meinem ersten Tag den Idioten der Schule zu begegnen. Mit einem Anflug von Zynismus fiel es mir wieder ein. Das elfte Gebot: Begehre niemals deiner Eltern Tochter. Ach ja. Das Zimmer, in dem ich untergebracht wurde, lag auf der Ostseite des ehemaligen Schlosses und hatte ein großes Buntglasfenster. Mit grünen, roten, gelben, blauen und braunen Glassplittern hatte der Künstler eine Szene aus einem Lanzenduell zu Pferd dargestellt. Ich fand es wunderschön. Zu meiner Überraschung war das Zimmer jedoch mit nur einem weiß bezogenen Bett, einem schmalen Schrank und einem massiven Schreibtisch ausgestattet. „Wir legen hier sehr viel Wert darauf, dass jeder unserer Schüler einen privaten Rückzugsraum und die Möglichkeit hat, ungestört arbeiten zu können. Wir halten nichts von Mehrbettzimmern. Das gibt nur Unruhe.“, erklärte Frau Dr. Andersen, als sie meinen fragenden Blick bemerkte. Ich nickte stumm und ließ meine Reisetasche und meinen Rucksack zu Boden gleiten. Mit einem Einzelzimmer hatte ich nicht gerechnet. Aber so musste ich mich wenigstens mit niemandem um ein Bett oder den Platz im Schrank streiten. Meine Direktorin lächelte mich fast mütterlich an, doch die Wärme erreichte ihre eiskalten, hart glänzenden Augen nicht. „Ich lass dich dann erst mal auspacken. Abendessen ist um 18 Uhr unten im großen Speisesaal.“ Sie machte ein paar kurze trippelnde Schritte auf die Tür zu, wobei das Klackern ihrer Pumps von den auch hier verlegten Teppichen geschluckt wurde. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal zu mir um. „Ach, bevor ich es vergesse: Drogen sind hier nicht gestattet. Auch kein Marihuana.“ Mit diesen Worten verschwand sie im Flur und ich stöhnte leise auf. Ich war erst ein paar Stunden hier, doch ich war bereits beim schulansässigen Schlägertrupp bekannt und meine Direktorin hielt mich für einen Kiffer. Was für ein miserabler Start... Kapitel 17: Gregor ------------------ Etwa anderthalb Stunden vor dem Abendessen verließ ich mein Zimmer wieder, nachdem ich ein wenig gelesen und meine neuen Kleider bestaunt und fein säuberlich in den Schrank einsortiert hatte. Inzwischen waren deutlich mehr Schüler aus den Ferien zurückgekehrt und man hörte hier und da eine Tür zuschlagen oder leise Unterhaltungen. Anscheinend waren alle damit beschäftigt, auszupacken und über die Ferien vermisste Freunde zu begrüßen. Es schien mir die perfekte Zeit zu sein, um das Internat und seine Parkanlagen ein wenig zu erkunden. Schnell schloss ich meine Zimmertür hinter mir ab und eilte mit federnden Schritten die Treppe hinunter. Von meiner bedrückenden Nervosität war nichts geblieben. Ich hatte den Schritt tatsächlich gewagt und es fühlte sich gut an. Mir war, als könnte mich nichts aufhalten. Wäre da nicht das leise zwickende Heimweh und die Sehnsucht nach Mel gewesen, die sich unablässig wie dünne Nebelschwaden durch meinen Geist schlängelte, wäre ich direkt glücklich gewesen. So war ich einfach gespannt auf die Zeit, die vor mir lag. In der Eingangshalle hielt ich kurz inne, um mich zu orientieren. Von Frau Dr. Andersen wusste ich, dass im ersten Stock die Klassenzimmer lagen, die ich noch früh genug kennen lernen würde. Ich wusste auch, dass die Stuben für Schüler und Lehrer im zweiten Stock, sowie in den Dachzimmern der Türme untergebracht waren. Doch was sich alles im Erdgeschoss befand, entzog sich bisher meiner Kenntnis. Ich hatte große Lust, ein wenig herum zu streunen und es heraus zu finden. Trotzdem stieß ich stattdessen die schwere Fronttür auf und trat in das honiggoldene Nachmittagslicht. Noch immer trieben bauschige Schäfchenwolken über den langsam blasser werdenden, blauen Himmel und es lag ein herrlicher Sommergeruch nach warmer Erde in der Luft. Bei so wunderschönem Wetter musste ich einfach draußen sein – da hatte das Erdgeschoss leider zu warten. Mit beschwingten Schritten bog ich um die Ecke des Internatsgebäudes und staunte nicht schlecht. Der sich vor mir erstreckende Park war viel größer als er vom Fenster der Direktorin aus gewirkt hatte. Zu meiner Rechten lag ein ausladender, rot geaschter Tennisplatz und links konnte ich in einiger Entfernung Schilfrohr erkennen, was einen Teich oder sogar einen See erahnen ließ. Begeistert hielt ich auf die zartgrünen Halme und die dicken, braunen Pfeifenputzer zu, die in einer sanften Abendbrise hin und her tanzten. Ich hatte Wasser schon immer geliebt. Bereits als Kind hatte ich stundenlang am Seeufer sitzen und das Glitzern der bewegten, sich kräuselnden Oberfläche beobachten können und Schwimmbadbesuche waren für mich immer ein Fest gewesen. Unwillkürlich fragte ich mich, warum ich eigentlich nie im Schwimmverein gewesen war. Ich marschierte eine sanft abfallende Wölbung hinab und fand mich schon bald am Ufer des kleinen Sees wieder. Auf der spiegelnden Oberfläche trieben einige Seerosen mit voll entfalteten, weißen Blüten, deren Blätter am unteren Rand einen zart rosafarbenen Strich aufwiesen. Die langen Strahlen der Sonne brachen sich auf dem Wasser und ließen es in vielen bunten Farben glitzern. Ich ging in die Hocke und beobachtete einige kleine, schwarzgeschuppte Fische, die sich in Ufernähe aufhielten. Über ihnen huschten einige ein wenig desorientiert wirkende Wasserläufer hin und her und hinterließen zarte, sich langsam ausbreitende Kreise auf der Oberfläche. Neben mir schwirrte eine dicke, grüne Libelle mit knatternden Flügelschlägen durch die Luft. Alles hier wirkte so friedlich und idyllisch, das einem einfach das Herz aufgehen musste. Es war schwer vorstellbar, dass jemand an dieser Stelle sitzen und sich nicht an der Schönheit der Natur erfreuen konnte. Gerade als ich beschloss, dass der See gute Chancen hatte, mein liebster Rückzugsort zu werden, spürte ich, dass mich jemand beobachtete. Sofort riss ich den Kopf hoch und sah mich um – wie ein Reh, das Gefahr witterte. Auf einer Bank, die ein Stück rechts von mir fast versteckt zwischen zwei Jasminbüschen stand, saß eine junge Frau mit kurzen, pechschwarzen Haaren, deren Spitzen sich wild nach außen bogen, und blickte ungeniert zu mir herüber. In ihren klaren braunen Augen blitzte der Schalk, als sie eine Hand hob und mir zuwinkte. Für einen Moment war ich so perplex, dass ich ihre Kleidung kaum wahrnahm. Doch als ich das T-Shirt erkannte, von dem aus mir der weißhaarige Dante lässig entgegen blickte, gefror mir beinah das Blut in den Adern. Manuels Schwester! Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie er reagiert hätte, hätte er mich an so einem abgeschiedenen Ort in der Nähe seiner Schwester entdeckt. Vermutlich hätten er und seine Kumpels mich augenblicklich grün und blau geschlagen. Allein der Gedanke daran, ließ mich zittern, was mir wiederum ziemlich sauer aufstieß. Warum ließ ich mich von einem postpubertären Neandertaler so verängstigen? Doch auch wenn ich wusste, dass es feige war, wollte ich plötzlich einfach nur noch weg. Mit einem Mal wirkte der kleine See gar nicht mehr friedlich und einladend. Stattdessen hatte ich nun das Gefühl, von dem reflektierten Licht geblendet zu werden, das knatternde Flügelschlagen der Libelle hallte viel zu laut in meinen Ohren wider und die Fische schienen mich stumm auszulachen. Ohne den Gruß des Mädchens zu erwidern, wandte ich mich um und lief zurück zum Internatsgebäude. Sollte sich Manuels Schwester doch bei ihm beschweren, dass ich ein unhöflicher, ungehobelter Klotz war... Dann konnte er mir wenigstens nicht vorwerfen, ich wäre ihr zu nahe gekommen. So schnell ich konnte, hechtete ich die vielen Treppen zum Wohntrakt nach oben. Dort angekommen eilte ich zu meinem Zimmer, wo ich die Tür etwas zu schwungvoll ins Schloss schmiss. Ein lauter Knall hallte durch die hohen Flure des ehemaligen Jagdschlösschens und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich dafür Ärger bekommen würde. Alle anderen hier schienen so diszipliniert zu sein, dass es mir beinah Angst machte. Genervt warf ich mich aufs Bett und starrte auf die gekalkte Wand über mir. Meine gute Laune war vollständig verflogen und ich fühlte mich plötzlich schrecklich allein. Eine einsame Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel, als mich fürchterliches Heimweh packte. Ich hätte alles darum gegeben, in diesem Moment eine Partie Schach mit meinem Vater zu spielen, der dabei immer lustige Geschichten aus seiner Studienzeit erzählte, oder meiner Mutter beim Kochen zu helfen. Doch vor allem sehnte ich mich nach Mel. Sie war meine bessere Hälfte und der Sonnenschein in meinem Leben. Ich knuffte mir meine Bettdecke zurecht, kuschelte mich an den so entstandenen Wulst aus Daunen und Leinen und versuchte mir festzustellen, dass ich stattdessen meine Schwester im Arm hielt. Ich redete mir ein, dass ich ihre weiche Haut unter meinen Fingerkuppen spürte, dass sich die sanfte Rundung ihres Pos leicht gegen meinen Bauch drückte und dass mich eine ihrer langen Strähnen am Hals kitzelte. Als ich fast glaubte, auch ihren zarten Erdbeergeruch in der Nase zu haben, schlief ich ein. Kapitel 18: Veronica -------------------- Das Erste, was ich von dem Jungen bemerkte, war sein goldenes Haar, das sacht von einer Brise bewegt wurde und sein Gesicht umgab wie ein weicher Kranz lodernden Feuers. Das warme Nachmittagslicht brach sich schillernd auf den samtig anmutenden Strähnen und zauberte bunt glitzernde Reflexe in das seidige Gold. Fast unbewusst fuhr ich mir mit einer Hand durch meine etwas stumpf wirkenden schwarzbraunen Haare und schmeckte sofort den beißenden Geschmack von Neid im Mund. Er erinnerte mich immer an einen ekeligen Hustensaft, den ich als Kind einmal verschrieben bekommen hatte und von dem ich jedes Mal hatte brechen müssen. Durch den ungewöhnlichen Metallschimmer im Haar des Jungen neugierig geworden, musterte ich sein Gesicht. Es hatte hohe Wangenknochen, ein markantes Kinn, eine gerade, etwas zu kurze Nase, deren Spitze leicht nach oben gerundet war, und schön geschwungene Lippen, die genauso gut auch einer Frau hätten gehören können. Irritiert stellte ich fest, dass sie ihren Besitzer dennoch nicht unmännlich oder gar feminin wirken ließen. Während ich die fast symmetrischen Züge und die glatte, ebenmäßige Haut des Jungen betrachtete, spürte ich, wie sich der beißende Geschmack nach ranzigem Hustensaft immer weiter ausbreitete. Dies war ein Gesicht, für das vermutlich jede Frau dieser Welt einen Mord begangen hätte – allerdings um es für sich selbst zu haben und nicht um es an ihrem Freund zu sehen. Irgendwie erschien es unfair, dass ausgerechnet ein Mann mit solch einer natürlichen Schönheit gesegnet war. Doch als ich die Augen des Jungen bemerkte, schämte ich mich sofort für meinen Neid. Aus der Entfernung konnte ich ihre Farbe nicht hundertprozentig erkennen, aber sie schienen von einem kräftigen Hellgrün zu sein. Viel interessanter war jedoch der Ausdruck, der sich in ihnen spiegelte. Sie waren ein wenig trüb, so als wäre ihr Besitzer tief in Gedanken oder seiner eigenen Welt, und drückten solch eine Wehmut aus, dass es mir beinah das Herz abschnürte. Ich schlug die Beine übereinander und fragte mich für einen kurzen Moment, ob der Junge wohl Heimweh hatte. Ich hatte ihn bisher noch nie hier gesehen und viele der Neuankömmlinge vermissten ihre Familie in den ersten Wochen sehr – auch die Jungs, egal wie stark und unemotional sie sich sonst gerne gaben. Gedankenverloren rupfte ich eine der weißen Blüten aus dem Jasminbusch neben mir, als ich an meine erste Zeit im Internat dachte. Mein Bruder hatte damals arge Probleme gehabt, seinen Platz hier zu finden, und hatte lange mit unserer Situation gehadert – viel länger als ich. Insgeheim fragte ich mich, ob er sich inzwischen tatsächlich eingepasst hatte oder ob er einfach nur gelernt hatte, seinen inneren Schmerz besser zu verstecken. Der Junge wandte den Kopf ein wenig und das Licht, das auf seinen Haaren tanzte, lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Erneut betrachtete ich seine Augen und versuchte, in ihnen zu lesen. Die ganze Zeit hoffte ich, der gequälte Ausdruck würde endlich aus ihnen verschwinden, doch nichts passierte. Entweder badete dieser Junge gerne in Selbstmitleid oder er hatte extrem heftiges Heimweh... Unmerklich schüttelte ich den Kopf und lehnte mich ein wenig vor, um das Gesicht des Jungen noch besser sehen zu können. Jetzt erkannte ich den angespannten Zug um seinen Mund und die dunklen Schatten auf der gräulichen Haut. Der Junge wirkte müde und ausgemergelt, so als würde ihm etwas langsam alle Kraft entziehen. Ich ließ meinen Blick ein weiteres Mal zurück zu seinen Augen wandern und fröstelte ein wenig angesichts des unveränderten Ausdrucks von Verzweiflung, Trauer und Schmerz, der sich in ihnen spiegelte. Er schien mir in der Zwischenzeit sogar noch ein wenig stärker geworden zu sein. Nein, was immer diesen Jungen beschäftigte, es war definitiv kein Heimweh. Dafür war die Qual in seinen Augen nun einfach zu intensiv. Sie schien sich tief in seinem Innersten eingenistet zu haben. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der traurige Glanz in den Augen des Jungen selbst dann nicht ganz verschwinden würde, sollte er lachen. Seine ganze Haltung erweckte den Eindruck als zöge ihn irgendetwas zu Boden. Jähes Mitgefühl brach wie eine Flutwelle über mir zusammen und ich überlegte, ob ich einfach zu dem Jungen herüber gehen und mit ihm reden sollte. Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, zu erfahren, was ihn so fertig machte, und ihm zu helfen. Gerade als ich mich auf die Füße schwingen wollte, schnellte der Kopf des Jungen herum, so als hätte der Gedanke, mich zu ihm zu setzen, ihm auf einmal meine Anwesenheit verraten. Von diesem Zufall belustigt, hob ich die Hand und winkte, doch die Züge des Jungen verhärteten sich augenblicklich. Sogar seine Augen, die vorher so offen und verletzlich gewirkt hatten, blickten plötzlich verschlossen und abweisend. Trotzdem empfand ich einen seltsamen Triumph, als ich bemerkte, dass der vorherige Schmerz noch immer in ihnen glänzte wie ein fast vergessener Schatten in der Abenddämmerung. Bevor ich etwas sagen konnte, richtete der Junge sich auf und bewegte sich beinah im Laufschritt auf das Internatsgebäude zu. Ein wenig irritiert sah ich ihm hinterher, bis seine hochgeschossene, schlaksige Figur aus meinem Blickfeld verschwunden war. Was war nur so plötzlich in ihn gefahren, dass er grußlos die Flucht ergriffen hatte? Und was mochte ihn nur so sehr leiden lassen, dass der Schmerz in seinen Augen wie eingebrannt wirkte? Während die letzten, roten Sonnenstrahlen des Tages über den See tanzten und ihn wie eine riesige Blutlache aussehen ließen, schwor ich mir, dass ich es herausfinden würde. Obwohl ich diesen Jungen überhaupt nicht kannte, spürte ich auf einmal das beinah unbändige Verlangen, ihm zu helfen. Ich fragte mich kurz, ob dies an seinem attraktiven Äußeren liegen könnte, verwarf den Gedanken dann jedoch rasch wieder. Eigentlich wusste ich doch ganz genau, woher mein Drang, die Trauer aus seinem Gesicht zu wischen und durch ein strahlendes Lächeln zu ersetzen, kam: Der verzweifelte Schmerz in seinen Augen hatte mich einfach zu sehr an mich selbst erinnert. Denn auch wenn ich es nur ungern zugab, musste ich gestehen, dass ich nach all diesen Jahren noch immer in tiefe Verzweiflung stürzte, sobald ich allein war. Mit einem Stich im Herzen wurde mir klar, dass ich dem Jungen nur aus einem Grund helfen wollte: Ich wollte mir selbst helfen. Wenn es einen Weg gab, den Schmerz dieses Jungen zu heilen, der so viel stärker zu sein schien als mein eigener, dann gab es sicherlich auch eine Möglichkeit, meine eigene Trauer zu überwinden. Ich musste es einfach versuchen. Ich war die vielen Tränen dermaßen leid... Kapitel 19: Gregor ------------------ Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich hundsmiserabel. Mein Kopf dröhnte und schmerzte so sehr, dass ich mir fast sicher war, dass er auf die doppelte Größe angeschwollen war – was anatomisch gesehen natürlich vollkommen unmöglich war. Langsam und schwerfällig setzte ich mich auf und schwang die Füße über die Bettkante. Für einen kurzen Moment kreisten die bunten Scheibenstücke meines Fensters vor mir wie in einem Kaleidoskop. Stöhnend stützte ich die Ellbogen auf die Knie und vergrub mein Gesicht in der Dunkelheit meiner Hände. Das helle Licht der Sonne, das in mein Zimmer fiel, schmerzte in meinen Augen und verursachte ein widerliches Stechen irgendwo in meinem Hinterkopf. Am liebsten hätte ich die dicken Vorhänge aus bordeauxrotem Leinen zugezogen und mich wieder in meinem Bett verkrochen. Doch mit einem Blick auf die Uhr in meinem Handy stellte ich fest, dass ich dafür keine Zeit mehr hatte. Eigentlich hätte ich schon in diesem Moment beim Frühstück sitzen müssen, da in gut einer halben Stunde bereits Unterrichtsbeginn war. Bei dem Gedanken an Frühstück knurrte mein Magen vernehmlich, doch wenn ich mir vorstellte, mit diesen Kopfschmerzen etwas zu essen, überkam mich sofort ein heftiger Würgereiz. Also entschied ich mich dafür, lieber ausgiebig zu duschen, anstatt mich in einen Saal voller lärmender, sich unterhaltender Schüler zu setzen. Das Gemeinschaftsbad am hinteren Ende des östlichen Wohnzellentraktes war in zwei große Räume unterteilt und ganz anders als ich erwartet hatte. Im ersten Raum waren zu beiden Seiten jeweils sechs eckige Waschbecken mit einem polierten Spiegel angebracht. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fiel mir auf, dass ich mir am vergangenen Abend gar nicht die Zähne geputzt hatte. Schnell suchte ich aus meinem schwarzen Kulturbeutel, den ich vor einigen Jahren von Mel geschenkt bekommen hatte, Zahnpasta und Bürste heraus. Auf dem Waschbeckenrand, rechts neben dem Wasserhahn, lag ein Stück unbenutzter lila Seife, vermutlich Lavendel. Mit einem Blick durch den Raum stellte ich fest, dass alle Waschbecken mit neuen Seifenstücken ausgestattet waren. Ich fragte mich, ob sie dort schon seit Ewigkeiten lagen oder ob sie tatsächlich jeden Morgen ausgetauscht wurden. Im hinteren Raum befanden sich links von mir zwölf Duschzellen, die alle durch eine hohe, geflieste Mauer voneinander getrennt und mit einem dunkelblauen, undurchsichtigen Plastikvorhang versehen waren. An der Wand mir gegenüber waren hohe, weiß gestrichene Regale mit viel Stauraum für die mitgebrachte Kleidung und rechts von mir befanden sich die Toiletten. Ich zog mich aus, legte meine Klamotten und meinen Kulturbeutel auf das Regal und schnappte mir ein Handtuch, das ich an den dafür vorgesehenen Haken vor der nächsten Duschzelle hängte. Danach zog ich den Vorhang zur Seite und staunte nicht schlecht. Alles hier war so sauber, dass es mir beinah den Atem verschlug. In allen Jugendherbergen, in denen ich in meinem bisherigen Leben gewesen war, hatte das völlig anders ausgesehen. Dort war es teilweise so verdreckt gewesen, dass man sich fragen musste, ob man nach der Dusche wirklich sauberer war als vorher. Hier entgegen war alles so penibel geputzt, dass man beinah ein schlechtes Gewissen bekam, wenn man etwas dreckig machte. Als der kalte Wasserstrahl meinen Körper traf, seufzte ich wohlig auf, obwohl mein gesamter Körper von einer Gänsehaut überzogen wurde. Ich fror und konnte nur schwer den Impuls unterdrücken, das Wasser wärmer zu stellen, doch die Kälte schien meine Kopfschmerzen zu vertreiben. Etwa fünfzehn Minuten später huschte ich nur mit einem Handtuch bekleidet über den langen Korridor zurück zu meinem Zimmer. Da vermutlich alle anderen Schüler und Lehrer beim Frühstück waren, ging ich davon aus, niemandem zu begegnen. Wieder in meinem Zimmer angekommen, stand ich grübelnd vor meinem Schrank. Kalte Wassertropfen liefen mir aus den Haaren und den Rücken entlang. Mit einem Zeigefinger strich ich über die ordentlichen Stapel T-Shirts und überlegte, was ich anziehen sollte. Schließlich zuckte ich mit den Schultern und zog irgendein weißes Shirt aus dem Schrank. Ich war hier, um von meiner Sehnsucht nach Mel loszukommen und zu lernen, nicht um einen Styling-Wettbewerb zu gewinnen. „Wo ist dieser verfluchte Raum?“ Ich irrte etwas planlos durch die langen Gänge und suchte Raum 218. Ich hatte am vergangenen Tag zwar einen Stundenplan mit Raumangaben von Frau Dr. Andersen bekommen, doch bei der Raumsuche war ich offensichtlich auf mich selbst gestellt. Ich hätte mir dafür in den Hintern beißen können, dass ich mir nicht gleich gestern die Räume für die nächsten Tage gesucht hatte. Nach anfänglicher Verwirrung fand ich den Raum, in dem mein Mathematikleistungskurs stattfinden sollte, doch noch. Eigentlich war die Nummerierung der Räume logisch und sinnvoll. Wenn ich mich eher damit vertraut gemacht hätte, hätte ich Raum 218 ohne Probleme gefunden. Durch die geschlossene Tür klangen leise Stimmen. Irritiert warf ich die Stirn in Falten. Ich war doch früh genug losgegangen und hatte sogar ein wenig Suchzeit miteingerechnet.... Schnell warf ich einen Blick auf meine Uhr, die fünf nach acht anzeigte. Plötzlich fiel mir siedend heiß wieder ein, dass der Unterricht an diesem Internat bereits um Punkt acht begann und nicht erst zehn Minuten später wie es an meiner alten Schule üblich gewesen war. Hier dauerte eine Unterrichtseinheit auch tatsächlich eine ganze Stunde und nicht fünfundvierzig Minuten. Ich stöhnte innerlich auf. Gleich am ersten Tag zu spät... Was wollte eigentlich noch alles schief gehen? Zaghaft klopfte ich mit dem Gelenk meines Zeigefingers gegen die dunkle, intensiv gemaserte Holztür. Eine helle, etwas verwirrt klingende Männerstimme antwortete und forderte mich auf, einzutreten. Ich atmete tief durch und öffnete die Tür. Der Lehrer, der hinter einem schlichten Pult saß, war ein junger Mann mit vollem braunen Haar, wachen blauen Augen und einem gewinnenden Lächeln. Irgendwie erinnerte er mich an Paps und ich spürte einen leichten Anflug von Heimweh. Nachdem er mich kurz gemustert hatte, stand der Pauker auf und streckte mir die Hand entgegen. „Ah, du musst unser neuer Quereinsteiger sein. Ich bin Herr Friedrichs.“ Quereinsteiger... Das klang nach Wirtschaftsjargon und Karriere. Offenbar wurden die Schüler an dieser Schule schon allein durch die Wortwahl ihrer Lehrkörper darauf vorbereitet, dass sie später einmal die Chefsessel dieses Landes besetzen sollten. Es lebe die Elitenbildung... Ich schüttelte Herrn Friedrichs’ Hand und wappnete mich innerlich dafür, mich dem Kurs vorstellen zu müssen, doch stattdessen drückte mein Lehrer mir ein dickes Lehrbuch in die Hand und grinste. „’n bisschen spät aus dem Bett gefallen, was?“ Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich einfach nicken sollte, entschied mich dann aber doch für die Wahrheit. „Ich hab mich einfach noch nicht daran gewöhnt, dass wir hier schon um acht anfangen.“ Herr Friedrichs grinste noch breiter. „Das passiert den meisten Quereinsteigern. Ist nicht so schlimm. Jetzt setz dich erst mal hin und hör zu. Solltest du Probleme haben, den Anschluss zu finden, sag mir nach der Stunde einfach Bescheid. Wir finden dann schon eine Lösung.“ Ich nickte, umfasste mein Buch fester und wandte mich jetzt endlich meinen neuen Mitschülern zu. Die Tische waren in drei langen Reihen aufgestellt, die nach hinten in den Raum ragten. In der hintersten Reihe erkannte ich Manuel und seine Freunde. Manuel grinste mich diabolisch an und winkte unauffällig zu mir herüber. Sofort zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen und ich schaute schnell wieder weg. Als ich den einzigen freien Platz entdeckte, stöhnte ich innerlich auf. Er war neben einem Mädchen mit kurzem, wild verwuscheltem Haar, das mich aus neugierigen, braunen Augen musterte. Es trug noch immer das gleiche „Devil May Cry“-Shirt vom Vortag. Manuels Schwester... Unwillig setzte ich mich in Bewegung und ließ mich schwer auf den harten Holzstuhl fallen, wobei ich Manuels stechenden Blick im Rücken spürte. Das Leben war einfach nicht fair! Herr Friedrichs hatte gerade begonnen, zu wiederholen wie man bei einer Kurvendiskussion Extrempunkte berechnete, als mich das Mädchen neben mir ansprach. „Hi.“ Es hielt mir eine zierliche Hand mit langen, schmalen Fingern entgegen, die ich jedoch nicht ergriff. Stattdessen verschränkte ich die Arme vor der Brust und starrte nach vorne auf die Tafel. Nach einiger Zeit ließ das Mädchen seine Hand sinken, wagte aber einen zweiten Anlauf: „Ich bin übrigens Veronica. Meine Freunde nennen mich Vroni.“ Ich setzte die unfreundlichste Miene auf, die ich zu bieten hatte, und flüsterte zurück: „Ich bin Greg, aber Leute wie du nennen mich Gregor.“ Ich hatte beschlossen, dass es besser für meine Gesundheit war, wenn Veronica mich für einen unhöflichen Idioten hielt, mit dem sie nichts zu tun haben wollte. Zu meiner Überraschung lachte sie jedoch leise in sich hinein und lächelte mich breit an. Hinter ihrer leicht hoch gezogenen Oberlippe kamen gerade, sehr weiße Zähne zum Vorschein. „Du hast einen beißenden Sinn für Humor. Das ist toll.“ Ich warf ihr einen brummigen Seitenblick zu und fragte mich, ob das ein Flirtversuch werden sollte, doch für den Rest der Stunde blieb sie stumm. Anscheinend hatte sie einfach nur freundlich zu mir Neuankömmling sein wollen, um mir den Start zu erleichtern. Ich bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen, dass ich sie so angeblafft hatte. Während ich sorgfältig mitschrieb, betrachtete ich Veronica aus den Augenwinkeln. Sie hatte ein leicht ovales Gesicht mit einer ziemlich langen Nase und sehr vollen, aber blassen Lippen. Ihre langen Wimpern schlugen ihr jedes Mal gegen das Augenlid, wenn sie hoch sah, und sie hatte einen kleinen Leberfleck über dem linken Mundwinkel. Alles in allem wirkte ihr Gesicht besonders wegen der strahlenden Augen offen und fröhlich. Mit einem schnellen Blick musterte ich ihre Kleidung. Ihr T-Shirt war ihr ein wenig zu groß und umspielte locker ihren Körper, konnte aber trotzdem nicht ganz verstecken, dass Veronica offenbar sehr große Brüste hatte. Ihre langen, schlanken Beine steckten in hohen, geschnürten Stiefeln und einer schwarzen Strumpfhose. Ihr schwarzrotkarierter Rock hing tief auf ihren weiblichen, ausladenden Hüften und reichte ihr knapp bis zur Hälfte der Oberschenkel. Jetzt, wo ich mir Veronica etwas genauer angesehen hatte, konnte ich beinah verstehen, warum Manuel vermutete, dass jeder Junge, der seine Schwester anguckte, irgendwelche Hintergedanken hatte. Veronica hatte eine bombastische Figur und ein hübsches Gesicht dazu. Außerdem schien sie nicht eines dieser typischen Mädchen zu sein, die beim Anblick von Make-up vor Freude aufjauchzen und bei einem eingerissenen Fingernagel in Ohnmacht fallen. Sofort bedauerte ich ein wenig, dass ich mich von Manuel und seinen Freunden so hatte einschüchtern lassen. Veronica war sicherlich ein Mädchen, bei dem es sich lohnte, es näher kennen zu lernen. Ich schob den Gedanken schnell beiseite. Ich hatte nicht vor, hier neue Freundschaften zu schließen. Ich hatte nicht einmal meinen Freunden zu Hause gesagt, wo ich jetzt steckte. Die Angst, man könnte mir meinen Fluch bei genauerer Betrachtung doch irgendwie anmerken, war einfach zu groß. Ich hatte mich dafür entschieden, in Zukunft als einsamer Wolf zu leben und dabei sollte es auch bleiben. Ich konnte Menschen, die ihre Entscheidungen immer wieder umwarfen, nicht leiden. Von daher war es vielleicht ganz gut, dass Manuel mit solch Argusaugen über Veronica wachte. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und dachte an meine kleine Schwester. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie ich reagieren würde, brächte Mel einen Jungen mit nach Hause. Sofort durchschwappte mich eine Flutwelle bitterer Eifersucht. Ich fummelte an meinem Kugelschreiber und seufzte leise auf, was Veronica einen irritierten Seitenblick in meine Richtung werfen ließ. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die Trennung von Mel meine Sehnsucht nach meiner Schwester eher noch bestärkte als abschwächte... Kapitel 20: Veronica -------------------- Müde rieb ich mir über die Augen und gähnte. Eigentlich hatte ich nie Probleme damit früh aufzustehen, doch die letzte Nacht hatte ich viel zu lange wach gelegen und über den Jungen vom See nachgedacht. Erst als die kleinen, roten Ziffern meines Weckers auf zwei Uhr morgens gesprungen waren, hatte ich mich endlich gefragt, warum ich einfach nicht aufhören konnte, an diesen Jungen zu denken. Ja, ich hoffte, ihn wiederzusehen und etwas gegen den leidenden Ausdruck in seinem Gesicht unternehmen zu können, weil ich mich dann selbst besser fühlen würde. Wenn ein scheinbar so tief empfundener Schmerz wie bei diesem Jungen überwindbar wäre, dann hätte ich auch endlich wieder Hoffnung, dass mein gebrochenes Herz eines Tages heilen würde. Doch das konnte nicht der einzige Grund sein, denn sonst hätte ich aufhören können, über ihn nachzudenken – oder hätte zumindest über andere Dinge nachgegrübelt. Dann hätte ich Pläne geschmiedet, wie ich mit ihm ins Gespräch kommen und ihm sein Geheimnis entlocken könnte. Stattdessen musste ich immer wieder an das Gefühl denken, dass mich überkommen hatte, als ich sein gequält wirkendes Gesicht erblickt hatte: eine unbeschreibliche, fast mütterliche Wärme und das Bedürfnis, alles Böse dieser Welt von diesem Jungen fern zu halten. Plötzlich hallte ein lauter Knall wie ein Pistolenschuss durch den Klassenraum und ich zuckte heftig zusammen. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass Herr Friedrichs herein gekommen war. Das knallende Geräusch musste von seinem Lehrbuch gekommen sein, das er wie jeden Morgen achtlos auf sein Pult geworfen hatte. Ich richtete mich schnell ein wenig auf und suchte eine freie Seite in meinem Heft. Herr Friedrichs stellte seinen Aktenkoffer aus schwarzem Leder neben seinen Tisch und erklärte unsere Ziele für die heutige Stunde, während ich ein miesgelauntes Gesicht zog. Ich war immer gut in Mathe gewesen, doch Kurvendiskussionen würden mich irgendwann noch mal zu Tode langweilen, ich wusste es genau. Ich war fast froh, als meine Gedanken sich wieder verselbstständigten, den Klassenraum verließen und wieder an den vergangenen Nachmittag zurückkehrten. Obwohl er ziemlich groß und anscheinend auch recht kräftig war, hatte dieser Junge etwas an sich, das die Fürsorge in mir weckte und den Wunsch ihn zu beschützen in mir wach rief. Ich fragte mich, ob dies an dem Schmerz in seinem Gesicht lag, und schüttelte dann den Kopf. Nein, der Grund für dieses Bedürfnis war mehr als nur ein Paar leidend blickender Augen. Der Auslöser für mein Gefühl lag in seinem gesamten Erscheinungsbild – in seinen aufgebissenen Lippen, in seinen leicht nach vorn gekrümmten Schultern, in seinem milchigtrüben Blick, in dem Schwung seiner niedlichen Stupsnase. Denn trotz seiner Größe und der offensichtlichen körperlichen Stärke strahlte dieser Junge eine Schutzbedürftigkeit aus, der man sich einfach nicht entziehen konnte. Er wirkte zerbrechlich, so als wäre seine physische Kraft nur Teil einer dünnen Schutzschicht rund um ein kostbares, fragiles Innere. Irgendwie erinnerte er mich dadurch an eines der bunten Fabergé-Eier, die meine Mutter mit so viel Begeisterung gesammelt hatte. Als Kind hatte ich einmal versehentlich eines zwischen meinen kleinen Fingerchen zerbrochen und war erschüttert gewesen, wie wenig Kraft es bedurft hatte, etwas so schönes zu zerstören. Gerade als ich mich fragte, wer oder was wohl schuld daran war, dass die dünne Hülle des Jungen so heftige Risse bekommen hatte, dass er sein leidendes Inneres nicht mehr verbergen konnte, klopfte es ein wenig zaghaft an der Tür. Irritiert ließ ich meinen Blick schweifen, konnte aber keinen freien Platz entdecken. Anscheinend waren alle Kursteilnehmer bereits hier. Sofort machte mein Herz einen kleinen, nervösen Hüpfer, was mich den Kopf über mich selbst schütteln ließ. Es war bestimmt ungesund, dass ich jetzt schon so heftig auf den Gedanken an diesen Jungen reagierte. Herr Friedrichs schlug sein Buch zu und forderte den Menschen vor der Tür auf, einzutreten. Nach einem etwas zu langen Moment, so als hätte die Person kurz gezögert, trat eine hochgewachsene, sich sichtlich unwohl fühlende Gestalt ein. Es war der Junge vom See. Ich erkannte ihn an seiner ungewöhnlichen Haarfarbe schon bevor ich sein Gesicht sah. Mit einem jähen Anflug heißen Neids stellte ich fest, dass er offenbar gar kein direktes Sonnenlicht brauchte, damit seine Haare so kostbar schimmerten. Auch so wirkten sie, als hätte Rumpelstilzchen sie aus teuren Goldfäden gewebt. Während Herr Friedrichs mit ihm sprach, betrachtete ich das scharf geschnittene Profil des Jungen und ließ seine Stimme auf mich wirken. Die Töne seiner Worte sprangen zwischen hoch und tief hin und her, doch es war bereits jetzt zu erkennen, dass er irgendwann einmal eine ziemlich wohlklingende Stimmlage haben würde. Generell war der Junge eine sehr angenehme Erscheinung. Mit seinem ebenmäßigen Gesicht mit den feinen Zügen, dem fast unnatürlich wirkenden Goldschimmer seiner Haare und der scheinbar athletischen Figur wirkte er als wäre er gar nicht wirklich von dieser Welt. Er sah eher aus wie ein Engelskrieger, ein Seraph. Mit einem unterdrückten Kichern fragte ich mich, ob er unter seinem weißen T-Shirt wohl ein Paar Schwingen versteckte. Doch da es keine Engel gab, war es vermutlich sehr viel wahrscheinlicher, dass sich hinter der Maske aus Schönheit und Schmerz ein diabolischer Geist versteckte. Ich hatte schon öfter gehört, dass die brutalsten Menschen oft ein so engelsgleiches Gesicht hatten, dass ihre Opfer ihnen auch dann noch trauten, wenn sie mit blitzendem Messer auf sie zukamen. Unwillkürlich drängte sich mir die Frage auf, ob dieser Junge wohl zu jener Sorte Mensch gehörte und ob er heimlich kleinen Krabbeltieren Flügel und Beine ausriss oder Hunden und Katzen brennende Holzstücke an den Schwanz band. Vielleicht war sein leidender Gesichtsausdruck der letzte Rest eines fast verbannten schlechten Gewissens. Herr Friedrichs forderte den Jungen auf, sich einen Platz zu suchen. Fast ein wenig widerstrebend wandte dieser sich um und ließ seinen Blick über die Reihen schweifen. Sofort versuchte eine kleine Gruppe Mädchen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ganz besonders Sarah – eine aufgetakelte Tussi, die ich von ganzem Herzen hasste – warf sich ordentlich ins Zeug und lehnte sich so weit nach vorne, dass ihre flachen Hühnerbrüstchen beinah aus dem tiefen Ausschnitt ihres Tops fielen. Angewidert zog ich die Nase kraus. Wie konnte man sich einem Typen so dermaßen billig anbieten? Da konnte sie sich doch gleich eine Preisliste für ihre verschiedenen Dienstleistungen aufs T-Shirt drucken lassen... Doch während Herr Friedrichs rot anlief und sich verlegen hüstelnd hinter seinem Lehrbuch versteckte, schien der Junge von Sarahs Bemühungen gar keine Notiz zu nehmen. Ich wusste selbst nicht genau, warum, doch irgendwie erfüllte mich dies mit diebischer Freude. Inzwischen hatte der Junge seinen Blick bis in die hinterste Reihe wandern lassen. Plötzlich wurde er ein wenig blass um die Nase und zuckte kaum merklich zusammen. Irritiert warf ich einen Blick über die Schulter und entdeckte meinen Bruder, der ihm mit einem hämischen Grinsen zuwinkte. Ich seufzte unterdrückt. Was hatte Manuel jetzt schon wieder angestellt? Manuel litt noch viel mehr als ich unter dem Tod unserer leiblichen Eltern und hatte seitdem immense Probleme, sich in ein Sozialgefüge einzupassen. Eine Zeit lang hatten wir in einer Pflegefamilie gelebt, doch Manuel war so aufsässig und aggressiv gewesen, dass unsere „Eltern“ nur den Ausweg gesehen hatten, ihn aufs Internat zu schicken. Manuel hatte es geschafft, unseren eigentlich sehr sanftmütigen Pflegevater so sehr zu reizen, dass dieser drauf und dran gewesen war, ihn zu schlagen. Ich hätte bei der Familie bleiben können, hatte mich aber dafür entschieden, lieber meinen Bruder zu begleiten. Als offiziellen Grund hatte ich angegeben, dass ich versuchen wollte, einen mäßigenden Einfluss auf ihn auszuüben, doch in Wirklichkeit hatte ich es einfach nicht länger ausgehalten, bei diesen Menschen zu wohnen. Es war nicht so, dass sie schlecht zu uns gewesen waren. Es war mir einfach falsch erschienen, wieder in einer Familie zu leben. Ich hatte mich die ganze Zeit gefühlt, als hätte ich meine Eltern verraten. Die ersten Monate schien Manuel hier auf dem Internat förmlich aufzublühen, doch schon nach wenigen Wochen war er völlig zusammengebrochen und verwandelte sich unaufhaltsam in einen brutalen Schläger. Ich versuchte, ihn irgendwie wieder auf den richtigen Weg zu führen, doch er hatte mit seiner Einschüchterungstaktik viel zu viel Erfolg, um sie aufzugeben. Ich wünschte beinah, dass er an jemanden geraten würde, der ihm gewachsen war und sich nicht von ihm einschüchtern ließ. Vielleicht käme er dann endlich wieder zur Vernunft. Der goldhaarige Junge setzte sich mit grimmiger Miene neben mich und rückte seinen Stuhl unauffällig so weit von mir weg wie möglich. Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, schlug er sein Heft auf und begann seinen Kugelschreiber zwischen seinen Fingern wirbeln zu lassen. Erneut warf ich einen Blick über die Schulter und sah zu meinem Bruder herüber, der den Jungen anstarrte, so als wollte er riesige Löcher in dessen Rücken ätzen. Sofort drängte sich mir der Gedanke auf, dass sich der Junge vielleicht deshalb so abweisend verhielt, weil er bereits an meinen Bruder geraten war. Als Manuel bemerkte, dass ich ihn giftig anblitzte, zuckte er nur träge grinsend die Schultern – eine Geste, die ich nur allzu gut kannte. Sie bedeutete so viel wie: „Tja, dumm gelaufen.“ Also hatte er den armen Jungen neben mir tatsächlich bereits in die Finger bekommen... Wütend knirschte ich mit den Zähnen. Ich hatte es so satt, dass mein Bruder sich ständig in mein Leben einmischte. Es war zwar irgendwo wirklich süß von ihm, dass er sich Sorgen um mich machte und ihm kein Mann gut genug für mich war, aber er machte mich dadurch schrecklich einsam. Inzwischen hatte ich gar keine Freunde mehr. Die meisten Mädchen an dieser Schule waren verzogene Mäuschen aus reichem Elternhaus – genau die Sorte Mädchen, mit der ich einfach nicht klar kam und mit der ich auch nichts zu tun haben wollte – und die Jungs mieden mich, weil sie sich vor Manuel fürchteten. Wieder warf ich meinem Bruder einen finsteren Blick zu. Ich hoffte, dass er die stumme Warnung in meinen Augen verstand. Dieses Mal würde ich nicht zulassen, dass Manuel sich einmischte, dafür interessierte mich dieser Junge einfach schon viel zu sehr. Ich wollte wissen, welchen Schmerz er mit sich herum trug und ob wir uns tatsächlich so ähnlich waren wie mein Bauchgefühl es mir weiß machen wollte. Mit einem herzlichen Lächeln streckte ich ihm meine Hand entgegen. „Hi.“ Ganz langsam, fast wie in Zeitlupe wandte der Junge den Kopf und betrachtete meine Hand mit so einem eisigen Glitzern in den Augen, dass ich mir plötzlich irgendwie nackt fühlte. Erste Zweifel schlichen sich in meine Gedanken, als der Junge störrisch die Arme vor der Brust verschränkte und wieder nach vorn starrte. Vielleicht war mein Bruder doch unschuldig und dieser Junge mochte mich einfach schlicht und ergreifend nicht? Resigniert ließ ich die Hand wieder sinken und betrachtete meinen Tischnachbarn von der Seite. Aus der Nähe konnte ich nun erkennen, dass seine Augen in einem beeindruckenden Katzengrün strahlten und einen rötlichbraunen Ring um die Iris hatten. Durch den Rotstich hatten sie etwas seltsam Beunruhigendes. Rote Augen verband ich seit jeher mit Dämonen und anderen teuflischen Gestalten. Wieder musste ich daran denken, dass so manch diabolischer Geist hinter einem Engelsgesicht lauerte. Quälte dieser Junge wohl nur aus Spaß wehrlose Kleintiere? Rund um seinen Mund, dessen Unterlippe aufgebissen und blutig war, lag ein melancholischer Zug und die dünne Haut über seinen Tränensäcken schimmerte violettschwarz, so als hätte der Junge seit Ewigkeiten nicht mehr genügend Schlaf bekommen. Wieder richtete ich meinen Blick auf seine ungewöhnlichen Augen. Nein, sie machten mir keine Angst, so wie es die glühendroten Augen eines Dämons gemacht hätten. Dieses Augenpaar wirkte zwar ebenfalls irgendwie beängstigend, aber auf eine andere Art und Weise. Der Junge schien mit diesen Augen bis auf den Grund meiner Seele sehen zu können, wo sein Blick irgendetwas berühren und streicheln konnte, das bisher noch kein anderer Mensch je zu Gesicht bekommen hatte. Diese Augen brachten irgendeine Saite von mir zum Schwingen, die mir selbst vollkommen unbekannt war. Eine Saite, die zaghafte, aber gleichmäßige Wellen durch meinen Körper vibrieren und meine Handinnenflächen kribbeln ließ. Es waren Augen, in die man sich verlieben konnte. Ein wenig erschreckt von diesem Gedanken, verkrampfte ich meine Hände ineinander und wunderte mich zugleich über mich selbst. Warum war ich da nicht eher drauf gekommen? Meine Unfähigkeit nicht an ihn zu denken, mein Bedürfnis ihn zu schützen und mein Wunsch diesen Jungen lachen zu sehen... das alles sprach doch eine ganz eindeutige Sprache. Ich hatte nie daran geglaubt, dass man sich in einen Menschen verlieben konnte, ohne ihn wirklich zu kennen, doch als ich jetzt in dieses Engelsgesicht sah, zweifelte ich nicht mehr an dieser Möglichkeit. Dieser Junge war so schön, dass man ihn einfach lieben musste – so wie das bunte Schillern des gebrochenen Sonnenlichts auf kristallklarem Wasser, so wie die ersten zarten Blumenblüten nach einem langen, harten Winter. Es war nicht die Art von tiefer Liebe auf die man Partnerschaften aufbaute, sondern eine eher oberflächliche Liebe zur Schönheit selbst, die Glück und Lebensfreude versprach. Doch obwohl ich wusste, dass diese Empfindungen nichts mit echter, ehrlicher Liebe zu tun hatten, spürte ich den beinah unbändigen Drang, die Aufmerksamkeit des Jungen wieder auf mich zu ziehen, damit ich mich weiter an seinem Glanz erfreuen konnte. Ich hatte sogar fast Verständnis für Sarahs billige Masche. Dieser Junge war wie die erste Frühlingssonne, welche die Menschen wie Magie aus den Häusern auf die Straße, in die Parks und Eiscafés lockte. Der Rattenfänger von Hameln musste ein ganz ähnlicher Typ Mann gewesen sein. „Ich bin übrigens Veronica. Meine Freunde nennen mich Vroni.“, startete ich einen neuen Versuch, das Eis zwischen dem Jungen und mir zu brechen. Ohne mich anzusehen verzog er sein Gesicht zu einer unfreundlichen Maske und brummte: „Ich bin Greg, aber Leute wie du nennen mich Gregor.“ Für einen kurzen Moment war ich über so viel Feindseligkeit geschockt, doch dann erweckte ein schwaches Funkeln in Gregors Augen meine Aufmerksamkeit. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte so etwas wie Bedauern in ihnen aufgeblitzt, so als ob es ihm Leid täte, dass er so rüde war. Sofort fiel mir das höhnische Grinsen meines Bruders wieder ein, als er Gregor gewunken hatte. War es möglich, dass dieser aus Angst vor Manuel so abweisend war? Hatte mein Bruder ihn so sehr verängstigt, dass er sich nicht einmal mehr traute, mit mir zu sprechen? So leicht würde ich es ihm nicht machen... Anstatt beleidigt zu sein, kicherte ich ein wenig und flüsterte vergnügt zu ihm herüber: „Du hast einen beißenden Sinn für Humor. Das ist toll.“ Sofort zuckten seine Augen zu mir herüber. Während der Rest seines Gesichts missgelaunt und abweisend wirkte, schimmerte in ihnen pure Ratlosigkeit. Mit einem winzigen Grinsen wandte ich mich wieder meinem Heft zu und versuchte, meine Mitschrift, die ich bisher vernachlässigt hatte, zu vervollständigen. Ich hatte genau das erreicht, was ich mir erhofft hatte: Gregor war offensichtlich ziemlich verwirrt. Sollte er sich doch zur Abwechslung auch mal ein paar Gedanken um mich machen. Rätselhafte Mädchen waren interessant, richtig? Mit einem tiefen Gefühl von Befriedigung spürte ich für den Rest der Stunde seinen forschenden Blick auf mir, auch wenn er versuchte, unauffällig zu sein. Das lief doch wirklich gut. Ich würde ihn schon noch dazu kriegen, mit mir zu reden – irgendwann. Kapitel 21: Gregor ------------------ Die nächsten Wochen verliefen ohne große Überraschungen – selbst Mels Geburtstag Ende September überstand ich ohne all zu beißende Liebeskummerattacken. Inzwischen hatte ich mich eingelebt und mich in den Unterricht hinein gefunden. Anfangs hatte ich ein wenig Sorge gehabt, da meine alte Schule dem Internat ziemlich weit hinterher hinkte, doch mit ein bisschen Ehrgeiz und Einsatz hatte ich den fehlenden Stoff schon bald aufgeholt gehabt. Plötzliche Heimwehattacken kamen nur noch selten vor, auch wenn ich meine Familie noch immer sehr vermisste. Das Einzige, das mich störte, waren die Nächte. Noch immer träumte ich fast jede Nacht von Mel und es waren jedes Mal Träume voller Sehnsucht, Liebe und Hingabe. Einfach abstoßend. Ich saß gerade am Ufer des kleinen Sees, den ich an meinem ersten Tag hier entdeckt hatte, und dachte über meinen letzten Traum nach, als ich hörte wie jemand mit energischen, stampfenden Schritten auf mich zu kam. Sofort lösten sich die Bilder der nackten Mel, die sich wohlig schnurrend an meinen Körper presste, in Luft auf. Ich warf einen Blick über die Schulter und stand schnell auf, als ich sah, wer sich mir näherte. Nervosität schnürte mir den Magen ab und mein Herz hämmerte wie verrückt. „Hier verkriechst du dich also, Blondie!“ Ich rollte mit den Augen und sah Manuel entgegen, der mich mit wütend verzerrter Miene ansah. Ich fragte mich, was ich jetzt schon wieder verbrochen hatte. In all der Zeit hatte ich kein Wort mehr mit Veronica gewechselt und jeden ihrer Gesprächsansätze abgeblockt, obwohl es mir Leid darum tat. Sie schien ein kluges, nettes Mädchen zu sein. „Gibt’s ein Problem?“, fragte ich in einem überraschend neutralen Tonfall, während mir erste Schweißtropfen die Schläfen entlang liefen. Manuel blieb so knapp vor mir stehen, dass mir sein nach Pfefferminzbonbons riechender Atem ins Gesicht schlug. Seine Augen waren einen Tick dunkler als Veronicas und gingen mehr in Richtung Schokolade, während die Retina seiner Schwester eher die Farbe von uralter Baumrinde hatte. „Ja, ich glaube, du hast ein Problem, Blondie!“ Manuel schnaufte verächtlich und ich seufzte innerlich auf. Ich konnte gar nicht sagen, wie sehr mich dieser Spitzname nervte. „Warum ignorierst du meine Schwester? Ist Vroni dir nicht hübsch genug oder was?!“ Ich blinzelte Manuel irritiert an und traute meinen Ohren kaum. War das derselbe Mann, der mich noch vor kurzem zu Kleinholz verarbeitet hätte, wenn ich mit seiner Schwester gesprochen hätte? Einige Herzschläge lang konnte ich nichts anderes tun als Manuel verwirrt anzustarren, doch dann bekam ich endlich ein zaghaft klingendes „Bitte?“ heraus. Mein Gegenüber stieß mich ein Stück zurück und ich war froh, dass ich nur mit der Seite zum See stand. „Du weißt genau, von was ich rede!“ Ich funkelte ihn gereizt an und verfluchte ihn dafür, dass er mir diesen schönen Herbsttag versaute. „Nein, tue ich nicht.“ „Sie versucht seit Wochen, mit dir zu reden und du ignorierst sie einfach. Weißt du eigentlich, wie doof sie sich deinetwegen vorkommt?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu Manuel hinauf. Obwohl ich selbst nicht klein war, überragte er mich um einige Zentimeter. „Entscheide dich mal, was du willst. Erst drohst du mir, mich zusammen zu schlagen, wenn ich deiner Schwester zu nah komme und jetzt, wo ich mich von ihr fern halte, ist es auch nicht richtig!“ Manuel packte mich an meinem schwarzen Pullover mit der Aufschrift „Hexenverbrennungen, Kreuzzüge, Inquisitionen – wir wissen wie man feiert. Ihre Kirche.“ und zog mich dicht an sich heran. „Pass bloß auf, wie du mit mir redest, Blondie.“ Ich stemmte mich mit den Händen gegen seine Brust und versuchte, wieder ein Stück von ihm weg zu kommen. „Wo liegt eigentlich dein Problem, Manuel?“ „Du bist mein Problem! Ich kann Jungs wie dich einfach nicht ausstehen.“ Manuel verstärkte seinen Griff und riss so stark an meinem Pullover, dass ich Angst hatte, die Nähte könnten reißen. Sofort wallte heiße Wut in mir auf – schließlich war das mein Lieblingskleidungsstück! Mit plötzlichem Wagemut, von dem ich selbst nicht wusste, woher er kam, brüllte ich Manuel an: „Ach, und warum nicht? Vielleicht weil ich klüger bin als du – und hübscher?“ Manuel starrte mich mit offen stehendem Mund an, doch dann trat ein gefährliches Funkeln in seine Augen, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Trotzdem bereute ich meine Worte kein bisschen. Ich hatte gedacht, ich könnte Manuel einfach aus dem Weg gehen, aber anscheinend fand er immer irgendwelche Gründe, um mich anzugehen. Also würde ich mich wehren müssen, schließlich hatte ich nicht vor, mich für den Rest meiner Schulzeit von diesem zu groß geratenen Pitbull herum schubsen zu lassen. Manuel ließ mich los und riss die Faust hoch, während ich mich darauf gefasst machte, ausweichen zu müssen. Doch natürlich kam es, wie es kommen musste: Ich war zu langsam und der Schlag traf mich so heftig aufs Jochbein, dass ich das Gefühl hatte, mir würde der Kopf von den Schultern gerissen. Keuchend taumelte ich rückwärts und versuchte, den Schmerz unter Kontrolle zu bringen. Warme, klebrige Flüssigkeit lief mir über die Wange und kitzelte mich. Anscheinend war mir die dünne Haut über dem Gesichtsknochen aufgeplatzt. Doch bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte, stürzte sich Manuel bereits wieder auf mich. Dieses Mal schaffte ich es, rechtzeitig unter seinem Schlag hinweg zu tauchen. Beim Wiederaufrichten riss ich instinktiv den rechten Arm in die Höhe und ließ meinen Ellbogen auf Manuel niedersausen. Ich traf ihn genau zwischen den Schulterblättern und er krachte mit einem dumpfen Dröhnen auf den grasbewachsenen Boden. Sofort wirbelte ich herum, sprang ihm auf den Rücken, riss seine Arme nach hinten und presste mein Knie auf seine Wirbelsäule. So war er mir völlig ausgeliefert. Mit nur einer kleinen Bewegung konnte ich ihm höllische Schmerzen bereiten, indem ich ihm die Schultergelenke zu sehr verdrehte. Ich wollte ihn gerade triumphierend fragen, ob er genug hatte und mich zukünftig in Ruhe lassen würde, als mich plötzlich vier Hände packten und von ihm weg rissen. Manuels Freunde lachten mir bedrohlich ins Ohr, während ich hilflos rückwärts stolperte und mit Panik in den Augen beobachtete, wie Manuel wieder auf die Füße kam. Als er sich zu mir umdrehte, war sein Gesicht voller Dreck und mit kleineren Schrammen übersät, doch das nahm ich nur am Rande wahr. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mich gegen den Klammergriff der beiden anderen Jungs zu wehren. Mit langsamen, schweren Schritten kam Manuel auf mich zu, wobei er seine Lippen zu einem wütenden Strich aufeinander presste und mich mit einem hasserfüllten Blick ansah. Er klemmte mein Kinn brutal zwischen seinen Daumen und Zeigefinger und zwang mich, ihn anzusehen. Der wilde Blutdurst in seinen Augen ließ meinen Magen krampfen und meine Knie weich werden. „Das wirst du bereuen, Blondie.“ Ich schluckte und versuchte, unbeeindruckt auszusehen. „Wenn das alles ist, was du kannst, bist du echt arm dran.“ Warum konnte ich nicht endlich meine große Klappe halten? Lag es an meinem bodenlosen Selbsthass, dass ich meine Gesundheit so leichtfertig aufs Spiel setzte? Manuel grinste hämisch. „Mal sehen, wie lange du noch so große Töne spuckst.“ Einer seiner Freunde lachte dunkel. „Wenn du mit ihm fertig bist, spukt er nur noch Blut.“ Ich riss an meinen Armen und versuchte, mich zu befreien. „Lasst mich los, ihr feigen Drecksäcke. Das ist doch unfair.“ Manuel tätschelte mir fast zärtlich die Wange. „Hat dir noch nie jemand erklärt, dass das Leben nicht fair ist?“ Dann rammte er mir seine Faust so brutal in den Bauch, dass ich das Gefühl hatte, meine Eingeweide würden direkt in meine Lunge geschoben. Ich krümmte mich so weit wie möglich zusammen und rang keuchend nach Luft. Doch bevor ich mich auch nur ein wenig von dem ersten Schlag erholen konnte, rissen mich die beiden Jungs an meinen Armen wieder in eine aufrechte Position und Manuel drosch erneut auf mich ein. Dieses Mal begnügte er sich nicht damit, nur einmal zuzuschlagen. Ein heißer Schmerz explodierte in meinem Inneren und ich schmeckte Blut, obwohl ich im Mundraum keine einzige Verletzung hatte. Würgend versuchte ich, den blutigen Schleim, der sich meine Speiseröhre hinauf drückte, wieder herunter zu schlucken, als Manuel mich plötzlich an den Haaren packte und mir den Kopf zurück riss. „Eines muss man dir lassen, Blondie: Du bist hart im Nehmen. Andere hätten schon geschrieen oder um Gnade gewinselt.“ Ein mattes, schiefes Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. „Ich heiße Gregor und nicht ‚Blondie’, Vollidiot.“ Bei dem letzten Wort spuckte ich ihm blutigen Speichel ins Gesicht, das sich zu einer zornverzerrten Fratze wandelte. „Dir wird dein Hochmut auch noch vergehen – spätestens, wenn ich dir dein hübsches Gesicht zu Brei schlage. Wie wär’s wenn ich mit deinem zierlichen Näschen anfangen würde, hm? Was würdest du dazu sagen?“ Ohne eine mögliche Antwort von mir abzuwarten, ballte Manuel seine große Hand zur Faust. Seltsam unbeteiligt, so als würde der nächste Schlag mir nicht wahrscheinlich die Nase brechen, fiel mir auf, dass er sich seine Fingerknöchel am Stoff meines Pullovers aufgescheuert hatte. Manuel holte aus, gerade als ich jemanden aus den Büschen hinter ihm treten sah. Die aufgeregte Stimme einer jungen Frau durchschnitt die Luft und ließ meinen Gegenüber heftig zusammen zucken. „Was zur Hölle machst du da? Hast du völlig den Verstand verloren?!“ Veronica trat neben ihren Bruder und funkelte ihn wütend an. Als ich den Ausdruck in ihren Augen sah, bekam ich beinah selbst Angst vor ihr, obwohl sie mich gerettet hatte – zumindest für den Moment. Manuel ließ den Arm sinken und blickte beschämt zu Boden. Veronica starrte ihn noch einige Zeit wortlos an, dann wandte sie sich zu mir und den anderen zwei Jungs um. „Auf was wartet ihr zwei Pappnasen eigentlich? ’ne schriftliche Einladung? Lasst ihn los!“ Kaum dass die Beiden meine Arme los gelassen hatten, sackte ich in mich zusammen. Nur mit Mühe und Not konnte ich mich auf den Beinen halten. Veronica fixierte inzwischen wieder ihren Bruder. „Wir zwei sprechen uns nachher noch.“ Ihre Stimme war so eiskalt und schneidend, dass es mich fröstelte. „Und jetzt nimm Björn und Lukas und mach dich vom Acker!“ Zu meiner Überraschung nickte Manuel ohne zu murren und verschwand mit seinen zwei Kumpels erstaunlich schnell in Richtung Internatsgebäude. Sobald die Drei außer Sicht waren, ließ ich mich auf den Boden sinken. Ich hatte das Gefühl, als gäbe es in meinem Inneren nur noch einen Brei aus Brocken und Fetzen, die früher einmal meine Organe gewesen waren. Stöhnend krümmte ich mich zusammen und wartete sehnlichst darauf, dass der Schmerz endlich ein wenig nachließ. Veronica setzte sich neben mich ins Gras und betrachtete mich aus großen, besorgten Augen. „Geht’s?“ Ich atmete ein paar Mal tief durch und quälte mich dann in eine sitzende Position. „Ich denke, ich werd’s überleben.“ Veronica lächelte mich schief an, bevor ihre Augen einen traurigen Glanz bekamen. „Das tut mir so leid.“ Ich zuckte mit den Schultern und stellte erfreut fest, dass diese Bewegung keine zusätzlichen Schmerzen verursachte. „Es war nicht deine Schuld.“ Mit einem wehmütigen Lächeln rupfte Veronica einige Grashalme aus der Erde und warf sie in die Luft, wo sie von einer leichten Brise erfasst und davon getragen wurden. „Doch, das war es. Ich sollte langsam wissen, dass mein Bruder so reagiert, wenn ich versuche, mich mit einem Jungen anzufreunden.“ Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich mich fragte, ob Manuel und seine beiden Kumpels vor mir schon mehrere Freunde von Veronica zusammen geschlagen hatten. „Das klingt ein bisschen danach, als hätte dein Bruder einen Kontrollzwang.“ Veronica nickte kaum merklich und betrachtete den Dreck unter ihren Fingernägeln. „Ja, aber er meint es nicht böse. Du musst wissen, dass unsere Eltern vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben sind. Er will mich nur beschützen, weil er mich liebt.“ „Seltsame Art, das zu zeigen.“, brummte ich, während ich daran dachte, dass ich selbst nicht viel besser war. Ich hatte mich von Mel distanziert und ihr damit wehgetan, weil ich sie liebte und nicht wollte, dass sie durch das Wissen um meine widernatürlichen Gefühle belastet wurde. Um mich von dem Gedanken an Mel abzulenken, sagte ich: „Es war trotzdem nicht deine Schuld. Ich hab mir das wohl eher selbst zuzuschreiben.“ Veronica warf mir einen irritierten Seitenblick zu und zog ein weißes Taschentuch aus der Hosentasche. Ich hatte nicht gewusst, dass es noch Menschen gab, die Stofftaschentücher benutzten. Dann schwang sie sich auf die Füße und kniete sich neben mich. Während ich noch überlegte, was das werden sollte, spuckte sie kräftig auf ihr Taschentuch und begann meine blutverkrustete Wange zu säubern. Ich war so überrascht, dass ich sie einfach gewähren ließ. „Du hast Glück. Die Wunde selbst ist sehr sauber.“ Sie strich mir sanft über die Wange und irgendwie fühlte es sich gut an, obwohl ich wusste, dass sie mir gerade eigentlich nur ihren Speichel im Gesicht verteilte. „Was hast du damit gemeint, dass du dir die Schläge vermutlich selbst zuzuschreiben hast?“ Sie suchte meinen Blick, so als bräuchte sie die darin liegende Versicherung, dass ich ihr wirklich nicht die Schuld gab. Sie saß so nah bei mir, dass ich die winzigen, grünen Flecken in ihren braunen Augen sehen konnte. „Naja, ich hab ihn provoziert... und beleidigt.“ Für einen kurzen Moment ließ Veronica das Taschentuch sinken und starrte mich ungläubig an. Dann grinste sie plötzlich und tupfte weiter auf meiner Wange herum. „Du bist ganz schön mutig.“ Ich zuckte wieder mit den Schultern und tat ihr Kompliment damit einfach ab. „Ich würde eher sagen, ich bin größenwahnsinnig.“ Zu meiner Überraschung gefror ihr Lächeln und sie sah mich fast wütend an. „Warum dieser Selbsthass?“ Irritiert warf ich ihr einen Seitenblick zu. Als ich sprach, klang meine Stimme nervös und gepresst: „Selbsthass?“ Veronica nickte stumm und wischte mir ein letztes Mal über die Wange, bevor sie ihr mit rostroten Flecken übersätes Taschentuch wieder zusammenfaltete. „So, jetzt siehst du wieder annehmbar aus.“ Sie sah mich mit einem kleinen Lächeln an, während ich den Kopf schief legte und nachhakte. „Wie kommst du darauf, dass ich mich selbst hasse?“ Geistesabwesend zupfte sie an einem Grashalm neben ihrem Fuß. „Es war nur so ein Gefühl. Ich meine, du bist jetzt schon fast zwei Monate hier, isolierst dich aber immer noch total – so als wolltest du gar keine Freundschaften schließen. Und manchmal, wenn du in Gedanken bist, bekommst du so einen Blick... irgendwie voller Wehmut und Trauer, die sich dann aber ganz schnell mit Zorn und Abscheu mischen. Vielleicht irre ich mich da ja auch, mag sein. Ich kenn dich ja schließlich kaum. Naja, und jetzt legst du dich auch noch mit meinem Bruder an... Es scheint irgendwie, als würdest du alle nur erdenklichen Möglichkeiten suchen, mit denen du dich irgendwie kaputt machen kannst.“ Ich streckte die Beine lang aus und lehnte mich nach hinten auf die Unterarme. Inzwischen war der Schmerz in meiner Magengegend fast abgeklungen und ich spürte nur noch ein dumpfes Pochen und Ziehen. „Du bist eine gute Beobachterin.“, gab ich zu, während ich aus den Augenwinkeln ein kleines Kaninchen beobachtete, das am gegenüberliegenden Ufer entlang hoppelte. „Nur, wenn ich jemanden interessant finde.“ Überrascht riss ich den Kopf zu ihr herum und sah, wie Veronica plötzlich rot wurde. „Also, das soll jetzt nicht heißen, dass ich dich total attraktiv finde oder so. Du wirkst halt irgendwie so verloren und verschlossen. Das ist interessant, weil ich mich bei so etwas immer frage, was dahinter steckt. Was jetzt aber auch nicht heißen soll, dass du nicht gut aussiehst, aber... aber... das interessiert mich halt nicht so sehr.“ Ich grinste in mich hinein, während ich ihrem Gestammel lauschte und streckte ihr dann die Hand entgegen. Meinen Vorsatz, keine Freundschaften zu schließen, hatte ich plötzlich völlig vergessen. „Ich bin übrigens Greg.“ Sie lächelte mich warm an und schlug ein. Ihre Handfläche fühlte sich ein wenig rau an, so als wäre sie es gewohnt, mit den Händen zu arbeiten. „Vroni.“ Wir lächelten uns gegenseitig an und beobachteten dann schweigend, wie die Sonne langsam hinter den Wäldern versank, die den Schlosspark einsäumten. Mit einiger Verwirrung stellte ich fest, dass ich mich Vroni jetzt schon näher fühlte als den meisten meiner Freunde zu Hause. Vielleicht hatte ich endlich jemanden gefunden, der Chris’ Platz einnehmen konnte. Kapitel 22: Veronica -------------------- Missgelaunt schlug ich die Beine übereinander und betrachtete halbherzig die Vielfalt der Farben um mich herum. Der Herbst war mit Riesenschritten heran geeilt und hatte die Wälder rund um unser Internat bunt gesprenkelt. Eigentlich liebte ich diese Jahreszeit, in der die Sonne ihre Strahlen wie eine riesige, goldene Decke über der Erde ausbreitet. Trotzdem konnte ich mich schon seit Tagen einfach nicht dazu aufraffen, mich an der Schönheit der Natur zu erfreuen oder gar gute Laune zu haben. Mit einem genervten Gesichtsausdruck strich ich mir eine vorwitzige Strähne, die mich an der Stirn gekitzelt hatte, aus dem Gesicht. Nachdem Gregor mich während unserer ersten gemeinsamen Mathestunde so aufmerksam gemustert hatte, war ich davon überzeugt gewesen, sein Interesse hinreichend geweckt zu haben. Doch nun versuchte ich schon seit Wochen vergeblich, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Inzwischen antwortete er nicht einmal mehr auf meinen allmorgendlichen Gruß. Die einzige Reaktion war ein trauriges Glitzern in seinen Augen, wann immer ich das Wort an ihn richtete. Langsam fragte ich mich, ob dieses Schimmern nicht einfach bedeutete, dass Gregor bedauerte, überhaupt angesprochen worden zu sein. Das nahe Geräusch von Schritten auf dem vom langen, heißen Sommer ausgedörrten Gras ließ meinen Kopf zur Seite schnellen. Ein wenig umständlich linste ich um den vollen Jasminbusch herum, hinter dem ich mich wie so oft versteckt hatte. Dies hier war seit jeher mein Lieblingsplatz. Ironischerweise schien dasselbe für Gregor zu gelten... Ich konnte die vielen Male, die ich ihn hinter den Büschen verborgen beobachtet hatte, gar nicht mehr zählen. Wie sonst auch kniete er sich nun vor den See und schaute mit verträumt wirkenden Augen auf das glitzernde Wasser. Wie so oft fragte ich mich, wo er wohl mit den Gedanken war. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Entrücktes an sich und auf seinen Lippen lag ein kleines, aber wehmütiges Lächeln. Nur mit Mühe konnte ich ein Seufzen unterdrücken, als mir klar wurde, dass mir sein Gesicht inzwischen viel zu vertraut war. Doch auch wenn ich wusste, dass ich ihn zu oft ansah und heimlich beobachtete, konnte ich einfach nicht damit aufhören. Es war beinah als wäre dieser Junge eine hochgradig süchtig machende Droge und ich das leichtgläubige Opfer. Die Zeit, in der ich versucht hatte, mir einzureden, dass ich Gregor einfach nur deshalb im Auge behielt, weil ich wissen wollte, weshalb er immer so gequält aussah, war längst vorbei. Inzwischen hatte ich mir endlich eingestanden, dass ich auch aus einem völlig anderen Grund immer wieder zu ihm hin schaute: Ich sah ihn einfach gerne an – genauso wie ich vor einigen Jahren in einem Museum meinen Blick nicht von einer besonders gelungenen Replik von Michelangelos David hatte lösen können. Ich hatte eben eine Schwäche für alles Schöne und Kunstvolle. Plötzlich drang erneut das Geräusch von Schritten an meine Ohren. Der weiche Untergrund dämpfte das Dröhnen ein wenig, doch es war trotzdem unverkennbar, dass jemand mit schnellen, wütenden Schritten auf den See zuhielt. Ich lehnte mich ein Stück weiter vor und versuchte, den Neuankömmling zu entdecken, ohne mich aus meinem Versteck zu wagen. Gregor wäre sicherlich nicht sehr erfreut gewesen, wenn er erfahren hätte, dass ich ihn beobachtet hatte. Leider näherte sich die Person in einem dermaßen ungünstigen Winkel, dass ich nicht einmal den Blick auf den Zipfel ihrer Kleidung erhaschen konnte. Doch schon wenige Augenblicke später war dies auch gar nicht mehr nötig. Eine laute, harte Stimme donnerte über die leicht hügelige Landschaft: „Hier verkriechst du dich also, Blondie!“ Unwillkürlich begann ich zu zittern, obwohl mir nicht kalt war. Was hatte mein Bruder hier verloren? Gregor richtete sich langsam auf und wandte sich mit einem verschlossenen, abweisenden Gesichtsausdruck zu Manuel um. „Gibt’s ein Problem?“ Seine Stimme klang wie splitterndes Eis und seine gesamte Körperhaltung zeigte eine derartige Ablehnung, dass ich an der Stelle meines Bruders sofort eingeschüchtert wieder abgezogen wäre. Was Manuel nur mit Hilfe seiner Fäuste zu sagen wusste, konnte Gregor alleine durch seine Körpersprache ausdrücken. Es war nicht verwunderlich, dass Manuel diese Sprache nicht verstand. „Ja, ich glaube, du hast ein Problem, Blondie!“ Der aggressive Ton in der Stimme meines Bruders ließ meinen Magen sich nervös zusammenziehen. Man musste Manuel nicht besonders gut kennen, um zu hören, dass er auf eine Prügelei aus war. Aber warum suchte er sich dafür ausgerechnet Gregor aus? „Warum ignorierst du meine Schwester? Ist Vroni dir nicht hübsch genug oder was?!“ Reflexartig presste ich mir die Handfläche gegen die Lippen, um nicht vor Überraschung aufzukeuchen. Was zur Hölle hatte ich denn damit zu tun? Vor Nervosität wurde mir plötzlich so schwindelig, dass die Stimmen hinter dem Busch zu einem unverständlichen Summen wurden. Eine schnell dahin fließende Melodie aus wild schlagenden Flammen und scharfkantigem Eis. Ich krampfte meine Hand um die Lehne der alten Bank, die hier zwischen den Jasminbüschen stand, und versuchte, ruhig zu atmen. „Entscheide dich mal, was du willst. Erst drohst du mir, mich zusammen zu schlagen, wenn ich deiner Schwester zu nah komme und jetzt, wo ich mich von ihr fern halte, ist es auch nicht richtig!“ Inzwischen hatte sich auch in Gregors Stimme dieser raue Unterton geschlichen, der bei Männern immer signalisierte, dass sie bereit waren, ihre Fäuste zu benutzen. Sofort wirbelte ich herum und rannte davon, um Hilfe zu holen. Wenn ich mich beeilte, schaffte ich es vielleicht noch bis zu der kleinen Gartenlaube des Hausmeisters und wieder zurück, bevor etwas Schlimmeres passieren konnte. Während ich Hals über Kopf über die Rasenfläche stürzte und immer wieder über kleine Steinchen und Bodenwellen stolperte, fragte ich mich, was ich nur angestellt hatte. Meine Lunge schmerzte inzwischen heftig und schrie verzweifelt nach mehr Sauerstoff, doch ich rannte dennoch weiter und weiter. Ich bemerkte das krampfhafte Ziehen in meiner Brust kaum. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, an die Ereignisse des vergangenen Vormittags zu denken. Manuel hatte träge auf meinem Bett gelegen und gelangweilt in einem meiner Manga-Hefte geblättert. „Wie kannst du so einen Dreck nur lesen? Das macht doch alles gar keinen Sinn.“ „Du musst es ja auch von rechts nach links lesen, Blödmann.“ Gereizt hatte ich ihm das kleine Buch entrissen und es wieder auf den Stapel auf meinem Schreibtisch geworfen. „Wieso bist du so schlecht gelaunt?“ Manuel hatte sich irritiert blinzelnd aufgesetzt und mich ehrlich verwundert angestarrt, während ich mich wütend in meinen alten, ausgesessenen Sessel hatte fallen lassen. „Das fragst du noch? Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich dank dir inzwischen keinen einzigen Freund mehr habe? Inzwischen bedrohst du die anderen Jungs ja sogar schon, bevor ich auch nur die Chance hatte, sie kennen zu lernen.“ „Und? Wozu brauchst du denn Freunde? Du hast doch mich. Reicht das denn nicht?“ „NEIN!“ Ich hatte all die Wut und Enttäuschung, die sich seit dem Tod unserer Eltern in meinem Herzen angestaut hatte, in meine Stimme gelegt und Manuel aus voller Lunge angeschrieen. Angesichts des tiefen Schmerzes, der sich auf seinem Gesicht breit gemacht hatte, hatte ich es sofort bereut, doch ich war nicht in der Lage gewesen, mich zu stoppen. „Du gehst mir mit deiner wichtigtuerischen Beschützernummer total auf die Nerven. Ich will selbst entscheiden können, mit wem ich befreundet sein will und nicht gegen eine Mauer rennen, nur weil du dich nicht zurückhalten konntest und den armen Jungen schon bedroht hast!“ Augenblicklich hatte Manuel die Ohren gespitzt und mich aus ungläubigen Augen angesehen. „Du machst dieses Theater wegen dieses Schnösels?!“ „Ich hab keine Ahnung, von wem du sprichst...“ Obwohl ich gespürt hatte, dass mir das Blut in die Wangen geschossen war, hatte ich versuchen müssen, die Ahnungslose zu spielen. Was selbstverständlich nicht funktioniert hatte. „Natürlich weißt du, wen ich meine. Den Neuen, mit dem du in letzter Zeit ständig reden willst. Dieser... dieser... Georg?“ „Gregor.“ Missbilligend hatte Manuel die Lippen aufeinander gepresst und für wenige Minuten geschwiegen. „Ich versteh’ nicht, was du an diesem Milchgesicht findest. Der sieht doch schon vollkommen verweichlicht aus.“ „Du bist doch nur neidisch.“, war es mir durch den Kopf geschossen, doch als ich den Mund aufgemacht hatte, waren andere Worte heraus gekommen: „Es geht nicht um Gregor oder sonst irgendeinen bestimmten Jungen. Es geht ums Prinzip. Ich will mein eigenes Leben so gestalten wie es mir gefällt. Bekommst du das in deinen Dickschädel?“ Während ich meinen Bruder eindringlich angestarrt hatte, hatte er mit mahlenden Kiefern nachgedacht. Schließlich hatte er mir einen kurzen Blick zugeworfen und gefragt: „Wenn ich das mit diesem Milchbubi wieder einrenke, hörst du dann auf rum zu zicken?“ Mit einem breiten Grinsen hatte ich mich tiefer in meinen Sessel gekuschelt und „Vielleicht.“ geantwortet. Ich hatte gedacht, Manuel hätte mit „einrenken“ gemeint, dass er sich bei Gregor entschuldigen wollte. Wenn ich gewusst hätte, dass er ihn stattdessen zu einer Meinungsänderung hin prügeln wollte, hätte ich seine Frage ohne zu zögern verneint. Aber eigentlich hätte es mir klar sein müssen... Schließlich kannte ich meinen Bruder. Manuel tat nie das, was man von ihm erwartete, und kämpfte grundsätzlich mit unfairen Mitteln. Ich hetzte gerade das letzte Stück Hügel hinauf, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung ausmachte. Irritiert blieb ich stehen und kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, was am See vor sich ging. Sofort breitete sich eine schneidende Eiseskälte in meinem Inneren aus, als ich die zwei Gestalten identifizierte, die sich Gregor und Manuel näherten: Lukas und Björn, die beiden Handlanger meines Bruders. Ich warf einen schnellen Blick zu dem kleinen Schuppen des Hausmeisters auf der Hügelkuppe. Normalerweise hätte Jörg hier irgendwo herumwuseln und arbeiten müssen, doch er war nirgends zu sehen. Damit ich nicht noch mehr Zeit verlor, machte ich auf dem Absatz kehrt und eilte zurück zum See. Wenn Björn und Lukas eingriffen, war Gregor mit Sicherheit chancenlos. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass er seine Knochen einzeln aufsammeln musste – lieber legte ich mich persönlich mit meinem Bruder an. Als ich die Jasminbüsche endlich wieder erreichte, war ich so außer Atem, dass meine Sicht ganz schwarz wurde und kleine, weißbunte Sternchen vor meinen Augen tanzten. Die Stimmen der Jungs auf der Buschseite drangen nur gedämpft an meine Ohren, so als stünden sie hinter einem Vorhang aus rauschendem Wasser. Ich biss die Zähne fest zusammen, holte tief und pfeifend Luft und zwang mich trotz des heftigen Schwindels, der mich erfasst hatte, stehen zu bleiben. Vorsichtig spähte ich um den stark belaubten Busch herum und versuchte, den Schauer, der mir über den Rücken lief, zu unterdrücken. Björn und Lukas hielten Gregor, der sich mit solch einer überraschenden Kraft wehrte, dass die Beiden Schwierigkeiten hatten, nicht los zu lassen, an beiden Armen fest und Manuel beugte sich so tief zu seinem Opfer herab, dass er den Jungen fast verdeckte. Ich sah lediglich eine Hälfte von Gregors Gesicht, doch das reichte, um mir mit einem namenlosen Entsetzen den Magen umzudrehen. Etwa drei Viertel seiner Wange starrten vor angetrocknetem, rostrotem Blut, das offenbar aus einer breiten Platzwunde direkt über seinem Jochbein stammte und an seinem rechten Mundwinkel lief ein dünner, blutiger Speichelfaden herab. Doch obwohl er übel mitgenommen wirkte, glitzerte in seinen leicht zusammengekniffenen Augen ein provozierender Triumph, der meinen Bruder schier wahnsinnig machen musste. Ich fragte mich, wie Gregor in dieser Situation so etwas wie Befriedigung oder Freude empfinden konnte. Bevor ich mir jedoch eine Antwort überlegen konnte, zischte mein Bruder ihn plötzlich an: „Dir wird dein Hochmut auch noch vergehen – spätestens, wenn ich dir dein hübsches Gesicht zu Brei schlage. Wie wär’s wenn ich mit deinem zierlichen Näschen anfangen würde, hm? Was würdest du dazu sagen?“ Nur einen Sekundenbruchteil später riss er bereits die Faust in die Höhe und zielte präzise auf Gregors Nase. Unterbewusst registrierte ich, dass dieser seine Lippen zu einem hämischen Grinsen verzog, so als freue er sich diebisch über irgendetwas. Doch anstatt mich darüber zu wundern, trat ich endlich zwischen den Büschen hervor – bereit, meinen Bruder von hinten anzufallen, sollte er sich nicht durch Worte vertreiben lassen. Gregor erblickte mich, bevor ich etwas sagen konnte, und seine Augen wurden vor Überraschung groß und rund. Manuel schien davon nichts zu bemerken und suchte sich einen festen Stand, um seinen Schlag möglichst effektiv durchziehen zu können. „Was zur Hölle machst du da? Hast du völlig den Verstand verloren?!“ Ich war selbst von der schneidenden Kälte und der Festigkeit in meiner Stimme überrascht. Es erstaunte mich also nicht weiter, dass Manuel heftig zusammenzuckte und auch Björn und Lukas mich beinah panisch anstarrten. Nur in Gregors Augen schimmerte ein leichter Hauch von Bedauern. Tat es ihm etwa leid, dass ich meinen Bruder daran gehindert hatte, ihm das Nasenbein zu zertrümmern?! Mit wütenden Schritten stampfte ich um Manuel herum, dessen Rückenmuskeln sich zunehmend versteiften. Als ich ihn umrundet hatte, glotzte er mich aus riesigen, ängstlich flehenden Augen an. Erstaunt stellte ich fest, dass Manuel ebenfalls viele kleine Schürfwunden im Gesicht hatte. Hatte er sie etwa Gregor zu verdanken? Kein Wunder, dass Björn und Lukas eingegriffen hatten. Für eine Weile starrte ich böse zurück, um ihm zu zeigen, dass ich dieses Mal wirklich sauer war, und wandte mich dann an seine beiden Komparsen, um sie mit giftiger Stimme dazu aufzufordern, Gregor los zu lassen. Kaum dass die Beiden meinem Wunsch nachgekommen waren, bereute ich ihn beinah. Gregor sackte fast augenblicklich ein wenig zusammen und schien sich nur unter großen Schmerzen alleine aufrecht halten zu können. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, warum er sich nicht einfach auf den Boden sinken ließ. Doch dann wurde es mir schlagartig klar – schon allein die Art und Weise wie er den Kopf hoch hielt, hätte es mir verraten können: Er war dafür viel zu stolz. So lange die anderen Jungs hier wären, würde er sich dazu zwingen, auf den Beinen zu bleiben – koste es, was es wolle. So schnell ich konnte, verscheuchte ich meinen Bruder und seine Freunde, die sich erstaunlich schnell verdrückten. War ich wirklich so furchterregend? Vielleicht hätte ich viel eher wagen sollen, Manuel mit wütender Strenge auf den rechten Pfad zu zwingen, anstatt zu versuchen, ihn zu verstehen... Als ich mich wieder zu Gregor umwandte, hatte er sich auf dem trockenen Gras lang ausgestreckt und atmete mehrfach tief durch. Vorsichtig setzte ich mich neben ihn und betrachtete sein ramponiertes Gesicht. Rund um die schlimm aussehende Platzwunde bildete sich bereits ein tiefdunkles Hämatom, das sich im Laufe des Tages sicherlich noch weiter ausbreiten würde. Seine Unterlippe war rissig und mit vielen kleinen Wunden übersät, doch ich konnte nicht sagen, welche davon er sich selbst zugefügt hatte und welche von meinem Bruder stammten. Bis auf die Platzwunde sah er äußerlich ziemlich unverletzt aus, doch die Art und Weise wie die Hand auf den Bauch drückte, legte den Schluss nahe, dass mein Bruder auch eher andere Körperteile als Gregors Gesicht bearbeitet hatte. Besorgt musterte ich seine schmerzverzerrten Züge und streckte die Hand nach ihm aus, ließ sie dann aber wieder sinken, ohne ihn berührt zu haben. Ich war mir nicht sicher, ob er das gewollt hätte. Stattdessen fragte ich ihn einfach nur: „Geht’s?“ Langsam und offenbar unter heftigen Qualen setzte Gregor sich auf und warf mir einen sonderbar leeren Blick zu, so als bräuchte sein Körper alle Kraft, um die Schmerzen zu unterdrücken. „Ich denke, ich werd’s überleben.“ Seine Stimme klang gepresst und brüchig, was mir Tränen in die Augen trieb. Ich versuchte, sie einfach weg zu lächeln, doch das schlechte Gewissen fraß mich von innen auf. Ich konnte den Gedanken, dass ich an all dem hier schuld war, einfach nicht abschütteln. Ich holte tief Luft, schluckte einen kleinen Schluchzer herunter und entschuldigte mich bei Gregor. Das war das Einzige, das ich tun konnte. Doch er sah mich nur aus großen, ungläubigen Augen an und zuckte mit den Schultern. „Es war nicht deine Schuld.“ Verlegen riss ich ein paar Grashalme aus und ließ sie vom Wind davon tragen. Natürlich war es meine Schuld. Ich hätte wissen müssen, dass Manuel so reagieren würde. Ich hatte diese Prügelei heraufbeschworen, indem ich immer wieder Gregors Nähe gesucht und nicht genügend geleugnet hatte, dass mir etwas an diesem sonderbar schönen Jungen lag. Doch auch als ich versuchte, Gregor das zu erklären, schien er mir nicht glauben zu wollen. Stattdessen wehrte er meine Entschuldigungen ab: „Es war trotzdem nicht deine Schuld. Ich hab mir das wohl eher selbst zuzuschreiben.“ Warum zur Hölle weigerte er sich so beständig, mir zu glauben, dass es meine Schuld war? Irritiert betrachtete ich ihn von der Seite. So wie wir zueinander saßen, hatte er mir seine blutverkrustete Wange zugewandt und es juckte mich plötzlich in den Fingern, sein Gesicht zu säubern. Vielleicht konnte ich das, was mein Bruder ihm meinetwegen angetan hatte, so wieder ein wenig gut machen. Schnell fischte ich mein altes, weißes Stofftaschentuch aus meiner Hosentasche. Es hatte früher meiner Mutter gehört und seit dem Tod meiner Eltern trug ich es wie eine Art Talisman immer bei mir. Ich warf einen kurzen Blick auf das silbern schimmernde Seewasser, doch weil ich mir nicht sicher war, ob es tatsächlich so sauber war wie es wirkte, spuckte ich einfach auf den weichen Stoff, anstatt ihn im See nass zu machen. Gregor betrachtete mich argwöhnisch, zog sich aber nicht zurück, als ich begann, sein Gesicht abzutupfen. Mit einem kleinen Lächeln wischte ich ihm über die Wange, während ich mir die Platzwunde genauer ansah. Sie war etwa vier Zentimeter breit und klaffte wie ein zahnloser, höhnisch grinsender Mund auf Gregors Jochbein, doch glücklicherweise war sie frei von Dreck. „Was hast du damit gemeint, dass du dir die Schläge vermutlich selbst zuzuschreiben hast?“ Zaghaft strich ich ihm mit der Kuppe meines Zeigefingers über die Wange, was Gregor jedoch zum Glück nicht zu bemerken schien. Seine Haut war glatt und, obwohl durch die wieder sprießenden Bartstoppeln ein wenig rau, zart. Ich unterdrückte ein neidisches Seufzen. Er hatte wirklich ein Gesicht, für das jede Frau getötet hätte... Fast gelangweilt zuckte er mit den Schultern. „Naja, ich hab ihn provoziert... und beleidigt.“ Überrascht ließ ich das Taschentuch sinken und starrte den Jungen neben mir aus großen Augen an. Er hatte was getan?! Mein Bruder war an die zwei Meter zehn groß und über hundert Kilo schwer. Ich kannte niemanden, der ihn freiwillig reizte oder sich sogar mit ihm anlegte. Ernsthaft beeindruckt nahm ich meine Arbeit wieder auf. „Du bist ganz schön mutig.“ Ich hatte erwartet, dass er nun breit grinsen und mit weiteren Heldentaten prahlen würde, doch wieder einmal überraschte Gregor mich. Er ging nicht nur nicht auf mein Kompliment ein, er untergrub es auch noch: „Ich würde eher sagen, ich bin größenwahnsinnig.“ Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Sein gequälter Gesichtsausdruck, seine grundsätzlich blutig gebissene Unterlippe, die Tatsache, dass er offenbar immer nur alleine war und niemanden an sich heran ließ, der an Idiotie grenzende Mut gegenüber meinem Bruder und das bedauernde Glänzen in seinen Augen, als ich Manuel gestoppt hatte, das alles ließ nur einen einzigen Schluss zu: Was auch immer in seiner Vergangenheit passiert sein mochte, Gregor hasste sich dafür und suchte nun nach Mitteln und Wegen, sich selbst zu bestrafen. Als ich ihn darauf ansprach, wich plötzlich der letzte Rest Farbe aus seinem eh schon blassen Gesicht und in seinen Augen blitzte Überraschung und Erschrecken darüber auf, dass ich ihn durchschaut hatte. „Selbsthass?“ Seine Stimme klang gepresst und vibrierte vor lauter Nervosität. Ich hatte keine Ahnung, was dahinter stecken mochte, doch Gregor hatte offenbar große Angst, dass jemand den Grund für seine negativen Gefühle sich selbst gegenüber erkennen könnte. Ich tupfte einen letzten Rest verkrusteten Blutes von seiner Wange und faltete dann mein schmutziges Taschentuch wieder zusammen. Ich fragte mich, ob ich es je wieder sauber bekommen würde, doch das war nicht so wichtig. „So, jetzt siehst du wieder annehmbar aus.“, sagte ich so beschwingt wie möglich, um zu zeigen, dass wir nicht über das offensichtlich unangenehme Thema sprechen mussten. Doch Gregor ließ nicht locker: „Wie kommst du darauf, dass ich mich selbst hasse?“ Ich holte tief Luft und begann, ihm meine Gründe für diese Annahme zu erläutern, auch wenn das bedeutete, zugeben zu müssen, dass ich ihn intensiver beobachtet hatte als es vielleicht normal war. Ich hatte das Gefühl, meine Wangen müssten so rot sein, dass sie leuchteten. Als ich geendet hatte, schwieg Gregor für einige Zeit und ich fürchtete schon, dass mir unangenehme Fragen stellen würde, warum ich ihn so sehr im Auge behalten hatte. „Du bist eine gute Beobachterin.“, war jedoch alles, was er dazu sagte. Aus Erleichterung, dass ich noch einmal davon gekommen war, ohne meine verwirrenden Gefühle erläutern zu müssen, platzte ich ohne nachzudenken heraus: „Nur, wenn ich jemanden interessant finde.“ Kaum, dass mir der Satz entschlüpft war, riss Gregor den Kopf zu mir herum. Er sah mich aus großen, überrascht wirkenden Augen an und ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Mit hochroten, glühenden Wangen stammelte ich: „Also, das soll jetzt nicht heißen, dass ich dich total attraktiv finde oder so. Du wirkst halt irgendwie so verloren und verschlossen. Das ist interessant, weil ich mich bei so etwas immer frage, was dahinter steckt. Was jetzt aber auch nicht heißen soll, dass du nicht gut aussiehst, aber... aber... das interessiert mich halt nicht so sehr.“ Gregor grinste belustigt und streckte mir plötzlich die Hand entgegen. „Ich bin übrigens Greg.“ Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich ihm eine Retourkutsche verpassen und „Angenehm, Veronica.“ sagen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell. Ich hatte so lange darauf gewartet, ihm näher zu kommen, da wollte ich nicht gleich wieder alles kaputt machen, indem ich rum zickte. Mit einem wie ich hoffte bezaubernden Lächeln ergriff ich seine schmale, weiche Hand, die sich anfühlte als könnte ihr Besitzer sehr zärtlich sein, und schüttelte sie leicht. „Vroni.“ Greg lächelte breit zurück, was mit der Platzwunde auf dem Jochbein sicherlich höllisch wehtat, und blickte dann in Richtung der untergehenden Sonne. Ich folgte seinem Blick und war einen Moment lang überwältigt von der Schönheit der bunten, wie mit Goldpuder bestäubt wirkenden Farben der Bäume und dem leuchtenden Abendrot, das den Horizont aussehen ließ als würde der Himmel brennen. Doch schon nach wenigen Minuten kehrte mein Blick zu Greg zurück, der noch immer in die Ferne sah, und das warme, prickelnde Gefühl, das mich in seiner Gegenwart so oft überkommen hatte, kehrte mit doppelter Intensität zurück. Grinsend bemerkte ich die Ironie, dass gerade Manuel, der Greg aufrichtig zu hassen schien, uns zusammen geführt hatte. Womöglich hätte ich Gregs harte Schale nie geknackt, wenn ich nicht begriffen hätte, dass sie nur aus wildem, heiß loderndem Selbsthass bestand. Manchmal ging das Leben seltsame Wege. Kapitel 23: Melanie ------------------- Verzweifelt stand ich vor meinem Kleiderschrank und riss wahllos Kleidungsstücke heraus. Dabei murmelte ich immer wieder Satzfragmente wie „Zu kalt.“, „Hässlich.“, „Sieht doof aus.“ oder „Zu langweilig.“. Inzwischen lag fast die Hälfte meiner Klamotten in einem wirren Haufen zu meinen Füßen. Ein paar der Kleidungsstücke schienen mich vorwurfsvoll anzusehen, weil ich sie so herzlos verschmähte. Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr auf meinem Nachtschränkchen und stieß einen quengeligen Laut aus. In zirka einer Viertelstunde wollte Finchen bereits hier sein und mich abholen, damit wir gemeinsam auf die Weihnachtsparty unserer Schule gehen konnten. Jedes Jahr veranstaltete der jeweilige Abschlussjahrgang diese Party kurz vor den Ferien, um Geld für ihren Abiball, ihre T-Shirts und dergleichen zu sammeln. Wieder musterte ich den armseligen Rest Kleider, der noch im Schrank hing. Wieso hatte ich eigentlich nie etwas zum Anziehen, ganz egal, wie viele Klamotten ich mir kaufte? Sehnsüchtig warf ich durch meine geöffnete Tür einen Blick auf das Zimmer gegenüber. Wie gerne wäre ich jetzt rüber gegangen und hätte Greg gebeten, mir bei der Auswahl meines Outfits zu helfen. Obwohl er ein Mann war, hatte er aus irgendeiner kosmischen Ungerechtigkeit heraus das bessere Mode- und Stilempfinden, was man seiner eigenen Kleiderwahl allerdings nur selten ansah. Doch Greg war leider immer noch nicht wieder hier. Anfangs hatte ich noch versucht, daran zu glauben, dass er sich wieder beruhigen und nach Hause zurückkommen würde. Sogar seine Anmeldung an einem mehrere Hundert Kilometer entfernten Internat hatte ich nicht für voll nehmen wollen. Ich hatte mir immer wieder eingeredet, dass er einfach nur unsere Eltern einschüchtern wollte, damit sie sich bei ihm entschuldigten. Nur ungern sah ich ein, dass es sein voller Ernst gewesen war. Auch diese Weihnachten würde er nicht heim kommen – genauso wenig wie an meinem Geburtstag... Plötzlich bemerkte ich, dass ich schon wieder weinte. Ich war immer noch bitter enttäuscht und egal, wie viel Zeit verging, Gregs Abwesenheit tat noch genauso weh wie am Anfang. Fast schien es, als würde ich ihn mit jedem Tag mehr vermissen. Ich holte tief Luft, versuchte, den Tränenfluss zu stoppen, und rief mir wieder ins Gedächtnis, dass es gar keinen Grund gab, zu weinen. Greg mochte nicht mehr zu Hause wohnen, aber deswegen hatte ich ihn noch lange nicht ganz verloren. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging ich zu meinem Schreibtisch und strich liebevoll über das eindrucksvolle Bündel Briefe. Greg hatte mir beinah wöchentlich geschrieben, damit ich mich nicht so alleine fühlte. Dabei hatte er selbst in den ersten Briefen unglaublich einsam gewirkt. Er hatte mir immer erzählt, was er alles unternommen und erlebt hatte, aber nie hatte er auch nur ein Wort über einen Freund verloren. Es hatte so ausgesehen, als ob er tatsächlich immer nur mit sich allein gewesen war. Doch seit etwa Mitte Oktober erwähnte er immer wieder ein Mädchen namens Vroni, zu dem er offenbar eine ziemlich enge Freundschaft aufgebaut hatte. Ich fragte mich insgeheim, ob Greg sich in diese Vroni verliebt hatte, auch wenn seine Wortwahl in den Briefen nicht danach klang. Dieses Mädchen schien viel mehr die Lücke zu füllen, die Chris hinterlassen hatte. Ich freute mich sehr für meinen Bruder, doch gleichzeitig war ich schrecklich eifersüchtig. Seit er mit dieser Vroni befreundet war, kamen die Briefe weniger regelmäßig und seltener. Ich fragte mich, ob Greg mich irgendwann ganz vergessen würde. Plötzlich klingelte es an der Haustür und ich zuckte heftig zusammen. Josephine war schon da und ich wusste immer noch nicht, was ich anziehen sollte! Ich hörte, wie Mama zur Tür ging, Finchen begrüßte und ihr sagte, ich sei noch in meinem Zimmer. Schnell rannte ich zurück zu meinem Kleiderschrank und durchwühlte geradezu panisch meine restlichen Klamotten. Ein leises Lachen im Türrahmen ließ mich herumfahren. „Warum wundert es mich nicht, dass du noch nicht fertig bist?“ Finchen stand grinsend in der Tür und sah mit ihrem kurzen Winterrock aus dunkelblau gefärbter Wolle und dem knallroten, tief dekolletierten Pullover so hinreißend aus, dass ich direkt neidisch wurde. Ihre Augen hatte sie so geschickt geschminkt, dass ihr funkelndes Blau noch viel größer wirkte als es das sonst schon tat. Resigniert warf ich meine letzten Kleidungsstücke auf den Haufen zu meinen Füßen und schaute mit beinah weinerlicher Miene zu meiner besten Freundin herüber. „Ich hab einfach nichts zum Anziehen!“ Finchen lachte leise in sich hinein und kam langsam auf mich zu, wobei die Absätze ihrer Wildlederstiefelletten auf dem Teppichboden dumpf pochten. „Das behauptest du ja jedes Mal.“ Sie ging in die Hocke und begann meinen Kleiderhaufen zu durchwühlen. Ich setzte mich aufs Bett und schaute ihr missmutig dabei zu. „Sag mal, ist dir nicht kalt?“ Finchen sah mich irritiert an, bis sie bemerkte, dass ich ihre Beine fixierte. „Nein, nein.“ Sie zog an dem dünnen, transparenten Stoff, der ihre langen Stelzen bedeckte. „Ich trag drei Strumpfhosen. Das ist genauso warm wie ’ne Jeans.“ Ein wenig zweifelnd zog ich die Augenbraunen in die Höhe, ließ mich dann aber stumm auf den Rücken fallen. Irgendwie hatte ich plötzlich gar keine Lust mehr auf die Party. Neben Finchen würde ich doch sowieso wieder nur wie eine graue Maus wirken. Doch nach einigen Minuten triumphierte diese: „Hier, ich hab etwas gefunden.“ Ein wenig mürrisch richtete ich mich wieder auf und begutachtete die Kleidungsstücke, die sie in der Hand hielt. Plötzlich brach ich in lautes Lachen aus. „Das ist ein Witz, oder?“ Finchen sah mich aus großen Augen fragend an. „Wieso?“ „Das da,“ ich deutete auf den schwarzen Stofffetzen in ihrer Hand, „trag ich normalerweise nur im Garten, wenn es richtig heiß ist.“ Meine beste Freundin presste ihre rot geschminkten Lippen aufeinander. „Schlimm genug. Du hast so tolle Beine – sie zu verstecken, ist echt eine Sünde.“ Ich sah sie zweifelnd an, doch sie schnitt mir mit einer Handbewegung das Wort ab, bevor ich überhaupt etwas hatte sagen können. „Jetzt zieh’s einfach an. Hinterher kannst du immer noch meckern. Hast du hautfarbene Strumpfhosen?“ Ich nickte. „Dann zieh davon ein paar an.“ Wenig später stand ich vor meinem Ganzkörperspiegel und staunte nicht schlecht. In den kurzen, schwarzen Hotpants wirkten meine Beine so viel länger als sonst und der enganliegende dunkelgrüne Pullover mit U-Boot-Ausschnitt betonte meine schlanke Taille. Finchen stand grinsend hinter mir und steckte mir mein langes Haar hoch, während ich mich vollkommen überwältigt betrachtete. So wirkte ich plötzlich gar nicht mehr wie eine Vierzehnjährige. Ich fragte mich, was Greg gesagt hätte, hätte er mich so gesehen. Vermutlich hätte er einen Anfall bekommen und fürchterlich getobt. Er machte sich seit jeher zu viele Sorgen um mich. Finchen blickte sich fragend im Zimmer um. „Wo hast du deine Schminksachen?“ „Ich besitze gar keine.“ Meine beste Freundin seufzte und betrachtete mit einem seltsamen Ausdruck mein Gesicht. „Bei deiner glatten Haut brauchst du das vermutlich auch nicht. Du Glückliche.“ Mit einem Anflug von Amüsement dachte ich daran, dass ich noch vor wenigen Augenblicken diejenige gewesen war, die Finchen beneidet hatte. Das Leben war manchmal schon komisch. „Okay, ich guck mal im Bad, ob wir deiner Mutter ein bisschen Mascara mopsen können, und du suchst dir derweil passende Schuhe.“ Mit diesen Worten schlüpfte Finchen durch die Tür und ließ mich allein zurück. Auf einmal war meine Vorfreude auf die Party wieder da und ich riss schnell die dritte Tür meines Kleiderschranks auf. Dort standen ziemlich wild durcheinander gewürfelt meine Turnschuhe, Ballerinas und Wanderschuhe. Ganz hinten in der Ecke fand ich endlich die hochhackigen, schwarzen Halbschuhe, die ich vor ein paar Monaten bei der Konfirmation einer Cousine hatte tragen müssen. Ich erinnerte mich gut daran, wie sehr ich sie damals gehasst hatte, aber nun war ich froh, dass ich sie besaß – sie waren meine einzigen Schuhe mit Absatz. Kurz darauf kam Finchen wieder zurück und wedelte grinsend mit einem kleinen, bauchig aussehenden, schwarzen Stab. Sie befahl mir, mich hinzusetzen und begann dann, meine Wimpern zu tuschen. Als ich anschließend einen Blick in den Spiegel warf, war ich begeistert. Meine Augen schienen zu strahlen und zu funkeln wie geschliffenes Glas. Jetzt konnte die Party kommen! Kapitel 24: Melanie ------------------- Die harten Klänge zweier E-Gitarren und das vibrierende Dröhnen von Schlagzeug und Bass hämmerten durch die Aula, prallten von den Wänden ab und vermengten sich zu einer schnellen Melodie, die unwillkürlich gute Laune vermittelte. Der diesjährige Abschlussjahrgang hatte sich etwas Besonderes einfallen lassen und ließ eine der vielen schulinternen Bands auftreten, anstatt Musik vom Band laufen zu lassen. Man hatte sogar extra auf einer Breitseite der Aula eine improvisierte Bühne aufgebaut. Ich bewunderte die Musiker dafür, dass sie sich trauten, auf der etwas wackelig aussehenden Konstruktion zu spielen. Neben mir stand Finchen und wippte im Rhythmus der Musik auf und ab, so als hätte sie Sprungfedern unter den Absätzen. Als sie bemerkte, dass ich sie ansah, grinste sie mich an und beugte sich zu mir. „Klasse Musik, oder?“ Ein wenig irritiert nickte ich. Eigentlich konnte Finchen Punk nicht ausstehen. Ich musterte sie von der Seite und bemerkte endlich ihren irgendwie starren und verträumten Blick. Grinsend schaute ich in dieselbe Richtung wie Finchen und entdeckte den dunkelhaarigen Gitarristen auf der rechten Bühnenseite, den sie so anschmachtete. Kein Wunder, dass sie sich plötzlich für diese Art Musik begeisterte. Ich betrachtete die anderen Musiker und fragte mich, ob ich einen von ihnen süß fand. Links stand ein weiterer Gitarrist, der erstaunlich groß und schlaksig war und blondes, zerzaustes Haar hatte. Augenblicklich musste ich wieder an Greg denken und sah schnell weg. Ich wollte mir den Abend nicht verderben, indem ich meinen Bruder vermisste. Ein Stück weiter rechts stand der Bassist. Er hatte kurze, stoppelige Haare, deren Farbe von meinem Standpunkt aus nicht zu erkennen war. Von dunkelblond bis hin zu fast schwarz hätte es alles sein können. Mit einem Kopfschütteln entschied ich, dass der Bassist mir nicht gefiel. Er hatte kalte, helle Augen und ein irgendwie unfreundliches Gesicht. In der Mitte war das Schlagzeug aufgebaut, hinter dem ein hünenhafter, türkischstämmiger Junge saß, der mit einer Kraft auf die Felle seiner Trommeln drosch, dass ich fürchtete, sie könnten reißen. Er hatte langes, glänzendes, schwarzes Haar und eine große Hakennase, neben der zwei dunkle, wie Knöpfe wirkende Augen saßen. Ich legte den Kopf schief und dachte nach, entschied mich dann aber doch gegen den Schlagzeuger. Er sah zwar definitiv gut aus, aber irgendwie fehlte ihm etwas. Ich konnte nicht einmal sagen, was. Vor dem Schlagzeug war der Bereich des Sängers – ein kleiner, leicht untersetzter Junge mit wilden, ungebändigten, braunen Locken, die lustig auf und ab sprangen, während ihr Besitzer über die Bühne flitzte. Fasziniert blieb mein Blick an ihm hängen. Er hatte leuchtende grünbraune Augen, die hellwach wirkten und immer wieder über das Publikum glitten. Doch sie waren es nicht, was mich so gebannt hatte. Ich war vielmehr von der gewaltigen Energie beeindruckt, die dieser Junge freisetzte. Er sprang und flitzte umher und sang sich dabei die Seele aus dem Leib, so als müsste er niemals Luft holen. Ich fragte mich, ob er dieses Tempo den ganzen Abend über würde aufrecht halten können. Etwa anderthalb Stunden später hatte ich dann meine Antwort: Ja, er konnte. Ich war unglaublich beeindruckt und nahm mir vor, mal wieder zu einem Gig seiner Band zu gehen – schließlich spielten sie auch noch echt gute Musik. Nachdem die anwesenden Partygäste sich während des Bandauftritts mehr oder weniger geschlossen der Bühne zugewandt hatten, verstreuten die Leute sich nun und bildeten kleine Grüppchen. Finchen stand noch immer neben mir, kaute auf einem Fingernagel und beobachtete den dunkelhaarigen Gitarristen, der zusammen mit seinen Bandkollegen das Equipment zusammen packte. Anscheinend überlegte sie, ob sie hin gehen und ihn ansprechen sollte. Ich wollte ihr gerade Mut machen, als ich den Sänger auf uns zu kommen sah. Er hatte seine Oberbekleidung gewechselt und trug nun einen leuchtendblauen Pullover statt seines grauen, mit Schweißflecken übersäten T-Shirts. Auch seine Locken sahen so aus, als wären die kleinen Tropfen, die in ihnen schimmerten, Wasser und kein Schweiß. Ich spürte, wie mir Nervosität den Rücken entlang perlte und sich als leises Ziehen im Magen einnistete, obwohl ich mir einzureden versuchte, dass dieser Junge bestimmt nicht zu mir wollte. Überraschenderweise blieb er jedoch tatsächlich vor Josephine und mir stehen und grinste. Finchen sah ihn mit unverhohlener Abneigung an, so als wäre er ein widerliches Insekt, das man dringend zerquetschen musste. Ich fragte mich, was sie gegen ihn hatte. Er sah doch total sympathisch aus und in seinen Augen schimmerte ein stummes Versprechen von Warmherzigkeit und Feinfühligkeit. „Du bist die kleine Schwester von Greg, oder? Melanie?“ Der Junge fixierte mich mit einem erfreuten Blick, während mir die Verwirrung bestimmt ins Gesicht geschrieben stand. Finchen verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte ihr Gewicht auf das rechte Bein. Ich kannte sie lange genug, um zu wissen, dass das bei ihr eine angriffslustige Stimmung bedeutete. Bevor sie sich mit unserem Gegenüber anlegen konnte, sagte ich deswegen: „Möglich. Wie kommst du drauf?“ „Ich hab früher neben Chris gewohnt und immer mal wieder etwas mit ihm und deinem Bruder unternommen. Mein Name ist übrigens Johannes.“ Er hielt mir seine Hand entgegen, die ich nach kurzem Zögern ergriff. Als ich seine erstaunlich weiche Haut berührte, fiel es mir wieder ein: Greg hatte früher des Öfteren von einem Jungen namens Johannes in Chris’ Nachbarschaft erzählt, den sie hatten mitspielen lassen, obwohl er zwei Jahre jünger war als sie selbst. Ich lächelte Johannes an, was er mit einem breiten Grinsen beantwortete. „Ja, ich erinnere mich. Mein Bruder hat von dir erzählt.“ Finchen warf mir einen sonderbaren Blick zu, so als wunderte sie sich, dass ich überhaupt mit diesem Jungen sprach. Aber wie hätte ich Johannes nicht mögen können? Mein Bruder hatte ihn schließlich auch gern gehabt. „Ich komm gleich wieder.“ Ohne ein weiteres Wort wandte Finchen sich um und verschwand in dem Meer aus umherstehenden und sich unterhaltenden Menschen. Johannes machte ein ratloses Gesicht und sah mich dann fragend an. „Hab ich sie jetzt vertrieben? Das tut mir leid.“ Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Das ist normal. Josephine ist manchmal ein bisschen zickig.“ „Hm. Ach so.“ Einige Herzschläge lang sah Johannes nicht überzeugt aus, doch dann erhellte ein Lächeln wieder seine Züge. „Vielleicht denkt sie ja auch, ich wolle dich anmachen, und glaubt, ich traue mich nicht, so lange sie dabei ist.“ Ich grinste, als ich mir eine so feinfühlige Finchen vorstellte. „Nein, glaub mir: Wenn sie denken würde, du wollest mich anmachen, wäre sie geblieben.“ „Meinst du?“ Ich nickte. „Ja, ganz sicher.“ Dass ich das Gefühl hatte, dass sie schon allein deswegen geblieben wäre, um ihn zu ärgern, verschwieg ich lieber. Johannes beugte sich ein wenig zu mir, damit ich ihn trotz der plötzlich eingesetzten, lauten Musik verstand, auch wenn er nicht aus voller Lunge brüllte. „Wollen wir vielleicht trotzdem ein wenig in die Chill-Out-Area? Da kann man sich besser unterhalten.“ Wieder spürte ich, wie Nervosität durch meinen Körper schwappte. Erst kribbelte es nur unter meinen Füßen, doch es breitete sich rasend schnell über den gesamten Körper aus. Ich lächelte und nickte. „Gerne.“ Die Chill-Out-Area war in dem großen Kunstraum am hinteren Ende der Aula errichtet worden. Irgendwer hatte die Möbel aus dem Aufenthaltsraum der Oberstufe hierher geschafft und mit bunten Tüchern abgehängte Stehlampen im Raum verteilt. Durch die geschlossene Tür hörte man noch immer den Bass aus dem Tanzbereich wummern, der sich mit den leisen Entspannungsklängen aus einer ziemlich ramponiert aussehenden Stereoanlage vermischte. Ich lies mich auf ein altes, ausgesessenes Zweiersofa fallen, dessen Bezug an einigen Stellen bereits aufgerissen war und einen Blick auf das Sofainnenleben aus gelbem Schaumstoff gewährte. Johannes setzte sich neben mich und rümpfte ein wenig die Nase, als er ein heftig fummelndes Pärchen in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes entdeckte. „Haben die Beiden kein Zuhause?“ Ich kicherte ein bisschen beschämt und sah schnell wieder von dem Pärchen weg. Johannes setzte sich ein wenig quer und legte einen Arm auf die Rückenlehne des Sofas. Ich lehnte mich zurück, sodass er nun fast um meine Schultern lag. Zu meiner Freude zog Johannes ihn nicht zurück. Erste, kleine Schmetterlinge flatterten durch meinen Bauch. Ich fühlte mich von diesem Jungen einfach irgendwie fasziniert. Genauso wenig wie ich bei dem Schlagzeuger hatte sagen können, was mir an ihm gefehlt hatte, so konnte ich bei Johannes nicht sagen, was mir so gefiel. Vielleicht waren es die strahlenden Augen oder die Energie, die er ausstrahlte. Doch als er den Mund aufmachte, um mich etwas zu fragen, fielen die kleinen Schmetterlinge tot zu Boden, wo sie ein fieses Magenbrennen verursachten. „Und wie geht’s Greg? Was macht er so? Ich hab ihn ja ewig nicht mehr gesehen.“ Ich biss mir von innen auf die Wange, um mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ich würde jetzt nicht weinen, nur weil ich tatsächlich so dumm gewesen war zu glauben, dass Johannes Interesse an mir hätte haben können! „Er hat die Schule gewechselt und geht jetzt auf ein Internat.“ Selbst in meinen Ohren klang meine Stimme beleidigt und traurig. Ich hoffte, dass Johannes das auf die Abwesenheit meines Bruders bezog und nicht auf sich selbst. Er zog die Stirn kraus und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Das ist schade. Er war immer ein guter Basketballspieler. Ich hatte gehofft, ihn für unsere Schulmannschaft gewinnen zu können. Mein Onkel trainiert sie, weißt du?“ Nein, wusste ich nicht und interessierte mich auch nicht. Ich wollte plötzlich einfach nur noch gehen und mich hinter Finchen verstecken. Wie hatte ich nur so blöd sein können? Kein Sechzehnjähriger, der in einer Band spielte, interessierte sich für eine unscheinbare Vierzehnjährige wie mich. Doch dann lächelte Johannes mich auf einmal wieder an, wobei er dieses Mal allerdings irgendwie ein wenig zerknirscht aussah. „Wenn du so schweigsam bist, machst du’s einem Jungen wirklich nicht leicht.“ Ich blinzelte ihn irritiert an. „Wie bitte?“ Plötzlich nervös nestelte er an einem losen Faden des Sofabezugs. „Na ja, also... ähm...“ Er holte tief Luft und sah mich eindringlich an. „Eigentlich war die Frage nach deinem Bruder nur ein willkommener Vorwand, um dich anzusprechen. Ich hatte gehofft, dass wir vielleicht ein wenig ins Gespräch kommen.“ Ich merkte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss und meine Wangen zu glühen anfingen. „Oh.“ Verlegen starrte ich auf meine Knie, als ich zugab: „Das hatte ich auch gehofft. Ich war schon ein wenig enttäuscht, als du nach Greg gefragt hast.“ Neben mir entspannte Johannes sich merklich und stieß einen kleinen Seufzer aus. „Sollen wir das Gespräch dann vielleicht noch mal von vorne anfangen?“ Lächelnd sah ich zu ihm herauf und begegnete seinem warmen, fast liebevollen Blick. „Auf jeden Fall.“ Für einige Zeit unterhielten wir uns über Musik, Lieblingsfilme, die Schule und seine Band. Mit einem kleinen Schrecken stellte ich fest, dass ich Finchen vollkommen vergessen hatte. Ich wollte gerade aufspringen und nach ihr suchen, als Johannes meine Hand ergriff. „Darf ich dir etwas sagen?“ Er sah mich ein wenig unsicher aus großen Augen an. „Klar.“ Sanfte Röte breitete sich auf seinem leicht rundlichen Gesicht aus. „Du bist echt hübsch.“ Ich starrte ihn ungläubig mit offenstehendem Mund an, während ein flaues Glücksgefühl durch meinen Körper schwappte. Finchen hatte ich schon wieder vergessen. Kapitel 25: Johannes -------------------- Die zu grell eingestellten Scheinwerfer stachen mir in den Augen, mir war zu warm und mein schweißgetränktes T-Shirt scheuerte unangenehm über meinen Rücken, doch trotzdem hätte ich mich nicht besser fühlen können. Das Adrenalin rauschte wie flüssiges Glück durch meine Adern und ließ die kleine Schulaula wie ein riesiges Stadion wirken. Ich liebte die Auftritte mit meiner Band und mir war nichts bekannt, das ähnlich toll gewesen wäre. Musik war trotz anfänglichen Missfallens auf Seiten meiner Eltern seit Jahren mein Leben. Die alte, abgegriffene E-Gitarre, die ich von meinem Onkel zu meinem zehnten Geburtstag bekommen hatte, war für mich beinah so etwas wie eine Lebensgefährtin und jedes Mal, wenn ich auf einer Bühne stand, wusste ich: Hier gehörte ich hin. Egal, wohin mein Leben mich noch führen würde, ich wusste, ich würde immer in irgendeiner Art und Weise mit Musik zu tun haben. Ich kniete auf den dreckigen, mit festgetretenen Kaugummis übersäten Brettern der improvisierten Bühne und baute gemeinsam mit meinen Bandkollegen unser Equipment ab, als mich plötzlich Matthias von hinten antippte. Matthias und ich kannten uns bereits seit der Grundschule und hatten gemeinsam vor zwei Jahren „Deep Green“ gegründet. Seitdem war er nicht nur einer meiner besten Freunde, sondern auch der Bassist an meiner Seite. „Wow, hast du das Sahneschnittchen da hinten gesehen?“ Matthias deutete ins mittlere Drittel der Aula und grinste anzüglich. Ich hob meinen Blick und schaute in Richtung des kleinen Getränkestandes, an dem neben Bier, Alcopops und Softdrinks auch ein paar unkomplizierte Cocktails verkauft wurden. Ein Stück neben der drängelnden und schubsenden Warteschlange standen zwei junge Mädchen, von dem eines aus großen, tiefblauen Augen in Richtung Bühne blickte. Anscheinend hatte es unseren rechtsseitigen Gitarristen Adam ins Visier genommen. Das Mädchen war eine langbeinige Schönheit mit strahlenden Augen, schlankem Körperbau und langen, rotblonden Haaren. Sicherlich hatte es schon einigen der anwesenden Jungs den Kopf verdreht, doch meine Aufmerksamkeit galt ausschließlich seiner Freundin. Sie war wenige Zentimeter kleiner als die hübsche Blondine und einfach wunderschön. Ihr schokoladenbraunes Haar hatte sie kunstvoll hochgesteckt, sodass nur ein paar vereinzelte Strähnen in fein geschwungenen Locken neben ihrem Gesicht hingen und es wie ein teures Gemälde einrahmten. Ihre Augen funkelten wie moosgrüne Sterne und ihr Mund hatte so perfekte Lippen, das mir alleine von ihrem Anblick schwindelig wurde. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, sie zu küssen. Plötzlich wandte das Mädchen den Kopf und blickte direkt zu mir herauf. Schnell schaute ich wieder auf die Kabel zu meinen Füßen und tat als wäre ich schrecklich beschäftigt. Irgendetwas an diesem Mädchen kam mir seltsam vertraut vor, so als hätte ich es bereits einmal gesehen, doch ich kam einfach nicht drauf, wo das gewesen sein könnte. Vielleicht war es mir irgendwann mal im Schulflur über den Weg gelaufen? Nein, daran hätte ich mich bestimmt erinnert. „Welches von den beiden Mädchen meinst du denn?“, fragte ich Matthias, obwohl ich es mir schon denken konnte. Ich kannte seinen Geschmack schließlich schon seit Jahren. „Die Blondine.“ Er grinste wieder so breit, dass man fast seine Backenzähne sehen konnte. „Die Brünette ist zwar auch echt hübsch, aber irgendwie hat sie etwas fades, langweiliges an sich.“ Bevor ich protestieren und anmerken konnte, dass Matthias nur so dachte, weil er keinen Blick für subtilen Sexappeal hatte, gesellte sich unser Schlagzeuger Sam zu uns und brummte: „Von der Brünetten würde ich sowieso die Finger lassen.“ Irritiert zog ich die Augenbraunen hoch und fragte in möglichst beiläufigen Ton: „Wieso das?“ „Das ist die Schwester von Gregor Klare. Widerlicher Typ. Kennt ihr den? Der hat letztes Jahr für unsere Schule an der Naturwissenschaftsparade teilgenommen. Das ist so ein richtiger Wichtigtuer, der sich unglaublich viel auf seine guten Noten und sein hübsches Gesicht einbildet. So schön kann gar kein Mädchen sein, dass ich den dafür ertragen würde...“ Gregor? Gregor Klare? Irgendwo tief in mir klopfte eine dunkle, halb verschüttete Erinnerung an meinen Geist und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Melanie!“ Während ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug und mich darüber wunderte, warum es mir nicht vorher eingefallen war, wurde ich von zwei irritierten Augenpaaren gemustert. Ich wandte mich mit einem belustigten Grinsen an Sam: „Ich war früher mal mit Gregor befreundet.“ Schlagartig wurde der ansonsten so toughe Drummer ein wenig blass und sah mich zerknirscht an. Bevor er sich dafür rechtfertigen konnte, schlecht über einen meiner ehemaligen Freunde geredet zu haben, fuhr ich jedoch bereits weiter fort: „Er ist überhaupt nicht so eingebildet und arrogant wie er von Weitem wirkt. Eigentlich ist er sogar richtig nett, aber das tut jetzt ja auch gar nichts zur Sache. Mir ist nur gerade wieder eingefallen, dass seine Schwester Melanie heißt. Er hat immer viel von ihr erzählt.“ Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem brünetten Mädchen zu. Jetzt war mir auch klar, warum es mir so bekannt vorgekommen war. Melanie hatte ab und zu einen ihrer Elternteile begleitet, wenn dieses Greg von Chris abgeholt hatte. Chris war damals mein Nachbar gewesen und obwohl uns zwei Jahre Altersunterschied trennten, hatte uns die gemeinsame Liebe zum Basketball zu Freunden werden lassen. Vor etwa vier Jahren war meine Familie jedoch umgezogen und ich hatte sowohl Chris als auch Greg aus den Augen verloren. „Sie sieht ihrem Bruder kein Stück ähnlich.“, überlegte ich laut, was Sam ein belustigtes Schnauben entlockte. „Niemand sieht aus wie Gregor.“ Matthias grinste schief, was seine Zähne in dem grellen Scheinwerferlicht aufblitzen ließ. „Wo hast du den klugen Spruch denn her?“ Sam zog ein unglückliches Gesicht und knuffte Adam, der sich zu uns setzte, zur Begrüßung gegen die Schulter. „Von meiner Schwester.“ Ein unterdrücktes Lachen ging durch die Reihen, was sogar Peter, unseren zweiten Gitarristen, anlockte. Er setzte sich auf eine noch nicht weg geräumte Box und versuchte, herauszufinden, über was wir uns so amüsiert hatten. Sam blickte missmutig, fuhr aber fort: „Sie war letztes Jahr mal total in ihn verschossen und kreuzunglücklich, weil er sich einfach nicht für sie interessierte.“ Unwillkürlich fragte ich mich, ob Sam deswegen so schlecht auf Greg zu sprechen war. „Als ich ihr gesagt habe, sie solle sich den Typen doch einfach aus dem Kopf schlagen und sich nach einem anderen Jungen umsehen – andere Mütter haben schließlich auch schöne Söhne – hat sie mich angekeift, dass es vielleicht noch andere heiße Jungs gäbe, aber keiner aussähe wie Gregor.“ Trotz seiner tiefen Stimme konnte er die Tonlage seiner jüngeren Schwester überraschend gut imitieren. Peter grinste breit und nickte. „So ähnlich kenn’ ich das auch.“ Matthias riss ein Stück Tape von den Holzdielen der Bühne und rollte ein wenig genervt mit den Augen. „Ich frage mich, ob es an dieser Schule einen Jungen gibt, dessen Schwester nicht irgendwann mal in Gregor Klare verliebt war.“ Ich schubste Matthias leicht zur Seite. „Natürlich. Du kennst sogar einen: Mich!“ Ein trockenes, unamüsiertes Lachen machte die Runde. „Das könnte daran liegen, dass du ein Einzelkind bist, Blödmann.“ Grinsend schwang ich mich auf die Füße und strebte auf die Jungentoilette in der Nähe zu, um mir zumindest grob den inzwischen ekelig klebenden Schweiß abzuwaschen und mein sicherlich stinkendes T-Shirt gegen einen frischen Pullover auszuwechseln. Als ich wieder in die Aula kam, stand Melanie noch immer in der Nähe der Theke und schien sich mit ihrer Freundin zu unterhalten. Mein Herz schlug und wummerte in meiner Brust, so als hätte ich gerade eine Sportstunde bei Herrn Westphal, dem schuleigenen Sklaventreiber, hinter mir. Durch tiefe, gleichmäßige Atemzüge versuchte ich, es wieder zu beruhigen, doch die Nervosität war zu groß. Zum wiederholten Mal wischte ich meine schwitzigen Hände an meiner Jeans ab und trat dann neben Melanie, die mich aus neugierigen Augen ansah. Um meine Verlegenheit zu überspielen, grinste ich sie breit an. Erstaunt stellte ich fest, dass sie aus der Nähe sogar noch umwerfender aussah als ich gedacht hatte. Eine ganze Palette platter Anmachsprüche schoss mir durch den Kopf, doch ich verwarf sie alle. Stattdessen fragte ich: „Du bist die kleine Schwester von Greg, oder? Melanie?“ Während die Angesprochene mich irritiert ansah und überrascht blinzelte, bemerkte ich, dass ihre Freundin mich beinah feindselig musterte. Ich fragte mich, was sie wohl gegen mich hatte. Hatte ich womöglich Mundgeruch? Mit Erleichterung fiel mir wieder ein, dass ich mittags doch auf den Döner mit extra Zwiebeln verzichtet hatte. Melanie legte den Kopf ein wenig schief und zartes Misstrauen schlich sich in ihre Züge. Sofort schlug mein Herz noch heftiger. Hätte ich vielleicht doch nicht so mit der Tür ins Haus fallen sollen? Doch als sie sprach, war ihre Stimme weich und trotz der Worte frei von Argwohn: „Möglich. Wie kommst du drauf?“ Schnell erklärte ich ihr, dass ich früher mal mit ihrem Bruder befreundet gewesen war. Während ich sprach, wiegte sie scheinbar unbewusst den Kopf hin und her und grübelte. Ich stellte mich vor und reichte ihr die Hand. Als sie mich berührte, pulsierten heftige elektrische Stöße durch meinen Körper und ich konnte an einem kurzen Flackern in Melanies Augen ablesen, dass ihr genau in diesem Moment einfiel, dass Greg mich mal erwähnt hatte. Wir lächelten uns gegenseitig an und mir ging das Herz auf. Doch bevor ich das Gespräch weiter vertiefen konnte, bohrte sich der eisige Blick von Melanies Freundin in mich, was mich ein wenig zusammenzucken ließ. Schließlich keifte die Blondine: „Ich komm gleich wieder.“ und verschwand, ohne Melanie die Möglichkeit zu einer Antwort zu geben. Nur schwer konnte ich den Reflex unterdrücken, die Nase zu rümpfen. Ich hasste zickige Mädchen. Auch wenn ich froh war, mit Melanie allein zu sein, wollte ich nicht, dass sie mich für kalt oder gefühllos hielt. Deswegen sagte ich: „Hab ich sie jetzt vertrieben? Das tut mir leid.“ Zu meiner Überraschung winkte Melanie einfach ab und erklärte, dass dieses Verhalten normal für das andere Mädchen war. Irgendwie gefiel mir ihre entspannte Art noch besser als ihr hübsches Aussehen. Ohne weiter darüber nachzudenken, verfiel ich in ein lockeres Flirten: „Vielleicht denkt sie ja auch, ich wolle dich anmachen, und glaubt, ich traue mich nicht, so lange sie dabei ist.“ Ein hintergründiges Lächeln breitete sich auf Melanies Gesicht aus. „Nein, glaub mir: Wenn sie denken würde, du wollest mich anmachen, wäre sie geblieben.“ Ihr Grinsen verriet, dass sie sich über irgendeinen geheimen Gedanken amüsierte, den sie mir auch trotz Nachfrage nicht verraten wollte. Plötzlich setzte eine ohrenbetäubend laute Musik ein, die hämmernd aus mehreren dunklen Boxen in den Ecken der Aula drang. Offenbar hatte endlich jemand das gemietete Soundsystem in den Griff bekommen. Leider machte die Lautstärke jedes Gespräch unmöglich. So sehr ich Musik normalerweise liebte, so sehr ging sie mir in diesem Moment auf die Nerven. Ein wenig zaghaft beugte ich mich zu Melanie vor, damit sie mich auch über den Krach hinweg verstand. „Wollen wir vielleicht trotzdem ein wenig in die Chill-Out-Area? Da kann man sich besser unterhalten.“ Stumm verfluchte ich denjenigen, der die Musikanlage angeschmissen und mich so zu diesem etwas gewagten Schritt gezwungen hatte. Doch bereits ein paar Sekunden später hätte ich denjenigen am liebsten geküsst. Melanie lächelte mich warm an und nickte: „Gerne.“ Nur mit Mühe schaffte ich es, ein lautes Jubeln zu unterdrücken. Als wir den umfunktionierten Kunstraum betraten, fragte ich mich, wer sich hier entspannen können sollte. Das Licht war eher schummerig als gedämpft und der Großteil der Möbel sah aus als ob man jeden Moment damit rechnen musste, dass sich eine scharfkantige Sprungfeder in den Hintern des darauf Sitzenden bohren würde. Alles in allem wirkte der Raum eher wie eine Müllhalde mit Puffbeleuchtung als wie ein kuscheliger Rückzugsort. Als ich mich neben Melanie auf eines der besser aussehenden Sofas setzte, entdeckte ich in der hintersten Ecke ein Pärchen, das den Begriff Puffbeleuchtung offensichtlich ein wenig zu wörtlich nahm. Mit leisem Entsetzen stellte ich fest, dass es sich bei dem Mädchen um meine Ex-Freundin handelte. Was hatte ich mir damals nur dabei gedacht, mit ihr auszugehen? Damit Melanie nicht glaubte, ich hätte sie hierher gelockt, um über sie herzufallen, brummte ich ein missbilligendes „Haben die Beiden kein Zuhause?“ Melanie warf einen schnellen Blick in die Ecke und lief augenblicklich rot an. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob wir wieder gehen sollten, entschied mich dann aber doch dagegen. Hier war leider der einzige Ort, an dem man sich einigermaßen ungestört unterhalten konnte. Ich wandte mich ein wenig um, damit ich so saß, dass Melanie sich so drehen musste, dass das Pärchen aus ihrem Blickfeld verschwand, wenn sie mich ansehen wollte. Um es mir ein wenig bequemer zu machen, legte ich meinen Arm auf die Sofalehne. Ein wenig unsicher schob ich ihn über den ramponierten Bezugsstoff und hoffte, dass ich Melanie dadurch nicht zu nah kam. Zu meiner Überraschung lehnte sie sich jedoch sogar noch zurück, so dass ich ohne Probleme über ihre Schulter hätte streichen können. Um mich von derartigen Gedanken abzulenken, sprach ich sie schnell an. Leider fehlte mir dadurch die Zeit, mir etwas sinnvolles oder witziges einfallen zu lassen. Stattdessen fragte ich nach ihrem Bruder, was einen Schatten über ihr Gesicht huschen ließ. Offenbar wollte sie nicht über Greg sprechen. „Er hat die Schule gewechselt und geht jetzt auf ein Internat.“ In ihrer Stimme klang so viel Schmerz und Trauer mit, dass ich mich am liebsten geohrfeigt hätte. Schnell versuchte ich, die Kurve zu kriegen und möglichst elegant das Thema zu wechseln. „Das ist schade. Er war immer ein guter Basketballspieler. Ich hatte gehofft, ihn für unsere Schulmannschaft gewinnen zu können. Mein Onkel trainiert sie, weißt du?“ Erwartungsvoll schaute ich ihr ins Gesicht, doch sie sah an mir vorbei auf den Boden. Scheinbar wollte sie auch nicht über meine Familie reden. Ich fragte mich, ob ich sie schon verloren hatte, bevor ich die Gelegenheit gehabt hatte, sie richtig kennen zu lernen. Allein bei dem Gedanken daran breitete sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund aus und ich spürte ein fieses Grummeln in meinem Magen – viel heftiger als bei den anderen Mädchen, die mir in meinem bisherigen Leben mal einen Korb gegeben hatten. Verzweifelt nahm ich meinen letzten Rest Mut zusammen. „Wenn du so schweigsam bist, machst du’s einem Jungen wirklich nicht leicht.“ Überrascht sah Melanie zu mir auf. In ihren Augen schimmerte eine seltsame Verletzlichkeit, die in mir den Wunsch weckte, sie in die Arme zu nehmen und vor der Welt zu beschützen. „Wie bitte?“ Sie blinzelte irritiert, so als könnte sie sich nicht denken, dass ich vermutlich so ziemlich alles dafür getan hätte, um mit ihr zu reden. „Eigentlich war die Frage nach deinem Bruder nur ein willkommener Vorwand, um dich anzusprechen. Ich hatte gehofft, dass wir vielleicht ein wenig ins Gespräch kommen.“, gestand ich mit zitternder Stimme. Während ich sprach, konnte ich Melanie nicht ins Gesicht sehen, weshalb ich keine Ahnung hatte, wie sie auf diese Offenbarung reagierte. Ängstlich angespannt wartete ich darauf, dass sie mich auslachen würde oder schlimmeres. Doch sie brachte nur ein leises „Oh.“ heraus. Mit neuer Hoffnung sah ich wieder auf und bemerkte, dass sich ihre Wangen gerötet hatten und nun in einem zarten Rosa leuchteten. Damit sah sie gleich noch um ein Vielfaches schöner aus. Am liebsten hätte ich versucht, sie zu küssen, hielt mich aber zurück. „Gut Ding will Weile haben.“, erinnerte ich mich. Nach schier endlosen Augenblicken fand Melanie endlich ihre Stimme wieder: „Das hatte ich auch gehofft. Ich war schon ein wenig enttäuscht, als du nach Greg gefragt hast.“ Wie während eines Auftritts strömte mir plötzlich pures Adrenalin durch die Adern und ich stieß einen erleichterten Seufzer aus. Die folgenden Minuten sprachen wir über Musik, Lieblingsfilme, Hobbys und dergleichen – lauter mehr oder weniger belangloser Kram und trotzdem kam es mir genauso spannend vor, als hätte Melanie mir den Sinn des Lebens erklärt. Doch plötzlich straffte sie mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck den Rücken und schickte sich an, aufzustehen. Ich hatte keine Ahnung, was ihr plötzlich eingefallen war – Hatte sie womöglich einen Freund? – aber ich wusste, dass ich nicht wollte, dass sie ging, ohne zu wissen, dass ich sie wirklich bezaubernd fand und ich sie gerne noch näher kennen gelernt hätte. Mit all dem Mut, den ich zusammen kratzen konnte, nahm ich ihre Hand, die sich warm und samtweich in meiner anfühlte. Melanie sah mich überrascht an, machte aber keine Anstalten, mir ihre Hand zu entziehen, was mir ein wenig Hoffnung machte. „Darf ich dir etwas sagen?“ Ich hörte selbst, wie unsicher ich klang und verfluchte mich stumm dafür. Ich war doch kein kleiner Junge mehr! „Klar.“ Sie lächelte mich auffordernd an und mein Herz begann wieder zu hämmern und zu rasen, während ich mir die Worte zurechtlegte. Da mir jedoch keine der Formulierungen wirklich gefiel, platzte ich einfach damit heraus wie ich es empfand: „Du bist echt hübsch.“ Ein ungläubiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht und Melanie sah mich an, als hätte ich ihr so eben erklärt, die Welt sei eine Pizza und sie die Peperonisalami. Doch dann lehnte sie sich mit einem entrückten Lächeln wieder zurück und verschränkte ihre Finger mit meinen, während sie mir so tief in die Augen sah, dass es mir heiß und kalt den Rücken herunter lief. Ich nahm mir vor, Matthias überschwänglich dafür zu danken, dass er mich auf Melanie aufmerksam gemacht hatte. Bei diesem Mädchen hatte ich einfach ein unbeschreiblich gutes Gefühl. Zwar glaubte ich nicht an die eine große Liebe, doch ich spürte, dass das hier etwas Besonderes werden könnte, wenn ich mich nicht zu blöd anstellte. Glücklich lächelnd strich ich Melanie mit dem Daumen über den Handrücken und freute mich auf den Weg, der vor uns lag. Kapitel 26: Gregor ------------------ Ich lag auf meinem Bett, starrte an die weiße Decke und ärgerte mich über mich selbst. Wieso ließ ich mich von dieser Sache so verletzen? Es war ja nicht so als wäre sie mir neu. Dass sie mir trotzdem einen Stich versetzte, machte mich wütend auf mich selbst, was alles nur noch schlimmer machte. Als es an der Tür klopfte, brummte ich nur ein unfreundlich klingendes „Herein.“. Augenblicklich streckte Vroni ihren Kopf durch den Spalt. Ich erkannte sie an ihren verwuschelten Haaren schon bevor ich ihr Gesicht zu sehen bekam. „Hey du!“ Wie immer klang sie beinah unverschämt gut gelaunt. Ich lächelte ihr matt zu, blieb aber liegen. Langsam kam sie auf mich zu, wobei sie mich ein wenig besorgt musterte. Als sie sich auf meine Bettkante setzte, bemerkte ich, dass sie ein Stück Papier in den Händen hielt. Obwohl ich ein Stück zur Seite gerückt war, berührte ich in dem schmalen Bett ihren Hintern mit meinem Oberschenkel. Es schien sie nicht zu stören. Einige Minuten lang schwiegen wir Beide und nur das Geräusch unserer regelmäßigen Atemzüge verriet, dass wir keine Statuen waren, die vor langer Zeit an diesem Ort vergessen worden waren. Vroni betrachtete eingehend mein Gesicht mit den angespannten Kiefermuskeln und den aufgebissenen Lippen und ich starrte noch immer an die Decke und ärgerte mich. Schließlich war es Vroni, die das Schweigen endlich brach. Sie nahm meine kalte Hand zwischen ihre warmen Finger und drückte sie sacht. „Was ist los?“ So war es jedes Mal, wenn mich irgendetwas bedrückte. Sie fragte nie, ob etwas nicht stimme, sondern stellte einfach fest, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie ließ mir nie die Möglichkeit, auszuweichen und so zu tun als wäre alles prima. Schon allein dafür hatte ich sie unglaublich ins Herz geschlossen. Wortlos reichte ich ihr die kleine Karte, die ich die ganze Zeit über fest umklammert gehalten hatte. Vroni zog die Stirn kraus, klappte das Schreiben auf und begann laut vorzulesen: „Wir wünschen dir alles Gute zum Geburtstag und wunderbare Weihnachten. Komm bald nach Hause, wir vermissen dich. Dein dich liebender Vater und Mel.“ Vroni sah mich mit einem seltsam verständnislosen Blick an. „Aber das ist doch schön. Wo ist dein Problem? Hast du Heimweh?“ Ich warf ihr einen beinah zornigen Blick zu. „Hast du’s wirklich nicht bemerkt? Dann lies es noch mal.“ Verwirrt überflog Vroni erneut die wenigen Zeilen und schüttelte dann ahnungslos den Kopf. Ich atmete tief durch und bereitete mich innerlich darauf vor, es auszusprechen. Ich wusste, dass die Worte, wenn sie erst einmal meine Lippen verlassen hatten, noch mehr schmerzen würden als sie es als leise wispernde Gedanken taten. „Ich habe auch noch – also theoretisch zumindest – eine Mutter...“ Mit einem Mal verlor Vroni jegliche Gesichtsfarbe und sie sah mich aus großen, geweiteten Augen an, die wie Opale funkelten. Als sie endlich ihre Sprache wiederfand, brachte sie nur ein schwaches „Oh.“ hervor. Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich die Ignoranz meiner Mutter wirklich verletzte. Tatsächlich hatte sie sich wie eine von Mutters Kletterrosen um mein Herz gewunden und zerstach es jetzt mit vielen, langen, leicht gekrümmten Dornen. Am liebsten hätte ich einfach geweint, fand meine Tränen jedoch nicht. Nach ein paar Minuten begann Vroni gedankenverloren meine Hand in der ihren zu drehen und zu wenden. Sie zeichnete mit dem Zeigefinger meine Lebenslinie entlang und machte ein nachdenkliches Gesicht. Ich hatte fast das Gefühl, sie wolle mir meine Zukunft voraussagen, doch als sie wieder sprach, fragte sie etwas vollkommen anderes: „Du, Greg? Wieso hast du eigentlich auf diese Schule gewechselt?“ Kalter Schweiß rann mir in dicken, vereinzelten Tropfen über den Rücken und klebte mir das T-Shirt, das ich unter meinem Pullover trug, an die Haut. In all den Wochen, in denen wir nun befreundet waren, hatte ich dieses Thema immer vermieden. Ich hatte Angst, dass sie mir meine vorgeschobenen Gründe nicht glauben und die Wahrheit erkennen könnte. Manchmal raubte mir dieser Gedanke sogar den Schlaf. Vroni war mein einziger Freund. Ich wollte sie nicht verlieren. Sie strich mir mit dem Daumen über den Handrücken und ich wunderte mich über mich selbst. Es war erstaunlich, dass ich mich selbst jetzt noch, wo ich so angespannt war, von ihr anfassen ließ – ja, mehr noch: ihre Berührungen genoss. Ich starrte auf unsere Hände und schwieg, während ich fieberhaft überlegte, welche Begründung sie mir abnehmen könnte. Plötzlich hörte sie auf, meine Hand zu streicheln und sah mich fest an. Die grünen Flecken in ihren Augen wirkten wie trockenes Moos auf alter Baumrinde. „Du musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst. Aber gehe ich recht in der Annahme, wenn ich davon ausgehe, dass es mit deiner Mutter zu tun hatte?“ Ich überlegte kurz, ob ich einfach nicken sollte. Damit wäre das Thema erledigt und unsere Freundschaft gerettet gewesen. Doch als ich in ihre großen, unschuldig wirkenden Augen sah, konnte ich sie einfach nicht anlügen. „Nein. Meine Mutter hat nur etwas über mich erfahren, das sie mir nicht verzeihen kann. Seitdem geht sie mir wann immer möglich aus dem Weg. Wahrscheinlich versucht sie, sich einzureden, dass sie gar keinen Sohn hat.“ Ich hörte selbst, wie traurig und enttäuscht meine Stimme klang und ärgerte mich schon wieder. Warum konnte ich meine Mutter nicht einfach abhaken so wie sie mich? Vroni verzog wütend ihr Gesicht, sodass zwischen ihren Augenbraunen eine kleine Zornesfalte entstand. „Was kann denn bitte so schlimm sein, dass eine Mutter ihr Kind verstößt?“ Ich zuckte mit den Schultern und wollte gerade sagen, dass ich gerne das Thema wechseln würde, als sie wütend hervor spie: „Etwa, dass du gekifft hast? Wie albern ist das denn?!“ Vor Überraschung klappte mir die Kinnlade herunter und ich starrte Vroni dümmlich blinzelnd an. „Wie bitte? Wie kommst du auf die Idee, ich hätte gekifft?“ Sie grinste mich ein wenig überlegen an. „Greg, das konnte man an deinem ersten Tag fünf Meilen gegen den Wind riechen.“ Ich seufzte und verfluchte Markus und seinen unglaublichen Marihuanakonsum. „Das war nicht meine Schuld! Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie an einem Joint gezogen.“ Vroni zog die rechte Augenbraune nach oben und sah mich ungläubig an. Bevor sie etwas sagen konnte, setzte ich mich auf und nickte bestimmt. „Ehrlich.“ „Gregor, du hast an deinem ersten Tag gestunken wie ein 68er Althippie...“ Bei ihrem harschen Ton zuckte ich ein wenig zusammen. War es tatsächlich so schlimm gewesen? Ich wollte gar nicht wissen, was Frau Dr. Andersen von mir gedacht haben musste. „Das mag ja sein.“, räumte ich ein. „Aber ich kann dir das erklären.“ Dann erzählte ich ihr, dass ich nach dem Zerwürfnis mit meiner Mutter zu Hause raus gemusst und mich für einige Tage bei Markus verkrochen hatte. Vroni hörte stumm zu, sah mich dann aber wieder mit einem leicht zweifelnden Blick an. „Und in all der Zeit hast du nicht mal an einem Joint gezogen?“ Ich nickte, was ihr ein breites Grinsen ins Gesicht trieb. „Ich wusste gar nicht, dass du so ein Klosterschüler bist.“ Irgendwie stieß mir dieser Kommentar sauer auf und meine Miene verdunkelte sich schlagartig. Klosterschüler... Mit meiner schwarzen Seele war ich alles andere als das. Ich kiffte, rauchte und trank vielleicht nicht und hurte auch nicht herum, aber mit meinen Gefühlen für Mel war ich viel schlimmer als alle Kiffer, Säufer und Sexbesessenen dieser Welt zusammen. Zwar hatte die Sehnsucht ein wenig an Intensität verloren, doch manchmal träumte ich noch immer von dem unbekleideten Körper meiner Schwester oder davon wie es sich anfühlen würde, ihre nackte Haut auf meiner zu spüren. Mit einem Kopfschütteln vertrieb ich die Gedanken daran, bevor sie zu übermächtig werden konnten. Vroni sah mich wieder mit der ihr typischen, grübelnden Miene an. Immer wenn sie nachdachte, schürzte sie ihre Lippen und verschob sie ein klein wenig nach rechts, während sie die rechte Augenbraune leicht anhob. „Weshalb hast du dich denn so mit deiner Mutter überworfen?“ Ich seufzte und blickte in ihre Augen, die mich erwartungsvoll ansahen. In ihnen spiegelte sich so viel Zuneigung für mich, wie ich es selten bei einem Freund gesehen hatte. Nur Chris hatte mich bisher auf diese Art angesehen. Ihm hatte ich immer alles erzählt und er hatte mich jedes Mal verstanden. Vor Aufregung zog sich mein Magen krampfhaft zusammen, als ich überlegte, ob ich es wagen konnte und Vroni den wahren Grund für das schlechte Verhältnis zu meiner Mutter und für meinen Internatsaufenthalt sagen sollte. Doch gerade als ich den Mund aufmachte, um ihr alles zu erklären, winkte sie plötzlich ab. „Vergiss es. Das sind Familieninterna und gehen mich nichts an. Außerdem bin ich eigentlich gekommen, um dir das hier zu geben. Ist heute Morgen bei der Postverteilung irgendwie zwischen die Briefe einer Bekannten gerutscht.“ Sie reichte mir einen weißen Umschlag, auf dem mein Name und die Anschrift des Internats standen. Lächelnd strich ich über die kleinen, etwas schiefen, aber fein geschwungenen Buchstaben aus blauer Tinte. Mels Handschrift hätte ich unter Tausenden wiedererkannt. Etwas hektisch riss ich den Umschlag auf und holte das zweimal gefaltete, linierte Papier heraus. Vroni wollte gehen, doch ich legte ihr eine Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf. Ich war mir sicher, dass Mels Brief meine Laune merklich heben würde, und hatte plötzlich große Lust, nach dem Lesen etwas mit Vroni zu unternehmen. Schnell faltete ich das Blatt Papier auf und begann zu lesen. Mel berichtete detailliert von der alljährlichen Weihnachtsparty an meiner alten Schule, die Mel inzwischen auch schon seit zirka drei Jahren besuchte, und dem vorausgegangen Styling durch Josephine. Als ich ihre Beschreibung ihres Outfits las, warf ich ein wenig verärgert die Stirn in Falten. Ich hätte ihr niemals erlaubt, in diesen Klamotten ohne Aufsicht vor die Tür zu gehen. Sie war doch noch ein halbes Kind! Dennoch musste ich zugeben, dass ich mir gut vorstellen konnte, wie hübsch sie ausgesehen hatte. Doch dann wendete ich das Blatt und las weiter. Sofort begann meine Hand so heftig zu zittern, dass die Buchstaben vor meinen Augen auf und ab tanzten. Ich versuchte, das Papier mit zwei Händen still zu halten, hatte aber nur mäßigen Erfolg. Angestrengt entzifferte ich die Worte, die mir einen Dolch ins Herz rammten und ihn genüsslich hin und her drehten. Vroni war augenblicklich alarmiert und musterte mich besorgt von der Seite, doch ich beachtete sie kaum. Stattdessen las ich die wenigen Zeilen noch einmal und hoffte, dass sich der Text wie durch Zauberhand geändert hatte. Doch egal, wie oft ich den Schluss des Briefes las, die Worte blieben dieselben. Noch immer stand dort: „Ich hab auf der Party übrigens auch Johannes kennen gelernt. Erinnerst du dich? Er hat früher neben Chris gewohnt und ihr habt öfter mal etwas miteinander unternommen. Er hat nach dir gefragt und lässt dich recht herzlich grüßen. Ich muss sagen, ich hab ihn wirklich gern. Er ist ein unglaublich netter und witziger Kerl – aber das weißt du ja selbst. Na ja, was soll ich sagen? Ich glaub, ich hab mich zum ersten Mal verliebt. Auf alle Fälle kribbelt es in meinem Bauch, wann immer ich an ihn denke, und wenn er anruft, bin ich jedes Mal so aufgeregt, dass ich kaum einen Ton raus kriege. Wir sind für Mittwoch verabredet. Wir wollen ins Kino. Ist das nicht aufregend? Mein erstes richtiges Date. Freust du dich für mich? Wenn ich ehrlich bin, hoffe ich ja ein bisschen darauf, dass er mich küsst...“ Weiter konnte ich nicht lesen. Nein, ich freute mich definitiv nicht! Ich hatte vielmehr das Gefühl, jemand würde mir mit einer krallenbewehrten Hand in die Brust greifen und ganz, ganz langsam mein Herz zerquetschen, bis die scharfen Krallen es zu blutigen Fetzen zerschnitten hatten. Ich knüllte den Brief zusammen und zeriss ihn, bis ich heftig zu weinen begann. Eigentlich hasste ich es, vor anderen Menschen zu heulen, doch ich konnte einfach nicht anders. Vroni rutschte ein Stück näher an mich heran und nahm mich liebevoll in den Arm. Ohne Fragen zu stellen, strich sie mir beruhigend über den Rücken und ich klammerte mich an sie wie an eine Rettungsboje auf hoher See. Ich vergrub mein Gesicht in ihrer Halsbeuge und weinte und weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte. Die ganze Zeit über hielt sie mich fest und gab mir stumm das Gefühl, dass sie selbst dann noch für mich da war, wenn alles andere um uns herum in sich zusammenfiel. Wir Beide gegen den Rest der Welt. Ich war so unglaublich dankbar dafür, dass ich sie hatte, dass ich es nicht in Worte fassen konnte. Für sie hätte ich es mit fünf Manuels aufgenommen – gleichzeitig. Ich wusste nicht, was ich in diesem Moment ohne sie getan hätte. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke und ich drehte meinen Kopf ein wenig. Unsere Gesichter waren so nah nebeneinander, dass ich die feinen roten Äderchen in ihren Augäpfel und die leicht vergrößerten Poren auf ihrer schlanken, langen Nase sehen konnte. Ohne groß weiter darüber nachzudenken, presste ich meine Lippen auf ihre, doch anstatt meinen Kuss zu erwidern, schob sie mich sanft, aber bestimmt von sich weg. Beschämt blickte ich auf meine noch immer leicht zitternden Hände und wartete darauf, dass Vroni mich für meine Impertinenz ohrfeigte. Als auch nach über einer Minute noch nichts passiert war, hob ich vorsichtig meinen Blick und begegnete dem ihren, der erstaunlich liebevoll war. Irgendwie wirkte sie gar nicht wie ein Mädchen, das ohne seinen Willen geküsst worden war. „Es... es tut mir leid... es war nur...“, stammelte ich in dem Versuch, mich irgendwie zu erklären. Vroni legte mir sanft eine Hand an die Wange und streichelte mich zärtlich. „Ist schon okay. Du bist gerade verwirrt und aufgewühlt und sehnst dich nach Nähe und Zusammenhalt. Ich versteh das. Der Kuss hatte nichts zu bedeuten.“ „Wir... wir sind immer noch Freunde?“, fragte ich zaghaft. Ich musste einfach sicher gehen. Lachend zerzauste Vroni mir meine eh schon unordentlichen Haare. „Natürlich, Dummerchen.“ Ich atmete erleichtert auf und Vroni schwang sich elegant auf die Füße. „Aber ich muss jetzt trotzdem los. Wir sehen uns später, Greg.“ Sie küsste mich sachte auf die Stirn und verschwand aus meinem Zimmer. Während ich ihr hinterher sah, fragte ich mich, ob dieser Kuss tatsächlich nichts zu bedeuten hatte. Ja, ich wusste gerade nicht, wo mir der Kopf stand und ich hatte das widersinnige Bedürfnis verspürt, Mel zu verletzen, indem ich ein anderes Mädchen küsste – dabei würde es Mel nicht einmal dann weh tun, wenn sie etwas davon wüsste. Aber ich hätte doch nicht irgendein Mädchen geküsst, oder? Außerdem mochte ich Vroni wirklich gerne und sie war ausgesprochen hübsch, fast schon schön... Natürlich tat es weh, zu wissen, dass Mel in einen anderen verliebt war. Doch hatte der Schmerz in Vronis Armen nicht gleich ein bisschen nachgelassen? War ich ein wenig in sie verschossen oder hatte es einfach nur gut getan zu wissen, dass da jemand war, der zu mir hielt? Seufzend ließ ich mich zurück auf den Rücken fallen und starrte erneut die Decke an. Vermutlich würde ich erst dann herausfinden, was mir dieser Kuss bedeutet hatte, wenn sich mein aufgewühltes Inneres wieder beruhigt hatte. Kapitel 27: Veronica -------------------- Mit schnellen Schritten eilte ich den kalten Korridor entlang und fragte mich, ob die Zentralheizung mal wieder ausgefallen war oder ob es einen anderen Grund dafür gab, dass es so eisig im Flur war. Trotz meines dicken Pullovers zitterte ich so heftig, dass ich befürchtete, ich könnte den Brief in meiner Hand verknicken. Wieder warf ich einen Blick auf den blütenreinen Umschlag, den jemand mit blauer Tinte an Greg adressiert hatte. Noch immer fragte ich mich, wie der Brief in Sarahs Besitz geraten war. Nur durch Zufall hatte ich Gregs Namen auf dem Papier entziffert, als Sarah sich nach der Postausgabe mit einem listigen Grinsen davon geschlichen hatte. Schnell hatte ich Greg zugemurmelt, dass ich später bei ihm vorbei gucken würde, und war dem Mädchen gefolgt. Vor ihrem Zimmer hatte ich Sarah dann endlich eingeholt, wo ich ihr nur unter Androhung roher Gewalt den Brief wieder hatte abnehmen können. Zum wiederholten Mal fragte ich mich, was sie mit Gregs Post gewollt haben könnte. Ihn erpressen? Frei nach dem Motto: Küss mich oder du siehst diesen Brief nie wieder? Eigentlich war das selbst für Sarahs Verhältnisse albern. Ich betrachtete die kleinen, blauen Buchstaben auf dem Umschlag und fragte mich, wer Greg wohl geschrieben hatte. Da es leider keinen Absender gab, war es schwer, Vermutungen darüber anzustellen. Alles, was ich wusste, war, dass dies ganz sicher die Schrift eines Mädchens war. Mit wild schlagendem Herzen versuchte ich, mir einzureden, dass es bestimmt nur ein Brief von seiner Schwester war und dass es mich auch dann nicht interessierte, wenn es anders sein sollte. Nein, ich war nicht eifersüchtig. Warum auch...? Inzwischen war ich vor Gregs Tür angekommen, wo ich nur kurz anklopfte und stumm flehte, dass es in seinem Zimmer hoffentlich wärmer sein würde als auf dem Gang. Gregs Aufforderung, ich solle rein kommen, wartete ich kaum ab und drückte stattdessen schnell die Klinke herunter. Die Wärme, die mir aus der Stube entgegen schlug, war wie Balsam und hüllte mich ein wie eine wunderbar flauschige Kuscheldecke. Sofort hob sich meine Laune wieder um ein Vielfaches. Als ich Greg entdeckte, zog sich mein Herz allerdings gleich wieder ein wenig zusammen. Er lag auf seinem Bett, starrte dumpf an die Decke und auf seiner Unterlippe glitzerte frisches Blut im künstlichen Licht der Deckenleuchte. Ich näherte mich langsam seinem Bett und er rutschte zur Seite, damit ich mich neben ihn setzen konnte. Trotzdem gab es nicht genügend Platz, damit er einer Berührung unserer Körper ausweichen konnte. Ich fragte mich, ob ihn das wohl sehr störte. Für einige Minuten musterte ich ihn stumm. Der Schmerz, der sich in seinen Augen spiegelte war ein anderer als der normale wehmütige Glanz, der Greg ansonsten stetig begleitete. Er wirkte realer und akuter, nicht wie eine schattenhafte Erinnerung oder ein unbewusster Teil der Persönlichkeit. Offenbar war irgendetwas passiert, das Greg tief verletzt hatte. Liebevoll nahm ich seine Hand in meine und fröstelte ein wenig. Gregs lange, feingliedrige Finger waren eiskalt und schlossen sich nur zaghaft um meine. „Was ist passiert?“ Obwohl ich mir große Mühe gab, meine Stimme unbekümmert klingen zu lassen, hörte ich meine Angst und Sorge um Greg heraus. Ich hoffte, dass er so mit sich selbst beschäftigt war, dass er es nicht bemerkte. Statt mir eine Antwort zu geben, reichte Greg mir stumm eine kleine Karte, die er anscheinend bereits die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. Sie war mit fröhlichen Farben bemalt und zeigte einen schlittenfahrenden Weihnachtsmann mit einem großen Sack voller Geschenke. Mit einem tiefen Stich im Herzen fiel mir wieder ein, dass bald Weihnachten war – zum dritten Mal seit dem Tod meiner Eltern. Um mich von meinem eigenen Schmerz abzulenken, klappte ich schnell die Karte auf und las den kurzen Text, den jemand mit klaren, schwungvollen Buchstaben auf die weiße Pappe geschrieben hatte: „Wir wünschen dir alles Gute zum Geburtstag und wunderbare Weihnachten. Komm bald nach Hause, wir vermissen dich. Dein dich liebender Vater und Mel.“ Mit Erleichterung stellte ich fest, dass der Name der Schwester in der gleichen Handschrift geschrieben war wie die Adresse auf dem Umschlag, den ich bei mir trug. Doch ich konnte nichts erkennen, das den Schmerz in Gregs Augen gerechtfertigt hätte. Ich sah ihn irritiert an. „Aber das ist doch schön. Wo ist dein Problem? Hast du Heimweh?“ Plötzlicher Zorn flackerte über sein Gesicht und ich zuckte kaum merklich zusammen. Was war denn jetzt los? Mit grimmiger Stimme knurrte Greg mich an: „Hast du’s wirklich nicht bemerkt? Dann lies es noch mal.“ Verwirrt überflog ich den kurzen Text noch einmal. Hatte ich etwas übersehen oder falsch gelesen? Nein, auch beim zweiten Lesen stand noch genau dasselbe auf der kleinen Karte. Langsam breitete sich Wut in mir aus. Wo zur Hölle lag Gregors Problem? War ihm der Text zu knapp, die Wortwahl zu lieblos? Eigentlich sollte er froh sein, dass er überhaupt noch eine Familie hatte, die ihm zu solchen Anlässen schrieb... schreiben konnte. Nicht alle von uns hatten dieses Glück. Ich hob meinen Blick und sah ihn aus funkelnden Augen an. Es war nicht fair, dass er diese Divenshow abzog, während ich versuchte, trotz dem Verlust meiner Eltern für ihn da zu sein und gute Laune zu haben. Doch gerade als ich etwas Bissiges sagen wollte wie „Nein, ich finde nichts sonderbares – abgesehen davon, dass ich bis jetzt noch nicht einmal gewusst habe, dass du bald Geburtstag hast...“, holte Greg seufzend Luft. Der leere, verletzte Ausdruck in seinen Augen ätzte sich wie Säure in mein Herz, bevor er mit belegter Stimme sagte: „Ich habe auch noch – also theoretisch zumindest – eine Mutter...“ Einen winzigen Moment starrte ich ihn verständnislos an, doch dann ging mir endlich ein Licht auf. Schnell warf ich einen Blick auf die kleine Karte, um meinen Verdacht zu bestätigen. Ich hatte das Gefühl, es würden sich scharfkantige Eiskristalle in meinem Magen und Herzen bilden, als ich die Unterschriften las – die seiner Mutter war nicht darunter. Alles, was ich heraus bekam, war ein atem- und tonloses „Oh.“. Unwillkürlich fragte ich mich, was wohl schlimmer war: Die eigene Mutter an den Tod zu verlieren oder zu wissen, dass sie noch lebte, aber trotzdem nichts mit einem zu tun haben wollte. Nach langem Ringen entschied ich mich für Letzteres und bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich wegen seines leidenden Gesichtsausdrucks wütend auf Greg gewesen war. Gedankenverloren drehte ich seine Hand in meiner und betrachtete sie. Greg hatte schmale, schlanke Hände mit langen, fast filigranen Fingern, mit denen er sicherlich gut Klavier hätte spielen können. Irgendwie ließ ihn das sensibler und verletzlicher erscheinen, als es die grobschlächtigen Hände eines Metzgers getan hätten. Einfach alles an ihm wirkte irgendwie zart und kostbar. Es war merkwürdig, dass er trotzdem nicht unmännlich aussah. Während ich seine Hände begutachtete, fiel mir wieder ein, dass ich ihn während unserer ersten gemeinsamen Mathestunde mit einem der Fabergé-Eier meiner Mutter verglichen hatte. Heute war mir klar, dass ich mit diesem Vergleich weit daneben gelegen hatte. Denn obwohl Greg so schrecklich zerbrechlich wirkte, war er es nicht. Er war mutig und stark und hatte vor allem einen unbeugsamen Willen. Selbst der sicherlich schier endlose Schmerz, den seine Mutter ihm mit ihrer ignoranten Haltung zufügte, schien ihn zwar tieftraurig zu machen, aber nicht zu brechen. „Du, Greg? Wieso hast du eigentlich auf diese Schule gewechselt?“ Die Worte kamen einfach so heraus, ohne dass ich groß darüber nachgedacht hatte. Erst als ich meine eigene Stimme hörte, wurde mir klar, warum ich diese Frage stellte: Tief in mir regte sich der Verdacht, dass Greg womöglich vor seiner eigenen Mutter geflohen war. Dann hätte ich seinen Selbsthass gut verstehen können. Wer fühlte sich nicht unzulänglich, wenn die eigene Mutter einen verstieß? Ein bunter Blumenstrauß an unterschiedlichen Emotionen huschte über Gregs Gesicht: Überraschung, Schrecken, Panik, Zweifel. War ich mit dieser Frage zu weit gegangen? Gerne hätte ich sie zurückgenommen, auch wenn mir die Neugier unter den Nägeln brannte. Schnell formulierte ich um: „Du musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst. Aber gehe ich recht in der Annahme, wenn ich davon ausgehe, dass es mit deiner Mutter zu tun hatte?“ Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Greg gar nicht reagieren oder nur durch eine Bewegung seines Kopfes antworten würde. Zu meiner Überraschung sagte er jedoch mit leiser, beinah flüsternder Stimme: „Nein. Meine Mutter hat nur etwas über mich erfahren, das sie mir nicht verzeihen kann. Seitdem geht sie mir wann immer möglich aus dem Weg. Wahrscheinlich versucht sie, sich einzureden, dass sie gar keinen Sohn hat.“ Bei diesen Worten breitete sich solch eine Qual auf seinen feinen Zügen aus, dass ich am liebsten meine Stirn gegen die nächste Mauer geschlagen hätte, weil ich das Thema einfach nicht auf sich hatte beruhen lassen können. Wütend über mich selbst ballte ich meine Hände zu Fäusten, sodass sich mir meine Fingernägel tief in die Handinnenflächen bohrten. War das der Grund, warum Greg sich ständig die Lippe aufbiss? Wollte er sich ebenfalls durch das Zufügen von Schmerz für etwas bestrafen? Plötzlich war ich nicht länger auf mich sauer, sondern auf ihn. Wie konnte er nur so dumm sein?! Er war so ein wundervoller Mensch... Ganz egal, was seine Mutter über ihn herausgefunden hatte, es rechtfertigte ganz sicher nicht, dass sie ihn durch ihr Verhalten dazu brachte, sich selbst zu hassen und zu verletzen. Ein weiteres Mal schlug meine Wut um und fokussierte sich nun auf Gregs Mutter. Sie war an allem schuld. Sie verschmähte ihren wunderbaren, einzigartigen Sohn und beschwor so erst diese Situation herauf, in der ich Greg so wehtun konnte. „Was kann denn bitte so schlimm sein, dass eine Mutter ihr Kind verstößt?“ Ich war so sauer, dass meine Stimme vor Gift nur so sprühte. Vermutlich war meine Aura in diesem Moment von einem grellen, leuchtenden Hellgrün. Egal wie sehr ich auch überlegte, mir fiel höchstens ein Grund ein, weswegen seine Mutter wütend auf Greg gewesen sein könnte – und der war auch noch vollkommen lächerlich. Doch ich kochte so sehr, dass ich ihn einfach aussprach, ohne darüber nachzudenken. Überrascht riss Greg die Augen auf und ich bemerkte zum ersten Mal die kleinen, goldenen Tupfen in dem intensiven Katzengrün. „Wie bitte? Wie kommst du auf die Idee, ich hätte gekifft?“ Seine Stimme vibrierte leicht, so als fühlte er sich ertappt oder müsste ein Lachen unterdrücken. Irgendwie ließ mich das schmunzeln. Hatte er wirklich geglaubt, dass niemand diesen Gestank bemerken würde? Da konnte er noch so sehr beteuern, dass er noch nie an einem Joint gezogen hatte – das nahm ich ihm nicht ab. Mit einem milden Lächeln sagte ich: „Gregor, du hast an deinem ersten Tag gestunken wie ein 68er Althippie...“ Das hatte ich damals am See sogar trotz der Entfernung zwischen uns gerochen. Greg, der sich inzwischen aufgesetzt hatte, fuchtelte abwehrend mit den Armen und erklärte mir, er hätte sich für ein paar Tage bei einem Hardcore-Kiffer verkrochen, nachdem es zum großen Krach mit seiner Mutter gekommen war. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass man allein durchs Passivrauchen dermaßen nach Gras stinken konnte, entschloss ich mich, ihm zumindest für den Moment Glauben zu schenken. „Ich wusste ja gar nicht, dass du so ein Klosterschüler bist.“ Ich lächelte ihn herzlich an, um ihm zu zeigen, dass ich ihn nicht auf den Arm nehmen wollte, doch sofort verdüsterte sich sein Gesicht und ich fragte mich, was ich nun schon wieder falsch gemacht hatte. Manchmal war es wirklich anstrengend, mit Greg befreundet zu sein. Er konnte einfach so schrecklich empfindlich sein... „Weshalb hast du dich denn so mit deiner Mutter überworfen?“ Wenn er jetzt wegen dieses Scherzes eh schon sauer auf mich war, konnte ich auch das Risiko eingehen und mich noch unbeliebter machen, indem ich weiter nachbohrte. Zu meiner Überraschung blaffte Greg mich jedoch nicht an, sondern schien ernsthaft darüber nachzudenken, ob er mir eine Antwort geben wollte. Offenbar fiel es ihm sehr schwer, über den Grund für den Streit zu sprechen. Ich fragte mich, ob er sich womöglich schämte und nun mit sich rang, ob er sich mir gegenüber diese Blöße geben sollte. Von plötzlicher Angst erfasst, er könnte sich von mir zu etwas genötigt fühlen, dass er gar nicht wollte, blockte ich eine Antwort ab, bevor er auch nur den Mund aufgemacht hatte: „Vergiss es. Das sind Familieninterna und gehen mich nichts an. Außerdem bin ich eigentlich gekommen, um dir das hier zu geben. Ist heute Morgen bei der Postverteilung irgendwie zwischen die Briefe einer Bekannten gerutscht.“ Als er die Handschrift seiner Schwester erkannte, ging ein Leuchten über sein Gesicht, das mich lächeln ließ. Er wirkte plötzlich einfach so glücklich, dass man sich für ihn mitfreuen musste. Auch wenn er selten über seine Schwester sprach, wurde mir angesichts dieses Strahlens sofort klar, dass er sie von ganzem Herzen liebte. Höflichkeitshalber wollte ich ihn mit seinem Brief allein lassen, damit er in aller Ruhe lesen konnte, was Melanie ihm geschrieben hatte, doch er legte mir eine Hand auf den Unterarm und bat mich stumm, zu bleiben. Also ließ ich mich wieder auf die weiche, weiß bezogene Matratze sinken und betrachtete Gregs Mienenspiel, während er las. Seine Augen, die freudig funkelten und glänzten, sprangen hin und her, während er Zeile um Zeile las und ab und zu zuckten seine Mundwinkel, so als ob er sich über irgendetwas schrecklich amüsierte. Aus der Nähe betrachtet war Gregs Äußeres gar nicht so perfekt, wie es aus der Ferne gewirkt hatte. Seine Haare waren eine eigensinnige, unzähmbare Masse goldener Wolle, die sich anscheinend einfach nicht entscheiden konnte, ob sie nun glatt oder lockig sein wollte. Sein linkes Augenlid hing ein so winziges Stückchen zu weit herab, dass man es nur dann bemerkte, wenn man ganz, ganz genau hinsah, einem seiner Schneidezähne fehlte ein kleines Stückchen und er hatte einige Narben, die Geschichten von früheren Unfällen und Raufereien erzählten. Doch obwohl diese kleinen Fehler die Illusion seiner Perfektion zerstörten, konnte ich mich nicht dazu durchringen, sie als störend zu empfinden – im Gegenteil. Es war genau wie bei einer Skulptur, die eigentlich auch erst durch die Stellen, an denen der Marmor fehlerhaft gewesen oder der Steinhauer abgerutscht war, wirklich interessant wurde. Zudem war es ja auch nicht so, dass Greg neben seinem Äußeren nichts zu bieten hatte. Er war ein unglaublich intelligenter und witziger junger Mann und ab und zu konnte man einen kleinen Blick darauf erhaschen, was für ein gut gelaunter, lebensfroher Mensch er gewesen sein musste, bevor er angefangen hatte, sich selbst zu hassen. Je länger ich ihn kannte, desto mehr trat sein hübsches Gesicht in den Hintergrund. Plötzlich begannen Gregs Hände so heftig zu zittern, dass das Briefpapier knisternde Geräusche in der Luft machte. Besorgt musterte ich sein Gesicht, das aschfahl geworden war. Seine hellgrünen Augen waren riesig und leuchteten wie LED-Lämpchen zwischen der kalkweißen Fläche von Stirn, Nase und Wangen. Mit wachsender Sorge bemerkte ich die ersten Tränen, die sich hinter seinem unteren Lid sammelten und bereit waren, aus den Winkeln herab zu rollen. Ängstlich versuchte ich, einen Blick auf den Brief zu werfen, doch ich konnte kein einziges Wort auf dem tanzenden Papierbogen entziffern. Was mochte Gregs Schwester ihm nur geschrieben haben, das ihn so aus der Fassung brachte? Mit scheinbar plötzlich aufwallender Wut knüllte Greg den Brief zusammen und begann das Papier in unendlich kleine Fitzelchen zu zerreißen, die wie Kunstschnee auf die dunklen Beine seiner Jeans rieselten. Dann endlich brachen die Tränen, die er so krampfhaft zurückzuhalten versucht hatte, hervor und ihm drückte sich ein so schmerzerfüllter Schluchzer die Kehle herauf, dass es mir das Herz zerriss. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es Greg vielleicht unangenehm sein könnte, dass er vor mir – vor einem Mädchen – weinte wie ein Kind, rückte ich näher an ihn heran und zog ihn in meine Arme, um ihn daran zu erinnern, dass er nicht alleine war. Zu meiner Überraschung klammerte er sich mit voller Kraft an mich und drückte mir die Luft aus den Lungen. Doch anstatt ihn wieder ein wenig von mir weg zu schieben und durchzuatmen, presste ich ihn noch fester an mich, so als könnte ich ihm dadurch einen Teil seiner Seelenqual abnehmen. Mit einem Anflug eines schlechten Gewissens stellte ich fest, dass es sich trotz der traurigen Situation unglaublich gut anfühlte, ihn im Arm zu halten. Beruhigend wiegte ich uns hin und her und strich ihm sanft über seine straffen, gewölbten Rückenmuskeln, während ich es genoss seinen Duft in der Nase zu haben – eine Mischung aus lockerer, warmer Erde und frisch gemähtem Gras. Mit einem überraschten Lächeln stellte ich fest, dass er nach Sommer roch. Irgendwie passte das zum seinem seltsam goldenen Haar, fand ich. Ganz, ganz langsam ebbten die Schluchzer ab und Greg begann, wieder ruhiger und gleichmäßiger zu atmen. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob es ihm immer noch recht war, hielt ich ihn weiter im Arm. Seine Nähe fühlte sich einfach zu gut an, als dass ich sie freiwillig aufgegeben hätte. Ein prickelnder Schauer lief mir das komplette Rückgrad entlang, als mir bewusst wurde, dass er keine Anstalten machte, sich aus meiner Umarmung zu befreien. Er hatte seine Stirn auf meine Schulter gelegt und sein Atem drang heiß durch die engen Maschen meines gestrickten Pullovers. Als er schließlich doch den Kopf bewegte, machte sich eisige Enttäuschung in mir breit. Sofort ärgerte ich mich über dieses Gefühl. Es war doch ganz normal, dass wir uns irgendwann los lassen mussten. Wir konnten uns nicht ewig im Arm halten, auch wenn ich mir das vielleicht gewünscht hätte. Doch anstatt sich von mir zu entfernen, sah er mich mit einem seltsamen Ausdruck in seinen geröteten Augen an und beugte sich zu mir herab. Ich fragte mich, ob er womöglich irgendeinen seltsam aussehenden Leberfleck oder so in meinem Gesicht entdeckt hatte, den er sich genauer ansehen wollte. Bevor ich jedoch fragen konnte, was er vorhatte, legte Greg plötzlich seine Lippen auf meine. Augenblicklich begann die Welt um mich herum, sich wild zu drehen und zu verschwimmen, während eine heiß prickelnde Welle durch meinen Körper pulsierte. Ich hatte auf einmal das Gefühl, meine Knochen würden ganz weich und gummiartig und ich spürte das heftige Verlangen, Greg noch näher an mich zu ziehen, ihn so lange und fest an mich zu pressen, bis wir miteinander verschmolzen. Doch nach der ersten Schrecksekunde meldete sich eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf, die mich daran erinnerte, dass das hier nicht real sein konnte. „Noch vor weniger als einer Minute hat er sich die Augen aus dem Kopf geweint. Er sucht nur Wärme und Geborgenheit. Er liebt dich nicht.“, wisperte es hinter meiner Stirn. Seufzend und mit einem sonderbar körperlichen Schmerz, so als würde ich mir ins eigene Fleisch schneiden, schob ich Greg von mir weg. So sehr ich seinen Kuss auch schon immer – wenn ich ehrlich zu mir war, hatte ich das vom ersten Tag an gewusst – begehrt haben mochte, ich wollte nicht, dass es einfach so passierte. Ich wollte, dass er mich küsste, weil er mich liebte und aus keinem anderen Grund! Kaum dass sich unsere Lippen voneinander gelöst hatten, verloren Gregs Wangen, die sich während des Kusses ein wenig gerötet hatten, wieder alle Farbe und er starrte schuldbewusst auf seine Hände, so als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, was er getan hatte. Stumm wartete ich darauf, dass sich mein rasender Herzschlag wieder beruhigte oder Greg etwas sagte. Da scheinbar keines von Beidem eintreten wollte, saßen wir uns minutenlang schweigend gegenüber. Gerade als ich mich fragte, ob ich irgendetwas sagen sollte, hob Greg langsam den Kopf und sah mich zerknirscht an. „Es... es tut mir leid... es war nur...“, stammelte er und sah dabei so unglücklich aus, dass ich beinah ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich seinen Kuss nicht erwidert hatte. Aber es wäre einfach nicht richtig gewesen... Obwohl ich mich selbst so verwundbar und aufgewühlt fühlte, als hätte jemand mein Innerstes nach außen gestülpt, und mich am liebsten sofort in meinem Bett verkrochen hätte, um mich wieder zu beruhigen, war es mir viel wichtiger, zuerst Gregs offensichtliche Pein zu lindern. Lächelnd legte ich ihm meine Hand an die Wange und streichelte über die glatte, noch immer leicht feuchte Haut. „Ist schon okay. Du bist gerade verwirrt und aufgewühlt und sehnst dich nach Nähe und Zusammenhalt. Ich versteh das. Der Kuss hatte nichts zu bedeuten.“ Am liebsten hätte ich bei diesen Worten geheult oder laut geschrieen. Denn auch wenn ich wusste, dass es in diesem Moment das Richtige war, Greg zu zeigen, dass ich Verständnis für ihn hatte, war es schlicht und ergreifend gelogen, dass dieser Kuss nichts zu bedeuten hatte. Mir bedeutete er sehr viel und ich hatte das Gefühl, dass er irgendwo in meinem Inneren eine Ader geöffnet hatte und ich nun langsam und schmerzhaft verblutete. „Wir... wir sind immer noch Freunde?“ Greg sah mich aus großen, leuchtenden Augen an. Vor lauter Hoffnung und Freude schimmerte seine Iris noch ein klein wenig heller als sonst. Ich schluckte und versuchte, einen lockeren Ton anzuschlagen, obwohl sich mein Herz bei der Erkenntnis, dass er anscheinend nur an einer Freundschaft interessiert war und nicht einmal versuchte, um einen weiteren Kuss zu kämpfen, krampfhaft zusammen zog. Mit einem gekünstelten Lachen verstrubbelte ich ihm seine seidigweichen Haare. „Natürlich, Dummerchen.“ Dann schwang ich mich so schnell wie möglich, ohne dass es wie die Flucht wirkte die es war, aus dem Bett und küsste Greg kurz und unschuldig auf die Stirn. Das hatte ich früher schon getan, aber auf einmal war es merkwürdig schwer, dabei nicht auf seine weichen, vom Blut salzig und Kupfern schmeckenden Lippen zu starren. „Aber ich muss jetzt trotzdem los. Wir sehen uns später, Greg.“ Nur mit Mühe konnte ich mich davon abhalten, im Laufschritt aus dem Raum zu rennen. Doch kaum war die Tür hinter mir ins Schloss gefallen, stürzte ich geradezu panisch den Gang hinab. Ich war froh, dass die dicken Teppiche das Geräusch meiner Schritte schluckte. In meinem Zimmer angekommen, warf ich mich sofort aufs Bett und begann heftig schluchzend zu weinen. Obwohl ich bekommen hatte, was ich mir von ganzem Herzen gewünscht hatte seit ich Greg kannte, fühlte ich mich todunglücklich. Es hatte sich einfach so unglaublich falsch angefühlt, weil Greg so neben sich gestanden hatte. Warum nur hatte er mich ausgerechnet in diesem Moment küssen müssen? Jetzt konnte ich nicht einmal mehr davon träumen, ohne dass es einen fahlen Beigeschmack hatte. Wieso hatte er das kaputt machen müssen?! Kapitel 28: Gregor ------------------ Dicke, dunkelgraue Wolken hingen über dem Nachthimmel und ließen die Atmosphäre düster und gedrückt wirken. Aber vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil ich in melancholischer und depressiver Stimmung war. Seit ich Mels Brief erhalten und Vroni geküsst hatte, waren schon zwei Tage vergangen, doch ich fühlte mich immer noch total gerädert. Der Gedanke an Mels Gefühle für Johannes pochte und schmerzte wie eine eiternde Wunde und die Erinnerung an meinen Kontrollverlust gegenüber Vroni drehte mir den Magen um. Trotzdem konnte ich mich nicht dazu durchringen, den Kuss zu bereuen. Trotz des schreienden Schmerzes in meinem Herzen hatte es sich gut angefühlt – und das hatte nicht nur damit zu tun, dass ich die Genugtuung der Rache an Mel genossen hatte. Irgendwo tief in mir hatte ich von Anfang an gespürt, dass Vroni für mich etwas anderes war als meine bisherigen weiblichen Freunde. Sie hatte mich durch ihr selbstsicheres Auftreten, ihr warmherziges, offenes Wesen und ihren scheinbar unüberwindbaren Dickschädel verzaubert. Ganz zu schweigen von ihrem unglaublich attraktiven Äußeren. Sie hatte Augen, die jedem bis auf den Grund seiner Seele blicken zu können schienen, Lippen, die fürs Küssen geschaffen waren, und eine umwerfend kurvige, weibliche Figur. Wäre Mel nicht gewesen, hätte ich mich sicherlich Hals über Kopf in Vroni verliebt. Ich fragte mich, ob diese Tatsache meine Fahrkarte raus aus dem Selbsthass, weg von der brennenden, verzehrenden Sehnsucht nach Mel und rein in ein normales, glückliches Leben war, in dem ich rein geschwisterliche Liebe für meine Schwester empfand. Falls das überhaupt jemals möglich sein würde... Vielleicht würde ich auch immer mit blutendem Herzen neben Mel stehen, selbst wenn ich eine andere Frau an meiner Seite hätte. Vielleicht würde ich nie bei einer anderen Frau finden, was Mel mir allein durch ihre Anwesenheit geben konnte. Vielleicht würde ich dieses aufgeregte, wilde Herzrasen, das ich bekam, sobald Mel einen Raum betrat, niemals bei einer anderen Frau und somit niemals ohne ätzende Gewissensbisse spüren. Doch vielleicht konnte ich zumindest eine Frau finden, bei der ich mich sicher und geborgen fühlte, für die ich zwar nicht dieses heiße Feuer wie für meine Schwester empfand, aber immerhin eine liebevolle Wärme, die ausreichte um zufrieden zu sein. Vielleicht hatte ich diese Frau sogar in Vroni schon gefunden. Plötzlich klopfte jemand an meine Zimmertür und ich zuckte heftig zusammen. Ich war so in meinen Gedanken versunken gewesen, dass dieses einfache, alltägliche Geräusch mich zutiefst erschreckte. Fragend runzelte ich die Stirn und warf einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel nach elf, also eigentlich ein bisschen spät, um noch Besuch von einem Lehrkörper zu bekommen. Hatte Vroni irgendetwas liegen lassen, als sie heute Vormittag kurz hier gewesen war? Schnell schlug ich die Bettdecke zurück, schlüpfte in meine Hausschuhe und eilte zur Tür, um diese zu entriegeln. Bevor ich auch nur den Hauch einer Chance hatte, zu erkennen, wer im Flur stand, stießen mich plötzlich zwei große, fleischige Hände zurück in den Raum. Taumelnd krachte ich gegen meinen Schreibtisch und verzog vor Schmerz das Gesicht. „So, jetzt unterhalten wir uns mal ein wenig.“ Manuels Stimme war nur ein tiefes Grollen und in seinen Augen stand eine noch größere Wut als damals am See, als ich ihn beleidigt und verhöhnt hatte. Scharfkantige Eisklumpen bildeten sich in meinem Magen und ließen ihn schmerzhaft krampfen. „Wenn du mich zur Abwechslung mal wieder zusammenschlagen willst, sollten wir vielleicht nach draußen gehen. Hier könnten wir ein bisschen viel Krach machen. Meine Zimmernachbarn könnten sich gestört fühlen.“ Bildete ich mir das ein oder konnte man meiner gepressten Stimme wirklich meine Angst anhören? Wie erbärmlich... Auf Manuels Gesicht breitete sich ein gefährliches Grinsen aus. „Nein, ich hab dieses Mal keine große Lust, mir an dir die Hände schmutzig zu machen. Ich will einfach nur mit dir reden.“ Ich lehnte mich locker gegen meinen Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust, während Manuel die Bücher inspizierte, die ich fein säuberlich in einem erst kürzlich gekauften Regal aufgereiht hatte. „Fein. Über was denn?“ Er warf mir einen amüsierten Seitenblick zu. „Du liest auch jeden Scheiß, oder?“ Irritiert blinzelte ich ihn an, bis ich bemerkte, dass er auf einen meiner Fantasy-Bände deutete. „Möglich. Aber du bist doch nicht hier, um dich mit mir über meine Lesegewohnheiten zu unterhalten.“ Das gefährliche Funkeln in Manuels Augen nahm zu, als er sich ganz zu mir umwandte. „Stimmt.“ Er machte einen Schritt in meine Richtung und kratzte sich nachdenklich an der Nase. „Eigentlich wollte ich mit dir über Vroni reden.“ Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, doch ich nickte stumm. Das war mir von Anfang an klar gewesen. Manuel holte tief Luft und legte den Kopf schief. Irgendwie ließ ihn das wie ein gefährliches Raubtier wirken – ein Alligator vielleicht. Mein Puls schnellte augenblicklich in die Höhe und die hellrosa Narbe über meinem Jochbein begann pulsierend zu pochen. Fast gelangweilt betrachtete Manuel seine Fingernägel und sah dann unter gesenkten Lidern zu mir herüber. „Ich dachte eigentlich, ich hätte mich beim letzten Mal deutlich genug ausgedrückt.“ Obwohl er weder laut, noch besonders drohend sprach, jagte mir das Glitzern in seinen Augen eisige Schauer über den Rücken. Schweigend hielt ich seinem Blick stand und wartete darauf, dass er weiter sprechen würde. Jedes Wort von mir hätte ihn vermutlich nur noch wütender gemacht. Wahrscheinlich wollte er mir eh nur mal wieder sagen, dass ich mich von seiner Schwester fern halten sollte – eine Warnung, die ich sowieso erneut in den Wind schlagen würde. „Was war an ‚Halt dich von meiner Schwester fern.’ eigentlich nicht zu verstehen? Hm, Blondie?“ Nur schwer konnte ich ein Grinsen unterdrücken. Das war ja so klar gewesen... Doch als Manuel weiter sprach, blieb mein Herz plötzlich stehen: „Ich war ja geneigt, über diese lächerliche Freundschaft hinweg zu sehen – meiner Schwester zu Liebe. Aber anstatt mir dankbar für diese Großzügigkeit zu sein, besitzt du kleiner, widerlicher Wurm auch noch die Frechheit, Vroni an die Wäsche zu gehen!“ Unkontrollierter Zorn blitzte in Manuels Augen auf, während er langsam auf mich zukam. Doch obwohl ich wusste, dass mein Körper sicherlich mit Abwehr- und Fluchtreflexen auf die Nähe des anderen Jungen reagierte, nahm ich davon gar nichts wahr. Stattdessen machte sich ein dumpfes Gefühl in mir breit, so als hätte mich jemand in eine Styroporkiste gesteckt und den Deckel dicht zugeklebt. „W-Was meinst du mit ‚an die Wäsche gegangen’?“ Mein Mund fühlte sich trocken und die Lippen noch rissiger als normal an. Manuel, der inzwischen nicht einmal mehr eine Armlänge von mir entfernt stand, grinste höhnisch. „Jetzt tu bloß nicht so unschuldig. Du kleiner Drecksack hast sie geküsst.“ Ich schluckte mehrfach, doch der bittere Geschmack auf meiner Zunge wurde trotzdem immer intensiver. Wenn Manuel mir einfach ins Gesicht geschlagen hätte, hätte es nicht schlimmer geschmerzt. Ich war fürchterlich enttäuscht. Wieso hatte Vroni nach meiner kleinen Dummheit gleich zu ihrem Bruder rennen müssen, von dem sie wusste, dass er mich hasste? Wollte sie, dass er mich zu Brei schlug? Mit hängendem Kopf zuckte ich die Schultern. „Ja, stimmt.“ Welchen Sinn hätte es gehabt, diesen Kuss zu verheimlichen? „Aber ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Irgendwie konnte ich kaum abwarten, dass Manuel ausholte und mir den Kiefer brach. Das war doch schließlich, was ich verdient hatte. Ich hatte abscheuliche Gefühle für meine Schwester und jetzt hatte ich auch noch die Freundschaft zu Vroni schwer beschädigt. Manuel funkelte mich gefährlich an. „Was mich das angeht? Wenn du egozentrischer Vollidiot mal die Augen aufmachen würdest, wüsstest du, wie sehr Vroni unter der jetzigen Situation zwischen euch leidet, und würdest so etwas gar nicht fragen.“ Autsch... Konnte er nicht endlich einfach zuschlagen? Das hätte weniger wehgetan als die verbalen Spitzen, die er so brutal in mein Herz rammte. Als ich tief durchatmete, um die Tränen zurück zu halten, die hervorzubrechen drohten, vibrierte mein Atem hörbar. „Ich weiß, dass sie unglücklich ist, Manuel. Aber eines musst du mir glauben: Das war so nie geplant. Es ist einfach passiert. Doch wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich es um ihretwegen tun.“ Nachdenklich kaute mein Gegenüber auf seiner Unterlippe und musterte mich aus erstaunlich offenen Augen. „Dir geht’s damit auch nicht gut, hm?“ Überrascht riss ich den Kopf hoch und starrte ihn geradezu geschockt an. Versuchte Manuel gerade, Verständnis für mich aufzubringen? Ausgerechnet Manuel?! „Spielt das irgendeine Rolle?“ Meine Stimme klang selbst in meinen eigenen Ohren müde und tonlos. Manuel betrachtete mich mit einem plötzlich beinah einfühlsamen Gesichtsausdruck. Dann hob er den Arm und ich atmete innerlich ein wenig auf. Doch anstatt mir die Faust in den Magen zu rammen, legte er mir in einer freundschaftlichen Geste die Hand auf die Schulter. Sein intensiver Blick brannte sich in meinen, bis er mir fast auf den Grund meiner Seele schauen konnte. Dann ließ er mich plötzlich los und ging zur Tür, während ich das Gefühl hatte, meine weichen Knie müssten jeden Moment nachgeben. Im Türrahmen blieb Manuel noch einmal stehen und murmelte: „Bring das wieder in Ordnung. Sonst wisch ich mit dir den Boden auf.“ Sobald das Türschloss eingerastet war, sank ich mit wild schlagendem Herzen auf den Boden. Was zur Hölle war das gerade gewesen? Irgendwie machte mir ein ruhiger, einfühlsamer Manuel mehr Angst als der wilde Schlägertyp, den ich bisher kennen gelernt hatte. Doch über allem schwebte der drückende Dunst der Enttäuschung. Ich hatte wirklich gedacht, Vroni würde immer auf meiner Seite stehen. Dass sie ihrem Bruder von unserem Kuss erzählt hatte, enttäuschte mich aus irgendeinem Grund, den ich selbst nicht ganz erfassen konnte, so sehr, dass ich es fast auf der Zunge schmecken konnte. Hatte unsere Freundschaft so überhaupt noch einen Sinn? Kapitel 29: Veronica -------------------- Die etwas zu sehr gestärkte Bettwäsche raschelte in der Stille der Nacht unnatürlich laut, als ich mich zum wiederholten Male umdrehte. Genervt schlug ich die Augen auf und blinzelte in die Dunkelheit. Obwohl ich die Vorhänge nicht zugezogen hatte, fiel kaum Licht durch das hohe Fenster. Anscheinend stand der Mond ungünstig oder war hinter einer der dicken Wolken versteckt. Wieder wälzte ich mich auf die andere Seite und starrte an die kalt wirkende, weiß gestrichene Zimmerwand. Obwohl ich mich schon eine halbe Ewigkeit bemühte, konnte ich einfach nicht einschlafen. Meine Gedanken wirbelten wie trockenes Herbstlaub durch meinen Geist und hielten mich wach. Warum nur hatte Greg mich küssen müssen? Und warum konnte ich diesen durch eine emotionale Ausnahmesituation bedingten Ausrutscher einfach nicht vergessen? Ich wusste doch, dass dieser Kuss nichts zu bedeuten gehabt hatte – alles andere wäre entgegen der Weltordnung gewesen. Jungs wie Greg interessierten sich nicht für Mädchen wie mich. Sie hatten unzählige Freundinnen gleichzeitig und nahmen sich stets, was sie gerade wollten und brauchten. Warum zur Hölle benahm sich Greg einfach nicht wie es für einen Jungen mit seinem Aussehen und seiner Ausstrahlung normal gewesen wäre? Als ich am Vormittag kurz bei ihm gewesen war, um ihm ein Buch zurück zu bringen, das ich mir von ihm geliehen hatte, hatte er ehrlich zerknirscht und bedrückt gewirkt. Ich hatte es darauf geschoben, dass er noch immer an dem, was seine Schwester ihm geschrieben hatte, zu nagen hatte, doch teilweise hatte er mich mit so einem traurigen Blick angesehen, dass ich beinah das Gefühl bekommen hätte, dass er unter unserem belasteten Verhältnis litt. Denn obwohl ich beteuert hatte, dass ich Verständnis für ihn hatte und er sich meinetwegen keine Sorgen machen musste, stand der Kuss wie etwas Unaussprechliches zwischen uns. Wie eine dicke Regenwolke kreiste er über uns und drückte die Stimmung. Seufzend setzte ich mich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Ich musste dringend mit ihm reden, jetzt sofort. Vermutlich würde ich erst dann einschlafen können, wenn wir dieses Hemmnis aus der Welt geschafft hatten. Außerdem war bald Weihnachten und Greg würde seinen achtzehnten Geburtstag feiern. Ich wollte mir nicht einmal vorstellen, dass wir uns bis dahin vielleicht noch immer nicht ausgesprochen hatten. Die Luft im Flur war klamm und eisig, doch das nahm ich nur am Rande wahr, während ich die düsteren, nur spärlich beleuchteten Korridore entlang huschte. Gregs Zimmer befand sich im gegenüberliegenden Ostflügel, genau wie fast alle Stuben der Jungen. Bevor ich durch die große Treppenhalle eilte, schaute ich mich verstohlen nach allen Seiten um. Es war zwar nicht ausdrücklich verboten, doch auch nicht besonders gern gesehen, wenn Schüler und Schülerinnen des Internats über Nacht zusammen waren. Als ich den Gang betrat, an dem Gregs Zimmer lag, hörte ich plötzlich, wie eine Tür geschlossen wurde. Schnell presste ich mich in eine der zahlreichen Wandnischen. Eigentlich wusste ich selbst nicht, warum ich diese Heimlichtuerei betrieb, doch eine leise Stimme in meinem Inneren flüsterte mir zu, dass ich mich verstecken sollte. Eine riesige, dunkle Gestalt kam mit langsamen, fast zögerlichen Schritten auf mich zu. Mein Herz schlug so heftig, dass ich kaum etwas anderes als sein lautes, dumpfes Pochen hören konnte. Als die Person näher kam, presste ich mich noch fester gegen die Wand, deren Eiseskälte mir schmerzhaft in die Knochen kroch. Inzwischen war die Gestalt nur noch wenige Meter entfernt, doch wegen der schlechten Beleuchtung konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen. Ich fragte mich, warum ich so nervös war. Vermutlich handelte es sich bei diesem nächtlichen Spaziergänger lediglich um einen der Stubenbewohner, der mal auf Toilette musste. Doch wenige Augenblicke später erkannte ich die Gestalt und mir stockte der Atem. Nur knapp schaffte ich es, den erstaunten Aufschrei herunter zu schlucken, der sich mir die Kehle hinauf drückte. Was in drei Teufels Namen machte Manuel hier?! Mein Bruder war einer der wenigen, die ihr Zimmer in dem zwar spärlich bewohnten, aber wunderschönen Nordflügel hatte. Frau Dr. Andersen hatte ihn vor einigen Monaten dort einquartiert, weil sie gehofft hatte, die räumliche Distanz zu seinen Freunden und die Nähe zu den Wohnräumen der Lehrkörper würde sein hitziges Gemüt ein wenig zügeln können. Als er an mir vorbei schritt, konnte ich einen Blick auf sein Gesicht werfen. Manuel wirkte nachdenklich und in sich gekehrt – etwas, das nur höchstselten vorkam. Was ging hier vor? Plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, zu überprüfen aus welchem Zimmer mein Bruder gekommen war. Wie magisch wurden meine Augen von der dunkelbraunen Tür angezogen, die Manuel vorhin hinter sich zugezogen hatte. Ich starrte ihm noch einige Minuten hinterher, um sicher zu gehen, dass er nicht umdrehte und zurückkam. Kaum dass ich mir sicher war, dass mein Bruder weg war, huschte ich aus meinem Versteck über den Gang. Meine Neugierde hatte mich so sehr gepackt, dass mir überhaupt nicht auffiel, wo ich war, bis ich den Namen las, den jemand mit kleinen, gedrungen wirkenden Buchstaben auf das Namensschild geschrieben hatte: Gregor Klare. Wie paralysiert stand ich vor Gregs Zimmertür und starrte auf das kleine weiße Schild auf dem gemaserten Holz. Was zum Teufel hatte mein Bruder mitten in der Nacht bei Greg verloren?! Ich atmete tief durch und versuchte, mich zu ordnen, doch als ich zaghaft klopfte, zitterten meine Hände heftig. Nach der dämmrigen Dunkelheit, die im Flur herrschte, brannte mir die Helligkeit, die sich wie ein silbrig goldener Kegel in den Korridor ergoss, in den Augen, als Greg die Tür öffnete. Blinzelnd sah ich zu ihm herauf, doch er wirkte wie eine starre Statue aus schwarzem Marmor. Nur langsam gewöhnte ich mich an das grelle Licht und konnte seine wie versteinert wirkenden Züge erkennen. Irgendetwas glitzerte auf seiner Wange und glitt langsam in Richtung seines Kinns. Weinte er etwa? Besorgt streckte ich eine Hand nach ihm aus, doch er wich mit einer knappen Körperdrehung zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Irritiert legte ich die Stirn in Falten und spürte wie eine eisige Vorahnung durch meinen Körper rieselte. Irgendetwas sagte mir, dass unser Verhältnis noch überschatteter war als noch vor ein paar Stunden. „Alles okay bei dir?“ Meine Stimme klang tonlos und brüchig und ich krampfte nervös meine schwitzigen Hände zusammen. Greg zog leise schniefend die Nase hoch und räusperte sich. Ja, er klang definitiv als hätte er geweint. „Hm-mh. Aber was ist mit dir? Was willst du hier? Ich meine, du kommst doch nicht mitten in der Nacht vorbei nur um zu fragen, wie es mir geht.“ „Ich... äh...“ Aus unerfindlichen Gründen konnte ich ihm plötzlich nicht mehr sagen, dass ich mit ihm über den Kuss reden wollte. Irgendetwas an ihm ließ ihn noch distanzierter und verschlossener wirken als am Vormittag. Vielleicht war es der harte Zug um seinen Mund oder der trübe Schleier in seinen Augen, das konnte ich nicht sagen. Doch was immer es auch war, es ließ mich instinktiv vor ihm zurück weichen. Es war als würde jemand mit einem heißen, scharfen Dreizack in meinem Herzen herum stochern, während ich das Gefühl hatte Greg würde sich immer und immer weiter von mir entfernen so als stünde einer von uns auf einem rückwärtslaufenden Förderband. Ich schluckte, um ein wenig Zeit zu schinden und murmelte dann: „Ich bin einfach ein bisschen rum gelaufen, weil ich nicht schlafen konnte. Dabei bin ich zufällig hier vorbei gekommen und hab mir gedacht, ich guck mal, ob du noch wach bist.“ Greg betrachtete mich mit einem seltsamen Gesichtausdruck, der zwischen tiefer Trauer, unterdrückter Wut und unendlicher Müdigkeit zu schwanken schien. „Probier’s mal mit warmer Milch.“ Verständnislos blinzelte ich ihn an. „Das entspannt und macht schläfrig. Und wo wir gerade bei dem Thema sind: Ich würde jetzt gerne ins Bett. Also: Gute Nacht.“ Er hatte sich bereits halb abgewendet und nach der Tür gegriffen, um sie zu schließen, als er noch einmal inne hielt. Mit einem kurzen Blick über die Schulter brummte er: „Oder ist noch was?“ Ich schüttelte stumm den Kopf, wobei mir einige Strähnen in die Stirn fielen. Ich war mir einfach nicht sicher, ob meine Stimme mir in diesem Moment gehorcht hätte. „Na dann: Gute Nacht. Schlaf schön.“ Mit diesen Worten drückte Greg die Tür ins Schloss und ein tief empfundener, heißer Schmerz brach über mir zusammen wie eine Flutwelle. Was war nur passiert? Und warum schien im Moment alles schief zu laufen und mir aus der Hand zu gleiten? Am liebsten hätte ich mich gleich hier auf den Boden sinken lassen und hemmungslos geweint, doch das hätte ja auch nichts gebracht. Stattdessen schlurfte ich mit kraftlos wirkenden Schritten wieder den Korridor hinauf. In der Treppenhalle, in der die Hauptgänge der drei Wohnflügel zusammenliefen, blieb ich jedoch stehen. War mein Bruder schuld daran, dass Greg geweint und sich so merkwürdig verhalten hatte? Ohne zu zögern bog ich in den mittleren Flur ab und strebte auf Manuels Zimmer zu. Es war mir egal, ob er bereits schlief oder seine Ruhe haben wollte. Ich würde nicht eher gehen, bis ich jedes kleine Detail davon kannte, was in Gregs Zimmer vorgefallen war. „Was willst du denn hier?“ Manuel blinzelte mich aus kleinen Augen an und fuhr sich mit der Hand durch sein kurz geschnittenes Haar. Sein Gesicht wirkte fast so zerknittert wie sein alter, löchriger Schlafanzug. Anscheinend hatte er bereits geschlafen und fragte sich jetzt, ob er nicht einfach wieder ins Bett gehen sollte. Konnte meine Neugierde nicht auch noch bis zum nächsten Morgen warten? Sofort breitete sich ein feiner Hauch schlechten Gewissens in mir aus, doch ich schob die Gewissensbisse bestimmt zur Seite. Nein, ich musste jetzt wissen, was zwischen Manuel und Greg vorgefallen war und ob mein vermaledeiter Bruder schuld an dem merkwürdigen Verhalten meines Freundes war. „Warum warst du vorhin noch bei Greg?“ Ich hörte selbst wie trotzig und vorwurfsvoll meine Stimme klang. Bis dahin war mir gar nicht klar geworden, dass ich meinen Bruder eigentlich bereits für schuldig befunden hatte. Manuel starrte mich aus kreisrunden Augen überrascht an, doch nach weniger als einer Minute hatte er sich wieder gefangen. „Versteckt er dich jetzt schon unterm Bett?“ Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten, sodass sich meine Nägel schmerzhaft in die Haut bohrten. „Hast du mal wieder versucht, ihm Angst zu machen, damit er mich in Ruhe lässt? Teufel auch, du bist so... so... Argh! Just get over it! Ich will mit ihm befreundet sein. Okay? Akzeptier das endlich.“ Manuel warf einen schnellen Blick nach links und rechts, bevor er mich leise anknurrte: „Wenn du weiter so rum brüllst, sind hier bald alle wach.“ „Was interessiert mich der Schlaf von deinen verfluchten Nachbarn?!“ „Du hast ja keine Ahnung wie Frau Hesselmann sein kann, wenn sie müde ist...“ Ein roter Wutschleier legte sich vor meine Augen. Versuchte er gerade wirklich, mich durch Gelaber über unsere Lehrer abzulenken? Doch bevor ich ihm aufgebracht mit den Fäusten gegen die Brust trommeln konnte, gab er die Tür frei und winkte mich ins Zimmer. „Na gut, komm rein, dann können wir reden.“ Mit verschränkten Armen stakste ich an ihm vorbei, bis ich mich vor der Fensterbank wieder zu ihm umdrehte. Ich war mir der Tatsache bewusst, dass ich Kampfbereitschaft und Angriffslust ausstrahlte, doch es war mir egal. Meinetwegen konnte Manuel sich ruhig ein wenig eingeschüchtert fühlen. Dieses Mal würde ich nicht eher gehen, bis es in seinem Dickkopf angekommen war, dass er Greg in Ruhe zu lassen hatte. Langsam trat mein Bruder hinter mir ins Zimmer und zog die Tür leise hinter sich zu. Der Ausdruck in seinen dunklen Augen war eine Mischung aus trotzigem Konfrontationswillen und Schuldbewusstsein. Irritiert runzelte ich die Stirn und lehnte mich gegen die Fensterbank. Ich hatte damit gerechnet, dass er mir mit Trotz begegnen würde, doch das scheinbar schlechte Gewissen verwirrte mich. Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich auf sein Bett und sah zu mir herüber. Bevor ich etwas sagen oder ihn mit weiteren Vorwürfen bombardieren konnte, brummte er: „Du willst also wissen, warum ich bei Gregor war?“ Ich nickte stumm. Hätte ich den Mund aufgemacht, hätte ich Manuel mit meinem fauchenden Tonfall vermutlich nur noch mehr in die Defensive gedrängt. „Ich hab mit ihm über dich gesprochen.“ Als er meinen funkelnden Blick sah, fügte er schnell hinzu: „Aber nicht so, wie du denkst.“ „Ach?“ Es war überraschend, wie grollend ein einzelnes Wort klingen konnte. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich meinem Bruder sofort an die Gurgel gehen würde, wenn sich herausstellen sollte, dass er meine Freundschaft zu Greg ruiniert hatte. „Wirklich.“, beteuerte er und sah dann zerknirscht zu Boden. „Wenn du ihn nicht bedroht hast, warum wirkst du dann als hättest du die Büchse der Pandora geöffnet?“ Wenn er glaubte, dass ich ihm sein schlechtes Gewissen nicht ansah, hatte er sich übel geschnitten. Aber das hätte er doch eigentlich wissen müssen... „Vielleicht hab ich ja genau das getan.“ Das schiefe Grinsen auf seinem Gesicht hatte irgendetwas Trauriges, das mir das Herz abschnürte. „Wie meinst du das?“ Als er antwortete, war seine Stimme kaum mehr als ein tonloses Flüstern, das ich vermutlich nicht verstanden hätte, wäre diese Winternacht nicht so ruhig und still gewesen wäre. Selbst das rhythmische Knacken der Heizungsleitungen schien heute ein ganzes Stück leiser zu sein als sonst. „Ich hab dein Tagebuch gelesen.“ Wenn er sich plötzlich in ein rosa Tutu geworfen und den sterbenden Schwan aus „Schwanensee“ getanzt hätte, hätte es mich nicht weniger überrascht als dieses Geständnis. Ich fühlte mich als hätte mir jemand den Teppich unter den Füßen weg gezogen, sodass ich nun bodenlos ins Nichts stürzte. „Das ist heftig.“ Ich holte tief Luft, um das Schwindelgefühl zu vertreiben – jedoch ohne Erfolg. „Aber was hat das mit deinem Gespräch mit Greg zu tun?“ Mein Verstand arbeitete wie in Zeitlupe, doch in meinem Magen ballte sich eine unbestimmte Ahnung zusammen. „Hör zu, bevor du gleich los kreischst, sollst du wissen, dass ich das für dich getan hab. Ich wollte doch nur, dass du glücklich bist.“ Seine Stimme hatte einen dermaßen flehenden Unterton, dass mein Herz plötzlich mit doppelter Intensität zu schlagen begann. „Was hast du getan?!“ Obwohl ich nur ein Flüstern zustande brachte, hörte man meine krampfhaft zurück gehaltenen Tränen, die wie ein dicker Klos in meiner Kehle steckten. „Du warst so schrecklich traurig und bedrückt, einfach nicht du selbst. Ich wollte wissen, was passiert war, aber jedes Mal, wenn ich dich darauf angesprochen habe, hast du ja abgeblockt. Deswegen hab ich mich heute Nachmittag in dein Zimmer geschlichen und in deinem Tagebuch gelesen, während du Küchendienst hattest. Und dabei...“ „Hast du natürlich auch von dem Kuss erfahren.“, vervollständigte ich seinen Satz, als Manuel ins Stocken geriet. Meine Welt war plötzlich ein wirbelnder Feuersturm dunkler Farben und endlosen, düstren Tiefen, die mich zu verschlingen drohten. Hatte Manuel Greg von meinen Gefühlen für ihn erzählt? War Greg deswegen so abweisend gewesen, weil er nichts von mir wollte und lieber gleich einen kompletten Schlussstrich zog, bevor ich mich vollends in ihn verliebte? Oder hatte das Wissen um diese Intimität meinen Bruder so rasend vor Wut gemacht, dass er Greg so heftig bedroht hatte, dass dieser nun aus Angst die Freundschaft aufgab? Mit stummem Entsetzen starrte ich Manuel an, der noch immer schuldbewusst auf den Boden schaute. Nach schier endlosen Minuten richtete er seine leicht geröteten Augen auf mich. Wäre ich nicht so durch den Wind gewesen, hätte ich überrascht festgestellt, dass ich meinen Bruder zum ersten Mal in meinem Leben weinen sah. „Ich wollte ihm einfach nur sagen, dass er diese Sache mit dir klären soll. Du hast so gelitten... Ich konnte nicht zusehen, wie er womöglich nur mit dir spielt.“ Seine Unterlippe zitterte bedrohlich als er tief Luft holte. „Hab ich’s kaputt gemacht?“ Müde zuckte ich mit den Schultern. Ich fühlte mich so kraftlos, dass ich plötzlich nicht einmal mehr sauer war. Alles, was ich empfand, war eine tiefe, lähmende Leere, die sogar auf meine Stimme übergriff, als ich flüsterte: „Ich weiß es nicht.“ Bevor Manuel noch etwas sagen konnte, um sich zu rechtfertigen, stürmte ich aus dem Zimmer und eilte auf meine eigene Stube zu. Wie blind hastete ich durch die Gänge und nur jahrelange Routine hinderte mich daran, an meiner Zimmertür vorbei zu laufen. Als ich aufschloss, zitterten meine Hände so sehr, dass der Schlüssel sich mehrfach verhakte. Doch selbst als ich wieder auf meinem Bett lag und die Wand anstarrte, konnte ich einfach nicht weinen. Es war genau wie nach der Beerdigung meiner Eltern. Obwohl mir die Tränen hinter den Lidern und in der Kehle brannten, wollten sie einfach nicht hervorbrechen – so als wäre mein Körper zu schwach seine sorgsam verschlossenen Schleusen zu öffnen. Also betrachtete ich mit schmerzenden, gereizten Augen die raue Wandstruktur und das Farbenspiel der aufgehenden Sonne, das die Schatten wie tanzende Seidenschals wirken ließ. Noch vor ein paar Stunden hatte ich trotz Müdigkeit nicht schlafen können, weil mir zu viele Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Jetzt war mein Geist vollkommen leer und taub, doch der Schlaf wollte sich frustrierender Weise trotzdem nicht einstellen. Als ich dann doch endlich ins Land der Träume abdriftete, wälzte ich mich unruhig hin und her, während schaurige, schrecklich real wirkende Bilder durch meinen Geist wirbelten. Immer wieder sah ich Greg, der mich mit kaltem Blick ansah und sich dann angewidert von mir abwandte. Mit einem leisen Schrei und ausgestreckten Armen fuhr ich aus dem Schlaf hoch und sah mich im ersten Moment verwirrt im Zimmer um. Wann immer ich daran dachte, Greg an diesem Tag zu begegnen, zog sich mein Magen krampfhaft zusammen. Ich hatte panische Angst, er könnte mich wirklich verstoßen. Das hätte mir mein eh schon nur notdürftig geflicktes Herz zerrissen. Vielleicht war es besser, selbst einen Schlussstrich zu ziehen, als darauf zu warten, dass Greg ging? Kapitel 30: Melanie ------------------- Nervös trat ich von einem Bein aufs andere und blickte zum vermutlich Hundersten Mal in dieser Minute auf die Uhr. Das Kino in meinem Rücken war mit grellbunten, düsteren, lustigen und nichtssagenden Filmplakaten geschmückt und die vielen kleinen Lämpchen, welche die Außenfassade schmückten, warfen hübsche Muster auf den nassen Asphalt zu meinen Füßen. Eine steife Brise drückte sich um die Gebäudeecke, wirbelte die ersten Schneeflocken des Jahres herum wie Kleidungsstücke in der Waschmaschine und drang durch die Maschen meines dicken Wollmantels. Fröstelnd zog ich den braunen Stoff, der so dunkel war, dass man ihn fast für schwarz halten konnte, fester um mich und schaute schon wieder auf die Uhr. Während ich die Pärchen und Freundesgruppen beobachtete, die lachend und schwatzend ins wonnigwarme Innere des Kinos strömten, versuchte ich mir einzureden, dass ich nicht total underdressed für ein Date war. Irritierenderweise hatte Finchen sich beständig geweigert, mir bei der Auswahl eines Outfits zu helfen. „Wenn du mich zwingst, steck’ ich dich in den hässlichsten Fummel, den ich finden kann.“, hatte sie mir mit einem feindseligen Blitzen in den Augen gedroht. Also war ich auf mich allein gestellt gewesen und hatte mich nach einigem Hin und Her für meine leicht ausgewaschene Lieblingsjeans, einen enganliegenden, dunkelgrünen Strickpulli mit weitem Rollkragen und meine gut eingelaufenen, schwarzen Turnschuhe entschieden. Darin fühlte ich mich wenigstens wie ich selbst und wohl – meistens jedenfalls. Momentan fühlte ich mich eher als wäre ich in Lumpen auf eine Party eines Milliardärsclub gestolpert. Gerade als ich überlegte, ob ich mich nicht vielleicht doch ein bisschen hätte herausputzen sollen, kam Johannes um die Ecke. Er hatte die Hände in den tiefen Taschen seiner schwarzen Lederjacke vergraben und das Gesicht fast vollständig hinter einem dicken, roten Schal versteckt. Kaum dass ich seiner ansichtig geworden war, machten mein Herz und mein Magen einen kleinen Hüpfer – das eine vor Vorfreude, der andere aus Nervosität. Johannes zog seinen mit Schneeflocken übersäten Schal ein Stück nach unten, bevor er mich angrinste und ein wenig unsicher in den Arm nahm. Seine Nasenspitze war fast so rot wie der Stoff, der sie vorher bedeckt hatte. „Tut mir leid, dass du warten musstest. Ein paar Straßen weiter war ein Unfall und mein Bus steckte ewig fest.“ Er lächelte mich entschuldigend an, was einen warmen Schauer durch meinen Körper rieseln ließ. Dann nickte er mit dem Kopf in Richtung Eingang. „Also, wollen wir?“ Die Wärme im Inneren fühlte sich nach der Warterei vor der Tür an wie der Himmel. Ich zog mir meine grüne Wollmütze vom Kopf und schüttelte die Haare aus, während Johannes mich lächelnd beobachtete. Sofort merkte ich, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Etwas verlegen wandte ich den Blick ab und stellte mich an der erstbesten Schlange an. Während wir schweigend anstanden, musterte ich Johannes aus den Augenwinkeln. Da die Kassiererin offensichtlich zur Gattung der Schnecken gehörte, hatte ich dafür ausgiebig Zeit. Der Reißverschluss seiner festen, bei jeder Bewegung leicht knarrenden Lederjacke war geöffnet und darunter kam ein schwarzer Pullover zum Vorschein, auf dem das Logo irgendeiner Band aufgedruckt war, von der ich noch nie im Leben etwas gehört hatte. Seine dunkle Jeans hing ihm so tief auf den Hüften, dass man seine grauweißkarierten Boxershorts sehen konnte, und seine Doc. Martens wirkten als wären sie seit dem Auftauchen des ersten Dinosauriers nicht mehr geputzt worden. Ich atmete erleichtert auf, dass Johannes sich offenbar genauso wenig zurechtgemacht hatte wie ich, und entschied, dass die leicht schlampig wirkende Kleidung an ihm irgendwie sogar einen gewissen Chic hatte. Der in letzter Zeit wieder modern gewordene, etwas abgerissen aussehende Punkstyle war wie für ihn gemacht. An ihm war es tatsächlich ein äußerlicher Ausdruck seiner inneren Attitüde. In gebügelter Stoffhose und blütenreinem Hemd hätte er vermutlich einfach lächerlich gewirkt. Ich lies meinen Blick wieder an ihm hoch wandern und blieb an seinen dicken, schweren Locken hängen. Durch die langsam schmelzenden Schneeflocken schillerten sie im Licht als hätte irgendwer sie mit Glitter bestreut. Inzwischen waren wir endlich an der Kasse angekommen und ich schielte um Johannes herum auf die kleine, irgendwie kränklich wirkende Angestellte mit einem flächigen Gesicht voller alter Aknenarben. Ich war bei dem Tempo, das sie an den Tag legte, regelrecht überrascht, dass ich weder einen schleimigen Körper noch Fühler entdecken konnte. „Das macht dann 10,50 €.“ Sogar ihre Stimme schleppte sich in so einem langsamen und gezogenen Tonfall dahin, dass man das Gefühl bekam, die Kassiererin müsse jeden Augenblick einschlafen. Kopfschüttelnd griff ich in meinen kleinen, sandsteinfarbenen Minirucksack. Doch bevor ich auch nur mein Portemonnaie hatte öffnen können, hatte Johannes bereits für uns beide gezahlt und strebte Richtung Treppe, die hinauf zu den Vorführungssälen führte. Offenbar war hier nicht nur die Kassiererin zu langsam... Mit langen Schritten schloss ich wieder zu meinem Begleiter auf und hopste die Stufen nach oben. Noch war ich erstaunlich ruhig, doch allein bei dem Gedanken, bald im Dunkeln ganz nah neben Johannes zu sitzen, zog sich mein Magen zusammen und ein wohliger Schauer rieselte meinen Rücken entlang. Am Treppenabsatz blieb ich stehen und schaute mich auf der Suche nach unserem Kinosaal fragend um. Dabei bemerkte ich, dass Johannes mich ansah, und wandte mich ihm fragend zu. Er kratzte sich ein wenig verlegen am Hinterkopf und machte ein unglückliches Gesicht. „Was hast du?“ Meine Stimme klang von der plötzlichen Angst erfasst, er könnte sich die Sache mit unserer Verabredung anders überlegt haben und jetzt nach Hause wollen, ganz dünn. Johannes zuckte unsicher mit den Schultern. „Ich frage mich nur, wie ich dein Schweigen zu deuten habe. Bereust du’s, dass du mit mir hier bist oder bist du einfach genauso nervös wie ich?“ Ich sah ihn aus großen Augen an. „Wieso bist du denn nervös?“ Eine Familie mit drei kleinen Kindern drückte sich an uns vorbei und Johannes’ unglückliche Miene wurde noch ein bisschen intensiver, während er gedankenverloren mit dem Fuß scharrte. „Na ja, weil... weil du einfach so unglaublich hübsch bist und bestimmt total viele Verehrer hast und...“ Mit einer schnellen Handbewegung schnitt ich ihm das Wort ab. Wenn er mir noch mehr so unsinnige Komplimente gemacht hätte, wäre ich vermutlich an Ort und Stelle dahin geschmolzen. Meine Wangen brannten so schon als hielte ich mir ein Feuerzeug ganz dicht an die Haut. Ich schüttelte bestimmt den Kopf. „Ich bereue gar nichts. Ich hab mich schon die ganze Woche auf heute Abend gefreut. Es ist nur... ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hab Angst, irgendwas dummes zu sagen und dich dadurch zu vergraulen...“ Als sich daraufhin ein Grinsen in Johannes’ Gesicht stahl, war es als ginge die Sonne auf. Augenblicklich wurde mir ganz warm ums Herz – eine Wärme wie das Gefühl, sich an einem kalten Wintertag mit heißem Kakao und einem guten Buch in eine flauschigkuschelige Decke einzuwickeln. Dann hob er den Arm und deutete noch immer glückselig grinsend hinter mich. „Saal drei ist übrigens da hinten.“ Als ich meinen dicken, gefütterten Mantel auszog und auf den leeren Platz neben mir fallen ließ, bemerkte ich mit einem verschmitzen Grinsen, dass Johannes mich mit verklärtem Blick musterte. Um meine Verlegenheit zu überspielen, neckte ich ihn liebevoll: „Na, so interessant ist es bestimmt nicht, mir beim Jackeablegen zuzusehen.“ Zu meiner Überraschung schoss ihm das Blut in die Wangen und er starrte stumm auf den noch zugezogenen, roten Samtvorhang vor uns. Zerknirscht setzte ich mich neben ihn und fummelte schuldbewusst an dem Nagellack meines rechten Daumens. Die ganze Zeit über saß Johannes mit verschränkten Armen neben mir und schien irgendein unsichtbares Muster auf dem Vorhang entdecken zu wollen. Als ein kleines Stück Lack absplitterte und wie eine schwarze Schneeflocke durch die Luft segelte, seufzte ich tief auf. Das hatte ich ja wirklich super hin bekommen. Johannes war offenbar wütend auf mich und wünschte sich zurück nach Hause und jetzt hatte ich auch noch meinen mühsam aufgetragenen Nagellack ruiniert. Johannes warf mir einen besorgt wirkenden Seitenblick zu und zog die Unterlippe zwischen die Zähne, während ich das Gefühl hatte, gleich losheulen zu müssen. Plötzlich griff Johannes über die Armlehne und drückte sacht meinen Unterarm. Mein Herz begann augenblicklich mit doppelter Geschwindigkeit zu schlagen. Wollte er sich nun von mir verabschieden? Doch als ich ein wenig ängstlich den Blick hob, lächelte er mich so warm an, dass sich meine Bedenken in Luft auflösten. Warum hatte ich solche Furcht, dass er frühzeitig gehen würde? Er schien mich doch wirklich zu mögen. Vielleicht war es einfach so, dass man plötzlich irrationale Ängste bekam, wenn man verliebt war? Lächelnd verschränkte ich meine Finger mit Johannes’. Allein der Gedanke daran, dass ich mich in diesen liebevollen, sensiblen Jungen verliebt hatte, ließ wohlige Wärme durch meinen Körper rieseln. „Tut mir leid, dass ich vorhin versucht habe, dich zu foppen.“, gab ich zerknirscht zu. Johannes strich mir zärtlich über den Handrücken, was kleine, elektrische Impulse über meine Haut zucken ließ. „Ist schon okay. Es lag gar nicht an dir, dass ich so merkwürdig war.“ Langsam füllte sich der Kinosaal, doch da es unter der Woche war, würden vermutlich einige Plätze frei bleiben. „An was lag’s dann?“ Ich wandte den Kopf, sodass meine Haare knisternd über den samtigen Sitzbezug strichen, und betrachtete Johannes von der Seite. Seine Augen leuchteten und strahlten, als ob sie von innen beleuchtet würden, und waren von einem merkwürdigen, intensiven Grünbraun. Anders als bei anderen Menschen konnte man bei ihm nicht sagen, welche der beiden Farben überwog. Je nach Lichteinfall erschienen sie mal mehr grün, mal mehr braun. Doch egal wie – sie waren immer wunderschön, offen, ehrlich und faszinierend. Ich hätte den ganzen Abend das Farbenspiel in seinen Augen betrachten können und mir wäre nicht langweilig geworden. Doch in diesem Moment wurde das Licht gelöscht und der Vorhang zur Seite gezogen. Nach einigem Schweigen holte Johannes tief Luft, was mich überrascht blinzeln ließ. Ich hatte gar nicht mehr damit gerechnet, dass er noch antworten würde. „Ich war einfach von mir selbst genervt. Ich befürchte ein wenig, dass ich dir mit meiner Begeisterung für dich auf den Keks gehen könnte.“ Augenblicklich schoss mir das Blut in die Wangen und ließ sie in einem kräftigen Rot leuchten. Plötzlich war ich froh über die schummerige Dunkelheit im Saal, der nur noch durch die flimmernden Bilder auf der Leinwand beleuchtet wurde. „Beruhigt es dich, wenn ich dir sage, dass du da keine Gefahr läufst?“ Im weißbunten Licht der Kinowerbung leuchteten seine Zähne unnatürlich bläulich, als er breit grinste. „Ja, ich denke schon.“ Wieder strich er mir über den Handrücken und ich lehnte mich lächelnd mit dem Kopf gegen seine Schulter. Im ersten Moment hielt Johannes überrascht die Luft an, doch dann entspannte er sich merklich. Das Lächeln, das erneut sein Gesicht erhellte, spürte ich mehr, als dass ich es sah. Es war als erwärmte sich die Luft um uns herum ein wenig, so als hätte jemand eine flauschige Decke um uns gelegt. Dann wandte Johannes auf einmal seinen Kopf und küsste mich sanft auf den Scheitel, bevor er seine Wange gegen die Stelle lehnte. Auf der Leinwand flimmerten die ersten Bilder des Hauptfilms und ich kuschelte mich noch näher an meinen Begleiter, der einen Arm um meine Schultern legte. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich in so einer Situation so unbefangen fühlen würde, doch mit Johannes zusammen zu sein, war genauso leicht wie atmen. Es fühlte sich an wie nach einer langen Reise wieder nach Hause zu kommen: warm, kuschelig und einfach richtig. Kapitel 31: Johannes -------------------- Ein Date, ein Date, ein Date... Ich konnte es selbst kaum glauben, doch ich hatte tatsächlich eine Verabredung mit Melanie – und es war nicht einmal schwer gewesen. Mein Herz schlug rasend in meiner Brust, während der Bus ruckelnd anfuhr. Träumend lehnte ich den Kopf gegen die vibrierende Fensterscheibe und dachte an den bevorstehenden Abend. Augenblicklich hatte ich das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen, und meine Handflächen wurden feucht. Ich war schrecklich nervös, was ich selbst absolut albern fand. So hübsch Melanie auch sein mochte, eigentlich kannte ich sie bisher kaum. Sie war einfach nur ein gut aussehendes Mädchen, mehr nicht. Trotzdem machte mein Herz allein bei dem Gedanken an sie einen kleinen Hüpfer. Auch wenn ich mich gegen diese Erkenntnis sträubte und versuchte, mir einzureden, dass ich sie einfach nur näher kennen lernen wollte, musste ich mir eingestehen, dass ich vom ersten Augenblick an schrecklich verliebt war. Die Möglichkeit, dass sie womöglich anders empfinden konnte, machte mich beinah wahnsinnig. Etwas unwohl zupfte ich am Kragen meiner heißgeliebten Lederjacke. Vielleicht hätte ich mich doch ein bisschen mehr zurecht machen sollen... Zuerst hatte ich ein schwarzes Hemd und eine dunkle Stoffhose anziehen wollen, doch Adam, der am Nachmittag überraschend vorbei gekommen war, hatte es mir ausgeredet. „Willst du dich verkleiden oder willst du, dass sie dich mag?“, hatte er mich gefragt, während er mich mit hoch gezogenen Augenbraunen gemustert hatte. „Zieh etwas an, das du immer tragen würdest. Schließlich soll sie dich ja mögen wie du bist. Und außerdem hast du als ihr euch kennen gelernt habt auch nicht ausgesehen wie ein italienischer Möchtegern-Gigolo.“ Widerstrebend hatte ich ihm zustimmen müssen und hatte mein Ausgehoutfit gegen meine Lieblingskleidung ausgetauscht. Doch jetzt fragte ich mich wieder, ob ich das Richtige getan hatte. Plötzliches Reifenquietschen und lautes metallisches Kreischen riss mich aus meinen Gedanken. Der Busfahrer trat so heftig in die Bremsen, dass ich ruckartig nach vorne geschleudert wurde und nur knapp meine Arme noch rechtzeitig hoch reißen konnte, um nicht mit der Stirn gegen die Rückenlehne des vorderen Sitzes zu knallen. Schlingernd kam der Bus auf der glatten Straße zu stehen und der Fahrer stieß einige derbe Flüche aus, während sich die Fahrgäste ängstlich umsahen. Ich entdeckte einen jungen Mann, der sich offenbar die Nase angeschlagen hatte und stark blutete. Schnell kramte ich eine angebrochene Packung Tempos aus meiner Jackentasche und warf sie dem Verletzten zu, als ich durch den schmalen Gang nach vorne lief. „Was ist passiert?“ Der Fahrer sah mich brummig an, so als würde ich ihn persönlich verantwortlich machen. Statt mir zu antworten, deutete er einfach nach vorne. Schnell warf ich einen Blick durch die Windschutzscheibe und zuckte heftig zusammen. Vor uns hatten sich mehrere Autos in einander verkeilt und die Straße war übersät mit Glassplittern, verbogenem Metall und abgerissenen Plastikteilen. Glücklicherweise konnte ich nirgends Blut oder schwer verletzte Menschen entdecken, doch so wie die Unfallstelle aussah, waren sicherlich einige Beteiligte zu Schaden gekommen. „Wie lange werden wir hier feststecken?“ Ich hörte selbst, wie angespannt meine Stimme klang. Der Busfahrer, ein älterer Mann mit einem dünnen, weißen Haarkranz und einem imposanten Bauch, der kaum hinter das Lenkrad passte, murmelte ein schwer verständliches „’ne Weile. Kann dauern, bis die Bullen hier sind.“ Genervt ließ ich mich auf die nächste freie Bank fallen und starrte missmutig auf die nasse Hauptstraße, die sich wie ein öligschwarzes Band durch die Stadt schlängelte. Immer wieder warf ich einen Blick auf die Uhr, die mir jedes Mal nur wieder erzählte, dass mir die Zeit mit riesigen Schritten davon lief. Inzwischen hatte ich nur noch zehn Minuten und noch immer kam das einzige blaue Blinklicht von einem einsamen Krankenwagen, der um die Ecke geschossen kam. Von der Polizei war weit und breit noch nichts zu sehen, dafür wirbelten die ersten, dicken Schneeflocken durch die eisige Luft. Knurrend betrachtete ich den tanzenden, weißen Niederschlag und dachte mit Schrecken daran, dass ich wie ein nasser Pudel aussehen würde, wenn ich jetzt zum Kino liefe. Doch anscheinend war das meine einzige Chance noch einigermaßen pünktlich zu kommen. Schnell eilte ich wieder nach vorne zum Fahrer, der mich mit einem säuerlichen Blick musterte. „Nein, es gibt keine Umleitung und zum Wenden ist die Straße auch zu eng.“ Irritiert blinzelte ich ihn an und schüttelte dann den Kopf. „Das wollte ich gar nicht wissen. Ich wollte nur fragen, ob sie mich raus lassen könnten.“ Stumm warf der alte Mann einen Blick aus dem Fenster, was mich genervt mit den Zähnen knirschen ließ. Ich wusste ja, dass dickliche Menschen angeblich gemütlich sein sollen – ich selbst hatte mir diese Sticheleien oft genug anhören müssen – aber das war definitiv zu gemütlich! „Hören Sie, ich hab noch eine Verabredung und hier sitzen doch genug Zeugen für die Polizei. Abgesehen davon, war ich eh so sehr in Gedanken, dass ich nichts mitbekommen habe. Ich würde jetzt gerne gehen!“ Nur mit Mühe konnte ich meine Wut zu einem gereizten Unterton drosseln. „Is’ ja gut...“, brummte der Fahrer und langte gemächlich zu dem Türöffnungsknopf herüber. Ich presste ein kurzes, bissiges „Danke...“ hervor und hüpfte schnell die zwei Stufen hinab auf die Straße. Als ich endlich am Kino ankam, war ich vollkommen durchgefroren und auf meinen Haaren hatte sich eine dünne Schicht Schnee abgelagert. Doch meine Aufmerksamkeit galt einzig und allein den verschiedenen Menschen, die sich vor dem Kino tummelten oder hin und her liefen. Mit wachsender Furcht, Melanie könnte bereits gegangen sein, ließ ich meinen Blick hin und her huschen, bis ich endlich die kleine, schmale Gestalt entdeckte, die sich frierend unter das schmale Vordach des Kinos drückte. Sofort machte mein Herz einen aufgeregten Sprung und ich beschleunigte meine Schritte. Als sie mich bemerkte, lächelte Melanie zu mir herüber und machte einen kleinen Schritt auf mich zu. Schnell zog ich mir meinen feuchten Schal aus dem Gesicht und grinste sie an, bevor ich sie vorsichtig in den Arm nahm. Irgendwie erwartete ich fast, dass sie mich zurückstoßen würde, doch nichts geschah. „Tut mir leid, dass du warten musstest. Ein paar Straßen weiter war ein Unfall und mein Bus steckte ewig fest.“, erklärte ich meine Unpünktlichkeit, damit sie nicht glaubte, ich sei unzuverlässig. Dann deutete ich mit dem Kopf auf den Kinoeingang und lächelte sie aufmunternd an. „Also, wollen wir?“ Die warme Heizungsluft im Inneren schlug mir nach der feuchten Eiseskälte draußen wie eine Keule entgegen und für einen Moment hatte ich das Gefühl, nicht atmen zu können. Doch während wir an einer scheinbar überhaupt nicht kleiner werdenden Schlange standen, gewöhnte ich mich langsam wieder an die trockene Luft und meine gefrorenen Glieder tauten allmählich wieder auf. Aus den Augenwinkeln betrachtete ich Melanie, die ein genervtes Gesicht zog und versuchte, der lahmarschigen Kassiererin einen bösen Blick zuzuwerfen. Sie war wirklich übermäßig hübsch. Ihre großen, moosgrünen Augen mit den langen, schwarz getuschten Wimpern funkelten wie Sterne und ihre vollen, sinnlich geschwungenen Lippen waren auch ungeschminkt von einem zarten Rosa, für das andere Mädchen unzählige Lippenstifte bemühen mussten. Trotz ihrer dunklen Haar- und Augenfarbe hatte sie helle, fast wie Porzellan wirkende Haut, die nur an wenigen Stellen von Pickeln und Mitessern verunreinigt wurde und rund um die Nase süße Sommersprossen aufwies. Ich war so von ihrem schönen Gesicht fasziniert, dass ich kaum mitbekam, dass wir immer weiter nach vorne rückten. Als ich aufsah und die Kassiererin direkt vor mir erblickte, zuckte ich vor Überraschung beinah zusammen. Schnell nannte ich ihr den Film und zückte mein Portemonnaie, um zu bezahlen bevor Melanie auch nur reagieren konnte. Grinsend registrierte ich, dass sie irritiert blinzelnd ihren Geldbeutel wieder in ihren kleinen Rucksack steckte. Ohne mich zu versichern, dass Melanie mir folgte, steuerte ich auf die Treppe zu und sprang die Stufen hinauf. Erst kurz vor dem ersten Absatz fiel mir auf, dass sie nicht an meiner Seite war, und blickte mich suchend um. Mit wehenden Haaren und leicht geröteten Wangen eilte Melanie auf mich zu und lächelte zu mir herauf. In diesem Moment war sie so schön, dass es mir beinah das Herz zerriss. Wie sollte ich es aushalten, wenn sie mir nach dem Abend sagen würde, dass wir nie mehr als Freunde sein würden? Besonders gesprächig war sie bisher ja nicht gewesen. Vielleicht fragte sie sich ja, weshalb sie sich überhaupt darauf eingelassen hatte, mit einem Typen wie mir auszugehen. Als sie neben mir zum Stehen kam, musterte sie mich besorgt. „Was hast du?“ Zitterte ihre Stimme tatsächlich oder hatte ich es mir nur eingebildet? „Ich frage mich nur, wie ich dein Schweigen zu deuten habe. Bereust du’s, dass du mit mir hier bist oder bist du einfach genauso nervös wie ich?“ Ich war erstaunt, dass es mir so leicht fiel, zuzugeben, dass ich aufgeregt war. Überraschenderweise weiteten sich Melanies Augen und sie platzte mit einem ungläubigen „Wieso bist du denn nervös?“ heraus. Ein Familie, die zwischen uns die Treppe hinauf stieg, verschaffte mir ein wenig Zeit, doch trotzdem stotterte ich hilflos wie ein Kind, als ich antwortete: „Na ja, weil... weil du einfach so unglaublich hübsch bist und bestimmt total viele Verehrer hast und...“ Ich war fast froh, als Melanie mir mit einer knappen Handbewegung das Wort abschnitt. Wenigstens musste ich so nicht länger dümmlich stammelnd versuchen, meine Gefühle in Worte zu fassen. Melanies Wangen hatten sich leicht gerötet und in ihren Augen lag ein warmer, liebevoller Glanz, der mein Herz rasen ließ. Sie schüttelte vehement mit dem Kopf und sagte mit fester, bestimmter Stimme: „Ich bereue gar nichts. Ich hab mich schon die ganze Woche auf heute Abend gefreut. Es ist nur... ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hab Angst, irgendwas Dummes zu sagen und dich dadurch zu vergraulen...“ Für einen kurzen Moment konnte ich kaum fassen, was ich da gehört hatte, doch dann breitete sich vollkommen ohne mein Zutun ein breites Grinsen auf meinem Gesicht auf. Ich hätte nie gedacht, dass drei kurze Sätze einen Menschen so glücklich machen konnten. Bevor ich ihr noch um den Hals fallen und sie küssen konnte, deutete ich an ihr vorbei auf die große, blau leuchtende Ziffer am anderen Ende des Foyers. „Saal drei ist übrigens da hinten.“ Wenig später saß ich in einem der breiten, mit dunkelblauem Samtstoff bezogenen Sitze und beobachtete Melanie wie sie ihren Mantel auszog, während wir von widerlich süßlichdramatischer Schnulzenmusik eingelullt wurden. Fasziniert betrachtete ich die stolze Eleganz, mit der sie den dicken Stoff abstreifte und den Mantel auf den Platz neben ihr warf. „Na, so interessant ist es bestimmt nicht, mir beim Jackeablegen zuzusehen.“ Ihre Stimme klang amüsiert, doch die Bemerkung bohrte sich mir tief unter die Haut. Ich kam mir einfach unglaublich ertappt vor. Vermutlich hätte Melanie mich ausgelacht, wenn ich ihr gestanden hätte, dass ich einfach jede ihrer Handlungen und Bewegungen faszinierend und einfach beobachtenswert fand. Verlegen und beschämt starrte ich auf den blutroten Vorhang vor der Leinwand, der von jahrelangem Staub graumeliert war. Überrascht über meine barsche Reaktion hielt Melanie die Luft an und begann an ihrem Daumen zu fummeln, so als wäre sie nervös. Man konnte beinah körperlich spüren, wie unglücklich sie war, doch ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, ihr zu erklären, warum ich mich so benahm. Meine übertriebene Schwärmerei für sie war einfach albern. Nach einigen Minuten seufzte sie tief auf, wobei ihr Atem vibrierte als wäre sie den Tränen nahe. Besorgt musterte ich sie von der Seite und biss mir auf die Unterlippe. Nach kurzem Zögern drückte ich sacht ihren Unterarm, um ihr zu zeigen, dass ich nicht sauer, sondern einfach nur verlegen war. Als sie zu mir aufsah, waren ihre Augen riesig und schienen in Tränen zu schwimmen. Sie nahm meine Hand in ihre, was mich trotz der angespannten Situation vor Glück strahlen ließ. Doch bevor ich mich für mein Verhalten entschuldigen konnte, sagte sie: „Tut mir leid, dass ich vorhin versucht habe, dich zu foppen.“ Überrascht zuckte ich innerlich zusammen. Hatte ich gerade richtig gehört? Gab sie sich die Schuld an der gedrückten Atmosphäre? Liebevoll strich ich ihr über den Handrücken und sie lächelte schwach. „Ist schon okay. Es lag gar nicht an dir, dass ich so merkwürdig war.“, gab ich zu, während ich zerknirscht auf den abgewetzten Stoff des Sitzes vor mir starrte. „An was lag’s dann?“ Mit einem raschelnden Geräusch wandte sie den Kopf, doch ich war nicht in der Lage, ihr in die Augen zu schauen. Vor Scham zog sich mein Magen zusammen, als ich daran dachte, ihr den Grund für mein plötzliches Schweigen zu erklären. Nach einigen Minuten holte ich tief Luft und schluckte meine Bedenken hinunter. Wenn ich nicht endlich etwas sagte, würde sie sich womöglich noch mehr Schuld und ein noch schlechteres Gewissen einreden. „Ich war einfach von mir selbst genervt. Ich befürchte ein wenig, dass ich dir mit meiner Begeisterung für dich auf den Keks gehen könnte.“ Nach diesem Geständnis fühlte ich mich seltsam verletzlich, so als hätte ich all meine Schutzschilde zerbrochen. Doch anstatt mir ein Messer zwischen die Rippen zu jagen, wurde Melanie vor Verlegenheit dunkelrot. Trotzdem lächelte sie mich warm an und fragte mit einem ziemlich neckenden Tonfall: „Beruhigt es dich, wenn ich dir sage, dass du da keine Gefahr läufst?“ Ich brauchte einen Moment, um zu verarbeiten, was dies bedeutete. Als mir endlich ins Bewusstsein sickerte, dass Melanie mir gerade zu verstehen gegeben hatte, dass sie mich ebenfalls mochte, und sie dann auch noch ihren Kopf gegen meine Schulter lehnte, pochte mein Herz wie verrückt. Schüchtern küsste ich sie zärtlich aufs Haar und schob ihr vorsichtig einen Arm über die Schultern, was sie veranlasste, sich wie ein Kätzchen an mich zu schmiegen. Obwohl der Film bereits seit einigen Minuten lief, bekam ich nichts von der Handlung mit. Ich registrierte nur einen bunten Strudel aus sich abwechselnden Bildern und Farben. Vermutlich war dies der schönste Abend in meinem bisherigen Leben. Kapitel 32: Gregor ------------------ Dicke Schneeflocken tanzten durch die dunkle Abendluft und wurden von dem böigen Wind gegen mein Buntglasfenster gedrückt, wo sie sich wie eine Puderzuckerschicht auf den leicht vorstehenden Metallstreben zwischen den Glasstückchen absetzten. Ich saß auf der breiten Fensterbank und betrachtete Vroni, die auf meinem Bett lümmelte. Nur mit Mühe konnte ich einen traurigen Seufzer unterdrücken. Zwar verbrachten wir immer noch den Großteil unserer Freizeit miteinander, doch unser Verhältnis hatte sich sehr verändert und die Atmosphäre war jedes Mal gedrückt und melancholisch. Vroni war stets extrem schweigsam und ich schmollte vor mich hin, weil sie mir Manuel auf den Hals gehetzt hatte – egal ob sie ihn bewusst geschickt oder nur in Kauf genommen hatte, dass er los stürmen und mich zusammenschlagen würde. Auch jetzt saß sie mit hängenden Schultern auf meiner dicken Daunendecke und starrte mit leerem Blick ins Nichts. Wieso war sie eigentlich noch hier? Mit säuerlich schmeckenden Gewissensbissen fiel mir der Grund wieder ein, weshalb Vroni bisher nicht nach Hause gefahren war: Sie hatte gar keine Familie mehr, mit der sie Weihnachten hätte feiern können. Zwar hatte sie Pflegeeltern, die rein rechtlich ihr Vormund waren, doch Vroni fühlte sich ihnen nicht nah genug, um Familienfeste mit ihnen zu verbringen. Die einzige Familie, die sie noch hatte, war ihr Bruder. Sofort spürte ich wie sich der Dolch des schlechten Gewissens noch tiefer in mein Herz bohrte. Wie konnte ich sauer auf sie sein, weil sie mit Manuel über unseren Kuss gesprochen hatte? Er war die letzte Stütze, der letzte Fels, der ihr geblieben war. Wieder betrachtete ich ihr verletzlich wirkendes Gesicht. Obwohl sie immer so tough, unnahbar und selbstständig tat, war sie in Wirklichkeit tief im Inneren ein junger, verwundbarer Mensch, der sich nach Liebe und Geborgenheit sehnte – genau wie ich. Ich legte den Kopf schief und folgte mit den Augen den feinen Schwüngen ihrer vollen, blassen Lippen. Seit meinem Kuss hatte ich oft an sie gedacht, wenn sie nicht bei mir gewesen war und inzwischen tauchte sie fast so häufig in meinen Träumen auf wie Mel. Wütend ballte ich die Fäuste auf meinen Oberschenkeln. Ich hätte mir in den Hintern beißen können, dass ich unsere Beziehung ruiniert hatte, bevor sie wirklich angefangen hatte. Warum war ich immer so vorschnell und unüberlegt? Eine stumme Träne stahl sich aus Vronis Augenwinkeln und mir zog sich das Herz zusammen. Sie war so einsam, dass es beinah greifbar war, doch ich hatte das Gefühl, als ob ich hinter einer dicken Glasscheibe stand. Ich konnte rufen und dagegen schlagen, doch ich konnte einfach nicht zu Vroni gelangen. Schweigend betrachtete ich ihr leeres, trauriges Gesicht. Es juckte mir in den Fingern, doch ich konnte mich nicht dazu durchringen, zu ihr herüber zu gehen und sie tröstend in den Arm zu nehmen. Das irrationale, aber dennoch schmerzlich reale Gefühl der Enttäuschung saß einfach zu tief. Damit mir ihr Kummer nicht das Herz zerriss, wandte ich den Blick ab und schaute wieder aus dem Fenster. Durch das bunte Glas erschien die Welt draußen wie ein Puzzle aus verschiedenfarbigen Flächen. Unter normalen Umständen hätte ich mich an dem interessanten Farbspiel erfreuen können, doch nun sah ich es nicht einmal wirklich. Ich nahm nicht einmal mehr die Kälte wahr, die das dünne Glas abstrahlte. Stattdessen spürte ich Vronis Gegenwart so deutlich, als hätte sie elektrische Funken versprüht. Nach nur wenigen Herzschlägen drehte ich mich seufzend wieder um und betrachtete Vroni, die noch immer wie ein Häufchen Elend auf meinem Bett kauerte. „Jetzt gib dir endlich einen Ruck und geh zu ihr. Sie braucht dich. Siehst du das nicht?“, wisperte eine Stimme hinter meiner Stirn und plötzlich löste sich irgendetwas in mir. Die Glaswand explodierte und fiel in einem unsichtbaren Schauer funkelnder Splitter vor mir zu Boden. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, stieß ich mich von der Fensterbank ab und durchquerte mit wenigen langen Schritten den kleinen Raum. Vor meinem Bett blieb ich stehen und atmete tief durch, während Vroni mich überrascht aus leicht geröteten Augen ansah. Langsam, fast zögerlich streckte ich meinen Arm aus, um ihr zärtlich über die Wange zu streichen. Nur am Rande registrierte ich, dass meine Hand dabei heftig zitterte. Der Großteil meiner Aufmerksamkeit war auf Vronis überrascht wirkendes Gesicht gerichtet, das sich plötzlich zu einer wütenden Miene verzog. „Geh weg. Guck einfach wieder aus dem Fenster oder mach sonst was, aber lass mich in Ruhe.“ Ihre Stimme klang unsicher und dünn. Zaghaft lächelte ich ihr zu und berührte leicht die weiche Haut ihrer Wange. Dort, wo ihre Tränen herab gerollt waren, verlief eine dünne, nasse Spur. Mit einem ärgerlichen Funkeln in den Augen schob Vroni meine Finger zur Seite. „Ich hab gesagt, du sollst weg gehen.“ Trotz ihrer Proteste ließ ich mich neben ihr aufs Bett sinken und griff stumm nach ihrer Hand. „Sag mal, bist du taub?!“ Sie versuchte, sich mir zu entziehen, doch ich verschränkte unsere Finger miteinander und sah ihr tief in die Augen. Man konnte förmlich zusehen, wie ihr Widerstand bröckelte und schließlich ganz zusammen fiel. Plötzlich schmiss sie sich gegen mich und schlang mir einen ihrer schlanken Arme um den Nacken. „Ich... ich vermisse sie so sehr!“, schluchzte sie mir atemlos ins Ohr, während die Tränen in Strömen flossen. Mit einem Stich im Herzen dachte ich daran, dass ich selbst zum ersten Mal an Weihnachten nicht bei meiner Familie war. Doch die Wehmut, die mich in diesem Moment überkam, war bei Weitem nicht so übermächtig wie ich befürchtet hatte. Stattdessen fühlte ich ein leises Glücksgefühl, als mir bewusst wurde, wie heftig Vroni sich gegen mich presste. Bei jedem ihrer Atemzüge fühlte ich die weichen Rundungen ihrer Brüste, die sich gegen meinen Oberkörper hoben. Beruhigend strich ich ihr über den Rücken und zog sie auf meinen Schoß, wo sie sich wie ein Kind von mir wiegen ließ und den Kopf auf mein Schlüsselbein legte. Wann immer sie ausatmete, strich kalte Luft kitzelnd über meinen Hals. Ich lehnte meine Wange gegen Vronis Stirn und legte die Arme schützend um ihren schlanken Körper. „Ich weiß.“ Vroni seufzte geräuschvoll und spielte gedankenverloren mit einer dünnen Strähne meines Nackenhaares. „Ich fühl mich so alleine, so einsam.“, gab sie mit noch immer vibrierender Stimme zu. „Aber du bist doch gar nicht allein.“ Meine Versicherung malte ihr trotz ihrer Trauer ein kleines Lächeln aufs Gesicht. „Nein?“ Bedächtig schüttelte ich den Kopf. „Nein. Ich bin für dich da, immer.“ Der warme Ton meiner Stimme überraschte mich selbst. Meine Worte enthielten mehr Zuneigung und Liebe als ich gedacht hätte. Anscheinend bedeutete Vroni mir inzwischen mehr als ich mir selber bisher eingestanden hatte. Auf einmal stieß sie ein tonloses, unamüsiertes Lachen aus. „Wer hätte gedacht, dass du mir mal mehr Bruder sein würdest als mein eigen Fleisch und Blut?“ Irritiert riss ich die Augen auf und versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen, während mein Geist fieberhaft über diesen Gedanken nachgrübelte. Hatten wir tatsächlich ein geschwisterliches Verhältnis zueinander? Wollte ich sie einfach nur deswegen vor den Schattenseiten des Lebens schützen, weil ich für sie empfand, was ich eigentlich für Mel hätte empfinden sollen? Nein, definitiv nicht. Ich konnte und wollte nicht abstreiten, dass ich sie attraktiv und sexy fand oder mich schon mehr als einmal gefragt hatte, wie es wohl sein würde mit ihr zu schlafen. Meine Gefühle für Vroni waren zwar weniger stark, weniger verzehrend und im Vergleich zu der Liebe, die ich für Mel fühlte, unreif wie ein Setzling, doch ich war mir sicher, dass sie genau wie eine junge Pflanze noch wachsen und gedeihen konnten. Mit der Zeit könnte Vroni vielleicht Mel auf den Platz verdrängen, an den sie eigentlich gehörte, und selbst an ihre Stelle treten. Das war jedenfalls die große Hoffnung, die sich in den letzten Tagen in mein Herz und mein Bewusstsein geschlichen hatte. „Du hast ein seltsames Bild von Geschwisterliebe, wenn du mich für deinen Bruder hältst.“, murmelte ich mit einem vermutlich unangebrachten Grinsen. Ich konnte mich einfach nicht gegen die Komik wehren, dass ausgerechnet ich Tipps zu dem richtigen Verhältnis von Geschwistern gab. Vroni rückte ein Stück von mir ab und betrachtete mich nachdenklich. „Wie meinst du das?“ Für einige Sekunden sah ich ihr einfach nur tief in die Augen, doch da sie diese nonverbale Antwort anscheinend nicht verstehen wollte, befeuchtete ich mir zögerlich die spröden Lippen mit der Zungenspitze. „Du hattest Recht. Ich hab dich letztens geküsst, weil ich durcheinander war. Aber ich bereue es nicht, immer noch nicht.“ Während ich sprach, wurden Vronis baumrindenfarbigen Augen groß und sie starrte mich ungläubig an. „D-Du meinst...“, stammelte sie und ihre Unterlippe begann leicht zu zittern. Lächelnd streichelte ich ihr über die Wange und zeichnete mit dem Daumen die Konturen ihres Mundes nach. „Ja, das meine ich. Du bist der vermutlich wichtigste Mensch in meinem momentanen Leben und meine Gefühle für dich sind alles andere als geschwisterlich.“ Vroni strich mir zärtlich durch die Haare, während sie mich mit einem undefinierbaren, fast zweifelnden Blick musterte. Mit wild schlagendem Herzen fragte ich mich, ob sie gerade ihre Gefühle für mich erforschte und überlegte, wie sie mir schonend beibrachte, dass sie nichts weiter sein wollte als meine beste Freundin. Doch dann beugte sie sich plötzlich vor und legte ihre Lippen zaghaft auf meine. Sofort schlang ich meine Arme um sie und zog sie so nah an mich wie ich konnte. Sie schmeckte noch immer zart nach dem süßlichwürzigen Glühwein, den sie nach dem Abendessen getrunken hatte, doch das störte mich nicht. Ein wenig schüchtern öffnete ich mit meiner Zunge ihren Mund und genoss das wohligwarme, kribbelnde Ziehen, das durch meinen Körper pulsierte. Mit einem Mal konnte ich meine Freunde verstehen, die ich früher immer ein wenig dafür verachtet hatte, dass sie ständig an ihren Freundinnen hatten herum fummeln und mit ihnen hatten knutschen müssen. Ich kannte nichts, das ein ähnliches Gefühl in mir ausgelöst hätte, wie Vronis Zunge, die sich zaghaft in meinem Mund bewegte – mit einer Ausnahme... Während wir uns immer sicherer und leidenschaftlicher küssten, blitzte plötzlich Mels Gesicht hinter meinen geschlossenen Lidern auf. In meiner Phantasie funkelte sie mich giftig aus vorwurfsvollen Augen an, bevor sich ihre Züge zu einem verletzen, leidenden Ausdruck verzogen. Eine eisige Hand griff nach meinem Herzen und ich hatte auf einmal eine leise flüsternde Stimme im Ohr, die mir einzureden versuchte, ich würde Mel betrügen. Doch statt erschrocken von Vroni zurück zu weichen, zog ich sie noch näher an mich und stürzte mich mit so viel neu entfachter Leidenschaft in unseren Kuss, dass sie überrascht aufkeuchte. Mit all meiner Willenskraft konzentrierte ich mich auf das Mädchen in meinen Armen und versuchte, den Gedanken an meine Schwester zu verdrängen. Ganz, ganz langsam verblasste Mels Bild vor meinem geistigen Auge und ein tiefes Gefühl von Glück und Triumph machte sich in mir breit. Wenn ich es dieses Mal geschafft hatte, den Gedanken an Mel zu verdrängen, dann würde ich es wieder und wieder schaffen – so lange, bis sich ihre Bilder nicht mehr aufdrängen würden. Vroni löste sich sanft von mir und lehnte ihre Stirn gegen meine. Ihr Atem ging schnell und flach, doch sie lächelte strahlend. Für einige Minuten spielte sie mit meinen Nackenhaaren und schien mit den Gedanken weit, weit weg zu sein. Dann küsste sie mich liebevoll auf die Stirn und flüsterte ein schüchternes: „Ich liebe dich.“ Überrascht über dieses Geständnis hielt ich die Luft an. Ich hatte damit gerechnet, dass sie mir sagen würde, dass sie mich lieb hatte, doch dass sie gleich diese Worte wählte, haute mich ein wenig um. Mit zitternden Fingern strich ich ihr eine Strähne aus der Stirn. „Du bist mein Wegweiser.“, murmelte ich nach einiger Zeit, wobei meine Stimme vor lauter aufgewühlter Emotionen ganz rau klang. Ein breites Grinsen schlich sich auf Vronis Lippen. „Dein Wegweiser?“ Ich nickte stumm und blieb ihr eine Erklärung schuldig, obwohl es mir nicht einmal besonders schwer gefallen wäre, in Worte zu fassen was ich damit gemeint hatte. Vroni war die Konstante, an der ich mich orientieren wollte, der Fels, an dem ich mich festhalten konnte, das Seil, das mich während meines Ringens gegen meine Gefühle für Mel sicherte. Sie war mein Weg und das Ziel. Sie war der Grund, weshalb ich endlich wieder die Hoffnung auf ein normales Leben hatte. Ihretwegen hatte das Kämpfen endlich wieder einen Sinn. Dankbar küsste ich sie erneut auf ihre überraschend samtigen Lippen, was sie irritiert die Augenbraunen in die Höhe ziehen ließ. „Du wirst mir nicht erklären wie du das gemeint hast, oder?“ Ich grinste breit und schüttelte leicht den Kopf. „Nein.“ Vroni seufzte gespielt theatralisch und lächelte mich schief an. Dann blitzte plötzlich etwas in ihren Augen auf und sie gab mir einen kurzen Kuss. „Frohe Weihnachten, Großer.“ Augenblicklich musste ich grinsen. „Wenn du mein Geschenk bist, kann dieses Weihnachten ja nur gut werden.“ Lachend zerzauste sie mir das Haar. „Charmeur...“ Während ich das Leuchten in ihren Augen bewunderte, bemerkte ich das intensive Funkeln in meinen eigenen, die sich genau wie meine geröteten Wangen in dem glänzenden Braun von Vronis Retina spiegelten. Auch wenn ich die Sehnsucht nach Mel noch immer wie ein heißes, gezacktes Messer in meinem Herzen fühlte, spürte ich, dass ich auf einem guten Weg war. Eines Tages würde Vroni mich restlos glücklich machen. Daran wollte ich einfach glauben. Kapitel 33: Veronica -------------------- Wie eine Skulptur mit harten, in sich gekehrten Zügen und glänzendem, goldenem Haar saß Greg auf der Fensterbank und starrte durch die Buntglasscheibe hinab auf den weißgepuderten, zugeschneiten Park. Noch immer konnte ich kaum fassen, dass er nach dem nächtlichen Besuch meines Bruders vor ein paar Tagen trotzdem noch etwas mit mir zu tun haben wollte. Er wirkte zwar kälter und distanzierter, doch wenigstens stieß er mich nicht offen zurück. Allerdings hatte ich auch nicht versucht, mich ihm körperlich zu nähern... Manuel hatte nach dieser Nacht ein paar Mal einen Anlauf unternommen, mit mir zu reden, doch ich hatte jeden Gesprächsansatz sofort im Keim erstickt. Ich hatte einfach keine Lust, mir seine Rechtfertigungen für diesen Vertrauensbruch anzuhören. Es mochte ja sein, dass er gedacht hatte, in meinem Interesse zu handeln, aber in diesem Maß in meine Privatsphäre einzudringen, ging einfach zu weit. Das Gegenteil von gut war eben nicht schlecht, sondern gut gemeint. Doch auch wenn ich dank meiner Wut stark genug war, meinen Bruder immer wieder auflaufen zu lassen, um ihm eine Lektion zu erteilen, schützte sie mich nicht vor dem drückenden Gefühl der Einsamkeit. Manuel war meine einzige Familie und Greg mein einziger, wirklich guter Freund – ein Freund, der mich momentan zwar in seiner Nähe duldete, mich jedoch kaum eines Blickes würdigte und kein Wort mit mir sprach. Wieder mal betrachte ich seine unbewegte, statuenhafte Gestalt. Irgendwie wirkte er mit diesem melancholischen Schatten in den katzengrünen Augen und dem weit in die Ferne gerichteten Blick noch mehr wie ein Kunstwerk als sonst. Eine Skulptur eines tieftraurigen griechischen Gottes, so schön und perfekt, dass jedem Betrachter schwer ums Herz wurde. Obwohl ich mir selbst einsam und verlassen vorkam, konnte ich den eisigen Hauch von Gregs Schmerz, der ihn wie eine Parfumwolke umwehte, deutlich spüren. Fröstelnd legte ich mir die Arme um den Oberkörper und starrte auf den dicken, blutroten Teppich, der in vermutlich jedem Raum des Internats ausgelegt worden war. So hatte ich mir den heiligen Abend wirklich nicht vorgestellt. Noch vor ein paar Tagen hatte ich mir ausgemalt, dass ich zusammen mit Greg lachen und die Geschenke auspacken würde, die er von seiner Familie bekommen hatte. Doch nun standen die bunt verpackten Geschenke unangerührt auf seinem Schreibtisch und schienen traurig ihre glänzenden Stoffschleifen hängen zu lassen. Was für ein tolles Weihnachtsfest... Als meine Eltern noch gelebt hatten, hatten wir diese drei besonderen Tage immer ausgiebig zelebriert. Es hatte Unmengen an Keksen und aufwändige Festtagsmenüs gegeben, für die meine Mutter immer stundenlang in der Küche gestanden hatte. Meistens hatte ich ihr dabei helfen müssen, doch ich hatte das immer gern getan. An Weihnachten war sogar Möhren schrappen, Salat putzen oder Kartoffeln schälen etwas Besonderes gewesen. Noch vor wenigen Jahren war jedes Weihnachtsfest für mich voller Wärme und Liebe gewesen. Umso härter traf mich nun die eisige Atmosphäre, die wie dicke Nebelschwaden durchs Zimmer waberte. Ohne dass ich es bemerkt hatte, hatten sich mehrere stumme Tränen aus meinen Augenwinkeln gestohlen, die nun über meine Wange liefen und eine kühle Spur Salzwasser auf der Haut hinterließen. Gerne hätte ich die Hand gehoben und sie weg gewischt – vor allem weil Greg mich plötzlich mit einem sonderbaren Ausdruck im Gesicht musterte – doch ich fühlte mich zu kraftlos und matt, um meinen Arm auch nur wenige Zentimeter zu bewegen. Also ließ ich die Tränen einfach laufen und versuchte, Greg zu ignorieren. Doch plötzlich rutschte er mit einer einzigen eleganten Bewegung von der Fensterbank und kam auf mich zu. Während er mit zweifelnder, unsicherer Miene auf mich herab sah, begann mein Herz heftig zu hämmern. Was sollte das jetzt werden? Sah ich weinend so jämmerlich aus, dass er plötzlich vergessen hatte, dass er sich von mir fern halten wollte? Als er den Arm nach mir ausstreckte, zitterte seine Hand, so als ob er sich vor dem Kontakt mit meiner Haut fürchtete oder gar ekelte. „Geh weg. Guck einfach wieder aus dem Fenster oder mach sonst was, aber lass mich in Ruhe.“, knurrte ich ihn an und versuchte, möglichst genervt auszusehen. Ich wollte sein Mitleid nicht! Doch anstatt mich verletzt anzusehen und sich abzuwenden, leuchteten seine Augen immer heller auf und ein zaghaftes, fast schüchternes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Ganz, ganz leicht strich er mit dem Finger über meine Wange – fast so zart wie ein Schmetterlingsflügel, der ein Blütenblatt streift. Obwohl er mich kaum berührte, spürte ich wie kleine, elektrische Impulse wellenartig durch meinen Körper schossen. Bevor ich noch ganz rot vor Verlegenheit werden konnte, schob ich seine Hand grob zur Seite und fauchte ihn an: „Ich hab gesagt, du sollst weg gehen.“ Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde er sich endlich wieder abwenden, doch dann setzte er sich zu meinem Erstaunen dicht neben mich aufs Bett und nahm meine Hand in seine. „Sag mal, bist du taub?!“ Meine Stimme klang schrill und irgendwie panisch. Wenn er nicht bald aufstehen und gehen würde, würde ich ihm noch um den Hals fallen... Liebevoll schlossen sich seine langen, warmen Finger über meiner ausgekühlten Haut und sein erstaunlich offener, intensiver Blick brannte sich tief durch mich hindurch. Ich hatte das Gefühl, dass er mit diesen Augen förmlich in mich hinein fassen und meine traurige Seele streicheln konnte. Plötzlich gaben all die Schutzwälle und Mauern, die ich nach dem Tod meiner Eltern errichtet hatte, um mich stark und unabhängig zu machen, gleichzeitig nach und fielen zu einem losen, gebröckelten Haufen zusammen. Ohne darüber nachzudenken, schlang ich Greg meine Arme um den Hals und begann heftig zu weinen – wegen meiner Eltern, der ganzen Situation und meiner Angst, Greg zu verlieren. „Ich... ich vermisse sie so sehr!“ Mein Atem ging unkontrolliert und vibrierte so stark, dass ich meine eigenen Worte kaum verstand. Ich nahm an, dass Greg dieses Geständnis auf meine Eltern beziehen würde, und berichtigte ihn nicht, auch wenn ich ihn und Manuel ebenfalls damit gemeint hatte. Mir fehlte der Greg, den ich zu Anfang kennen gelernt hatte, der zwar verschlossen, aber einfühlsam war. Und mir fehlte mein mich ewig beschützender Bruder und seine übervorsichtige Art, auch wenn er mich regelmäßig auf die Palme trieb. Vorsichtig zog Greg mich auf seinen Schoß und wippte beruhigend mit dem Oberkörper auf und ab, so als wäre ich ein Säugling. Während ich schluchzend in seinen Armen lag, war ich mir unterbewusst der Komik des Augenblicks bewusst: noch vor wenigen Tagen war es andersrum gewesen, da hatte ich einen am Boden zerstörten Gregor getröstet. Gedankenverloren wickelte ich eine Strähne von seinem weichen, seidigen Haar um meinen Finger und wartete darauf, dass sich meine Atmung wieder regulierte. Plötzlich war mir mein Gefühlsausbruch seltsam peinlich und ich hatte das dringende Bedürfnis, mich irgendwie zu erklären. „Ich fühl mich so alleine, so einsam.“, gab ich zu, auch wenn ich mir dabei wund und verletzlich vorkam. Gregs Augen leuchteten noch immer mit ungebrochener Intensität, was ihnen einen fast fiebrigen Glanz verlieh. War er gerade dabei seinen Verstand zu verlieren? Er lächelte breit, wodurch eine kleine Wunde auf seiner Unterlippe so weit gedehnt wurde, dass sie wieder aufzureißen drohte. „Aber du bist doch gar nicht allein.“, versicherte er mit feierlichem Unterton in der Stimme. Unwillkürlich musste ich grinsen. Greg hatte diese charmante Art, jeder Situation mit so viel Ernst zu begegnen, dass man sie für wichtiger halten musste als sie eigentlich war. Im Grunde konnte es ihm doch schließlich ganz egal sein, ob ich mich einsam fühlte – auch wenn er anscheinend beschlossen hatte, mir doch wieder etwas Aufmerksamkeit zu schenken. „Nein?“, fragte ich mit einer Stimme, der man meine Verbitterung nur schwach anhören konnte. Greg schüttelte den Kopf, wobei das Deckenlicht wunderschöne, metallisch glänzende Reflexionen auf sein goldblondes Haar zauberte. „Nein. Ich bin für dich da, immer.“ Sein Ton klang trotz der letzten Anzeichen des Stimmenbruchs gesetzt und ruhig, so als würde er einen rituellen Schwur aufsagen, um bei einer Geheimorganisation aufgenommen zu werden. Mein Herz schlug schmerzhaft in meiner Brust und zog sich zu einem kleinen, verschrumpelten Etwas zusammen. Zu gerne hätte ich geglaubt, dass dieses begeisterte Funkeln in seinen Augen wirklich mir galt und dass er sich für mich als Frau, nicht nur als Mensch interessierte. Doch mir war klar, dass Greg in einer vollkommen anderen Liga spielte als ich. Der Grund dafür war allerdings nicht sein umwerfendes Äußeres, das wirkte als hätte sein Schöpfer sich über alle anderen Wesen lustig machen und mit seiner Fähigkeit, eine perfekte Kreatur erschaffen zu können, angeben wollen. Ich wusste, dass ich ebenfalls nicht hässlich war. Irgendetwas an Greg strahlte eine naturgegebene Überlegenheit aus, die nur wenige Menschen hatten und die deswegen nur noch anziehender auf seine Umgebung wirkte. Er wäre eigentlich der geborene Revolutionär gewesen. Wer einmal in diese goldgefleckten, grünen Augen gesehen hatte, musste ihm einfach verfallen. Aus irgendeinem Grund musste ich plötzlich an seine Schwester denken. Hatte sie diese Eigenschaft ebenfalls? Ich versuchte, mir ihr Gesicht vorzustellen, doch es gelang mir nicht. Greg hatte mir nie ein Bild von ihr gezeigt. Es schien fast, als besäße er gar keins. Ob Melanie ihm ein wenig ähnlich sah? Heiße Eifersucht verhängt mir den Blick, doch es war nicht nur der Neid auf die vermeintliche Schönheit des Mädchens, sondern vor allem auf die Liebe, die Greg für es empfand. Mit einem bitteren Geschmack im Mund fragte ich mich, ob Greg in mir womöglich nur einen Ersatz für seine Schwester suchte. „Wer hätte gedacht, dass du mir mal mehr Bruder sein würdest als mein eigen Fleisch und Blut?“, brummte ich bissig. Ich konnte nur hoffen, dass Greg, der überrascht die Augen aufriss, den verbitterten Unterton auf Manuel bezog. Für einen langen Moment betrachtete er mich mit einem zweifelnden Blick, bevor ein Grinsen über sein Gesicht ging. „Du hast ein seltsames Bild von Geschwisterliebe, wenn du mich für deinen Bruder hältst.“ Irgendetwas an der Art wie er die Lippen verzog war merkwürdig, so als ob er sich über einen Witz amüsierte, den nur er selbst verstand, doch anstatt danach zu fragen, hakte ich nach: „Wie meinst du das?“ Der Blick den er mir daraufhin schenkte war so eindringlich, dass ich am liebsten meine Hände vors Gesicht geschlagen hätte, um diesen aufmerksamen, forschenden Augen zu entkommen. Bestimmt stand jedes auch noch so kleine Geheimnis, das ich in meinem Innersten bewahrte, für ihn wie mit Neonfarbe in mein Gesicht geschrieben. Doch anstatt mich abzuwenden, hielt ich den Atem an und wartete ab, was noch passieren würde. Im Grunde hatte ich doch eh nichts mehr zu verlieren und außerdem war ich schon immer neugieriger gewesen als es gut für mich war. „Du hattest recht. Ich hab dich letztens geküsst, weil ich durcheinander war. Aber ich bereue es nicht, immer noch nicht.“, erklärte Greg, wobei seine Stimme ganz rau war und sogar einmal wegzubrechen drohte. Auf seinen Wangen breiteten sich nervöse, zartrosa Flecken aus und sein Blick zuckte kurz hin und her, so als könnte er mir plötzlich nicht mehr in die Augen sehen. „D-Du meinst...“ Hölle auch! Am liebsten hätte ich mich dafür geohrfeigt, dass ich in diesem Moment stottern musste. Spätestens jetzt hätte auch ein Vollidiot kapiert, dass Greg für mich mehr war als mein bester Freund. Nun gab es kein Zurück und kein Leugnen mehr. Jetzt prangte diese Wunde gut sichtbar und mit Leuchtreklame markiert auf meiner Brust und ich wartete ängstlich darauf, dass Greg einen Dolch hinein rammte. Stattdessen strich er mir jedoch zärtlich über Wange und Lippen, wobei seine Augen einen warmen, liebevollen Glanz annahmen, was sie wie geschmolzene, mit Goldsplittern durchsetzte Edelsteine wirken ließ. „Ja, das meine ich. Du bist der vermutlich wichtigste Mensch in meinem momentanen Leben und meine Gefühle für dich sind alles andere als geschwisterlich.“ Mein Herz schlug so heftig und schnell, dass ich kaum etwas anderes hörte als das laute Rauschen meines eigenen Blutes. Für einen Moment konnte ich Greg einfach nur anstarren, während mein Hirn hilflos versuchte, das Unverständliche zu verarbeiten. Wollte er damit etwa sagen, dass er sich verliebt hatte – in mich?! Auf einmal wurde alles um mich herum unscharf. Farben und Flächen flossen bis zur Unkenntlichkeit ineinander, Konturen lösten sich auf und selbst die Luft schien plötzlich auf eine unwirkliche, schemenhafte Art und Weise sichtbar zu sein. Das Einzige, was aus diesem flirrenden Wirrwarr scharf hervor stach, waren Gregs Lippen, die mit einem Mal so verlockend wirkten als wären sie der Heilige Gral. Vollkommen ohne mein Zutun bewegte mein Körper sich darauf zu, bis ich zum zweiten Mal in meinem Leben auf die samtige Weichheit von Gregs Mund traf. Ich hatte damit gerechnet, dass er mich überrascht und angewidert zurückstoßen würde, doch stattdessen zog er mich noch dichter an sich und erwiderte diesen Kuss sogar. Er küsste mich... Mein Herz hämmerte inzwischen so schnell, dass ich sicher war, ich müsste bald in Ohnmacht fallen. Doch alles, was ich fühlte, war eine unbeschreibliche Leichtigkeit und ein wohliges Gefühl von Glück, vermischt mit einem aufgeregten Kribbeln in Magen und Unterleib, das noch intensiver wurde, als Greg zaghaft die Lippen öffnete und sich seine Zunge langsam und unsicher in meinen Mund vortastete. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er mich womöglich doch von seinem Schoß gestoßen hatte, sodass ich gegen sein Bücherregal geknallt war und mir eine tödliche Kopfverletzung zugezogen hatte. Dieser Kuss, dieses Gefühl konnte einfach nicht echt sein. Entweder träumte ich extrem real oder das hier war der Himmel. Erst als mir die Luft ausging, ich mich von Greg lösen musste und sein gerötetes Gesicht mit den erregt funkelnden Augen sah, sickerte ganz langsam in mein Bewusstsein, dass dies weder das Jenseits, noch ein Traum war, sondern das Paradies auf Erden. Kapitel 34: Melanie ------------------- Der Christbaum stand wie jedes Jahr in einer Wohnzimmerecke, eingeklemmt zwischen einem als Raumteiler fungierenden Bücherregal und der gläsernen Terrassentür. Irgendjemand – vermutlich Mama – hatte ihn mit unterschiedlich großen, roten Kugeln, einer Lichterkette mit kleinen, weißen Kerzen und goldenem Lametta geschmückt. Auf seiner Spitze prangte ein imposanter Stern aus vergoldetem Metall. Eigentlich sah er aus wie jedes Jahr, doch irgendwie wirkte er dieses Mal matt und farblos auf mich, statt glänzend und glitzernd. Seufzend warf ich einen Blick auf den dunklen Esszimmertisch und das unberührte Geschirr, das noch immer am Kopfende stand. Aus purer Gewohnheit hatte ich am späten Nachmittag für vier statt drei Personen gedeckt. Mit einem tiefen, brennenden Stich im Herzen war mir plötzlich klar geworden, dass Greg weder Teller, noch Gläser, noch Besteck brauchen würde – schließlich kam er nicht nach Hause. Trotzdem hatte ich es nicht übers Herz gebracht, sein Gedeck wieder abzuräumen. Mama hatte zwar beinah ärgerlich die Augenbraunen zusammen gezogen, doch niemand hatte etwas gesagt. Also hatten wir schweigend gegessen, mit einem halben Auge immer auf den leeren Platz schielend, so als würde Greg sich wie durch ein Wunder doch noch dort materialisieren und lautstark nach Essen verlangen. Er hatte Mamas selbstgemachte Kartoffelknödel immer geliebt. Gedankenversunken rieb ich mir über die mit Gänsehaut übersäten Arme. Jetzt, wo das Feuer in unserem Holzofen herab gebrannt war, kühlte sich der große Raum schnell merklich ab und die Kälte drang durch die Maschen meines dünnen Schlafanzuges. Eigentlich hätte ich seit Stunden ins Bett gehört, doch ich konnte einfach nicht schlafen und auch wenn ich das dringende Bedürfnis hatte mit jemandem zu reden, um meine Melancholie zu betäuben, konnte ich mich nicht dazu durchringen, Johannes oder Finchen anzurufen. Schließlich war es mitten in der Nacht. Ich hätte nie gedacht, dass es sich so merkwürdig anfühlen würde, dass Greg an diesen Tagen nicht hier war. Immerhin hatte ich mich schon fast daran gewöhnt, dass er jetzt im Internat lebte. Dennoch hatte ich mich mit aller Kraft an den Gedanken geklammert, dass er heim kommen würde, um Weihnachten und seinen Geburtstag mit uns zu feiern. Dass er es nicht getan hatte, schmerzte so heftig, dass ich das Gefühl hatte, jemand hätte mein Herz mit einer Käsereibe bearbeitet. Selbst das Atmen fühlte sich schwer an, so als steckte meine Brust in einem zu engen Korsett oder Panzer. Und der nächste Tag würde vermutlich nur noch schlimmer werden. Morgen war der erste Weihnachtsfeiertag – Gregs Geburtstag. Früher hatte ich es praktisch gefunden, dass mein Bruder an Weihnachten Geburtstag hatte. So musste ich immer nur einmal im Jahr ein Geschenk für ihn kaufen. Außerdem war es einfach so extrem passend, dass jemand wie Greg mit seinem engelhaften, goldenen Haar und diesem weichen Engelsgesicht an einem solchen Tag geboren war. Heute jedoch fürchtete ich, dass diese Überschneidung der Ereignisse mir das Herz endgültig zerreißen würde. Von einer heftigen Trauerwelle erfasst wandte ich mich endlich von dem Esstisch ab und tappte mit langsamen, schweren Schritten die Treppe wieder hinauf. Seit Greg uns verlassen hatte, hinterließ der Gedanke an ihn immer ein bohrendes Gefühl der Leere, so als hätte er mein Innerstes hervor gepult und mitgenommen. Wie so oft in den vergangenen Monaten fragte ich mich, ob es immer so bliebe oder ob ich mich irgendwann wirklich daran gewöhnen würde, dass ich meinen Bruder nicht mehr um mich hatte. Wieder einmal sah ich sein Gesicht vor mir, diesen intensiven, leidenden, fast wie gebrochen wirkenden Blick, mit dem er mich gemustert hatte, bevor er das letzte Mal durch die Tür unseres Elternhauses gegangen war. Immer, wenn ich an diesen Ausdruck in seinen Augen dachte, überkam mich ein dumpfes, nicht greifbares Gefühl, das ich nicht einzuordnen vermochte. Es war als hätte ich irgendetwas übersehen, als müsste ich etwas wissen, dass mir einfach nicht einfallen wollte. Alles, was ich in diesem Moment mit Bestimmtheit sagen konnte, war, dass ich mich schrecklich allein und verlassen fühlte. Obwohl unsere Eltern sich große Mühe gaben, immer für mich da zu sein und mir die Illusion von Normalität zu geben, spürte ich, dass auch sie sich kaum merklich verändert hatten. Papa schien schrecklich unter Gregs Abwesenheit zu leiden. Er wirkte stets abgespannt und müde, so als drückte ihn ein schweres Gewicht auf den Boden. Ich vermutete, dass er sich Vorwürfe machte, weil er Greg nie von seinen leiblichen Eltern erzählt hatte. Mama hingegen machte auf mich den Eindruck, als trüge sie eine enorme, verzehrende Wut auf Greg mit sich herum. Wann immer in den vergangenen Monaten die Sprache auf meinen Bruder gekommen war, hatte sie die Lippen fest zusammen gepresst und ihre strahlenden, blauen Augen waren zu harten, ausdruckslosen Murmeln geworden. Vermutlich hatte Greg sie durch seine heftige Reaktion tiefer verletzt als sie zugeben wollte. Ich ließ mich kraftlos auf mein Bett plumpsen und rollte mich so auf die Seite, dass meine Decke sich eng um meinen Körper wickelte. Für mich war diese Situation echt schwer. Ich konnte Mama gut verstehen. Ich konnte nachfühlen, dass sie sich enttäuscht und irgendwie auch von Greg im Stich gelassen fühlte – mir ging es nicht anders – doch ich konnte irgendwo auch die rasende Wut und stechende Verbitterung meines Bruders nachfühlen. Auch wenn er wie immer übertrieb, war es nur zu verständlich, dass er sich hintergangen und betrogen fühlte. Wahrscheinlich fragte er sich seit der Entdeckung seiner Adoptionsurkunde unablässig, wessen Blut wirklich durch seine Adern strömte und ob unsere Eltern ihm die Wahrheit verschwiegen hatten, weil sie einfach zu grausam war. Was, wenn er der Sohn eines Vergewaltigers oder eines Massenmörders wäre? Müde schüttelte ich den Kopf. Jetzt ging eindeutig die Phantasie mit mir durch. Viel wahrscheinlicher war, dass unsere Eltern die Adoption nie erwähnt hatten, weil sie befürchtet hatten, dass Greg sich danach von ihnen abwenden würde und sie ihn an seine leiblichen Eltern verlieren könnten, wenn er sie gefunden hätte. Ironischerweise hatte gerade ihr Schweigen dazu geführt, dass er mit ihnen gebrochen hatte. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Mama seitdem mit Argusaugen über mich wachte. Hätte Papa nicht regulierend auf sie eingewirkt, wäre ich vermutlich dazu verdammt gewesen, mein restliches Leben in meinem Zimmer zu verbringen. Wann immer ich weg wollte, bestand Mama darauf, dass Finchen oder Johannes mich von zu Hause abholte und auch wieder bis vor die Tür brachte. Ich fragte mich, welche Befürchtung wohl durch ihren Kopf geistern mochte. Dass ich mich plötzlich ganz alleine aufmachen würde, um meinen Bruder zu besuchen? Ganz bestimmt nicht, schließlich hatte er in seinen Briefen immer wieder darauf hin gewiesen wie streng die Besucherreglung des Internats war – Minderjährige durften nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten zu Besuch kommen – und wie massiv die Schüler, die sich daran nicht hielten, bestraft würden. Egal wie sehr ich ihn auch vermisste, ich hätte Greg niemals mutwillig in Schwierigkeiten gebracht. Welche Gedanken auch immer durch Mamas Hirn spuken mochten, ich hoffte, dass sie ihre Ängste um mich bald wieder ablegen würde – und zwar bitte bevor sie mich damit zu Tode nervte. Erstaunlicherweise hatte sie Johannes jedoch trotzdem mit offenen Armen empfangen. Irgendwie hatte sie sogar regelrecht erleichtert gewirkt, als ich ihn am Tag nach unserem Kinobesuch als meinen Freund vorgestellt hatte. Hatte sie womöglich befürchtet, ich würde eines Tages mit einem dreißigjährigen, volltätowierten, glatzköpfigen Klischee-Rocker nach Hause kommen? Grinsend musste ich an Jo denken, wie er mich nach dem Kino bis zur Haustür begleitet und schüchtern mit dem Fuß gescharrt hatte, während er offensichtlich überlegt hatte, ob er es wagen konnte mich zu küssen. Schlussendlich war ich diejenige gewesen, die sich einen Ruck gegeben und sich in seine Arme geworfen hatte. Mein erster Kuss war zwar nicht wie in einem Kitschroman oder Hollywoodromanze gewesen, aber sehr, sehr angenehm. Auch wenn ich nicht das plötzliche Gefühl gehabt hatte, in Ohnmacht zu fallen oder dass die Welt um mich herum stehen blieb, war ich nicht enttäuscht. Die Realität war eben einfach kein Produkt aus Amerikas Traumfabrik und funktionierte nun mal anders. Mir reichte es vollkommen, dass ich mich in Jos Armen einfach sicher und geborgen fühlte und ich Herzklopfen bekam, wenn ich an ihn dachte. Ich brauchte keine eingebildeten Schwebezustände oder derartiges. Vermutlich hätte mir so etwas auch nur Angst gemacht. Alles, was für mich zählte, war, dass ich ihn gerne um mich hatte, mich gerne von ihm berühren ließ und bei ihm das Gefühl hatte, dass ich mich fallen lassen konnte, dass er wirklich immer für mich da war. Seufzend setzte ich mich wieder auf und griff nach dem Mobilteil unseres neuen Telefons, das nach meinem Gute-Nacht-Telefonat mit Johannes immer noch auf meinem Nachttisch lag. Die Sehnsucht nach meinem Freund war plötzlich übermächtig. Schnell wählte ich seine Handynummer, die ich inzwischen auswendig kannte. Es dauerte einige Zeit, bis er sich meldete. „Mel? Alles okay?“ Obwohl er total schlaftrunken klang, schlich sich sofort ein alarmierter Unterton in seine Stimme. Ich lächelte glücklich in mich hinein und freute mich, dass ich ihm genug bedeutete, damit er sich Sorgen um mich machte. „Ja, alles in Ordnung. Ich kann nur nicht schlafen.“ Ich hörte ein Rascheln und ein dumpfes Dröhnen, woraufhin Jo unterdrückt fluchte. „Was ist passiert?“, fragte ich und lauschte angestrengt in die leise knackende Leitung. „Nichts weiter. Ich hab mir nur mal wieder beim Aufsetzen den Kopf an der Dachschräge angehauen.“ „Ach so. Na ja, sieh’s positiv: Leichte Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen.“ „Ich wusste gar nicht, dass du noch so mittelalterlich erzogen wirst.“ Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, war ich mir sicher, dass er grinste. Ich konnte es an seiner Stimme hören. Er gähnte laut und fragte dann: „Aber jetzt schieß mal los: Warum kannst du nicht schlafen?“ Ich seufzte und zog in einer schutzsuchenden Geste die Beine an. „Mein Bruder fehlt mir. Und ich hab irgendwie Angst, dass ich ihn nie wieder sehe.“ „Hm... ach, das ist sicher Quatsch. Du wirst schon sehen: Bald ist er wieder bei euch. Vielleicht will er euch ja auch überraschen und kommt unangekündigt. Schließlich hat er morgen Geburtstag, oder?“ „Ja, hat er. Aber ich glaub’ nicht, dass er kommt.“ Ich hörte selbst wie enttäuscht und traurig meine Stimme klang. „Hast du schon versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen? Ich will damit jetzt nicht sagen, dass du lieber ihn statt mich aus dem Bett klingeln solltest, aber vielleicht solltest du ihn anrufen, wenn er dir fehlt.“ Überrascht blinzelte ich in die Dunkelheit. Auf die Idee war ich überhaupt nicht gekommen. Mit rot glühenden Wangen musste ich mir eingestehen, dass ich einfach Jos Stimme hatte hören wollen, um die Einsamkeit zu bekämpfen, die mich überkommen hatte. „Ich wollte einfach lieber dich anrufen.“ Am anderen Ende der Leitung atmete Jo leicht schnaufend aus und ich konnte spüren, dass er breit lächelte. „Das freut mich. Aber ich denke, du solltest Greg trotzdem irgendwann morgen... beziehungsweise heute noch anrufen. Vielleicht fühlt er sich ja genauso allein wie du. Ich meine, ich weiß ja nicht, was vorgefallen ist, aber wenn es ihn so tief erschüttert hat, dass er sich genötigt sah, sein Zuhause zu verlassen, ist er bestimmt auch nicht glücklich. Vielleicht fühlt er sich bei euch nicht mehr erwünscht oder so und kommt deswegen nicht zurück. Zeig ihm doch einfach mal, dass es nicht so ist.“ Mit einem leichten Schaudern musste ich an Mamas harten Blick denken, den sie bei den seltenen Gelegenheiten bekam, bei denen wir über Greg sprachen. Vielleicht fühlt er sich bei euch nicht mehr erwünscht... Womöglich hatte Jo damit mehr Recht als er ahnte. Greg war immer sehr sensibel gewesen. Spürte er, dass Mama wütend auf ihn war? Hatte Mama sich in all der Zeit überhaupt bei ihrem Sohn gemeldet? Fühlte er sich im Stich gelassen – von uns allen? Um mich von diesen düsteren Gedanken abzulenken, fragte ich: „Willst du wissen, was im August passiert ist?“ „Nur wenn es dir nichts ausmacht, darüber zu reden.“ „Nein. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich das endlich mal tue.“ Und dann begann ich zu erzählen, angefangen bei Gregs merkwürdigem Verhalten bis hin zu der schrecklichen letzten Begegnung mit unseren Eltern... Kapitel 35: Veronica -------------------- Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich mir im ersten Moment vollkommen sicher, dass ich geträumt hatte. Der letzte Abend konnte unmöglich wirklich passiert sein. Ich hatte bestimmt nicht auf Gregs Schoß gesessen und wild mit ihm geknutscht, während er langsam seine Hand unter meinen Pullover geschoben und die nackte Haut meines Rückens gestreichelt hatte. Und ich hatte garantiert auch nicht über seinen flachen Bauch gestrichen und mit den Fingern seine harte Muskulatur erkundet. Doch dann wandte ich den Kopf und unwillkürlich breitete sich ein glückseliges Lächeln auf meinem Gesicht aus. Auf meinem flachen Nachtschrank lag eine glänzende, silberne Kette mit kleinen, feinen Gliedern und einem elegant geschwungen Anhänger, der mit einem glitzernden Tigerauge geschmückt war. Also hatte ich doch nicht geträumt... Greg hatte mir dieses wunderschöne Schmuckstück am vergangenen Abend als Weihnachtsgeschenk überreicht und es liebevoll hinter meinem Nacken geschlossen. Bevor ich zu Bett gegangen war, hatte ich es jedoch wieder abgenommen, weil ich befürchtet hatte, im Schlaf die dünne Kette womöglich zu zerreißen. Eigentlich hatte ich gleich los laufen und meine Geschenke für Greg holen wollen, doch er hatte mich mit sanfter Bestimmtheit zurück in seine Arme gezwungen und gemeint, die Bescherung könnte noch warten. Allein bei dem Gedanken an den warmen, leicht rauen Ton seiner Stimme begann mein Herz heftig zu schlagen und ich fühlte mich kribbelig und unruhig. Ich konnte kaum erwarten, ihn wieder zu sehen. Seine Haut wieder auf meiner zu fühlen. Ihn wieder zu küssen... So schnell ich konnte, sprang ich aus dem Bett und suchte meine Kleidung zusammen. Meine Zähne putzte ich mir mit solch einer brutalen Geschwindigkeit, dass ich mir mehr als einmal die Bürstenborsten in das empfindliche Fleisch bohrte und zu bluten begann. Das nahm ich jedoch nur unterschwellig wahr. Als ich endlich angezogen und etwas zurecht gemacht war, schnappte ich mir die griffbereit auf dem Schreibtisch stehenden Päckchen und stürmte in den Flur hinaus. Während ich die langen, kühlen Korridore entlang hetzte, hoffte ich inständig, dass Greg nicht womöglich beim Frühstück war, und fragte mich, wie er wohl auf seine Geschenke reagieren würde. Ich hatte ihm zwei Bände der relativ unbekannten „Tomb Raider“-Romane gekauft, war mir aber unsicher, ob sie ihm wirklich gefallen würden. Er machte auf mich nicht gerade den Eindruck eines passionierten Zockers, doch immerhin war er eine Leseratte, die so ziemlich jedes Buch förmlich zu verschlingen schien. Außerdem: Welcher Mann stand nicht auf Lara Croft? Die Frau war sexy, intelligent, tough und unabhängig. Sie war eine der wenigen weiblichen Videospielfiguren, die man getrost als modernes Vorbild für junge Mädchen betrachten konnte – und das obwohl sie in manchen ihrer Spiele auf niedliche Wölfe und kuschelige Bären schoss. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob Greg mit den Büchern wirklich etwas anfangen konnte. Manchmal erschien er vollkommen unempfänglich für Unterhaltungselektronik jeder Art. Ich hatte ihn in all der Zeit weder Musik hörend erlebt, noch hatte er sich je über einen fehlenden Fernseher beschwert. Ich hingegen vermisste meine Videospielkonsolen jeden Tag... Vielleicht hatte ich gehofft, durch diese beiden Romane eine Brücke zwischen unseren Leidenschaften schlagen und ihn für mein größtes Hobby begeistern zu können. Gerade als ich durch die Treppenhalle eilte, kam jemand aus dem Nordflügel und ich wäre beinah in die hochgewachsene, breitschultrige Gestalt hinein gerannt. Überrascht ließ ich die Geschenke fallen, quietsche erschrocken auf und stolperte ein paar Schritte rückwärts. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich die andere Person vollkommen übersehen hatte. Zwei muskulöse Arme schnellten hervor und hielten mich sanft fest, bevor ich umknicken und stürzen konnte. „Vorsicht, immer langsam mit den jungen Pferden.“ Ich erkannte die Stimme noch bevor ich das dazugehörige Gesicht betrachten konnte und mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Ich legte meine Hände auf die stark behaarten Unterarme – Wie konnte er bei diesen Temperaturen bloß mit hochgekrempelten Ärmeln herum laufen? – und schob sie zurück. „Manuel...“ Meine Stimme klang steif und formell und ich schaffte es nicht, meinen Blick zu heben, um meinem Bruder in die Augen zu sehen. „Vroni...“, setzte er an, nur um sofort wieder abzubrechen. Resigniert ließ er seine Arme locker an seinem Körper herab hängen und musterte mich. Ich konnte seinen Blick fühlen, auch wenn ich ihn nicht sah. Für einen langen Moment standen wir schweigend nebeneinander und starrten vor uns hin, doch dann gab Manuel sich einen Ruck. „Vroni, ich weiß, ich bin zu weit gegangen und hab einen schrecklichen Fehler gemacht. Das tut mir leid, ehrlich.“ Die Verzweiflung in seiner Stimme schnitt so tief und leicht in mein Herz wie ein warmes Messer in Butter. „Glaubst du, du kannst mir irgendwann verzeihen?“ Ich räusperte mich geräuschvoll und schaffte es endlich, ihn anzusehen. Seine schönen, dunkelbraunen Augen waren rot gerändert und füllten sich mit Tränen, obwohl er sich sichtlich darum bemühte, die Fassung zu bewahren. „Ja, du hast verdammten Bockmist gebaut und eigentlich sollte ich deswegen wütend auf dich sein, bis du zur Hölle fährst, aber...“ Ich machte eine kleine Kunstpause. „Du bist und bleibst mein Bruder und ich liebe dich. Natürlich kann ich dir altem Trottel verzeihen.“ „Oh, Vroni!“ Er umarmte mich plötzlich so stürmisch, dass er mich beinah aus den Schuhen hob. Doch anstatt ihn weg zu stoßen und verzweifelt nach Luft zu ringen, klammerte ich mich mit genauso viel Kraft an ihn. „Manu...“ Als er mich schließlich wieder los ließ, musterte er mich erneut eingehend. Irgendetwas an dem Ausdruck in seinen Augen machte mich ein wenig nervös. Um meine Unsicherheit zu überspielen, schlug ich ihm leicht mit der flachen Hand gegen die Brust und fragte neckend: „Was ist? Hab ich ’nen fetten Pickel auf der Nase?“ Manuel schüttelte lächelnd mit dem Kopf. „Nein. Ich dachte nur gerade, dass du glücklich aussiehst. Irgendwie strahlst du total. Du leuchtest regelrecht. Ich hab mich einfach gefragt, was wohl passiert ist.“ Verlegen biss ich mir auf die Unterlippe und blickte zu Boden, während mir das Blut in die Wangen schoss. „Ich... na ja... Also...“, stammelte ich, was Manuel plötzlich ein verletztes Gesicht ziehen ließ. „Schon okay. Ich hab’s verstanden. Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst.“ Bestimmt und vehement schüttelte ich mit dem Kopf. „Das ist es nicht. Es ist nur so, dass ich es bis jetzt noch nie ausgesprochen hab und na ja...“ Ich spürte wie meine Wangen erneut in einem intensiven Rot aufflammten. „Also, ich... ich bin jetzt mit Greg zusammen. Wir sind nun ein Paar.“ Schlagartig verdüsterte sich die Miene meines Bruders und er presste missbilligend die Lippen aufeinander, was sofort neue Wut in mir entfachte. Hatte er es denn immer noch nicht gelernt, dass er sich aus solchen Dingen heraus zu halten hatte? Ich wollte mein eigenes Leben führen und eigene Entscheidungen treffen. Zornig hob ich einen Zeigefinger und funkelte erbost zu Manuel herauf. „Wag es ja nicht, dich da einzumischen!“ Seine Kiefermuskulatur zuckte, als er die Zähne fest zusammen biss. „Keine Angst, das hatte ich nicht vor. Ich hab inzwischen verstanden, wie wichtig es für dich ist, wenn du deine eigenen Fehler machen kannst.“ „Fein. Warum ziehst du dann jetzt so ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter? Du warst doch selbst derjenige, der Greg dringend geraten hat, die Sache schnellstens zu klären.“, fauchte ich, wobei ich froh war, dass in den Ferien so gut wie kein Schüler hier war. Während der Unterrichtszeiten hätte ein solcher Streit sicher für einige Zaungäste gesorgt. So konnten wir uns jedoch nach Lust und Laune zanken, ohne dass sich jemand blicken ließ. Manuels wütender Blick schien förmlich Funken zu sprühen, als er mit bedenklich vibrierender Stimme sagte: „Ja, weil ich wollte, dass du glücklich bist.“ Er sprach langsam und betonte jede einzelne Silbe, so als müsste er sich mühsam zurückhalten, nicht laut zu brüllen. „Aber ich bin doch jetzt glücklich. Wo ist also dein Problem?“ Ich holte tief Luft, als etwas in den Augen meines Bruders aufblitzte und mir etwas klar wurde. „Du kannst Greg einfach nicht ausstehen, nicht wahr? Du hasst ihn regelrecht!“ „Das ist nicht–“, setzte mein Bruder an, doch ich fiel ihm sofort wieder ins Wort. „Natürlich ist das wahr! Du warst schon immer neidisch auf Jungs wie ihn. Du verabscheust ihn, nur weil er das Aussehen hat, das du dir immer für dich selbst gewünscht hättest, weil er...“ Mit einer Geste brachte Manuel mich zum Schweigen und sah mich mit einem halb ungeduldigen, halb belustigten Blick an. „Ich wollte eigentlich sagen: Das ist nicht mein Problem. Ich wollte nie abstreiten, dass ich deinen Goldritter nicht leiden kann.“ „Oh...“ Wieder röteten sich meine Wangen leicht und ich zog eine zerknirschte Miene. „Was ist dann das Problem?“ Seufzend betrachtete Manuel die kunstvoll bemalte Decke, bevor er leise antwortete: „Ich befürchte, dass du nicht glücklich bleiben wirst.“ Der eindringliche Blick mit dem er mich nun bedachte, jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. „Du meinst, du glaubst, dass Greg mir das Herz brechen wird.“ Manuel nickte stumm und wirkte plötzlich als wäre ihm schrecklich unwohl in seiner Haut. Ein Gefühl wie von Tausend wimmelnden Würmern machte sich in meinem Magen breit. „Wie kommst du darauf?“ Ich brachte kaum mehr als ein Flüstern hervor. „Die Art wie er dich ansieht...“ Überrascht riss ich die Augen auf. Mir war gar nicht klar gewesen, dass mein Bruder ein aufmerksamer Beobachter sein konnte. Außerdem hatte ich nie etwas Merkwürdiges an Gregs Blick registriert. Als er meine Verwirrung bemerkte, fügte Manuel an: „Er sieht dich nicht wie ein frisch verliebter Junge an.“ Obwohl ich wusste, dass er mich nur schützen und vor einer bitteren Enttäuschung bewahren wollte, schob ich trotzig das Kinn vor. „Ach nein? Wie sollte er mich denn deiner Meinung nach ansehen?“ Für einen kurzen Moment zog Manuel ein komisches Gesicht, so als wäre ihm das, was er zu sagen hatte, peinlich. Doch dann atmete er tief durch und murmelte: „Als wärst du das Schönste auf der Welt, die grandioseste Erfindung seit Menschengedenken – noch besser als Currywurst.“ Unwillkürlich musste ich lachen und das Geräusch hallte unnatürlich laut durch das wie ausgestorben wirkende Gebäude. „Das war ja klar, dass du Currywurst für eine der Erfindungen schlechthin hältst.“ Ich grinste noch immer, doch Manuel warf mir einen finsteren Blick zu. „Ich meine das vollkommen ernst.“ Beschwichtigend legte ich ihm eine Hand auf den Unterarm und drückte leicht zu. „Ich weiß. Und ich bin dir auch ehrlich dankbar für deine Sorge. Aber hast du mal daran gedacht, dass Greg vielleicht einfach zu der Sorte Menschen gehört, die ihre Gefühle nicht gut zeigen können und sie deshalb lieber vor anderen verstecken?“ Manuel grunzte abfällig, doch ich ließ mich nicht beirren und redete einfach weiter: „Greg ist sehr sensibel und hat eine Menge durch gemacht – vielleicht sogar mehr als wir Beide. Ich weiß leider nicht viel über die Verhältnisse bei ihm zu Hause, weil er nur selten darüber spricht und ich ihn auch nicht mit meiner Neugier bedrängen will. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es für ihn nicht einfach war, was immer er auch hinter sich haben mag. Meinst du nicht, dass schreckliche Erlebnisse einen Mensch verschlossen werden lassen können?“ Wen versuchte ich hier eigentlich zu überzeugen? Manuel oder mich selbst? Kopfschüttelnd und mit einem traurigen Schimmern in den Augen sah mein Bruder auf mich herab. „Möglich. Aber ich glaube nicht, dass sich jemand so vollständig von der Außenwelt abschotten kann, dass dieses bestimmte, verliebte Leuchten in den Augen selbst beim Anblick der Auserwählten nicht zu Tage tritt. Also, dass man die Person, die man liebt, ansehen kann, ohne dieses Funkeln in den Augen zu kriegen.“ Ich wurde von einem durchdringenden Frösteln gepackt, das nichts mit den niedrigen Temperaturen in der Halle zu tun hatte. Schutzsuchend legte ich mir die Arme um den Oberkörper und rieb mir verstohlen über die Arme. Als Manuel dies bemerkte, verstärkte sich seine traurige Miene noch, doch er fuhr unerbittlich fort: „Aber Greg sieht dich nie so an. In seinem Blick liegt vielleicht Begehren, aber vor allem stets ein stummer Hilfeschrei und die Suche nach Sicherheit. Das muss dir doch aufgefallen sein, wenn selbst ich das gesehen habe.“ Schweigend sah ich zu Boden und bemerkte zum ersten Mal, dass die dicken, wollenden Fäden, aus denen der Teppich geknüpft worden war, verschiedene Nuancen von Dunkelrot zeigten. Sehr zu meinem Missfallen musste ich meinem Bruder recht geben. Gregs Blick wirkte oft so schutzsuchend, dass man das Gefühl hatte, einem verlorenen Kleinkind gegenüber zu stehen. Doch am vergangenen Abend hatten eine tiefe Wärme und Liebe in seinen Augen geglänzt – das hatte Manuel einfach nur deswegen nicht gesehen, weil er nicht dabei gewesen war. Das hatte ich mir nicht eingebildet! Oder? Mit einer liebevollen, brüderlichen Geste legte Manuel mir eine Hand auf die Schulter, strich mir mit den Fingern der anderen über die Wange und sagte mit einem unglaublich sanften, fürsorglichen Ton, den ich bei ihm noch nie gehört hatte: „Sieh es ein, bevor es zu spät ist: Greg benutzt dich nur. Er braucht momentan einfach jemanden, der seine geschundene Seele streichelt und ihm ein wenig Wärme gibt. Ich streite ja gar nicht ab, dass er vielleicht schreckliches erlebt hat. Irgendwo kann ich ihn sogar verstehen. Aber trotzdem hoffe ich, dass du bald aufwachst und erkennst, dass ich all das hier nicht sage, um dich zu ärgern, sondern weil du meine Schwester bist und mir dein Glück am Herzen liegt. Also hör mir jetzt bitte gut zu: Greg liebt dich nicht.“ Mit diesen Worten küsste er mich kurz auf die Stirn, maß mich mit einem letzten eindringlichen Blick und verschwand dann auf der Treppe, während ich wie vom Donner gerührt mitten in der Halle stand und ins Nichts starrte. Ich zitterte am ganzen Körper und mein Magen fühlte sich wund und übersäuert an. Meine Handflächen waren schwitzig und außerdem schlug mein Herz so laut und schnell, dass ich mir fast sicher war, dass es in der ganzen Halle zu hören war. Manuel irrte sich. Er hatte sich schon immer zu viele Sorgen um mich gemacht und war jetzt besonders vorschnell, weil er Greg bis aufs Blut hasste und die Möglichkeit nicht ertragen konnte, dass er mich womöglich ausgerechnet an ihn verlieren könnte. Die Liebe in Gregs Blick, seine Berührungen, seine Küsse – all das war echt gewesen. Mit aller Kraft klammerte ich mich an diesen Gedanken und verdrängte die Worte meines Bruders, während ich die Geschenke wieder aufsammelte und mich mit langsamen Schritten wieder in Bewegung setzte. Manuel irrte sich... ganz bestimmt irrte er sich – so musste es einfach sein. Kapitel 36: Johannes -------------------- Wie ein Fächer aus erlesener, dunkelbrauner Seide ergoss sich Mels langes, braunes Haar über das aufgeplusterte Kissen unter ihrem Kopf. Ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, während das fahle Mondlicht, das durch die nur halb zugezogenen Vorhänge fiel, filigrane Muster aus hellem Silber auf ihr Gesicht malte. Seufzend warf ich einen Blick auf die hell leuchtenden Ziffern ihres Radioweckers. Wenn ich mich nicht endlich auf den Weg machte, würde meine Mutter mir die Standpauke meines Lebens halten, weil ich viel zu spät zu Hause ankommen würde. Aber es war so verdammt schwierig, sich los zu reißen... Ganz, ganz vorsichtig strich ich Mel mit dem Fingerknöchel über die Konturen ihrer hohen Wangenknochen und ihrer Lippen, wobei sich ihre Mundwinkel unwillkürlich nach oben bogen. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass man tatsächlich im Schlaf lächeln konnte. Wann immer ich sie ansah – ihr glattes, ebenmäßiges Gesicht, ihre großen, forsch wirkenden Augen, den Schwung ihrer vollen Lippen, ihren zierlichen, schmalen Körperbau – bekam ich schreckliches Herzrasen und feuchte Hände. Mein Mund wurde augenblicklich staubtrocken und ich vergaß teilweise das Atmen. Doch obwohl all das für sich genommen eher unangenehme Reaktionen waren, fühlte ich mich jedes Mal unglaublich glücklich. Mit einem verträumten Lächeln musste ich an unseren ersten Kuss denken. Damals hatte ich sie mit einem flauen Gefühl im Magen nach Hause gebracht und war dabei so nervös gewesen, dass ich sie kaum hatte anschauen können. Ich war fest davon überzeugt gewesen, sofort einen Herzschlag zu bekommen, sobald mein Blick zu ihr gewandert wäre. Vor ihrer Haustür angekommen hatte ich schließlich wie ein begossener Pudel da gestanden – die Hände in den Hosentaschen, die Auge auf den gepflasterten Boden geheftet – und hatte keinen einzigen Ton raus bekommen. Während der drückenden Stille, die dadurch entstanden war, hätte ich mir am liebsten für meine Blödheit in den Hintern gebissen... Doch als Mel dann plötzlich einen Schritt auf mich zu gemacht und mein Gesicht in ihre Hände genommen hatte, waren plötzlich alle Zweifel und die Nervosität von mir abgefallen und ich hatte sie fest an mich gezogen, als sie mich geküsst hatte. Das Gefühl, ihre Lippen das erste Mal in meinem Leben auf meinen zu fühlen und zu schmecken, war so unbeschreiblich, dass mir auch jetzt, vier Wochen später, noch die Worte fehlten. Den Heimweg war ich damals wie auf Wolken gegangen und selbst am nächsten Tag hatte ich noch so sehr neben mir gestanden, dass Matthias schon nach wenigen Minuten wieder Augen rollend aus meinem Zimmer verschwunden war, als er mich nachmittags besucht hatte. Noch immer fühlte ich mich durch Mels Anwesenheit jedes Mal wie berauscht und ihre Nähe schien all meine Sinne zu schärfen. Ich hatte das Gefühl, dass ich besser hören und sehen konnte, sobald Mel einen Raum betrat. Außerdem schien ich durch sie so etwas wie einen sechsten Sinn zu entwickeln – wobei ich, streng genommen, vermutlich nur einen steinzeitlichen Beschützerinstinkt wiederentdeckte. Ich betrachtete noch immer ihr friedlich wirkendes Gesicht und hatte die Uhrzeit schon wieder fast vergessen. Am liebsten wäre ich die ganze Nacht geblieben, auch wenn ich einfach nur da gelegen und Mel im Arm gehalten hätte. Denn obwohl sie immer selbstsicherer wurde und inzwischen ihre Hände auch manchmal von sich aus auf eine kurze Erkundungstour über meinen Körper schickte, war an Sex momentan nicht zu denken. Aber das war okay. Wir waren noch jung und hatten noch so viel Zeit... Natürlich wünschte ich mir trotzdem jeden Tag, dass es passieren würde, doch ich wollte Mel zu nichts drängen. Deshalb würde ich warten, bis sie bereit war – irgendwann. Ein letztes Mal küsste ich sie zärtlich auf die Stirn, was sie zu einem leisen Geräusch verleitete, das irgendwo zwischen schläfrigem Knurren und wohligem Schnurren lag. Dann zog ich so langsam und vorsichtig wie möglich meinen Arm unter ihrem Kopf weg und setzte mich auf. Mel kuschelte sich sofort tiefer in ihr flauschiges Kissen und begann leise zu schnarchen. Grinsend tastete ich im Dunklen nach meinen Schuhen. Bevor ich sie jedoch fand, ertastete ich zunächst einen kleinen Stapel Bücher, eine von Mels getragenen Jeans, einen Plüschteddy und ein zusammengeknülltes Blatt Papier. So sehr ich auch in Mel verliebt sein mochte, ich kam nicht umhin, festzustellen, dass sie schrecklich unordentlich, ja schon regelrecht chaotisch war. Sie hatte vermutlich Glück, dass ich nicht so pedantisch war wie meine Mutter, die immer einen halben Anfall bekam, wenn sie die wild durcheinander geworfenen Zettel auf meinem Schreibtisch sah. Ich hatte eben meine eigene Form der Ordnung... Als ich meine rotschwarzkarierten Vans endlich gefunden hatte, streifte ich sie schnell über und schlich mich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer, wobei ich die Arme schützend nach vorn streckte und ab und zu stehen blieb, um angestrengt in die Dunkelheit zu blinzeln. So langsam fand ich mich trotz des Chaos’ auch ohne Licht in Mels Zimmer zurecht, aber ich hatte immer noch Angst, doch irgendeine Kleinigkeit auf dem saphirblauen Teppichboden zu übersehen und zu stolpern. Dabei machte ich mir weniger Gedanken darum, dass ich mir weh tun könnte, als viel mehr um Mels ungestörten Schlaf. Im Türrahmen drehte ich mich noch einmal um und warf einen Blick auf meine Freundin, von der nur ihr helles Gesicht und ein bleicher Arm, der auf der Decke lag, zu erkennen waren. Das Mondlicht entzog ihrer Haut sämtliche Farbe und ließ sie beinah knöchern wirken. Dennoch hatte ich noch nie etwas derart Schönes gesehen. Kopfschüttelnd und innerlich grinsend wandte ich mich ab und schloss geräuschlos die Tür. Es war schon verrückt, was die Liebe mit einem machte – schließlich war ich plötzlich fähig, derart schnulzige Gedanken zu haben, ohne das Bedürfnis zu verspüren, mich zu übergeben. Sie fühlten sich nicht einmal mehr übertrieben an, sondern einfach nur richtig. Im Flur begegnete ich Mels Vater, der gerade von seiner Schicht im Krankenhaus nach Hause kam und sein Schlüsselbund mit einem lauten Klirren auf einen bronzenen Teller warf, der auf dem geschlossenen Schuhschrank neben der Haustür stand. Als Greg damals erzählt hatte, sein Vater sei Chefarzt auf einer Station des hiesigen Krankenhauses, hatte ich ihn schrecklich beneidet. Arzt, das klang nach Unmengen an Geld, tollen Urlauben, dicken Autos und High-Society-Partys. Doch heute fragte ich mich, ob das wirklich so toll war. Auf den Schultern von Dr. Paul Klare lastete stets eine große Verantwortung und er war sehr oft immens eingespannt in seinen Beruf. Meistens verbrachte er mehr Zeit im Krankenhaus als mit seiner Familie. Unwillkürlich drängte sich mir der Gedanke auf, dass Greg vielleicht nicht so heftig auf die Entdeckung seiner Adoption reagiert hätte, wäre sein Vater öfter zu Hause gewesen. Von Mel wusste ich, dass dieser seit jeher Gregs Bezugsperson gewesen war, während zwischen Mutter und Sohn schon seit langem ein eher schwieriges Verhältnis bestanden hatte. Als Herr Klare mich bemerkte, wandte er sich sofort zu mir um und lächelte. Seine Haut hatte einen leichten Graustich und er wirkte unglaublich müde. „Hallo He– Paul.“, berichtigte ich mich schnell. Mels Vater hatte mich sofort mit offenen Armen empfangen und mir gleich das Du angeboten. Ich konnte mich zwar noch immer nicht so richtig daran gewöhnen, einen mehr oder weniger fremden Erwachsenen mit Vornamen anzusprechen, doch ich war ihm dankbar für die Offenherzigkeit, die er mir entgegen brachte. Seine Frau verhielt sich wesentlich zurückhaltender, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass sie irgendwie erleichtert war. Wann immer sie mich sah, grinste sie zu mir herüber und ihr Blick bekam einen erfreuten Glanz, der mich ganz verlegen machte. Anscheinend hatte sie mit einer wesentlich ausgefalleneren Wahl ihrer Tochter gerechnet. „Hi Johannes. Na, schleichst du dich heimlich aus dem Haus?“ Obwohl Herr Klare einen leichten, lockeren Ton anschlug, lächelten seine Augen nicht mit. Stattdessen blieb ein trüber Schleier, der Paul älter erscheinen ließ als er vermutlich war. Ich fragte mich, ob es vielleicht einen Toten im Krankenhaus gegeben hatte, erinnerte mich jedoch dann daran, dass sein Blick seit ich ihn kannte immer ein wenig verhangen gewirkt hatte. Eine Beobachtung, die ich heute sogar Mel mitgeteilt hatte. Ihre Miene hatte sich daraufhin schlagartig verdüstert und sie hatte mit bedrohlich zitternder Stimme erklärt, ihr Vater litte sehr stark unter Gregs Abwesenheit. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb er mich gleich so begeistert in seine Familie aufgenommen hatte – als eine Art Ersatzsohn. Ich nickte und grinste ein wenig, als ich erklärte: „Ja. Mel ist eingepennt. Mal wieder.“ Es war tatsächlich nicht das erste Mal gewesen, dass Mel in meinen Armen eingeschlafen war und ich es wie immer nicht übers Herz gebracht hatte, sie zu wecken. Paul nickte, wobei er allerdings schon wieder ein wenig geistesabwesend wirkte. „Es ist ja auch schon spät.“ Dann machte er eine kleine Pause und holte tief Luft, bevor er fragte: „Mel hat nicht zufällig etwas davon erwähnt, dass ihr Bruder geschrieben hätte, oder?“ Stumm schüttelte ich mit dem Kopf und heftete meinen Blick auf die hellen Bodenfliesen. Ich brachte es einfach nicht fertig, meinem Gegenüber in diesem Moment in die Augen zu schauen. Paul seufzte laut auf und rieb sich über die müden Augen. „Wir haben seit kurz vor Weihnachten nichts mehr von ihm gehört, weißt du? Langsam mache ich mir Sorgen. Ich hoffe, es geht dem Jungen gut.“ „Das... das tut mir leid.“, stammelte ich verlegen. „Aber wenn irgendwas passiert wäre, wärt ihr bestimmt schon informiert worden. Wahrscheinlich ist Greg einfach nur im Freizeitstress.“ Obwohl Mels Vater sich Mühe gab, es zu verstecken, konnte man seinem Blick trotzdem eine Mischung aus Enttäuschung, Angst und dem Gefühl von Ohmacht ansehen. Für einen kurzen Moment befürchtete ich, er könnte mit so etwas resigniertem wie „Das hoffe ich.“ antworten, doch stattdessen sagte er nur: „Ja, da hast du sicher recht.“ Trotzdem wollte ich plötzlich ganz schnell nach Hause. Ich verabschiedete mich hastig, wünschte Paul eine gute Nacht und stürzte dann aus dem Haus. Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert auf. Ich liebte Mel von ganzem Herzen und hatte ihre Eltern – ganz besonders ihren Vater – wirklich gern, doch die Atmosphäre, die jedes Mal aufkam, wenn Greg erwähnt wurde, war nur schwer zu ertragen. Dann schien die Luft dicker und heißer zu werden, was das Atmen beinah unmöglich machte, und man hatte das Gefühl, kleine, glühende Blitze würden umher zucken, die sich jeder Zeit entzünden und zu einer Explosion führen konnten. Gregs Abwesenheit hing wie ein Damoklesschwert über dieser Familie und ich hasste meinen ehemaligen Freund fast dafür, dass er die Macht hatte, diese wundervollen Menschen zu zerstören. Ich wollte mir nicht einmal ausmalen, wie Paul oder Mel reagieren würden, würde Greg sich vollends von ihnen abwenden und verkünden, dass er nie mehr nach Hause zurückkommen würde. Frau Klare schien besser mit der Situation zurechtzukommen, doch die anderen Beiden erweckten den Eindruck, dass sie all ihre verbliebene Kraft aus dieser einen Hoffnung zogen, dass Greg bald seinen Groll überwinden würde. Während ich mit schnellen Schritten durch die klirrendkalte Luft hetzte, um doch noch einigermaßen pünktlich wieder daheim zu sein, versprach ich mir selbst, dass ich alles Menschenmögliche tun würde, um Mel aufzufangen, sollte ihr Bruder je beschließen, die Brücken zu seiner Vergangenheit und damit den Kontakt zu seiner Familie abzubrechen. Sollte er doch gehen, ich würde immer für Mel da sein. Wirklich immer. Kapitel 37: Gregor ------------------ Tschirp, tschirp… Obwohl das Fenster am anderen Ende meines Zimmers geschlossen war, konnte man das fröhliche Lied des kleinen Spatzen, der auf der äußeren Fensterbank saß und aus Leibeskräften die leicht dissonant klingenden Töne in die Welt hinaus schmetterte, deutlich hören. Ich liebte diese Tage, an denen der Winter langsam den Rückzug antritt, die Sonne als hell leuchtender Ball am stahlblauen Himmel steht, die Pflanzen ihre ersten, zarten Triebe recken und die Tiere ihre Lebensgeister wieder erwecken. Frühlingsanfang hatte jedes Jahr etwas von Neubeginn, Wiedergeburt und wild pulsierender Kraft. Am liebsten hätte ich an solchen Tagen jedes Mal auf einem kleinen Berg in der Sonne gestanden, den Wind auf der Haut gespürt und tief, tief durchgeatmet. Ich konnte mir einfach nichts vorstellen, das sich belebender und befreiender angefühlt hätte. Doch heute konnte ich mich an dem langsam erwachenden Frühling einfach nicht erfreuen. Wie Feuer brannte das schlechte Gewissen in meinem Magen und mein Puls raste, obwohl ich mir angestrengt einzureden versuchte, dass alles okay war. Als ich es nicht mehr aushielt, ließ ich mein Buch sinken und lugte ein wenig ängstlich über den Rand hinweg. Vroni saß am Fußende meines Bettes und starrte mit einem dermaßen eisigen Blick zu mir herüber, dass ich das Gefühl hatte, mein Blut müsste mir augenblicklich in den Adern gefrieren. „Alles okay?“ Überrascht stellte ich fest, dass meine Stimme fester und sicherer klang, als ich mich fühlte. Die Härte in Vronis Augen ließ meinen Puls in die Höhe schnellen und schnürte mir die Lungen ab. „Alles bestens.“ Vronis Ton war genauso kalt wie ihr Blick und so schneidend, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn ich auf einmal geblutet hätte. Seufzend legte ich das Buch zur Seite und zog die Beine an. Mit einem dicken Klos im Hals betrachtete ich Vronis wie versteinert wirkenden Züge. So wie sie mich ansah, wirkte sie wie eine antikgriechische Rachegöttin – strahlend schön und grausam. Als ich ihrem eisig brennenden Blick nicht mehr standhalten konnte, begutachtete ich meine Jeans. Auf Höhe der Knie war der Stoff auf den Innenseiten bedrohlich dünn und würde sicher bald Risse bekommen. Vroni räusperte sich geräuschvoll, doch ich sah dennoch nicht auf. Ich wusste ja, weshalb sie so sauer war, und konnte der Anklage in ihren Augen einfach nichts entgegen setzen. Vor etwa einer Viertelstunde war ich zum gefühlten tausendsten Mal einem ihrer Annäherungsversuche ausgewichen und hatte Vroni wieder mal zurückgewiesen. Ich küsste und berührte sie wirklich gerne, doch wann immer sie ihre Hand in Richtung meines Genitals gleiten ließ, erstarrte ich unwillkürlich und ich konnte nicht anders als mich sofort zurück zu ziehen. Vorsichtig warf ich einen schnellen Blick in ihre Augen, nur um dann wieder auf meine Beine zu starren. Unter der gefrorenen Kruste aus Wut lagen Enttäuschung, Schmerz und Selbstzweifel in dem baumrindenartigen Braun ihrer Iris. Betreten sammelte ich imaginäre Fusseln von meiner Hose und versuchte durch heftiges Schlucken, das bittere Brennen des schlechten Gewissens aus meinem Mund zu vertreiben. Es war ja nicht so, dass ich Vroni unattraktiv fand und nicht mit ihr schlafen wollte, ich fühlte mich einfach noch nicht dazu bereit. Ich wusste, dass ich mit ihr darüber hätte reden müssen. Doch was hätte ich sagen sollen? „Tut mir leid, dass ich leider keinen Sex mit dir habe, aber ich hab Angst davor, weil ich mir nicht sicher bin, dass ich dabei nicht womöglich permanent an meine Schwester denken muss.“? Wohl kaum. Das Einzige, was ich heraus bekam, war ein schwaches „Sorry.“. Vroni stieß ein trockenes, verbittertes Lachen aus. „Ja, klar.“ Dann machte sie ein knurrendes Geräusch, das wie ein unterdrückter Schluchzer klang. Doch als ich ihr einen besorgten Blick zu warf, war ich Gesicht bereits wieder die starre, kalte Maske von vorher. „Wann willst du mir eigentlich endlich sagen, dass du mich nicht liebst?“ Ruckartig riss ich den Kopf hoch und starrte sie aus großen Augen an. „Bitte?!“ Vronis Miene blieb vollkommen regungslos und unbewegt, während sie erklärte: „Du musst dir keine Mühe geben. Ich hab’s inzwischen eingesehen. Vermutlich hast du irgendwann bemerkt, wie ich dich immer angesehen habe und hast dir dann zusammen gereimt, dass ich mich in dich verliebt hatte. Ich bin dir ja sogar irgendwo dankbar, dass du zumindest versucht hast, mich glücklich zu machen. Aber ich will nicht, dass du dich länger meinetwegen zu irgendwas zwingst. Du musst nicht mit mir schlafen – du musst mich nicht einmal mehr küssen, denn ich beende diese Farce jetzt. Ich will keinen Freund, der nichts für mich empfindet.“ Mit diesen Worten rutschte sie vom Bett und strebte Richtung Tür, während ich noch immer starr vor den Trümmern meines Lebens stand, zu fassungslos, um auch nur einen Ton heraus zu bekommen. Wieder einmal blitzte Mels Gesicht vor meinem geistigen Auge auf, doch dieses Mal grinste sie mich hämisch und triumphierend an. Am liebsten hätte ich laut geschrieen. Diese Gefühle für meine Schwester waren wie eine schwere, dunstige Giftwolke, die durch alle Ritzen und Dichtungen sickerte und einfach alles kaputt machte, an das ich mein Herz hängte. Ich hatte durch sie meine Familie verloren, mein Zuhause und jetzt anscheinend auch noch das einzige Mädchen neben Mel, das mein Innerstes berührte. Vroni zögerte kurz vor der Türschwelle und ich ballte verzweifelt die Hände zu Fäusten, bis meine Knöchel weiß hervor stachen und sich meine Nägel in die Haut gruben. Nein, ich würde nicht jetzt nicht weinen und ich würde jetzt auch nicht aufgeben, auch wenn ich vielleicht meine einzige Möglichkeit auf ein einigermaßen glückliches Leben verspielt hatte. „Trag es wie ein Mann!“, bläute ich mir selbst ein. „Versuch alles – bis zum bitteren Ende. Kämpf!“ „Aber das alles hat doch gar nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun.“, presste ich endlich hervor, als Vroni schon dabei war, die Tür hinter sich ins Schloss zu ziehen. Überrascht hielt sie inne und wandte sich langsam zu mir um. „Womit dann?“ „Mit... mit mir.“, stammelte ich zögerlich, wobei ich das Gefühl hatte, das Herz schlüge mir bis zum Hals. Zweifelnd kam Vroni wieder auf mich zu und setzte sich mit einem wenig überzeugt wirkenden Gesichtsausdruck auf meine Bettkante. Schnell griff ich nach ihrer wie immer leicht kühlen Hand und verschränkte meine Finger mit ihren, während ich mit den Augen ihren Blick suchte. Anders als von mir befürchtet, zog sie sich nicht zurück, sondern hob nur überrascht die Augenbraunen. Für einige Minuten schwiegen wir Beide, da wir nicht wussten, was wir hätten sagen sollen, doch dann setzte Vroni zaghaft an: „Mit wie vielen Mädchen warst du eigentlich schon zusammen?“ Ich blinzelte sie irritiert an und zuckte dann unwohl mit den Schultern. „Wie meinst du das ‚zusammen’?“ Sie rollte übertrieben theatralisch mit den Augen. „Na, zusammen halt. Intim.“ Sofort schoss mir das Blut in die Wangen und meine Haut flammte in einem eindrucksvollen Dunkelrot auf. Sollte ich einfach lügen? Nach kurzem Ringen entschied ich mich dann doch lieber für die Wahrheit – Vroni würde sie ja sowieso früher oder später herausfinden. „Mit noch gar keinem.“ Vroni riss die Augen auf und starrte mich mit so grenzenlosem Unglauben an, dass ich mich noch mehr schämte und am liebsten im Boden versunken wäre. Ja, ich war eine achtzehnjährige, männliche Jungfrau. Na und?! Trotzig presste ich meine fast vollständig verheilten Lippen aufeinander und hielt ihrem Blick eisern stand. „Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?“, brachte sie schließlich heraus, wobei ihre Stimme klang als wüsste sie nicht, ob sie wütend sein oder lauthals lachen sollte. „Nein.“ Zu mehr als einem kurzen Schnappen war ich vor lauter Scham nicht in der Lage. Warum war mir meine Jungfräulichkeit plötzlich so peinlich? Schon früher hatten meine Freunde darüber Witze gerissen, doch denen hatte ich stets mit geradezu stoischer Ruhe begegnen können. „Bist du... Bist du eigentlich schwul und ich bin dein Versuchskaninchen, ob auch was bei Frauen läuft?“ Noch immer hörte Vroni sich vollkommen verwirrt an. Perplex sah ich ihr in die nun verletzlich wirkenden Augen und brach dann in lautes Gelächter aus. Schwul? Wenn es doch so einfach gewesen wäre! „Nein, bin ich nicht. Männer und Jungs sind mir vollkommen egal.“ „Aber... aber... Warum dann? Ich versteh das einfach nicht. Ich meine, sei ehrlich, du siehst blendend aus und bist auch nicht auf den Kopf gefallen. Eigentlich müssten die Mädchen bei dir Schlange gestanden haben.“ Nachdenklich wiegte ich den Kopf hin und her, während das Kompliment einfach an mir abprallte wie ein Tennisball von einer Backsteinmauer. Ich hatte mir nie viel aus meiner Attraktivität gemacht. „Na ja, mag schon sein.“, gab ich zu. „Aber ich hab mich einfach sehr lange nicht für Mädchen interessiert. Meine Eltern haben sich deswegen sogar schon Sorgen um mich gemacht, glaub ich. Zumindest hat mein Vater eine Zeit lang immer wieder Andeutungen gemacht, dass er mich auch dann lieben würde, wenn ich schwul wäre, während meine Mutter immer halb erstarrt ist, wenn ich einen meiner Kumpels umarmt habe... Ich hab mich aber, wie gesagt, auch nie für Jungs interessiert – jedenfalls nicht auf diese Weise. Befreundet war ich natürlich mit einigen, aber ich hatte auch immer weibliche Freunde. Das war bei mir von jeher ziemlich ausgeglichen.“ Grübelnd strich Vroni sich mit der freien Hand ein paar dunkle Strähnen aus dem Gesicht. Heute hatte sie zur Abwechslung mal kein Gel in den Haaren und ließ sie stattdessen weich und locker fallen. „Und wann hat sich das geändert? Also, dass du dich nicht für Mädchen interessiert hast, meine ich.“ Sanft drückte ich ihre Hand und wartete darauf, dass sie mir in die Augen sah, bevor ich antwortete: „Letztes Jahr.“ „Oh.“ Zarte Schamesröte ließ ihre Wangen rosig leuchten. Ich lächelte sie strahlend an, doch ich hatte plötzlich das Gefühl, mein Innerstes bestünde aus einer verwesten Masse aus modrigem Holz und öligschwarzem Schleim. Ich fühlte mich wie ein Verräter, obwohl ich die Wahrheit gesagt hatte. Ich interessierte mich tatsächlich erst seit dem letzten Jahr für Frauen. „Du... du meinst...?“ Vronis Stimme zitterte bedenklich und brach schließlich weg. Ich strich ihr lächelnd mit dem Fingerknöchel über die Wange. „Wollen wir diesen blöden Streit nicht einfach vergessen?“ Für einen kurzen Moment sah Vroni mich noch zweifelnd an, doch dann warf sie sich in meine Arme und begann sich küssend einen Weg von meinem Hals hinauf zu meinen Lippen zu bahnen. Ich atmete einmal tief durch und versuchte, die düstren Gedanken zu vertreiben, was mir jedoch nicht gelang. Es ließ sich einfach nicht leugnen: Dadurch, dass ich Vroni nicht darin berichtigte, dass sie glaubte, sie sei der Grund für mein plötzliches Interesse an Frauen, war ich im Grunde nicht besser als ein widerlicher, feiger Lügner. Nein, eigentlich war ich sogar noch schlimmer. Ich hatte gewusst, dass sie eine solche Aussage auf sich beziehen würde, und hatte meine Antwort dennoch so formuliert. Ich hatte die Wahrheit schändlich missbraucht und zu einer Lüge verbogen. Wieder tauchte das Bild einer gehässig grinsenden Mel hinter meinen geschlossenen Lidern auf und mir fiel ein Spruch ein, den ich vor etwas längerer Zeit einmal gelesen hatte: Die Liebe macht die Liebenden zu Lügnern. Wie wahr... Kapitel 38: Veronica -------------------- Gregs Hände glitten sanft über mein Gesicht. Überall, wo seine Finger über meine Haut strichen, richteten sich meine feinen, unsichtbaren Härchen auf und die elektrischen Impulse, die durch meinen Körper zuckten, knisterten beinah hörbar. Wohlig seufzend presste ich mich noch fester an ihn und vergrub meine Finger in seinem seidigweichen Haar. Er lächelte und mein Blick blieb an seinen samtigen Lippen hängen. Seit ein paar Wochen wirkte Greg ruhiger, zentrierter und ausgeglichener, was auch zur Folge hatte, dass er sich immer seltener die Unterlippe aufbiss. Inzwischen waren die unzähligen kleinen Wunden fast vollständig verheilt. Als er bemerkte, dass ich seinen Mund fixierte, grinste er noch breiter und küsste mich zärtlich. Dabei zeigte er wie immer seine kleine, unbewusste Angewohnheit aufzuseufzen, so als wäre er erleichtert. Sein heißer Atem auf meiner Zunge ließ mich ein wenig schwindelig werden. Trotzdem warf ich mich mit aller Kraft in diesen Kuss und schmiegte meinen Körper eng an seinen. Gregs Mundwinkel verschoben sich noch ein wenig weiter nach oben und er ließ mir seine Hände sachte über Schultern und Hals gleiten. Ich spürte deutlich wie das drängende Ziehen und Kribbeln in meinem Unterleib immer intensiver wurde, bis es kaum noch auszuhalten war. So schön es auch sein mochte, mit Greg auf einem Bett zu sitzen und leidenschaftlich zu küssen, ich war dieses Stadium langsam leid. Ich wollte mehr von ihm als nur unschuldiges Händchenhalten... Als seine Hände wieder an meinen Kieferknochen angekommen waren, wandte ich den Kopf ein wenig und erwischte seinen Daumen mit den Zähnen. Sofort zog ich ihn ganz in den Mund und saugte sacht, während ich einen schelmischen Seitenblick zu Greg herauf warf. In seinen leuchtenden Augen stand pure Überraschung, doch dann machte sich ein erfreutes Glitzern in ihnen breit. Wäre ich nicht schon rettungslos in ihn verliebt gewesen, hätte ich mich spätestens jetzt vollkommen in diesem Funkeln verloren. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass dieser unglaubliche Junge etwas mit mir zu tun haben wollte – besser noch: etwas für mich empfand. Die bitteren Worte, Greg würde mir etwas vormachen, hatte ich inzwischen fast vollkommen verdrängt, auch wenn sie immer wieder hervorbrachen wie ein Vulkan oder Geysir. Ein Teil von mir glaubte immer noch daran, dass ich träumte. Vermutlich würde ich bald aufwachen und feststellen, dass Greg nie anders als in meiner Phantasie existiert hatte. Doch so lange ich noch tief im Land der Träume war, wollte ich auch möglichst viel davon haben. Vorsichtig löste ich meine in Gregs Nacken verschränkten Hände und ließ sie ganz, ganz langsam an seinem Oberkörper entlang nach unten gleiten. Anfangs lehnte er sich noch mir entgegen, so als könnte er den Druck meiner Berührung nicht fest genug auf seinem Brustkorb spüren. Doch als ich etwa auf Höhe seines Bauchnabels angekommen war, verspannten sich seine Muskeln plötzlich und Greg begann, meinen Liebkosungen auszuweichen. Mit einem unendlich traurigen Gesichtsausdruck zog er seinen Daumen zwischen meinen Zähnen hervor und setzte mich dann sanft, aber bestimmt neben sich. Einen Moment lang sah er aus als wolle er etwas sagen, doch dann griff er auf seinen Nachtschrank und versteckte sich hinter einem dicken Wälzer über Alexander den Großen. Fassungslos starrte ich auf den blaugoldenen Buchrücken, während ein dicker Klos aus Entsetzen, Enttäuschung und bodenloser Wut mir die Kehle so zuschnürte, dass ich keinen einzigen Ton heraus bekam. Wie heiß glühende Kohlen rollten die Worte meines Bruders durch meine Ohren: „Greg liebt dich nicht.“ Warum hatte ich nicht einfach gleich auf ihn hören können? Es hatte doch auf der Hand gelegen! Ein liebestoller Vogel ließ sich auf der Fensterbank nieder und begann lauthals zu singen. Am liebsten hätte dem armen Tier den Hals umgedreht. Wie konnte es angesichts so einer Situation so unverschämt fröhlich sein?! Mit einem leise raschelnden Geräusch blätterte Greg um, wobei die Seite über seinen dünnen Pullover strich. Ich starrte ihn mit stummem Entsetzen an und versuchte, sein Verhalten irgendwie zu verstehen. Es war schlimm genug, dass er nicht mit mir schlafen wollte, doch auf diese Art einer Diskussion aus dem Weg zu gehen, war einfach grausam. Als hätte sich mein stechender Blick durch das Papier gebrannt, ließ Greg vorsichtig das Buch sinken und betrachtete mich beinah ängstlich. „Alles okay?“ Nur mit Mühe konnte ich verhindern, dass mir die Kinnlade herunter knallte. Sollte das vielleicht ein Scherz sein? „Alles bestens.“, fauchte ich zurück, während ich vergeblich um Fassung rang. Wie hatte ein wunderschöner Traum so schnell in solch ein Desaster umschlagen können? In Gregs Augen spiegelte sich eine Mischung aus Schmerz, Furcht und dem altbekannten Selbsthass, gepaart mit einer Spur Verachtung. Warum um alles in der Welt, sah er verletzt und ängstlich aus? Woher nahm er das Recht dazu? Wieder und wieder hörte ich Manuels ruhige, gleichmäßige Stimme, die mir in einem liebevollen Tonfall gesagt hatte, Greg würde mich nicht lieben. Obwohl ich immer gewusst hatte, dass er recht gehabt hatte, kamen die Worte erst jetzt wirklich bei mir an. Greg liebte mich nicht. Das hatte er nie getan und das würde er nie tun. Es war Zeit, endlich mit diesem Trauerspiel Schluss zu machen. Gerade als ich etwas sagen wollte, murmelte Greg: „Sorry.“ Diese Entschuldigung musste doch selbst in seinen eigenen Ohren lahm und halbherzig klingen. Hatte ich das hier wirklich verdient? Die ganzen zwölf Wochen, die seit unserem ersten Kuss vergangen waren, war ich immer für ihn da gewesen, hatte ständig zurück gesteckt und hatte stets versucht, ihm eine gute Freundin zu sein. Meiner Meinung nach wäre zumindest ein bisschen Respekt angebracht gewesen... Es war wirklich höchste Zeit, dass wir wieder getrennte Wege gingen – egal, wie weh dies auch tun mochte. Es gab einen guten Grund, warum Prinzen wie Greg in das Reich der Träume und Märchen gehörten. „Wann willst du mir eigentlich endlich sagen, dass du mich nicht liebst?“ Wenigstens darauf wollte ich eine Antwort haben. Doch anstatt erleichtert aufzuatmen, weil dieses Geheimnis endlich gelüftet war und er sich nicht mehr zu verstellen brauchte, starrte Greg mich geradezu entsetzt an. Ja, es konnte hart sein, wenn man fest an etwas glaubte – zum Beispiel daran, ein perfekter Schauspieler zu sein – und dann feststellen musste, dass die Realität ganz anders aussah. „Du musst dir keine Mühe geben.“ Ich wusste, dass meine Stimme eisig war und vor Gift sprühte, doch es war mir egal. Streng genommen fand ich, es war genau das, was Greg in diesem Moment verdiente. „Du musst nicht mit mir schlafen – du musst mich nicht einmal mehr küssen, denn ich beende diese Farce jetzt. Ich will keinen Freund, der nichts für mich empfindet.“ Ohne Greg noch einmal anzusehen, stand ich auf und schickte mich an, den Raum zu verlassen. Ich war wirklich stolz auf mich. Bis jetzt hatte ich es geschafft, die Fassung zu bewahren. Mit etwas Glück würde ich es noch bis auf mein Zimmer schaffen, bevor die ersten Tränen zu dem unvermeidlichen Dammbruch führen würden. Doch trotz meiner äußerlichen Ruhe sah es in mir ganz anders aus. Mein Herz schrie und schmerzte und ich hätte nichts lieber getan, als mich sofort wieder in Gregs Arme zu werfen. Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu: „Sei nicht so dumm und mach alles kaputt. Greg ist selbst dann noch besser als alle anderen Kerle dieser Welt, selbst wenn er nur so tut als ob.“ Rigoros biss ich die Zähne zusammen und drückte nach kurzem Zögern die Klinke herab. Ich würde über Greg hinweg kommen und dann wäre die Welt plötzlich wieder voller toller Männer. Ganz sicher. Ich war bereits auf dem Flur und wollte gerade die Tür hinter mir zuziehen, als Gregs leise Stimme mich zurück hielt: „Aber das alles hat doch gar nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun.“ Sein flüsternder Tonfall wirkte viel mehr als habe er mit sich selbst gesprochen als wirklich gewollt, dass ich ihn hörte. Irritiert blieb ich stehen. Obwohl ich ihm klar gesagt hatte, dass ich wusste, dass er mich nicht liebte, sprach er immer noch von seinen Gefühlen für mich? Also entweder hielt er mich für verdammt blöd oder ich irrte mich ganz schrecklich und war gerade dabei, das Beste, das mir je passiert war, gründlich zu ruinieren. Langsam wandte ich mich um und betrachtete den in sich zusammen gesunkenen Mann auf dem Bett. Mit den stark nach vorn gezogenen Schultern, dem hängenden Kopf und den ineinander verkrampften Händen wirkte er noch einsamer und verzweifelter als je zuvor. „Womit dann?“ Die Zweifel in meiner Stimme waren unüberhörbar. „Mit... mit mir.“, gab Greg nach kurzem Zögern zu. Obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte, ging ich mit kleinen, kurzen Schritten zurück zum Bett und setzte mich, so als hätte mein Körper selbstständig gehandelt. Fast panisch griff Greg nach meiner Hand und umklammerte sie, was mich überrascht die Augenbraunen heben ließ. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass er mich anfassen würde. Bisher hatte ich ihn eigentlich als einen Menschen erlebt, der sich nicht viel aus Berührungen machte. Nachdenklich betrachtete ich unsere verwobenen Finger und fragte mich, was er wohl damit gemeint haben könnte, sein Unwillen mir gegenüber hätte nichts mit mir zu tun. Es konnte doch nicht etwa... „Mit wie vielen Mädchen warst du eigentlich schon zusammen?“, versuchte ich meinen plötzlichen Verdacht zu entkräften. Plötzlich schien Greg sich unwohl zu fühlen und er ruderte mit den Schultern, so als wollte er irgendetwas Unangenehmes abschütteln. „Wie meinst du das ‚zusammen’?“ Genervt rollte ich mit den Augen. Sollte ich ihm das jetzt auch noch erklären? „Na, zusammen halt. Intim.“ Zu meiner Überraschung verwandelte sich sein hübsches Gesicht binnen weniger Sekunden in eine hochrote Bombe und seine Hand, die meine so fest umklammert hielt, begann leicht zu zittern. „Mit noch gar keinem.“ Ich hatte plötzlich das Gefühl, jemand hätte mit einem festen Ruck an dem Teppich gezogen, auf dem ich gestanden hatte. Hatte er gerade tatsächlich gesagt, dass er noch nie mit einem Mädchen geschlafen hatte? Verarschen konnte ich mich alleine... Doch irgendetwas in seinem bockig wirkenden Blick ließ mich zweifeln, ob er nicht vielleicht doch die Wahrheit sagte. „Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?“, fragte ich deswegen nach. Irgendwie kam ich mir lächerlich vor – schließlich war es doch offensichtlich, dass er das wollte. Jungs wie Greg kamen nur deswegen auf die Welt, um der Frauenwelt den Kopf zu verdrehen und dort gnadenlos zu wildern. „Nein.“ Langsam breitete sich die tiefe Röte auf seinem Gesicht noch weiter aus und er wirkte, als wünschte er sich ganz weit weg an einen anderen Ort. Ich blinzelte irritiert und fragte mich, was ich davon zu halten hatte, dass ihm diese Situation offenbar sehr peinlich war. „Bist du... Bist du eigentlich schwul und ich bin dein Versuchskaninchen, ob auch was bei Frauen läuft?“, stammelte ich, als ich endlich eine Idee hatte, weshalb er sich so überraschend anders verhielt als ich gedacht hätte. Jetzt war es an Greg mich überrascht und verwundert anzusehen. „Nein, bin ich nicht.“ Dabei klang seine Stimme mehr wie eine Frage, so als wäre er sich nicht sicher, ob ich ihn dies tatsächlich gefragt hatte. Doch als er fortfuhr, wurde sein Ton langsam wieder fester, was vermuten ließ, dass er mich nicht anlog. „Männer und Jungs sind mir vollkommen egal.“ Weshalb war er dann noch Jungfrau? Ich konnte mir weder vorstellen, dass er zu schüchtern gewesen wäre, noch dass er kein einziges Mädchen gefunden hatte, das ein bisschen Spaß mit ihm hätte haben wollen. Als mir keine mögliche Erklärung für dieses Phänomen einfiel, fragte ich: „Aber... aber... Warum dann? Ich versteh das einfach nicht. Ich meine, sei ehrlich, du siehst blendend aus und bist auch nicht auf den Kopf gefallen. Eigentlich müssten die Mädchen bei dir Schlange gestanden haben.“ Die Tatsache, dass ich ihm gerade indirekt gestanden hatte, wie umwerfend ich ihn fand, übersah ich geflissentlich. Hölle, ich wollte mit ihm schlafen – jetzt noch zu leugnen, dass ich ihn für übermäßig attraktiv hielt, wäre einfach albern gewesen. Greg wackelte ein wenig mit dem Kopf und schien nachzudenken. Überlegte er jetzt, ob er mir den Grund verraten wollte oder dachte er an die Heerscharen junger Frauen, die sich die Finger nach ihm geleckt hatten? Als er schließlich antwortete, sprach er langsam, so als erfordere es enorme Kraft von ihm, sich zu erinnern: „Na ja, mag schon sein. Aber ich hab mich einfach sehr lange nicht für Mädchen interessiert.“ Der Rest seiner Worte verschmolz in meinen Ohren zu einem gleichmäßigen Summen ohne Bedeutung. Er hatte sich nie für Mädchen interessiert und dann hatte es sich irgendwann geändert? Warum? Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Der optimistische Teil meiner selbst flüsterte mir zuckersüß ins Ohr, dass bestimmt ich der Grund gewesen war – schließlich war ich seine erste feste Freundin, oder etwa nicht? Doch der Pessimist in mir hielt dagegen: „Das ist doch Blödsinn. Vermutlich ist er irgendwann einmal Wonderwoman begegnet, so einer fürchterlichen Mrs. Perfect, die ihn dann aber hat abblitzen lassen. Daher kommt wahrscheinlich auch seine fürchterliche Autoaggression.“ „Ja, aber warum hat er dann aufgehört, sich die Lippe aufzubeißen, seit er mit mir zusammen ist?“, warf der verträumte Optimist ein. Um die beiden Stimmen endlich zum Schweigen zu bringen, fragte ich: „Und wann hat sich das geändert? Also, dass du dich nicht für Mädchen interessiert hast, meine ich.“ Genervt strich ich mir eine Strähne aus den Augen und wartete ungeduldig auf Gregs Antwort. Ich war so angespannt, dass ich fast nicht bemerkt hätte, dass er sanft meine Hand drückte. Überrascht von dieser liebevollen Geste sah ich auf und traf Gregs Blick, der mit einem warmen Funkeln auf mir ruhte. „Letztes Jahr.“ Meine Überraschung hätte nicht größer sein können, wenn mir jemand einen vollen Eimer eiskalten Wassers ins Gesicht geschüttet hätte. Mein Hirn arbeitete wie in Zeitlupe und verstand die Bedeutung von Gregs Worten nur langsam und schleppend. Tröpfchenweise plätscherte die Erkenntnis mir ins Bewusstsein und als ich endlich begriff, bekam ich nur ein gehauchtes „Oh.“ zustande. „Du... du meinst...?“ Ich konnte einfach nicht glauben, dass mir tatsächlich zu verstehen geben wollte, dass ich die Erste war, die sein Interesse geweckt hatte. Doch anstatt mir zu antworten, strich er mir zärtlich über die Wange und fragte: „Wollen wir diesen blöden Streit nicht einfach vergessen?“ Greg betrachtete mich lächelnd und sah mit seinen hell leuchtenden Augen, dem leicht gelockten, goldblonden Haar und den elegant geschwungenen Lippen mehr denn je wie ein Engel aus. Ich kam mir plötzlich schrecklich dumm vor, dass ich ihm je unterstellt hatte, mir seine Gefühle bloß vorzuspielen. Warum ließ ich mich von seiner strahlenden Schönheit so sehr einschüchtern und verunsichern? An ihm war dieses engelhafte Aussehen nicht bloß ein attraktives Äußeres, sondern Ausdruck seines wundervollen Inneren. Greg log und betrog nicht und wenn er sagte, dass er mich bei sich haben wollte, dann war das so – egal, ob ich es verstehen konnte oder nicht. Außerdem wollte ich ihm einfach glauben... Ich wollte so lange wie möglich an diesem Traum festhalten, egal ob es irgendwann vielleicht sehr weh tun würde. Mit den Tränen kämpfend warf ich mich in seinen Arm und begann stürmisch seinen Hals zu küssen. Ich konnte zwar nicht begreifen, dass er sich nicht für ein hübscheres oder feminineres Mädchen entschieden hatte, aber das spielte auch gar keine Rolle. Alles, was zählte, war, dass er hier bei mir war. Während ich meine Lippen langsam an seinem Kieferknochen entlang wandern ließ, schwor ich mir selbst, nie wieder so grausam zu ihm zu sein wie an diesem Tag. Ich würde ihn nie wieder drängen, mit mir zu schlafen, schließlich hatten wir noch genug Zeit, wenn er sich bereit dafür fühlte. Und wenn es endlich so weit wäre, dann würde es wunderbar werden. Das wusste ich genau. Und bis dahin würde ich warten und das genießen, was wir jetzt schon hatten: Spaß miteinander, Zusammenhalt, Liebe. Kapitel 39: Melanie ------------------- Lautes Bassgewummer drang aus dem Lautsprecher und ließ die ganze Box unter meinem Hintern vibrieren, während Matthias etwas lustlos auf seinem Musikinstrument herum schrabbelte. Adam saß am anderen Ende des Proberaums und spannte gerade eine neue Saite in seine Gibson ein, während Peter vor ihm kniete und kluge Tipps zu geben schien, die bei seinem Bandkollegen jedoch nur zu genervtem Augenrollen führten. Wartend warf ich einen kurzen Blick zur Tür, doch von Johannes war noch immer nichts zu sehen. Er war jetzt schon seit fast vierzig Minuten unterwegs, um Pizza für die ganze Mannschaft zu besorgen. Lächelnd richtete ich meinen Blick wieder auf die beiden Gitarristen. Inzwischen sah Adam aus als würde er Peter, der ihn breit und durchtrieben angrinste, seine Gitarre über den Kopf ziehen, wenn er nicht bald den Mund hielte. Es war wirklich erstaunlich: Obwohl ich mit Musik nie viel am Hut gehabt und eigentlich die Gesellschaft von Mädchen immer vorgezogen hatte, fühlte ich mich bei Jos Band wirklich wohl. Die Jungs waren ein Stück weit so etwas wie meine Zweitfamilie geworden und ich schien inzwischen auch für sie irgendwie dazu zu gehören – so als eine Art inaktives, sechstes Bandmitglied. Ich fragte mich, warum die anderen Jungs ihre Freundinnen nie zur Probe mitbrachten. Na ja, vielleicht hatten sie einfach noch keine Beziehungen, die fest und tief genug waren, um ihre Mädchen mit hierher zu nehmen, wo die Jungs sich so etwas wie ihre eigene Welt aufgebaut hatten. Jo hatte immerhin auch über drei Monate gebraucht, um mich in sein Heiligstes zu lassen. Alleine Adam hatte in den vergangenen fünf Monaten seit ich Johannes und „Deep Green“ kannte sechs verschiedene Freundinnen gehabt – darunter für einen Zeitraum von wenigen Wochen auch meine Finchen. „Na? Morgen startet die große Reise?“ Erschrocken zuckte ich zusammen und schaute zu Sam hoch, der es irgendwie geschafft hatte, sich vollkommen lautlos an mich heran zu schleichen. Oder war ich so in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich ihn einfach nicht gehört hatte? Vom Schreck noch etwas benommen nickte ich dumpf. „Ja, morgen früh um acht fährt der Bus.“ „Und wohin geht’s genau?“ Sam zog sich seinen zerschlissen aussehenden Schlagzeughocker heran und setzte sich neben mich. Irgendwie wirkte es ein wenig lächerlich wie er seine riesige Gestalt auf diesen winzigen Hocker zwängte. „Nach Malvern. Das liegt in Worcestershire, relativ in der Nähe der Grenze zu Wales.“ „Ah, ja, die berühmten Malvern Hills.“ Sam zog eine Grimasse, so als wäre er selbst bereits auf Klassenfahrt in der Gegend gewesen und hätte unzählige Stunden in der nebeligen Berglandschaft verbracht. Mit einem leichten Schaudern dachte ich an die auch für uns angekündigte Wanderung durch die Malvern Hills. Ich war nie ein großer Freund von langen Spaziergängen gewesen – schon gar nicht, wenn es regnete und nass war. Doch auf den geplanten Ausflug nach London freute ich mich schon sehr. „Und wie lange bleibt ihr?“ „Nicht sehr lange, nur sechs Tage. Also, am Samstagabend sind wir wieder hier.“ Bildete ich mir das ein oder hatte Sam gerade tatsächlich erleichtert aufgeatmet? Als er meinen verwirrten Blick bemerkte, grinste er breit. „Ich hatte mir schon vorgestellt, wie Jo als jammerndes Wrack auf dem Sofa hockt und in seinem Liebeskummer absäuft.“ Bei der Vorstellung musste ich unwillkürlich lachen, wurde aber schnell wieder ernst. „Du glaubst, das würde er tun, wenn ich mal länger weg wäre?“ Bevor Sam antworten konnte, schwang jedoch die Tür laut scheppernd auf und Jo kam herein. Auf seinen Armen balancierte er eine riesige Pizzaschachtel, von der ein aromatischwürziger Geruch ausging. Ich warf Sam einen eindringlichen Blick zu und raunte zu ihm herüber: „Du bist mir ’ne Antwort schuldig.“ Dann schwang ich mich auf die Füße und trabte zu Jo herüber, der langsam und vorsichtig den Pappkarton absetzte, so als wäre sein Inhalt kostbar und zerbrechlich. Kaum dass ich neben ihm stand, zog er mich fest in den Arm und strich mir liebevoll über den Rücken. Ich kuschelte mich an ihn und blendete für kurze Zeit die anderen Anwesenden einfach aus. Schon jetzt spürte ich deutlich, dass ich Jo während meiner Klassenfahrt schmerzlich vermissen würde. Konnte ich ihn vielleicht einfach in den Koffer stecken? Ich presste meine Nase gegen seine Halsbeuge und atmete tief ein, doch zu meinem Leidwesen roch er mehr nach Fett und Schnellimbiss als nach sich selbst. Hinter mir hatte sich inzwischen die ganze Band zusammen gefunden und die Jungs fielen wie ausgehungerte Raubtiere über die Pizza her. Es verblüffte mich regelrecht, dass man sie nicht knurren, bellen und schnappen hörte. Jo lachte bei dem Anblick leise in sich hinein, was mich durch die Vibrationen in seinem Brustkorb ein wenig durchschüttelte. „Ey, lasst mir auch was übrig!“, rief er mit drohend erhobenem Zeigefinger, ließ mich jedoch nicht los, um sich sein Stück zu sichern. Dankbar dafür schmiegte ich mich noch näher an ihn und genoss das Geräusch seines schlagenden Herzens unter meinem Ohr. Vor ein paar Wochen hatten wir das erste Mal miteinander geschlafen und seitdem fühlte ich mich ihm noch näher als vorher – auch körperlich. Es schien als könnte ich endlich die Intensität seiner Berührungen in vollem Umfang spüren und wann immer er mich umarmte, lehnte ich mich nun vollkommen automatisch und selbstverständlich gegen ihn. „Ah, seht euch mal die beiden Turteltäubchen an!“ Matthias zeigte mit fettigen Fingern, an denen ein bisschen Tomatensauce klebte, auf uns und grinste ein wenig fies. „Gut, dass das ab morgen erst mal vorbei ist.“, pflichtete auch Peter lachend bei, was mich überrascht die Augenbraunen in die Höhe ziehen ließ. Der blonde Gitarrist war eigentlich ein eher schüchterner Typ, der sich stets im Hintergrund hielt und nur selten von sich aus den Mund aufmachte. Kleine, fiese Sticheleien unter Freunden hatte ich ihm gar nicht zugetraut. Adam näherte sich von der Seite und klopfte Jo auf die Schulter. „Dann lassen wir erst mal die Sau raus. Nicht wahr, Alter?“ Jo grinste und nickte eifrig. „Klar. ’n paar Weiber aufreißen und so.“ „Genau!“ Glücklich strahlend ließ Adam sich auf das alte, ausgesessene Sofa in der Ecke fallen und zwinkerte mir lächelnd zu. Gerade als ich mich spielerisch beschweren wollte, dass die Jungs schrecklich gemein zu mir waren, schluckte Sam seinen letzten Bissen Pizza hinunter und murmelte mitleidig: „Tja, Mel, Arschkarte. Die Engländer sind ja nicht unbedingt für ihre grenzenlose Attraktivität bekannt.“ „Es sei denn, man steht auf Segelohren und rote Haare!“, grölte Matthias, doch niemand beachtete ihn. Ich streckte den Jungs die Zunge heraus und drehte den Oberkörper, um Jo zu küssen. Seine Augen leuchteten und glänzten mich warm an, während sich die stumme Versicherung in ihnen spiegelte, dass er niemals etwas mit einem anderen Mädchen anfangen würde. „Sei ganz beruhigt und genieß die Fahrt. Ich bin auch noch da, wenn du zurück bist.“, stand in dem funkelnden Braungrün. So paradox es auch war, freute ich mich plötzlich noch mehr auf die Klassenfahrt, weil sie bedeutete, dass ich zu Jo zurückkehren konnte. Kapitel 40: Gregor ------------------ „Ja, natürlich pass ich auf mich auf. Du aber auch auf dich, okay?“ „Sicher.“ „Gut. Und grüß Mel von mir. Wünsch ihr viel Spaß in England.“ „Warum machst du das nicht einfach selbst? Ruf sie doch –“ „Sorry, Paps, aber ich muss jetzt Schluss machen. Herr Friedrichs ist gerade rein gekommen. Mach’s gut.“ Mit diesen Worten beendete ich das Gespräch mit meinem Vater, bevor er auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatte, zu antworten. Paps war das einzige Familienmitglied, mit dem ich telefonierte seit ich hier im Internat war. Mel hatte ich in dem ganzen halben Jahr kein einziges Mal mehr gesprochen. Ich hatte immer befürchtet, dass der Klang ihrer weichen Stimme meine Wunden unnötig aufreißen und den Heilungsprozess verzögern könnte – so fern man bei der Überwindung von kranken Gefühlen überhaupt vom Heilen sprechen konnte. Das einzige Medium, über das ich Kontakt zu meiner Schwester hielt, waren die guten, alten, handschriftlich verfassten Briefe. Seit wir Beide in einer Beziehung lebten, hatten diese jedoch auch langsam, aber stetig abgenommen. Anfangs hatte meine Schwester mehrfach versucht, mich anzurufen, da ich jedoch nie abgehoben hatte, hatte sie es irgendwann aufgegeben. Mit meiner Mutter hatte ich in all den Monaten auch kein einziges Mal telefoniert. Ich hatte stets Bedenken gehabt, dass sie vielleicht am liebsten gar nichts mehr von mir hören wollte, und sie hatte nicht einmal den Versuch unternommen, mich zu erreichen. Vroni sah mich überrascht an und grinste schelmisch. „Du hast gerade deinen Vater belogen.“ Herr Friedrichs lag seit ein paar Tagen mit Sommergrippe im Bett, weshalb die ersten beiden Stunden ausfielen. „Stimmt. Hast du das früher nie getan?“ Ein dunkler Schatten huschte über ihr Gesicht und ich wünschte, ich hätte diese Frage nicht gestellt. Doch als sie antwortete, klang ihre Stimme ruhig und sicher wie immer: „Zeig mir einen Teenager, der seine Eltern nicht von Zeit zu Zeit beschummelt.“ Sie reckte sich, wobei sie einen kleinen Katzenbuckel machte und das bunte Licht, das durch die farbige Fensterscheibe fiel, witzige Muster auf ihr wirres Haar warf. Liebevoll strich ich ihr mit einem Finger über das vom Schlaf leicht zerknautscht wirkende Gesicht, was ein glückliches Lächeln auf ihre Lippen zauberte. Die letzte Nacht hatte sie bei mir verbracht, auch wenn wir uns in all der Zeit bis auf ein bisschen Gefummel noch nicht wirklich näher gekommen waren. Meine grenzenlose Zurückhaltung musste langsam stark an ihrer Geduld zehren und war sicher Wasser auf den Mühlen ihres Bruders, der noch immer versuchte, Vroni davon zu überzeugen, dass ich sie nicht liebte. Obwohl ein Teil von mir fast hoffte, dass sie ihn endlich erhören würde, zog sich mir allein bei dem Gedanken daran, dass ich sie verlieren könnte, der Magen zusammen. Selbst wenn unsere Freundschaft bestehen bliebe, täte es mir ehrlich weh, auf sie als Partnerin verzichten zu müssen. Der kleine, schwache, unscheinbare Gregor in mir, der nicht vollkommen verrückt nach Mel war, war schwer verliebt in Vroni. Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, zog ich sie in meine Arme und ließ meine Lippen an ihrem Hals entlang bis zu ihrem Ohrläppchen wandern. „Hab ich dir schon mal gesagt, dass du so verschlafen echt heiß aussiehst?“ Meine Stimme klang selbst im Flüsterton ein wenig belegt. Vroni kicherte verlegen und versuchte sich in meiner Umarmung so zu drehen, dass sie mir das Gesicht zuwandte. „Nein, hast du nicht. Aber vermutlich liegt das daran, dass du mich bisher nur geduscht und gestriegelt zu Gesicht bekommen hast.“ Mit einer liebevollen Geste strich sie mir ein paar Ponyfransen aus der Stirn und küsste mich sanft auf die Nase. „Und damit du dich nicht zu sehr an mein zerknautschtes Aufstehgesicht gewöhnst, spring ich jetzt direkt unter die Dusche. Also: Lass mich aufstehen.“ Schelmisch grinsend schüttelte ich den Kopf und blickte ihr tief in die Augen. Während ich mit Genugtuung registrierte, dass sie dies rot werden ließ, stellte ich fest, dass ich mich an diesem Morgen gar nicht so sehr anstrengen musste wie sonst, um mich auf den „Vroni-Teil“ meines Herzens zu konzentrieren. „Nein?“, fragte sie mit zitternder Stimme. „Nein.“ Mein Puls raste als wäre ich Hunderte Treppen hinauf gehastet und ich spürte, dass meine Augen vor Aufregung übermäßig leuchteten. Nervös befeuchtete Vroni ihre Lippen, was mir einen warmen Schauer durch den Körper rieseln ließ. „Was hast du vor?“ Ein heißes Ziehen hatte sich in meinen Lenden zusammen geballt und ich war allein von dem Gedanken, was alles geschehen konnte, so erregt, dass meine Hände heftig zitterten, als ich Vronis Gesicht zärtlich umfasste. „Komm her, dann zeig ich’s dir.“ Und dann passierte es einfach.... All die Zeit hatte ich befürchtet, Mel vor meinen Augen zu haben, wenn ich Vronis Drängen nachgeben und mit ihr schlafen würde, doch als ich diesen Schritt endlich wagte, war es ganz anders als erwartet. Mein Kopf war vollkommen leer und leicht. Ich wusste überhaupt nicht, an was beziehungsweise ob ich überhaupt an irgendetwas dachte, während ich Vronis seidenweiche Haut über meine strich und ich ihre Hitze überall um mich herum fühlte. Ich schien meinen Geist irgendwo auf dem Weg von den ersten drängenden Küssen bis hin zum hastigen Abstreifen der Kleidung verloren zu haben. Vielleicht beanspruchte aber auch die Verarbeitung der immer intimer werdenden Berührungen einfach so viel Platz in meinem Hirn, dass einfach kein Raum mehr für etwas anderes geblieben war. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, nur noch aus meinem Körper zu bestehen, der jedes sanfte Streicheln mit gesteigerter Intensität wahrnahm. Als es vorbei war, rollte ich mich laut keuchend von Vroni herunter, die sich sofort mit einem wohligen Schnurren an meine Seite kuschelte. Das Gefühl ihrer vollen, nackten Brüste auf meiner Haut ließ meinen Körper bereits jetzt schon wieder erbeben. „Na? War das jetzt so schlimm?“, neckte sie mich mit liebevoller, aber leicht atemloser Stimme, während sie mir mit der Hand über meinen flachen Bauch strich. „Nicht wirklich.“ Angesichts dieser Untertreibung konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es war wunderbar gewesen – anders als ich es mir immer vorgestellt hatte, aber schön. In meiner Phantasie hatte beim Sex immer eine erfüllende Einheit aus Körper und Geist bestanden und nicht die despotische Herrschaft des einen Teils. Doch ich konnte nicht leugnen, dass sich die Realität einfach umwerfend angefühlt hatte. Dicke Schweißtropfen rollten von meiner Stirn und brannten mir in den Augen, aber ich war trotzdem zufrieden und fühlte mich grandios. In diesem Augenblick hätte ich sicherlich ganze Bäume ausreißen können. Denn zusätzlich zu den körpereigenen Glückshormonen, die durch meine Adern rauschten, war ich unglaublich stolz auf mich, dass ich diesen Schritt hatte gehen können, ohne von Mel verfolgt zu werden. Wenn ich jetzt schon in der Lage dazu war, mit Vroni zu schlafen, ohne an meine Schwester denken zu müssen, dann würden die Beiden sicherlich eines Tages ihre Plätze in meinem Herzen tauschen. In diesem Moment war ich mir sicher, dass dieser Tag gar nicht mehr so weit entfernt war. Kapitel 41: Veronica -------------------- Vorsichtig warf ich einen Blick über die Schulter und blickte zu Greg herüber, der wie immer während der Ethikstunden in der hinterletzten Reihe lümmelte und nicht aufpasste. Dieses Mal starrte er jedoch nicht gelangweilt aus dem Fenster oder malte Muster auf ein leeres Blatt Papier. Heute hatte er einen Ellbogen auf den Tisch gestützt, sein Kinn in die Handfläche gelegt und seinen Blick auf den Rücken seines Vordermanns geheftet. Dabei lächelte er so verklärt, dass mein Herz vor Freude einen kleinen Hüpfer machte. Er wirkte beinah glücklich... Zwar lauerte der wehmütige Ausdruck, der ihn stets begleitete und ihm vermutlich nicht einmal bewusst war, noch immer wie ein Schatten hinter seinem verträumten Blick, doch ich war trotzdem unglaublich stolz auf Greg. Er hatte es endlich gewagt, seine Hemmungen beiseite zu schieben und sich fallen zu lassen. Als ich an die Ereignisse des heutigen Morgens dachte, machte sich sofort ein intensives Prickeln auf meinem gesamten Körper breit, so als könnte sich meine Haut an Gregs Berührungen erinnern. Nur mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, mich wohlig schnurrend unter diesem Schauer zu schütteln. Wieder warf ich einen Blick zu Greg herüber, der seine Position kein bisschen geändert hatte. Bislang hatte ich ihm nicht aus vollem Herzen glauben können, dass er vorher noch nie mit einem Mädchen zusammen gewesen war, doch er hatte sich teilweise so niedlich ungeschickt und nervös verhalten, dass meine Zweifel sich einfach in Wohlgefallen aufgelöst hatten. Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete unsere zierliche, ja geradezu winzige Ethiklehrerin. Frau Bonner saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Pult, wippte angespannt mit einem Fuß und schien sich gerade in Rage zu reden, doch ich hörte keinen Laut. Dafür war ich viel zu tief in meiner eigenen Gedankenwelt. Während Frau Bonner begann, ihre Worte nun auch noch mit Gesten zu unterstreichen, fragte ich mich, ob es ab jetzt leichter werden würde für Greg und mich. Bisher hatten wir unserem Glück so oft selbst im Weg gestanden, dass es schon beinah lächerlich war. Dabei waren wir Beide nichts anderes als zwei verletzte Seelen, die nicht glauben konnten, dass der jeweils andere es ernst meinte. Wie konnte Greg nur daran zweifeln, dass ihm die ganze Welt zu Füßen lag? Gedankenversunken knibbelte ich an dem knallgelben Lack meines Bleistifts. Ob seine Mutter daran schuld war? Aus dem Wenigen, das Greg von seinem Zuhause erzählt hatte, hatte ich entnehmen können, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn seit langem gespannt und von einer unterschwelligen, gegenseitigen Gereiztheit überschattet gewesen war, bis es schließlich nach irgendeiner ominösen Entdeckung in einem totalen Bruch geendet war. Fühlte Greg sich unzulänglich, weil er niemals die Mutterliebe bekommen hatte, die er sich gewünscht hätte? Wie so oft, wenn ich an seine Mutter dachte, kochte eine wilde Wut in mir hoch. Ich konnte einfach nicht begreifen, wie eine Mutter so grausam zu ihrem sensiblen, verletzlichen Kind sein konnte. Und Greg war über alle Maßen sensibel und verletzlich, fast schon empfindlich. Zwar war er auf der anderen Seite auch stark und unbeugsam, was ihn davor schützte, sich seinem Schmerz hinzugeben, doch jede unbedachte Bemerkung, jedes falsche Wort, jeder böse Blick blieb auf seiner Seele zurück wie die blutige Strieme eines Peitschenhiebes. Leider war er auch einfach nicht fähig, diese kleineren Wunden zu vergessen. Sie bildeten ein wildes Muster rund um sein Herz, wo sie verschorfen und verhärten würden, bis Greg irgendwann innerlich zu Stein erstarren würde. Dann würde er vermutlich niemanden mehr an sich heran lassen – schon jetzt war es teilweise sehr schwierig, ihn zu erreichen. Ich fragte mich, ob es einen Menschen gab, der wirklich immer zu Greg vordringen konnte. Sofort musste ich wieder an das Strahlen in seinen Augen denken, als ich Greg kurz vor Weihnachten den Brief seiner Schwester überreicht hatte. Noch heute spürte ich einen tiefen Stich irrationaler, aber nichtsdestotrotz realer Eifersucht. Was hätte ich nicht alles darum gegeben, damit er mich einmal so angesehen hätte?! Seufzend gestand ich mir ein, dass ich zwar vielleicht die Frau an seiner Seite war, aber sein Herz immer mit Melanie würde teilen müssen. Und auch wenn ich Greg am liebsten ganz für mich allein gehabt hätte, wusste ich doch, dass es normal war. Mein eigener Bruder hätte mich auch immer über eine mögliche Freundin gestellt und auch ich hätte es Greg niemals verziehen, wenn er je versucht hätte, den Kontakt zu meinem Bruder zu unterbinden – was er nie getan hatte, auch wenn die Beiden sich noch immer bis aufs Blut hassten. Melanie... Wieder einmal versuchte ich, mir ein Bild von ihr zu machen. Von allen Mitgliedern seiner Familie schien Greg sie am meisten zu lieben, dennoch sprach er so gut wie nie über sie, was mich manchmal ein wenig wahnsinnig machte. Aus irgendeinem, mir nicht mal selbst ganz klaren Grund wollte ich wissen, wie der Mensch war, den Greg so sehr zu vergöttern schien. Aber wann immer ich das Gespräch auf Melanie hatte lenken wollen, hatte Greg total abgeblockt und das Thema gewechselt – sogar heute Morgen, obwohl er so entspannt wie nie gewesen war. Langsam fragte ich mich, ob er ein Problem mit seiner Schwester hatte. Zum vermutlich tausendsten Mal mühte ich mich mit dem Versuch ab, Melanie ein Gesicht zu verpassen, was mir aber einfach nicht gelingen wollte. Irgendwie endete ich jedes Mal wieder bei Gregs Antlitz. Ob die Beiden sich überhaupt ähnlich sahen? Manuel und ich unterschieden uns in so ziemlich jeder erdenklichen Hinsicht, einzig und allein die Blässe unserer Lippen, der Verlauf unserer Kieferknochen und die Form unserer Augen verriet, dass wir Geschwister waren. Ein plötzlicher Gedanke ließ mich fast ein wenig zusammen zucken. Womöglich lag Gregs Unvermögen, zu erkennen, dass er alles haben konnte, was er wollte, gar nicht an seiner Mutter, sondern an seiner Schwester. Wenn sie ihm tatsächlich ähnlich sah... Ein Mädchen mit seinem goldenen Haar, seinem fast perfekt symmetrischen Gesicht und seinen feinen Zügen musste so umwerfend schön und bezaubernd sein, dass selbst Greg daneben in den Schatten getreten wäre. Hatte womöglich Melanie stets alles bekommen, während er leer ausgegangen war? Hatte er deswegen eine Art Hassliebe zu seiner Schwester entwickelt? Erneut warf ich einen kurzen Blick nach hinten, wo Greg inzwischen doch dazu übergegangen war, auf dem Deckblatt seines Blocks herum zu malen. Irgendwann würde ich ihm schon entlocken, was mit ihm und seiner Schwester los war. Ich würde nicht locker lassen, bis ich die Wahrheit kannte, schließlich liebte ich diesen Mann. Was immer er für Probleme mit sich herum schleppte, zukünftig würde ich ihm tragen helfen. Kapitel 42: Melanie ------------------- Die dreckige Fensterscheibe vibrierte beinah schmerzhaft unter meinem Wangenknochen, während ich mir die Nase an dem dicken Glas platt drückte. Der Verkehr um unseren Reisebus herum floss nur zähflüssig dahin und ich hatte das Gefühl, vor Nervosität fast zu platzen. Heute stand endlich unser Besuch in der englischen Hauptstadt an, bevor wir uns am Abend auf den Rückweg nach Deutschland machen würden. Die ganze vergangene Woche hatte ich mich auf diesen Tag gefreut und nun schien es überhaupt nicht mehr vorwärts zu gehen... Genervt presste ich mich noch näher ans Fenster, in der Hoffnung, wenigstens eines der berühmten, schwarzen Londoner Taxen oder eine knallrote Telefonzelle zu erspähen. „Wenn du so weiter machst, hast du hinterher ’ne Schweinenase.“, zog Finchen mich grinsend auf. Sie räkelte sich lasziv auf dem Platz neben mir und flirtete halbherzig mit dem armen Teufel, der das Pech gehabt hatte, Referendar in unserer Klasse zu werden. Der bemitleidenswerte, junge Mann hatte sichtlich Schwierigkeiten, Finchen zu ignorieren. Langsam ließ ich mich wieder gegen die Rückenlehne sinken und zog eine Schmolllippe. „Na und?“, patzte ich meine beste Freundin an. „Ich will wenigstens ein bisschen von London sehen, bevor wir wieder weg müssen.“ Finchen rollte übertrieben mit den Augen und seufzte. „Jetzt reg dich mal wieder ab. Wir sind doch fast da und haben noch immer fast volle fünf Stunden Aufenthalt – länger wäre eh sinnlos. Nach spätestens drei Stunden jammerst du doch sowieso, dass dir die Füße wehtun.“ Ich streckte ihr die Zunge heraus und wandte mich wieder dem Fenster zu. Natürlich hatte Finchen recht: Wir hatten mehr als genug Zeit in London, doch ich war trotzdem unnatürlich hibbelig. Vielleicht lag das aber auch einfach an der Vorfreude, dass es bald wieder zurück nach Hause ging. Möglicherweise war Greg ja während meiner Klassenfahrt wieder zurück nach Hause gekommen? Resigniert seufzend ließ ich die Schultern hängen. Nein, mein Bruder war bestimmt nicht heimgekehrt. Langsam gab ich die Hoffnung auf, dass er es je tun würde. Aber dafür würde ich bald meinen Freund wieder in die Arme nehmen können. Mit einem verklärten Lächeln drehte ich an dem klobigen Silberring, den Jo mir vor meiner Abreise überreicht hatte, damit ich neben einem von ihm getragenen T-Shirt auch noch etwas von ihm dabei hatte, dass ich tagsüber tragen konnte. Der Ring bestand aus einem einfachen Streifen Sterlingssilber, das zu den Rändern hin immer dunkler wurde und hatte schon einige tiefe Kratzer und leichtere Schrammen abbekommen. Normalerweise trug Jo ihn auf seinem linken Zeigefinger. Ich hatte ihn mir auf den rechten Daumen gesteckt, musste aber trotzdem permanent aufpassen, damit ich den Ring nicht verlor. Endlich bogen wir auf einen großen Parkplatz ein und unser Bus kam mit ächzenden Bremsen zum Stehen. Sofort riss ich meinen Rucksack, der bislang unter meinem Sitz gelegen hatte, hervor und zog in Windeseile meine knallrote Regenjacke an. Finchen kicherte neben mir und schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Als wir wenig später wie eine Horde eifriger Ameisen auf den schlecht asphaltierten Platz strömten, brach zu meiner Überraschung die Sonne aus der grauen Wolkenmasse hervor und der Nieselregen wurde deutlich schwächer, bis er nur noch ein feiner Nebel aus winzigen Wassertröpfchen war. Herr Kaiser, unser Englischlehrer, erläuterte mit knappen Sätzen das Tagesprogramm und bläute uns den Namen der nächstgelegenen U-Bahnstation ein, damit wir auch alle nach der frei zur Verfügung stehenden Zeit am Nachmittag wieder hierher zurück finden würden. Dann nickte er uns zu und wir machten uns endlich auf den Weg Richtung Big Ben. Viele Sehenswürdigkeiten, unzählige Kilometer und einen Aufenthalt an einem „Fish’n’Chips“-Stand später fanden Finchen und ich uns auf dem Piccadilly Circus wieder. „Irgendwie hatte ich mir einen Liebesgott hübscher vorgestellt.“ Finchen legte den Kopf schief und betrachtete nachdenklich die Statue des Eros-Brunnen, der 1892 zu Ehren von Lord Shaftesbury mitten auf der Straßenkreuzung errichtet worden war. Ich stellte mich neben sie und nahm ebenfalls den metallenen, geflügelten Mann auf der Spitze des Wahrzeichens in Augenschein. „Soweit ich weiß, soll das da auch gar nicht Eros beziehungsweise Amor sein, sondern der Engel der Barmherzigkeit. Die Engländer nennen ihn nur wegen des Bogens in seiner Hand Eros.“ Unbeeindruckt zuckte Josephine mit den Achseln. „Trotzdem. Auch Engel hab ich mir hübscher vorgestellt.“ Gerade als ich protestieren wollte, dass ich die Statue schön fand, packte Finchen mich mit einem aufgeregten Funkeln am Unterarm. „Sieh mal, da hinten ist ein Straßenmarkt. Lass uns da mal drüber gehen, ja? Bitte!“ Sie sah mich flehend an und ich war mir sicher, wäre sie ein Hund gewesen, sie hätte sich einschleimend mit der Rute gewedelt. Seufzend dachte ich an meine schmerzenden Füße, nickte dann aber zustimmend. Finchen hätte anders ja doch keine Ruhe gegeben. Jubelnd reckte sie ihre Faust gen Himmel, umfasste mein Handgelenk und zog mich bestimmt hinter sich her. Hatte ich anfangs nur Finchen zu Liebe zugestimmt, über den Markt zu schlendern, so fand ich schnell auch selbst Gefallen an den vielen winzigen Ständen, an denen teilweise wirklich außergewöhnliche Kleinigkeiten verkauft wurden – und das auch noch zu ziemlich günstigen Preisen. Grinsend vervollständigte ich meine Souvenir- und Mitbringselliste, als ich auf einen Stand stieß, an dem neben groben Lederketten, Armbändern mit bedrohlich hervorstehenden Nieten und mit Ketten behängte Gürtel auch unterschiedliche Tücher feilgeboten wurden. An einem Gestell aus dünnen Metallstreben hingen mehrere Schals und Halstücher, wo sie in dem böigen Wind hin und her schaukelten und flatterten wie kleine Flaggen. Ganz besonders ein grünschwarz gemustertes Tuch erregte meine Aufmerksamkeit. Die kleinen, verschiedenfarbigen Rauten des Musters wechselten sich wie bei einem Palästinatuch üblich beständig ab und an den Stoffecken hingen feine, fransige Trödeln herab. Doch anders als normale Pali-Tücher war dieses nicht aus normaler, dünner Baumwolle gewebt, sondern aus einem kuscheligweichen Material, das sich wie Kaschmir auf der Haut anfühlte. Ohne zu zögern zog ich das großflächige Halstuch von dem Gestell und zeigte es dem Standbesitzer, um zu bezahlen. Als ich wieder auf die Straße trat, tauchte Finchen wie aus dem Nichts wieder neben mir auf. „Na, was hast du denn da gekauft?“ Wortlos reichte ich ihr die leise raschelnde Plastiktüte und beobachtete erfreut, wie sich Finchens Lippen zu einem breiten Lächeln verzogen. „Das ist aber hübsch. Für wen ist das?“ Mit neugierig glänzenden Augen reichte sie mir meinen Einkauf zurück und ich drückte das Tuch unbewusst an meine Brust. „Für Greg. Irgendwie ist es wie für ihn gemacht. Findest du nicht?“ Finchen nickte und machte ein nachdenkliches Gesicht. Während wir uns langsam auf den Weg zurück zum Busparkplatz machten, sprach keine von uns ein Wort. Erst als wir nebeneinander in einem leicht heruntergekommenen U-Bahn-Wagon saßen, dessen Sitze mit Filzstiftgekritzel und alten Kaugummis übersät waren, murmelte Finchen: „Ich frag mich, was er jetzt wohl macht...“ Irritiert zog ich die Augenbraunen in die Höhe. „Wer?“ „Na, dein Bruder.“ Sofort bohrte sich ein riesiger Eiszapfen durch mein Innerstes. Wie lange war es jetzt her, dass ich Greg das letzte Mal gesehen hatte? Mit schmerzhaft pochendem Herzen wurde mir bewusst, dass es inzwischen fast ein Jahr her war. Schnell versuchte ich, die dumpf pulsierende Trauer beiseite zu schieben und mich daran zu erinnern, was Greg in seinen letzten Briefen so alles geschrieben hatte. „Er hat vor kurzem seinen Führerschein bestanden. Und er ist jetzt seit Weihnachten mit einer Veronica zusammen. So wie er sie beschreibt, scheint sie ein recht nettes Mädchen zu sein. Ich hoffe, dass ich sie bald mal kennen lerne.“ Pah, als würde ich das selbst glauben! Greg hatte bisher in keinem einzigen seiner Briefe auch nur mit einer Silbe erwähnt, dass er in absehbarer Zeit nach Hause kommen wolle oder dass er sich wünschen würde, dass ich ihn besuchte. Finchen warf mir einen kurzen Seitenblick zu und zog die Stirn kraus. Hatte meine Stimme sich so verbittert angehört, wie es sich angefühlt hatte? Wieder schwiegen wir eine ganze Weile, bis Finchen beinah flüsternd fragte: „Ob er sich irgendwie verändert hat?“ „Du meinst optisch?“ „Nicht nur, eher ganz generell.“ „Hmm...“ Grübelnd fummelte ich an einem kleinen Hautfetzen an meinem Daumen. Hatte Greg sich verändert? In seinen Briefen hatte er bisher eigentlich immer normal geklungen. Oder? Ich dachte so angestrengt nach, dass ich das Gefühl hatte, mein Schädel müsste zerspringen. Seit einiger Zeit hatte ich den Eindruck, dass Greg glücklicher und zuversichtlicher war, aber vermutlich lag das nur an dem neuentdeckten Liebesglück. Ob er sich wirklich nachhaltig verändert hatte, konnte ich allein an Hand der Briefe nicht sagen. Verärgert zog ich die Augenbraunen zusammen, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, meinen Bruder überhaupt nicht mehr zu kennen. Das war doch zum Mäuse melken! Den ganzen restlichen Weg zurück zum Bus hüllte ich mich in eine dermaßen düstre Wolke aus schlechter Laune, dass selbst Finchen sich nicht traute, mich noch einmal anzusprechen. Genervt ließ ich mich auf meinen Platz fallen und starrte stumm aus dem Fenster, bis eine bleierne Müdigkeit nach mir griff und mich in pechschwarze, traumlose Dunkelheit zog. Als ich wieder wach wurde, parkte der Bus bereits vor unserer Schule und meine Mitschüler stolperten aufgeregt auf dem engen Gang durcheinander, so als winke dem Ersten, der es nach draußen schaffte, ein ganz besonderer Preis. Verschlafen rieb ich mir über die Augen und begegnete Finchens amüsiertem Blick. Meine beste Freundin war bereits dabei, ihre Jacke überzustreifen, und grinste mich breit an. „Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr wach. Die letzten fünf Kilometer hab ich dich immer wieder geschüttelt, aber du hast einfach weiter gepennt.“ Sofort schoss mir das Blut in die Wangen. „Oh...“ Lachend zuckte Finchen mit den Achseln. „Ach, vielleicht hattest du’s nötig. Aber jetzt raus mit dir. Du wirst erwartet – deine Eltern hab ich schon gesehen.“ Dabei zwinkerte sie mir vielsagend zu, auch wenn sie sich ein leichtes Augenrollen nicht verkneifen konnte. Das konnte doch eigentlich nur bedeuten, dass... Mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit suchte ich schnell meine sieben Sachen zusammen und reihte mich in die schubsende und drängelnde Schlange im Gang ein, die unaufhaltsam in Richtung Tür strebte, durch die feuchtkalte Nachtluft drang. Draußen funkelten die Sterne so hell, dass sie trotz der grellen Parkplatzbeleuchtung zu sehen waren, doch das nahm ich nur am Rande wahr. Stattdessen ließ ich meinen Blick fieberhaft über die vereinzelten Menschengruppen schweifen, die sich entlang der Haltestelle verteilt hatten. In einiger Entfernung, direkt neben dem Fahrradschuppen entdeckte ich Papa, der einen Arm um Mamas Hüften gelegt hatte und genauso suchend aussah wie ich. Doch bis auf die Begleitung meiner Mutter war er ganz allein. Enttäuscht seufzend ließ ich die Schultern hängen und wollte mich gerade auf den Weg zu meinen Eltern machen, als mich plötzlich jemand an der Schulter berührte. Erschrocken wirbelte ich herum und blickte in grün leuchtende Augen, die mich liebevoll musterten. Der Besitzer dieses leicht rot geränderten Augenpaars lächelte mich erwartungsvoll an. Seine Haare lagen wild durcheinander und seine ein wenig zerknitterte Gesichtshaut hatte einen leichten Graustich. Insgesamt wirkte er als wäre er todmüde und gerade erst aus dem Bett gefallen, doch das nahm ich kaum wahr. Alles, was zählte, war, dass er hierher gekommen war, obwohl es mitten in der Nacht war. „Ich hab nur schon deinen Koffer geholt, deswegen musstest du ein wenig warten.“ Die Worte klangen warm und sanft und mir wurde erst in diesem Moment bewusst, wie sehr ich diese Stimme tatsächlich vermisst hatte. Mit einem freudigen Jauchzer warf ich mich in Jos Arme und sog seinen Duft so tief ein wie ich nur konnte. Jo strich mir zärtlich über den Rücken und winkte zu meinen Eltern herüber, die uns entdeckt hatten und langsam näher kamen. Mit Freudentränen in den Augen rieb ich meine Wange leicht über Jos Brust und lauschte seinem etwas zu schnellen Herzschlag. Offenbar freute er sich ebenso wie ich, dass wir endlich wieder zusammen waren. Inzwischen hatten meine Eltern uns erreicht und Papa zerzauste mir grinsend das Haar, während Mama mir mit einem glücklichen Lächeln einen Kuss auf die Wange hauchte. Jetzt war ich endlich wieder zu Hause, bei Jo – nichts hätte mich in diesem Moment glücklicher machen können. Kapitel 43: Gregor ------------------ Ein letztes Mal warf ich einen kritischen, prüfenden Blick in den Spiegel und versuchte, eine eigenwillige Strähne, die albern nach oben stand, zurechtzuzupfen. Als selbst das angeblich ultrafixierende Haarwachs versagte, gab ich es auf und strich stattdessen mein Jackett glatt. Mit einem resignierten Seufzer registrierte ich, dass meine Hände dabei leicht zitterten. Die Versuche, mir einzureden, ich sei gar nicht nervös, hatte ich schon längst eingestellt. Abitur... Schulabschluss... Wieder lief mir ein eisiger Schauer über den Rücken und ich holte tief Luft. In wenigen Minuten würde mir Frau Dr. Andersen mein letztes Zeugnis überreichen und nach dem Ball heute Abend wäre meine Zeit in diesem Internat bereits vorbei. Irgendwie war es irritierend, wie schnell die zwei Jahre vergangen waren. Ein brennendes Prickeln machte sich in meinem Magen breit, als ich an meine Familie dachte. Ob irgendjemand von ihnen zur den Feierlichkeiten kommen würde? Ich hatte Paps Zeit und Ort genannt, doch eine schriftliche Einladung hatte ich nie geschickt. Ich hatte nicht gewollt, dass meine Mutter aus falschem Pflichtgefühl hier erschien. Seit ich mein Elternhaus verlassen hatte, hatte sie mich kein einziges Mal angerufen. Und auch ansonsten hatte sie niemals versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen und ein klärendes Gespräch zu führen, weswegen ihre Reaktion von dem Abend, an dem sie von meinen Gefühlen für Mel erfahren hatte, inzwischen noch mehr schmerzte als zu Beginn. Nach all der Zeit fühlte sie sich an wie eine ewig eiternde Wunde, die sich nicht richtig schließen konnte, weil ein Dorn ins Fleisch eingewachsen war. Inzwischen vermisste ich meine Mutter nicht einmal mehr. Irgendwo tief in mir empfand ich noch so etwas wie Liebe für sie, doch die Gefühle waren dumpf geworden und hatten nun mehr von einer entfernten Erinnerung als von wirklichen Emotionen. Ähnlich erging es mir mit meiner verqueren Verliebtheit in Mel. Ich hatte es geschafft, sie fast vollständig aus meinem Geist zu verdrängen. Wann immer Mel sich in meine Gedanken drängte, dachte ich an sie als meine kleine Schwester. Endlich sah ich sie nicht mehr als begehrenswerte, junge Frau. Dennoch versuchte ich noch immer, möglichst wenig über sie nachzudenken. Denn die Angst, ich könnte womöglich feststellen, dass meine sündige Liebe für sie noch immer irgendwo tief in mir ruhte, war auch jetzt noch stets präsent. Wenn ich ehrlich zu mir war, waren meine Wut auf Mutter und meine Enttäuschung über ihr Verhalten nicht die einzigen Gründe, weshalb ich meiner Familie nie eine Einladung zu meinen Abiturfeierlichkeiten hatte zukommen lassen. Tatsächlich hatte ich noch immer Furcht davor, Mel wieder zu sehen. Was, wenn ein Blick in ihre hübschen Augen reichen würde, um mir zu zeigen, dass ich meinen Gefühlen für sie tatsächlich nie Herr geworden war? Dass die Kontrolle, die ich momentan darüber empfand, nichts weiter war als pure Einbildung und Wunschdenken? Nein, ich wollte das nächste Aufeinandertreffen mit meiner Schwester so weit nach hinten schieben wie nur irgendwie möglich und stattdessen lieber meine Zeit mit Vroni genießen. Das war auch der Grund, weshalb ich es vorzog mit meiner Freundin in eine winzige Zwei-Zimmer-Wohnung zu ziehen, anstatt nach Hause zurückzukehren. Die Möbel waren bereits gekauft und aufgebaut, es fehlten nur noch ein paar Kleinigkeiten, die wir an diesem Abend aus unseren Internatszimmern mitnehmen würden. Dann würden wir knapp eine Woche Zeit haben, um uns einzuleben und das Zusammensein in unserer ersten gemeinsamen Wohnung zu zelebrieren, bevor ich meinen Dienst als Zivi antreten musste. Grinsend rückte ich das grünschwarze Tuch zurecht, dass ich mir locker um den Hals geschlungen hatte, und erinnerte mich an den Abend, an dem ich es bekommen hatte. An diesem Tag hatte ich eine Klausur geschrieben, weswegen ich keine Zeit gehabt hatte, rechtzeitig zur Postvergabe im Foyer zu sein. Deswegen hatte Vroni das kleine Päckchen für mich angenommen und es auf meinen Schreibtisch gestellt – sie hatte schon vor einem Jahr einen Zweitschlüssel für mein Zimmer gehabt, was zwar eigentlich verboten war, aber von uns geflissentlich ignoriert worden war. Als ich dann abends dann in meine Stube gekommen war, hatte ich gleich das seltsame Pulsieren gespürt, das von dem Päckchen auszugehen schien. Irgendwie war es gewesen als hätte das Paket ein Eigenleben gehabt. Plötzlich hatte ich das Gefühl gehabt, eine unsichtbare Hand hätte in meine Brust gegriffen, wo sie mein Herz langsam mit eisigen Fingern zerdrückt hatte. Meine Hände waren schwitzig geworden und meine Kehle hatte sich angefühlt wie zugeschnürt, dabei hatte ich mir diese Reaktion nicht einmal selbst erklären können. Das Paket war eine ganz normale gelbe Schachtel gewesen, wie man sie direkt bei der Post kaufen konnte, und war von Mel mit meiner Anschrift versehen worden. Als ich das Klebeband, das die Pappschachtel fest verschlossen hatte, mit einer Schere durchtrennt hatte, hatten meine Hände dabei so sehr gezittert, dass ich mich mehrfach beinah in den Finger geschnitten hätte. Im Inneren des Pakets hatte neben einem mehrere Seiten langen Brief auch das wollene grünschwarze Palästina-Tuch gelegen, das ich nun um den Hals trug. Mit noch immer unerklärlich schnell rasendem Herzen hatte ich zaghaft über den weichen Stoff gestrichen. Doch dann hatte ich den Fehler gemacht, das Tuch aus der Schachtel zu heben und meine Wange gegen die kuschelige Weichheit zu drücken. Schlagartig war mir Mels Duft nach wilden Erdbeeren in die Nase gestiegen und hatte all die verdrängten Gefühle für meine Schwester zurückgebracht. Ich hatte das Tuch fallen lassen, als hätte ich mich plötzlich an ihm verbrannt, und war so weit wie möglich vor ihm zurückgewichen, obwohl ich gewusst hatte, dass ich seinem Schrecken durch räumliche Distanz nicht entfliehen konnte. Es hatte einige Zeit gedauert, bevor ich es geschafft hatte, die plötzlich aufgewallte Panik wieder niederzukämpfen. In diesen endlosen Minuten hatte ich mich immer wieder gefragt, ob all die Opfer und Schmerzen, die ich bis dahin gebracht und erduldet hatte, umsonst gewesen waren und ob ich nicht doch einfach aufgeben und den Kontakt zu meiner Familie vollständig abbrechen sollte. Doch als mein Herzschlag sich endlich wieder beruhigt hatte, war mir klar geworden, dass eine solche Reaktion mehr als feige gewesen wäre. Natürlich musste ich Rückschläge wie diesen erleiden. Wie hatte ich es mir überhaupt anders vorstellen können? Eigentlich war es ein Wunder gewesen, dass ich bislang von solchen Rückfällen verschont geblieben war. Entschlossen hatte ich mich von der Wand abgestoßen, an die ich mich ängstlich gepresst hatte, und hatte mit wenigen, langen Schritten die kurze Strecke zu dem Tuch zurückgelegt. Mit einer schnellen, abgehackten Bewegung hatte ich es vom Boden aufgehoben und es mürrisch angestarrt. Das war der Moment gewesen, in dem ich mich entschieden hatte, das Tuch so häufig wie möglich zu tragen, obwohl mir bei jedem Atemzug die Lunge gebrannt hatte und ich das Gefühl gehabt hatte, mein Herz zerfiele langsam zu Steinstaub. Ich hatte mich abhärten wollen gegen Mels Duft. Inzwischen war das gute Stück so häufig getragen und gewaschen worden, dass der Stoff kein bisschen mehr nach Mel roch, sondern nur noch nach mir und vielleicht ein bisschen nach Waschmittel. Doch das tat überhaupt nichts zur Sache. Inzwischen war dieses Palästina-Tuch zu einem Symbol für mich geworden. Wann immer ich es ansah oder mir umband, dachte ich daran, dass ich mich nicht hatte unterkriegen lassen, obwohl ich damals das Gefühl gehabt hatte, meine Welt zerfiele schlussendlich in Schutt und Trümmer. Dieser schreckliche Rückschlag hatte mich im Endeffekt stärker gemacht und mir gezeigt, dass ich es schaffen konnte, über Mel hinweg zu kommen. Eines Tages würde ich auch bereit sein, ihr wieder gegenüber zu treten. Vielleicht war ich es sogar jetzt schon, doch ich wollte lieber noch ein wenig Zeit verstreichen lassen, um mir sicher zu sein. Als es klopfte, atmete ich ein letztes Mal tief durch. Dann eilte ich mit beschwingten Schritten zur Tür, um mit Vroni nach unten in die Halle zu gehen, wo wir unsere Abschlusszeugnisse ausgehändigt bekommen würden. Ich konnte kaum glauben, dass meine Internatszeit nun hinter mir lag. Kapitel 44: Veronica -------------------- Das Geräusch von Gregs gleichmäßigen Atemzügen vermischte sich mit dem leisen Klackern der schlecht entlüfteten Heizung und bildete eine beruhigende Hintergrundmusik, die mich langsam schläfrig werden ließ. Dennoch riss ich mit aller Macht die Augen auf und beobachtete Greg beim Schlafen. Er lag auf dem Rücken, hatte mir das Gesicht zugewandt und wirkte unendlich friedlich. Sogar ein kleines Lächeln lag auf seinen weichen, schön geschwungenen Lippen. Es war unglaublich, wie sehr er sich in den zweieinhalb Jahren, die wir nun zusammen waren, verändert hatte. Er war ruhiger und offener geworden und wirkte nicht länger wie ein Reh kurz vor der Flucht. Auch seine nervöse Angewohnheit, sich permanent die Lippe aufzubeißen, hatte er inzwischen abgelegt, was besonders beim Küssen eine Wohltat war. Früher hatte ich stets Angst gehabt, ihm womöglich eine der kleinen Wunden wieder aufzureißen, sollte ich zu stürmisch sein. Der wehmütige Schatten in seinen Augen war jedoch trotz all der positiven Veränderungen stets geblieben. Doch ansonsten hatte er sich optisch stark verändert. Aus seinem weichen Jungenantlitz war ein Männergesicht mit kräftigem Kinn und markanten Zügen geworden und auch sein Körper wirkte mit den breiteren Schultern und dem Mehr an Muskeln endlich erwachsen. Alles an ihm war mir so vertraut als hätte sich sein Bild auf die Rückseite meiner Lider gebrannt und doch wirkte er auf mich auf einmal vollkommen fremd. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wer dieser Mann war, mit dem ich Bett und Tisch teilte. Dabei hatte der vergangene Abend so schön angefangen... Greg war ein wenig früher aus dem Krankenhaus, wo er seinen Zivildienst leistete, nach Hause gekommen und hatte gekocht, während ich noch in der Schule gewesen war – ich hatte mein Hobby zum Beruf gemacht und absolvierte gerade eine Ausbildung zur Spieleentwicklerin. Sogar der Tisch war liebevoll mit kleinen Teelichtern zwischen den etwas schäbig aussehenden, alten Porzellantellern gedeckt gewesen. Nach dem Essen hatten wir uns gemeinsam einen grottenlangweiligen TV-Film angesehen und auf der Couch gekuschelt, bis Greg mich irgendwann hochgehoben und ins Bett getragen hatte, wo wir leidenschaftlich miteinander geschlafen hatten. Alles war so schön, ja geradezu perfekt gewesen, doch dann hatte Greg alles in nur einem winzigen Moment kaputt gemacht. Es hatte nur ein einziges Wort gebraucht, um meine Welt in Trümmer zu schlagen: Mel. Noch immer hatte ich Gregs leicht atemlose, raue Stimme im Ohr, wie er beim Sex diesen Namen gestöhnt hatte, während er sein Gesicht in meine Halsbeuge geschmiegt hatte. Beim ersten Mal hatte ich gedacht, ich hätte mich ganz einfach verhört, doch dann hatte er den Namen immer und immer wieder wiederholt, bis mir regelrecht schlecht geworden war. Greg hatte von alle dem offenbar nichts mitbekommen. Er war einfach nur von mir herunter gerollt, hatte mich in seine Arme gezogen und mir einen Kuss aufs Haar gehaucht, bevor er eingeschlafen war. Jetzt lag ich hier im Dunkeln, kämpfte gegen die körperliche Müdigkeit und versuchte, zu verstehen, was passiert war. War ich etwa dabei, Greg zu verlieren? Sanft strich ich mit einem Finger über seine leicht stoppelige Wange, was ihn seine Mundwinkel ein wenig nach oben ziehen ließ, obwohl er nicht aufwachte. Wer zur Hölle war eigentlich diese Mel? Soweit ich wusste, kannte Greg nur eine einzige Melanie – und das war seine Schwester. Aber an sie dachte er bestimmt nicht, während er mit mir schlief. Oder? Schlagartig breitete sich Gänsehaut auf meinen Armen und Beinen aus, als mir plötzlich etwas auffiel: In all der Zeit hatte Greg jedes Mal das Thema gewechselt, wenn ich mit ihm über seine Schwester hatte reden wollen. Das war mir immer schon merkwürdig vorgekommen, doch ich hatte immer gedacht, er würde Melanie vielleicht so sehr vermissen, dass es ihm zu wehtun würde, über sie zu sprechen. Doch war der leidende Ausdruck in Gregs Augen nicht in diesen Situationen besonders intensiv geworden? Und hatte er nicht jedes Mal regelrecht verzweifelt gewirkt? Eine eisige Hand legte sich um meine Kehle und drückte mir die Luft ab, als ich wieder das Bild vor Augen hatte, als Greg vor zwei Jahren kurz vor Weihnachten kreuzunglücklich auf seinem Bett gesessen hatte, weil seine Mutter ihm weder ein schönes Weihnachtsfest gewünscht noch zum Geburtstag gratuliert hatte. Ich hatte ihn damals gefragt, ob er ihretwegen sein Zuhause verlassen hatte. Plötzlich hörte ich seine Stimme genauso deutlich, als würde er mir die Worte ins Ohr flüstern: „Nein. Meine Mutter hat nur etwas über mich erfahren, das sie mir nicht verzeihen kann. Seitdem geht sie mir wann immer möglich aus dem Weg. Wahrscheinlich versucht sie, sich einzureden, dass sie gar keinen Sohn hat.“ Damals hatte ich geglaubt, Gregs Mutter sei einfach eine Frau, die extrem überreagieren konnte und die ihren Sohn nun für etwas bestrafte, das eigentlich gar nicht so schlimm war. Doch nun wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte... Konnte das sein? Wieder warf ich einen Blick auf Gregs unbewegtes, friedliches Gesicht. War es tatsächlich möglich, dass dieser Mann, mit dem ich nun schon seit über zwei Jahren mein Leben teilte, in Wirklichkeit in seine Schwester verliebt war und ich in all der Zeit nichts gemerkt hatte? Mit einem bitteren Geschmack im Mund musste ich zugeben, dass diese Theorie tatsächlich erklärte, weshalb er so überraschend auf das Internat gewechselt hatte und nie nach Hause wollte. Auch das Verhalten seiner Mutter ergab unter Berücksichtigung dieser Annahme endlich einen Sinn, genauso wie Gregs Selbsthass und seine beständige Weigerung über Melanie zu sprechen. Aber konnte es tatsächlich sein, dass ich nie etwas bemerkt hatte? Oder hatte ich etwas gemerkt und hatte einfach nur die falschen Schlüsse daraus gezogen, weil ich mir die Wahrheit nicht vorstellen konnte? Mein Herz schlug wild und kräftig, so als wäre es ihm in meiner Brust plötzlich zu eng geworden. Ohne weiter darüber nachzudenken, streckte ich den Arm aus und begann, Greg wach zu schütteln. Auch wenn er mich womöglich anstarren würde als käme ich vom Mars und vielleicht sogar wütend werden würde, dass ich ihm so etwas unterstellte, musste ich mit ihm über meinen schrecklichen Verdacht sprechen, bevor ich daran noch ersticken würde. Mel... Während Greg verärgert knurrte und das Gesicht verzog, fiel mir wieder ein, dass ich früher bereits öfter eifersüchtig auf dieses Mädchen gewesen war. Nur mit Mühe konnte ich mich daran hindern, hysterisch aufzulachen. Wer hätte gedacht, dass meine Eifersucht womöglich berechtigter war als ich mir je hätte vorstellen können? Doch als Greg die Augen aufschlug und mich irritiert anblinzelte, wurde mir plötzlich klar, dass seine Antwort gar keine Rolle spielen würde. Die Angst, dass Greg seine Schwester lieben könnte, ließ mir eisige Schauer über den Rücken laufen und meinen Mund staubtrocken werden, doch sie änderte nichts daran, dass ich ihn von ganzem Herzen liebte. Ich würde ihn nicht gehen lassen... Ein winziges Bisschen seiner Liebe konnte mir mehr geben als das ganze Herz irgendeines anderen Mannes. Greg setzte sich langsam auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen, bevor er mich aus großen Augen ansah. Die dünne Bettdecke rutschte ihm locker auf den Schoß und gab den Blick frei auf seine straffe, haarlose Brust. Meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. „Was ist los?“ Minutenlang zitterte ich so sehr, dass ich keinen Laut über die bebenden Lippen brachte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Greg direkt mit meinem Verdacht zu konfrontieren, doch ich schaffte es einfach nicht, die Worte auszusprechen. Deswegen fragte ich einfach nur: „Bist du glücklich?“ Kapitel 45: Gregor ------------------ „Bist du glücklich?“ Irritiert warf ich die Stirn in Falten. Vroni war kalkweiß und zitterte wie Espenlaub. „Alles okay bei dir?“ Ich versuchte, ihr eine Hand auf die Wange zu legen, doch sie schob sie bestimmt zur Seite. Mein Magen zog sich ängstlich zusammen und ich spürte einen plötzlichen Druck auf der Brust. „Bist du glücklich?“, wiederholte sie. Auch wenn ich nicht verstand, warum diese Frage so wichtig war, dass Vroni völlig aufgelöst war und mich dafür mitten in der Nacht wecken musste, antwortete ich schließlich: „Ich bin so glücklich wie ich nur sein kann.“ Auch wenn es irgendwie abgedroschen klang, meinte ich es tatsächlich so wie ich es gesagt hatte. Natürlich fehlte mir meine Familie noch immer und manchmal bekam ich leichtere Panikattacken, weil ich nach Monaten doch mal wieder von Mel geträumt hatte, doch im Großen und Ganzen ging es mir bestens. Ich war zufrieden. Dieses Leben an Vronis Seite hätte ich noch Jahrzehnte lang führen können. Erschrocken musste ich jedoch feststellen, dass ihre Gesichtszüge sich plötzlich verdüsterten und sie mit Tränen in den Augen an mir vorbei starrte. Langsam bekam ich wirklich Angst. Was war nur auf einmal mit ihr los? Bevor ich etwas sagen konnte, flüsterte sie: „Ist sie eigentlich schön? Also, deine Schwester, meine ich.“ Obwohl ich mir keinen Reim darauf machen konnte, weshalb Vroni mich diese Dinge fragte, brach mir sofort der kalte Schweiß aus. Als ich antwortete, klang meine Stimme irgendwie zu hoch und nervös: „Äh... ich... denke schon. Aber ich hab sie lange nicht mehr gesehen und... ich bin da auch parteiisch.“ Vroni nickte stumm und zog ihre Beine an. Als sie mich wieder ansah, war ihr Blick erschreckend leer. „Weil du sie liebst.“ Der Unterton in ihrer Stimme ließ mich aufhorchen. Hatte sie es etwa heraus gefunden? Jetzt, wo meine abstrusen Gefühle von damals gar keine Rolle mehr spielten? Wie? „Na ja, sie ist meine Schwester. Natürlich liebe ich sie.“ „Nein, das ist nicht der Grund.“ Ihre inzwischen fast schulterlangen Haare peitschten durch die Luft als sie energisch den Kopf schüttelte. Panik zog mir den Brustkorb zusammen und machte mir das Atmen schwer. „Nicht?“ „Du liebst sie wie du vorgibst, mich zu lieben. Du begehrst sie.“ Vroni sagte dies ohne jeden Zweifel in der Stimme, so als wären es einfache Fakten – nichts anderes als die Tatsache, dass zwei plus zwei gleich vier ist. „Das ist lächerlich.“ Ich hörte selbst, wie albern piepsig meine Stimme klang. Mein Magen hatte sich inzwischen zu einem winzigen Knäuel zusammengeballt und mir wurde schrecklich übel. Blanke Panik kroch durch jede meiner Poren und machte mir das Denken schwer. Vroni schüttelte matt den Kopf. „Hör auf, es zu leugnen. Du stöhnst ihren Namen, wenn du mit mir schläfst und außerdem sehe ich’s an deinen Augen.“ Stumm starrte ich sie an, vollkommen unfähig auch nur einen Gedanken zu fassen. Ich hatte das Gefühl, gerade von einem Vierzigtonner gestreift worden zu sein. Ich hatte was getan?! Mir war nicht einmal bewusst gewesen, dass ich beim Sex überhaupt an meine Schwester gedacht hatte. Doch viel schlimmer war die Art und Weise wie Vroni sprach – so als spiele es überhaupt gar keine Rolle, dass ich meine Schwester unterbewusst offenbar noch immer mehr begehrte als mir klar gewesen war. „Bist du... bist du eifersüchtig?“, wagte ich mich vor, nur um wieder von meiner Freundin überrascht zu werden. „Nein. Wieso sollte ich?“ Irritiert starrte ich sie an. „Na ja, du unterstellst mir gerade, dass ich eine andere Frau liebe. Ich an deiner Stelle wäre eifersüchtig.“ Vroni zuckte beinah gelangweilt mit den Schultern. „Bin ich aber nicht. Wenn du in irgendeine Frau verliebt wärst, wäre ich vermutlich eifersüchtig, aber so habe ich doch nichts zu befürchten. Das Mädchen, das du liebst, darfst du nicht haben, also bleibst du bei deiner Zweitwahl – mir.“ Noch immer war ihre Stimme vollkommen emotionslos und ich fragte mich, ob die Entdeckung meiner inzestuösen Gefühle dafür sorgte, dass sie den Verstand verlor. „Dir ist klar, dass diese Logik nicht den Hauch eines Sinns ergibt, oder?“ Ich war inzwischen richtiggehend wütend auf Vroni. Wie konnte sie das alles so ruhig hinnehmen? Bedeutete ich ihr gar nichts? Doch bevor sie antworten konnte, fuhr ich fort: „Aber das tut inzwischen gar nichts mehr zur Sache. Ja, du hast recht, es hat eine Zeit gegeben, in der ich meine Schwester auf eine Art und Weise geliebt habe, die nicht nur verboten, sondern auch einfach widerwärtig ist. Inzwischen bin ich darüber aber hinweg. Vroni, glaub mir, ich liebe dich.“ Die plötzliche Erinnerung an vergangene Abende im Internat, die ich im Bett liegend und immer wieder leise „Ich liebe Vroni.“ murmelnd verbracht hatte, in der Hoffnung, dass ich mir diesen Satz irgendwann selber glauben würde, schob ich bestimmt zur Seite. Heute liebte ich sie wirklich – daran musste ich einfach glauben. Das war die Realität, an die ich mich seit Jahren klammerte. Alles andere hätte mich zerbrochen. Ich wollte sie einfach lieben. Zum ersten Mal seit sie mich geweckt hatte, kehrte Leben in ihre leeren Augen zurück. Sie sah mich herausfordernd an und nickte plötzlich. „Okay. Beweis mir, dass es so ist.“ Sofort griff ich nach ihrer Hand und drückte sie zärtlich. „Natürlich. Sag mir, wie.“ „Fahr nach Hause und stell dich Melanie. Wenn du dann immer noch sagen kannst, dass du mich liebst, ohne dass dir dein Herz zerbricht, glaube ich dir.“ Ich spürte wie meine Wangen sämtliche Farbe verloren. „Nein... Vroni, bitte, zwing mich nicht dazu. Ich mach alles, aber–“ Ich kam gar nicht dazu, auszureden. Vroni presste mir ihren Zeigefinger auf die Lippen und sah mir fest in die Augen. „Doch. Das ist die einzige Möglichkeit. Sieh doch: Wie kannst du sagen, dass du mich wirklich liebst, wenn du Angst davor hast, deine Schwester zu sehen, weil du befürchten musst, dass die Gefühle, die du verdrängt hast, wieder hervorbrechen. Das ist doch der wahre Grund, weshalb du nie deine Familie besuchen willst, nicht wahr?“ Dieses Mal war es an mir, stumm zu nicken. Es hatte keinen Sinn, Vroni zu belügen. Sie schien mir einfach bis auf den Grund meiner Seele blicken und alle meine Geheimnisse enthüllen zu können. Sanft strich sie mir über die Wange und wischte eine einzelne Träne fort, die sich aus meinem Augenwinkel gelöst hatte. „Hör auf, wegzulaufen, Greg. Stell dir doch nur einmal vor, wir würden ein Baby bekommen. Würdest du wollen, dass dein Kind ohne seine Großeltern und ohne seine Tante aufwächst?“ „Nein, natürlich nicht, aber...“ Vroni nahm mein Gesicht zärtlich in ihre Hände und überraschte mich mit einem zarten Kuss auf die Lippen. „Kein Aber.“ „Ich kann das nicht...“ „Doch. Du willst nur nicht. Aber ich mach dir einen Vorschlag: Du fährst nach Hause und stellst dich deiner Angst. Vielleicht haben wir Glück und du merkst tatsächlich, dass Melanie für dich endlich nichts anderes als eine Schwester ist.“ „Und wenn nicht?“ Meine Stimme hörte sich so jämmerlich kleinlaut an, dass ich mich am liebsten dafür geohrfeigt hätte. „Dann kommst du hierher zurück und wir Beide gehen irgendwo hin, wo du weit, weit weg bist von Melanie – so weit, dass sie dich nie wieder finden wird.“ Überrascht riss ich den Kopf hoch und starrte Vroni aus ungläubigen Augen groß an. „Wir... wir Beide?!“ Das Lächeln das daraufhin über ihr Gesicht huschte, trieb mir einen heißen Dolch tief ins Herz. „Natürlich. Greg, ich liebe dich. Ich werde dich niemals hängen lassen.“ Ich nickte resigniert. „Okay. Ich werde nach Hause fahren. Aber gib mir Zeit, mich darauf vorzubereiten.“ Vroni lächelte mich matt an und strich mir zärtlich über den Kopf. „Natürlich. Meinetwegen kannst du zuerst deinen Zivildienst zu Ende machen. Aber danach wird sich nicht mehr gedrückt.“ Dann stand sie auf, ging in die Küche und ließ mich allein zurück. Ich starrte dumpf auf meinen Schoß und fragte mich, womit ich die bedingungslose Liebe dieser Frau eigentlich verdient hatte, obwohl ich ihr seit wir uns kannten immer wieder nur wehgetan hatte. Ich war es ihr schuldig, dass ich ihr bewies, dass sie mir wirklich etwas bedeutete. Auch wenn mir allein der Gedanke an eine Heimkehr Übelkeit bereitete, würde ich mich endlich Vroni zuliebe meinen Dämonen stellen. Ich würde mir beweisen, dass ich stark genug war, sie zu besiegen. Und dann würde ich dieses schändliche Kapitel meines Lebens endlich abschließen! Kapitel 46: Teil 3 - Heimkehr: Melanie -------------------------------------- Millimeter für Millimeter breiteten sich die schräg einfallenden Sonnenstrahlen im Zimmer aus, malten silbriggoldene Muster auf den blauen Filzteppichboden, ließen das Erdbeerrot der Schranktüren leuchten und brachten die feinen Staubpartikel, die durch den Raum tanzten zum Schimmern. Langsam krochen sie das Bettgestell aus hellem Buchenholz hinauf, schlichen über die mit einem schwarzen Laken bezogene Matratze und kitzelten mich an der Nase. Ich knurrte leise und drehte den Kopf auf die andere Seite, um der Helligkeit zu entgehen, die an meinen Lidern zerrte und versuchte, mich zum Aufstehen zu überreden. Meine Haare raschelten über den blutroten Satinbezug meines Kopfkissens, das ich im Schlaf so weit nach oben geschoben hatte, dass ich mit dem Kopf bereits auf der Matratze lag. Von draußen drang das fröhliche Lied eines Vogels der den schönen, jungen Tag freudig begrüßte, an meine Ohren. Schlaftrunken überlegte ich, wessen Geträller ich da lauschte – Amsel? Buchfink? Lerche? – während etwas an meinem Bewusstsein schubste und drängte. Ich rollte mich auf den Rücken, packte mein zerknülltes Kissen und zog es mir ins Gesicht, um dem hellen Licht zu entfliehen. Unten in der Küche klapperte jemand mit Geschirr und der Geruch von gebratenem Speck zog durch das Schlüsselloch langsam in mein Zimmer. Vermutlich bereiteten meine Eltern gerade das Frühstück – da durfte Rührei mit Speck natürlich nicht fehlen. Wieder stupste das Etwas mein Bewusstsein an, ohne dass mir klar wurde, was es mir sagen wollte. Mein Kopf fühlte sich leer und wie in Watte gepackt an. Langsam drehte ich ihn nach links und warf einen Blick auf meinen Radiowecker auf dem kleinen Nachtschränkchen. Die leuchtendblauen Ziffern verrieten mir, dass es 8 Uhr 30 in der Früh war. Wer wollte um diese Uhrzeit schon aufstehen? Ich jedenfalls nicht – und schon gar nicht während der Ferien. Mit einem Stöhnen versteckte ich mich wieder unter meinem Kissen. Ich hatte gerade mal drei Stunden geschlafen. Am Abend zuvor war ich so aufgeregt gewesen, dass ich einfach nicht hatte einschlafen können. Unruhig hatte ich mich von einer Seite zur anderen geworfen, während meine Phantasie immer wieder mit mir durchgegangen und die samtige Dunkelheit der Nacht langsam von einem schmutzigen Grau der Morgendämmerung abgelöst worden war. Ich war so voller Vorfreude gewesen, weil... Plötzlich durchriss das Etwas die schläfrige Taubheit, die meinen Geist umnebelt hatte. Greg! Heute kam mein Bruder wieder nach Hause – das erste Mal seit über drei Jahren. Augenblicklich war ich hellwach und quietschfidel. Ich stieß das Kissen von meinem Gesicht, ohne darauf zu achten, dass es aus dem Bett purzelte, warf die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Für einen kurzen Moment wurde die Welt um mich herum schwarz und kleine weiße Sternchen tanzten vor meinen Augen, während mir das Blut in die Füße sackte. Dennoch torkelte ich blind wie ich war Richtung Bad. Ich hatte die Tür noch nicht ganz erreicht, als die Umgebung wieder feste Konturen bekam. Schnell riss ich mir das alte weiße T-Shirt, das ich Jo gemopst hatte, über den Kopf, schlüpfte aus den grünen Baumwollshorts und warf beides auf die geschlossene Toilette, bevor ich unter die Dusche sprang. Ich nahm den Brausekopf aus seiner Halterung damit meine Haare nicht nass wurden und drehte das heiße Wasser voll auf. Doch noch bevor es richtig warm war, hatte ich meine Katzenwäsche auch schon wieder beendet. Ich konnte einfach nicht länger still stehen. In ein vor der Brust verknotetes Handtuch gewickelt putzte ich mir schnell die Zähne, bürstete mein überschulterlanges Haar und sprintete zurück in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Ungeduldig riss ich die Schranktüren auf, deren Scharniere protestierend knackten, und starrte auf die vollen Fächer und die Stangen, an denen die Kleider dicht an dicht hingen. Ich stieß einen quengeligen Laut aus. Ich hatte mal wieder einfach nichts zum Anziehen! Mit gequältem Gesichtsausdruck wühlte ich mich durch die Kleidungsstücke, bis ich mich endlich für helle, ausgewaschene Jeans und ein moosgrünes Top entschieden hatte, das meine Augenfarbe fast genau traf. Ich riss Socken und Unterwäsche wahllos aus einer der Schubladen und versuchte mich in Rekordzeit anzuziehen. Als ich zum vierten Mal den Verschluss meines BHs schief verhakt hatte, zwang ich mich, tief durchzuatmen und langsam zu machen. Doch kaum war das widerspenstige Ding gezähmt, war die Ruhe auch schon wieder dahin. Den einsamen Hausschuh am Fußende meines Bettes beachtete ich gar nicht, da ich keine Lust hatte, den zweiten zu suchen, und wirbelte stattdessen wie ein kleiner Orkan die Treppe hinab. Ich stürzte durch den Flur, nur um an der offenen Küchentür wie angewurzelt stehen zu bleiben. Der intensive Duft von frisch aufgebackenen Brötchen, gebratenem Speck und Rührei umwehte mich wie ein Parfum, doch ich nahm es nur am Rande wahr. Meine Eltern standen Arm in Arm am Herd und wünschten mir einen guten Morgen, doch auch das registrierte ich nur unterschwellig. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, den leeren Platz am Kopfende des Esstisches aus dunklem Holz zu betrachten. Dort hatte Greg gesessen, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte – damals als es zu dem schrecklichen Streit zwischen ihm und unseren Eltern gekommen war, in dem er ihnen vorgeworfen hatte, dass sie ihm nie gesagt hatten, dass er adoptiert war. Heute empfand ich seine Reaktion sogar als noch übertriebener als damals schon, aber so war er ja schon immer gewesen: ein leichtexplosiver Hitzkopf, der zu stolz war, sich seine Fehler einzugestehen. Er hatte sich schon immer fürchterlich in etwas hineinsteigern können. Umso mehr hatte es uns überrascht, als er vor ein paar Tagen angerufen und seinen Besuch angekündigt hatte. Wieder perlte neue Nervosität wie kleine Wassertröpfchen an meinem Rücken herab. Immer wieder warf ich einen Blick auf die große, schwarzweiße Küchenuhr, deren Zeiger wie angeklebt schienen. Gerne wäre ich aufgestanden und hätte sie geschüttelt, um zu testen, ob nicht wirklich jemand die Zeiger fixiert hatte. In der letzten Minute hatte ich mindestens sechs mal auf die Uhr gesehen, nur um enttäuscht festzustellen, dass noch immer keine nennenswerte Zeitspanne vergangen war. In zwei Minuten wollte mein Bruder endlich hier sein, doch die Zeit floss so unendlich zäh dahin, dass es mir vorkam als müsste ich noch Jahre warten. Mama stand mit ihrer inzwischen leeren Kaffeetasse am Fenster und blickte mit leerer Miene auf den Garten hinaus, während mein Vater ungeduldig mit einem Kugelschreiber klickte und so tat als löste er das Kreuzworträtsel in einer Illustrierten. Plötzlich hörten wir ein Auto vorfahren und stürzten zur Haustür. Mein Magen hüpfte wie ein Flummi und ich war froh, dass ich nichts zum Frühstück gegessen hatte. Es wäre sicherlich kein besonders gelungener Empfang gewesen, wenn ich mich vor Aufregung auf Greg erbrochen hätte. Wir setzten unser strahlendstes Lächeln auf und öffneten die Tür, doch es war nur der Nachbar gewesen, der vom Brötchenholen zurückgekommen war. Müde winkten wir zurück, als er uns grüßte. Der musste sich auch wundern, warum wir uns mit erhitzten Gesichtern in der Haustür drängelten und wie die Ölgötzen gafften. Papa ließ die Schultern hängen und schlurfte zurück ins Haus. Einige Herzschläge lang sah meine Mutter unschlüssig aus, dann folgte sie ihrem Mann. Ich blieb im Türrahmen stehen und genoss die Wärme der Vormittagssonne auf meiner Haut. Vorsichtig zog ich die Tür hinter mir zu, sodass sie sich nicht ganz schloss, und setzte mich auf den kleinen Stufenabsatz vor dem Hauseingang. Die Frühlingsluft duftete nach allerlei frischaufgeblühten Blumen, die in den umliegenden Vorgärten ihre bunten Blätter der Sonne entgegen reckten. Ich lehnte mich auf die Hände gestützt nach hinten, streckte die Beine aus, schloss die Augen und versuchte einzelne Düfte auszumachen. Ich roch allerdings nur die warme Erde und die darin wachsende, rosa Kletterrose im Beet gleich neben mir ganz deutlich, doch ich gab nicht auf. So hatte mein Hirn wenigstens etwas zu tun und die Nervosität wurde erträglich. Nach einigen Minuten erregte jedoch das Geräusch von knirschendem Schotterkies meine Aufmerksamkeit. Ich blinzelte unter halb geschlossenen Lidern hinweg Richtung Straße und entdeckte ein eierschalenfarbenes Taxi, das am Straßenrand gegenüber hielt. Ich öffnete die Augen ganz und wartete angespannt. Auf der Beifahrerseite wurde die hintere Tür aufgedrückt und ein junger, hochgewachsener Mann in dunkelblauen Jeans und schwarzem Hemd stieg aus. Die Sonnenstrahlen tanzten über sein volles, leicht zerzaustes Haar und ließen das Blond golden glänzen. Er beugte sich mit einem breiten Grinsen zurück ins Auto und zerrte einen großen Rucksack von der Rückbank. Dann schlug er die Tür zu, setzte sich eine rahmenlose Sonnenbrille mit tiefschwarzen Gläsern auf die Nase und schulterte sein Gepäck. Das Taxi brauste davon und ich zog die Beine an, während ich den Fremden beobachtete. Die ganze Zeit über hatte er zu Boden gesehen, doch jetzt hob er den Kopf. Wegen seiner Sonnenbrille war es nicht auszumachen, wohin genau er blickte, doch er hatte mir sein Gesicht zugewandt. Er schien einmal tief Luft zu holen und dann setzte er sich langsam, fast widerwillig in Bewegung. Bei seinem Tempo konnte er froh sein, dass die Straßen in unserem kleinen Vorort so wenig befahren waren, sonst wäre er vermutlich über den Haufen gefahren worden oder hätte einen riesigen Stau verursacht, der mit wilden Huptiraden, lautem Gepöbel und einem Wald aus gereckten Mittelfingern einher gegangen wäre. Der junge Mann überquerte die Fahrbahn und... hielt direkt auf unser Haus zu. Ich spürte, wie alle Farbe meinem Gesicht entwich, und flüsterte tonlos „Greg?“, während ich versuchte unseren Besucher mit dem schlaksigen, siebzehnjährigen Gregor meiner Erinnerung in Einklang zu bringen. Kapitel 47: Gregor ------------------ Mein Herz pochte so heftig, dass ich mir fast sicher war, dass es mir jeden Augenblick den Brustkorb zerfetzen würde. Doch erstaunlicherweise nahmen meine Rippen selbst dann keinen Schaden, als ich langsam – geradezu unwillig – auf mein Elternhaus zuging und sich mein Herzschlag noch um ein Vielfaches beschleunigte. Mein Mund war trocken, die Unterlippe wieder mal blutig gebissen und die Kehle wie zugeschnürt. Trotzdem setzte ich mein einstudiertes, leicht spöttisches Grinsen auf und versuchte, meine Nervosität mit Coolness zu überspielen. Immer mit der Ruhe, sich bloß nichts anmerken lassen – so wie früher. Doch vielleicht hatte es ja jetzt endlich ein Ende. Vielleicht gab es nur noch diese eine Bewährungsprobe. Vielleicht hatte ich mich endlich von meinem Fluch befreien können. Mit aller Macht klammerte ich mich an diesen Hoffnungsstrahl. Ich holte noch einmal tief Luft, als mir die schlanke Gestalt vor der Haustür auffiel. Ihr langes, braunes Haar wurde sacht von einer leichten Brise bewegt, sodass mehrere kleine Strähnen vor ihrem Gesicht wehten. Die dunkelgrünen, unglaublich tiefen Augen waren geweitet und ihre Haut so blass als hätte sie einen Geist gesehen. Die junge Frau zupfte mit den Zähnen an einem Daumennagel und ihre schmale Brust hob und senkte sich beinah so schnell wie mein Herz schlug. Sie hatte sich in den letzten Jahren ziemlich verändert und trotzdem erkannte ich sie gleich mit nur einem kurzen Blick wieder: Mel. Während ich mich ihr langsam näherte, stand sie wie zur Säule erstarrt da. Sie zwinkerte nicht einmal, so als hätte sie Angst, ich würde mich in Luft auflösen, wenn sie mich auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Blick verlieren würde. Und wer weiß? Vielleicht hätte ich wirklich auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre wieder davon gelaufen, wenn mich diese grünen Augen nicht festgehalten hätten... Ich kickte das karamellfarbene Holzgartentor mit der Hacke nach hinten, wodurch es scheppernd ins Schloss krachte. Auf Mels Lippen breitete sich ein Lächeln aus und sie ließ die Hände sinken, während ich unwillig die letzten Meter zurücklegte. „Greg, du bist es tatsächlich...“ Sie flüsterte so leise, dass ich sie kaum verstand, obwohl ich nur knapp eine Armlänge von ihr entfernt stand. Ihre Augen funkelten so sehr, als wäre ich ein vollbeleuchteter Christbaum und sie ein kleines Kind, das seine erste Weihnacht feiert. Ich war froh, dass die Gläser meiner Sonnenbrille verspiegelt waren. Noch während ich überlegte, wie ich sie begrüßen sollte, stieß sie sich plötzlich ab, warf sich mit vollem Gewicht gegen mich und schlang ihre Arme um meinen Bauch. „Ich hab dich so vermisst! Oh, Greg...“ Etwas unsicher und linkisch legte ich ihr meine Hände auf die Schultern, während sie immer wieder meinen Spitznamen schluchzte und erklärte, wie sehr ich ihr gefehlt hätte. Unwillkürlich verzog ich den Mund und presste die Lippen aufeinander. Die Art und Weise wie sie meinen Namen sagte – so als wäre er ihre Luft zum Atmen –, widerte mich an, weckte sie in mir doch viel zu stark den Wunsch, sie zu küssen und ihr zu sagen, dass jetzt alles gut werden würde. Verzweifelt versuchte ich, sie von mir weg zu schieben, ohne dabei zu grob zu wirken, doch sie klammerte sich so sehr an mich, dass sie es wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkte. Sie drückte ihre heiße, rote, feuchtglänzende Wange an meine Brust, wo mein inzwischen tränennasses Hemd unangenehm klebte. Mein schwerer Rucksack rutschte von meiner Schulter und fiel mit einem dumpfen Dröhnen auf den gepflasterten Weg, als ich resignierend die Arme hängen ließ. Eine weitere Brise trug den Duft von Mutters geliebten Rosen zu mir herüber, was mich die Nase kraus ziehen ließ. Unglaublich... Ich war tatsächlich hier im Vorgarten meiner Eltern, im Arm meiner kleinen Schwester, mitten in meinem schlimmsten Albtraum. Ich war wieder zu Hause. Hier war ich siebzehn Jahre lang aufgewachsen, hier kannte ich jeden Baum, jeden Strauch, jede kleine Macke im Ziegelwerk. Hier lebten die Menschen, die ich liebte und die ich über drei Jahre lang schmerzlich vermisst hatte. Ich war endlich wieder zu Hause und kleine Wogen der Glückseligkeit schwappten durch meinen Körper, doch ich bemerkte sie kaum. Denn das Grauen, das mein Herz mit eisiger Hand packte und zerquetschte, übertünchte jedes positive Gefühl. All die Zeit hatte ich versucht, vor all dem hier davon zu laufen, bis ich geglaubt hatte, ich könnte es endlich ertragen. Doch in weniger als einer Minute war mir wieder klar geworden, dass ich es niemals können würde, dass sich nichts geändert hatte, nicht im Geringsten. Hinter Mel wurde die Haustür geöffnet und Paps streckte den Kopf heraus. Als er mich erblickte, hellte sich sein Gesicht auf und er strahlte mich mit einem glücklichen Grinsen an. Doch dann veränderten sich seine Augen als er meinen Gesichtsausdruck sah und ich wusste, dass auch er begriffen hatte: Es war alles umsonst gewesen. Es hatte sich nichts geändert und es würde sich nie etwas ändern. Niemals... Kapitel 48: Melanie ------------------- Ich umklammerte Gregs steifen Körper und zog ihn noch fester an mich, während mir mehr und mehr Tränen über die Wangen kullerten. So hatte ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt. Warum nur war er so kalt, so unbewegt? Es war fast als würde ich eine Statue umarmen oder... eine Leiche. Hinter mir öffnete sich mit einem leicht schleifenden Geräusch die Haustür und Greg seufzte tief. Ich hob meinen tränenverschleierten Blick und versuchte in seinem sphinxartigen Gesicht zu lesen. Seine wunden, femininen Lippen hatte er hart aufeinandergepresst und sein Kiefermuskel war angespannt, so als bisse er die Zähne fest zusammen. Seine Augen konnte ich wegen der undurchsichtigen Sonnenbrille leider nicht sehen, doch sie schienen auf die Haustür gerichtet zu sein. Langsam drehte ich mich um, wobei ich darauf achtete, Körperkontakt zu Greg zu halten. Die kindliche Angst, er könnte anders plötzlich verschwinden, war einfach zu groß. Papa stand in der Tür und musterte uns mit einem seltsam gequälten Gesichtsausdruck. Irgendwie bekam ich allmählich das Gefühl, dass ich die Einzige war, die sich wirklich darüber freute, dass Greg endlich wieder zu Hause war. Für mehrere Minuten, in denen eine eigenartig knisternde, angespannte Atmosphäre entstand, starrten Papa und Greg sich einfach nur an. Doch dann huschte ein Schatten über das Gesicht unseres Vaters, wo er nur Müdigkeit zu hinterlassen schien. Seine grünblauen Augen wurden trüb, neben seinen Mundwinkeln, die sich bedrohlich nach unten wölbten, entstanden tiefe Falten und er krümmte die Schultern nach vorn. Als er sprach, klang seine Stimme so brüchig wie millimeterdünnes Eis: „Greg. Willkommen zu Hause.“ Ich wandte den Kopf, um zu sehen, ob sich endlich etwas im Gesicht meines Bruders bewegte, das zur Maske erstarrt zu sein schien, seit er mich erkannt hatte. Doch Greg nickte Papa nur zu, bückte sich nach seinem Rucksack und trat so schnell von mir weg, als würde ich in Flammen stehen oder als hätte ich plötzlich die Beulenpest. Irritiert blickte ich ihm hinterher, während er mit leicht unsicheren Schritten neben unserem Vater – denn das war er, Blutsverwandtschaft hin oder her – ins Haus trat. Papa drehte sich auf der Schwelle noch einmal um und warf mir ein trauriges Lächeln zu, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Was zur Hölle war hier nur los? Warum war jetzt plötzlich alles so verquer? Bis vor ein paar Minuten schien doch noch alles in bester Ordnung gewesen zu sein. Wir hatten uns alle auf Gregs Heimkehr gefreut. Und jetzt? Mit einem bitteren Geschmack im Mund fühlte ich mich um drei Jahre zurück versetzt. Gregs Verhalten erinnerte mich einfach zu sehr an die Zeit kurz bevor er uns verlassen hatte. Mein Herz schrumpfte zu einem kleinen, scharfkantigen Eisklumpen zusammen und mein Magen schien ein einziger Knoten zu sein. Trotzdem folgte ich den beiden Männern meiner Familie nach ein paar Minuten ins Haus. Ich würde noch herausfinden, was hier schief lief. Drinnen war die Stimmung nicht gerade sehr viel besser. Als ich in den Flur trat, war Mama gerade dabei, Greg zu umarmen, aber irgendwie hatte diese Szene etwas an sich, das sich falsch anfühlte. Mama presste meinen Bruder, der sie um gut fünfzehn Zentimeter überragte, an ihre Brust und weinte stumme Tränen. An und für sich hätte man glauben können, es wären Tränen der Freude, doch der Ausdruck in ihren Augen zeigte deutlich, dass es nicht so war. Papa stand stocksteif mit abgewandtem Gesicht daneben und auch Greg ließ die Schultern hängen, so als ob ein zentnerschweres Gewicht auf ihm lasten würde. Irritiert lehnte ich mich gegen die Wand und beobachte die Drei. Warum nur wirkten sie so gequält? Ja, Greg hatte unsere Eltern damals sehr verletzt und sicher war es jetzt für keinen der Beteiligten leicht, einfach neu anzufangen. Aber sie hätten sich doch wenigstens freuen müssen, oder? Heute Morgen hatten sie es zumindest getan. Schließlich ließ Mama die Hände von Gregs Schultern gleiten und er richtete sich wieder auf. Mit einer beinah erschreckenden Leichtigkeit hob er einhändig seinen schwer aussehenden, braunen Armeerucksack hoch und deutete nach oben. „Das gleiche Zimmer wie früher?“ Es waren die ersten Worte, die ich seit drei Jahren von ihm hörte, und ich war überrascht, wie voll und dunkel seine Stimme geworden war. Als ich sie das letzte Mal gehört hatte, hatte Greg noch an den Nachwehen des Stimmenbruchs gelitten. Mama nickte stumm und Greg stieg ohne ein weiteres Wort die Treppe nach oben. Papa nahm meine Mutter schützend in den Arm, während sie Greg mit einem dermaßen gequälten Gesichtsausdruck hinterher sahen, als hätte er ihre Herzen herausgerissen und Samba darauf getanzt. Ich verstand die Welt nicht mehr. Dieser Mann da... das war nicht mein Bruder wie ich ihn kannte und liebte. Erneut stiegen mir dicke, heiße Tränen in die Augen und meine Welt wurde von einem undurchsichtigen Schleier verhangen. Ich sah nur undeutlich, wie Papa seine Hand nach mir ausstreckte und mich zu sich zog. Sofort kuschelte ich mich an meine Eltern, die mir beruhigend über den Rücken strichen, während mir die Tränen über die Wangen strömten. Was war nur schief gelaufen, dass dieser Tag, auf den ich mich seit Jahren freute, zu einer solchen Katastrophe geworden war? Mama strich mir zärtlich übers Haar und küsste mich auf die Stirn, als Papa leise murmelte: „Das wird schon wieder. Das sind gerade einfach ein bisschen viele Emotionen, die auf uns einprasseln. Gib ihm, gib uns Zeit. Das wird schon wieder... Mach dir keine Sorgen.“ Ich stieß geräuschvoll Luft aus der Nase. Keine Sorgen machen – das war leichter gesagt, als getan. Kapitel 49: Gregor ------------------ Ich streckte mich auf meinem alten Jugendbett aus und seufzte. Obwohl es Jahre her war, dass ich hier gelegen hatte, fühlte es sich trotzdem immer noch vertraut an. Gedankenversunken strich ich über die blaubunt gemusterte Leinenbettwäsche. Genau dieselbe war damals aufgezogen gewesen, als ich gegangen war. Dass meine Mutter sie zwischendurch nicht gewaschen hatte, erschien mir mehr als unwahrscheinlich. Vermutlich wollte Mutter mir eher das Gefühl geben, als wäre ich niemals weg gewesen. Wie Recht sie damit hatte... Auch drei Jahre Abwesenheit hatte keine Distanz zu meinem Fluch gebracht. Erbärmlich. Eigentlich hätte ich jetzt sofort Vroni anrufen müssen, um ihr zu erzählen, wie mein erstes Aufeinandertreffen mit meiner Familie gewesen war. Das hatte ich ihr fest versprochen. Dennoch ignorierte ich mein Handy, das in meinem Rucksack steckte, und starrte an die Decke. Vielleicht würden diese wild durch meinen Geist wirbelnden Gefühle und Bilder mit der Zeit wieder verschwinden – so wie es damals gewesen war, als ich das Palästina-Tuch ausgepackt hatte, das Mel mir in London gekauft hatte. Ich versuchte, mir einzureden, dass ich Vroni nur deshalb nicht anrufen wollte, weil ich sie nicht unnötig aufregen wollte. Doch tatsächlich hatte ich einfach ein wenig Angst vor ihrer Reaktion. Wahrscheinlich würde sie mich verlassen, auch wenn sie vorher etwas anderes gesagt hatte. Doch das würde ich ihr nicht übel nehmen. Wer will schon mit jemandem zusammen sein, von dem man ganz genau weiß, dass er eigentlich jemand anderes liebt? Also lag ich statt zu telefonieren auf dem Bett, starrte an die Decke und hasste mich. Wie hatte ich nur so töricht sein können, zu glauben, ich würde je über Mel hinweg kommen? Ein einziger Blick hatte gereicht, um meine Gefühle in all ihrer Widerwärtigkeit wieder aufblühen zu lassen. Ich hatte es nie geschafft, Mel zu vergessen. Alles, was ich getan hatte, war, dass ich meine Liebe zu ihr schlicht und ergreifend verdrängt hatte. Ich hatte sie in irgendein Fach meiner Seele gesteckt und mich danach beständig geweigert, diese Schublade auch nur einen winzigen Spalt weit aufzuziehen. Doch das hatte nichts mit wirklichem Verarbeiten zu tun. Ein einziger Augenaufschlag hatte gereicht und meine Jahre mit Vroni waren bedeutungslos geworden. Ich liebte Mel noch immer und würde es vermutlich auch noch bis an mein Lebensende tun. Dennoch klammerte ich mich stur an die immer kleiner werdende Hoffnung, dass dieser Emotionsschwall wieder abebben würde, sobald ich mich an Mels Anblick gewöhnt hätte, dass ich dann auch wieder mit diesem leisen Kribbeln in der Magengegend an Vroni denken konnte. Als es klopfte, zuckte ich unwillkürlich heftig zusammen. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie vertieft ich in meine eigenen Gedanken gewesen war. Bevor ich antworten konnte, öffnete sich die Tür und Mel steckte ihren Kopf durch den Spalt. „Darf ich rein kommen?“ Genervt rollte ich mit den Augen. Wozu diese Frage? Sie war doch schon so gut wie drin. Als ich den Kopf wandte, um sie anzusehen, zog sie bereits die Tür hinter sich zu. Ich warf ihr einen bösen Blick zu, der sie kurz innehalten ließ. „Darf ich?“ „Was fragst du mich eigentlich noch? Du bist doch schon drin. Außerdem kommst du doch sowieso immer überall rein.“ Der kaum verhohlene Hass in meiner Stimme erschreckte mich beinah selbst. Mir war gar nicht klar gewesen, dass ich ein wenig wütend auf meine Schwester war, weil sie mich in diese vertrackte Situation brachte, einfach indem sie existent war. Mel biss sich auf die Unterlippe und betrachtete mich kritisch aus ihren großen, moosgrünen Augen. Ich drehte wieder den Kopf, starrte mit aufeinander gepressten Lippen an die weiß gestrichene Decke und wünschte mir, ich hätte meine Sonnenbrille nicht abgenommen. Doch die lag nun außer Reichweite auf meinem alten Eichenholzschreibtisch. Dabei waren meine Augen schon immer der Körperteil gewesen, den ich einfach nicht unter Kontrolle halten konnte. Sie hatten mich schon öfter verraten als mir lieb war. „Was ist eigentlich mit dir los?“ Mel stand noch immer ziemlich unsicher mitten im Raum, so als hätte mein vernichtender Blick von vorhin sie dort festgeklebt. „Was soll schon los sein?“ Meine Stimme war ein tiefes Grollen voller Abscheu. „Du bist endlich wieder zu Hause. Du solltest dich freuen.“ „Aha.“ Für mehrere Herzschläge herrschte Stille, doch dann drang aus der Mitte des Raums ein Geräusch an meine Ohren, das mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Mit einem schnellen Seitenblick musterte ich das Häufchen Elend, das sich in mein Zimmer gestohlen hatte. Mel hatte sich ihr langes Haar vors Gesicht fallen lassen und starrte auf den Boden, während ihr zum vermutlich x-ten Mal am heutigen Tag die Tränen übers Gesicht liefen. So war sie immer gewesen... Bei jeder kleinsten Kleinigkeit hatte sie angefangen zu heulen und war zu mir gelaufen gekommen, damit ich das Problem für sie löste. Und ich hatte sie mit der Innbrust tiefster Liebe beschützt... Mel schlang sich die Arme um den Oberkörper, so als könnte sie ihren Brustkorb dadurch daran hindern, sich in unkontrollierten Schluchzern zusammen zu krampfen. Als sie wieder zu sprechen begann, zitterte ihre Stimme so sehr, dass ich Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen. „Aber du freust dich nicht. Ich versteh’ das nicht. Hast du uns denn gar nicht vermisst?“ Unwillkürlich zog sich mein Magen zu einem kleinen Knoten zusammen. Natürlich hatte ich meine Familie vermisst – Mel ganz besonders. Doch das war Teil meiner Strafe, die ich mir selbst auferlegt hatte. Paps war der Meinung gewesen, dass man diese Sache auch anders hätte lösen können, doch ich hatte auf diesen Weg bestanden. Ich hatte ganz bewusst leiden wollen, in der Hoffnung, meine Schuld oder meine Schande abstreifen zu können. Doch das war nicht geschehen. Natürlich nicht... Dafür war Beides viel zu groß. Ich setzte mich auf und musterte Mel mit dem kältesten Blick, den ich mir aufzwingen konnte. „Mutter und Paps habe ich vermisst. Sehr sogar.“ Als hätte ich an einem unsichtbaren Faden gezogen, hob sich schlagartig ihr Kopf und sie starrte mich aus geweiteten Augen an. Man konnte richtig sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, als sie meine Worte stumm wiederholte. „Du... du meinst... das heißt…“ Während sie stammelnd versuchte, einen ganzen Satz zwischen ihren bebenden Lippen hervor zu pressen, stand ich auf und griff nach meiner Sonnenbrille. Falls es Mel irritierte, dass ich diese in einem geschlossenen Raum aufsetzte, so sah man es ihr nicht an, als ich mich zu ihr umwandte. „Richtig. Dich habe ich nie vermisst. Nicht eine Sekunde. Und jetzt geh mir nicht weiter auf den Wecker. Ich versuche, es zu genießen, dass ich wieder hier bin. Los, hau ab! Lass mich in Ruhe!“ Meine Stimme war wie Packeis – hart und tödlich kalt. Mel gaffte mich noch einige Sekunden fassungslos an, dann verschwand sie türeknallend aus meinem Zimmer. Kaum dass sie gegangen war, gaben meine weichen Knie nach und ich sackte kraftlos auf den Boden. Ich zog die Beine an, legte den Kopf auf die Knie und vergrub die Finger so heftig in meinen Haaren, dass es schmerzte. Warum konnte sie mich nicht in Ruhe lassen? Warum zwang sie mich, ihr weh zu tun? Warum passierte das alles eigentlich mir? Kapitel 50: Melanie ------------------- „Dich habe ich nie vermisst.“ Gregs Stimme hallte mir noch immer durch den Kopf wie ein Albtraum, aus dem man einfach nicht aufwachen kann. Mit leerem Blick lehnte ich mich an die starke Schulter meines Freundes, der mir mit seiner typischen, unerschütterlichen Ruhe über den Rücken strich. Sein Gemurmel, es würde alles wieder gut werden, hatte er zum Glück wieder eingestellt. Ich war eh nicht so naiv gewesen, es zu glauben. Irgendetwas in mir schien kaputt gegangen zu sein, als mein Bruder mir mit dieser unglaublich feindseligen Stimme an den Kopf geknallt hatte, ich solle ihn in Ruhe lassen. Konnten Gefühle tatsächlich einfach so ins Gegenteil umschlagen? Früher hatte Greg mich geliebt, das wusste ich genau. Doch nun hatte ich eher das Gefühl, dass er mich aus tiefstem Herzen hasste. „Möchtest du heute Nacht hier bleiben?“ Jos Stimme riss mich aus meiner Gedankenwelt. Ich seufzte und ließ meinen Blick kurz durch sein Zimmer wandern, das mir beinah genauso vertraut war wie mein eigenes. Wir saßen auf der alten, ausgefransten, braunen Couch, die früher im Wohnzimmer seiner Eltern gestanden hatte, nun aber ihren Platz gleich neben Jos’ umfangreicher CD-Sammlung gefunden hatte. Passend dazu stand ein paar Meter von mir entfernt eine hypermoderne Stereoanlage, aus der jetzt irgendeine Punkband plärrte. An der Wand gegenüber quetschten sich ein schmaler Kleiderschrank, ein mit Papier überfüllter Schreibtisch und sein breites Futon-Bett mit dem kindischen Bayern-München-Bezug nebeneinander. Dann schüttelte ich den Kopf. „Nein, ich glaube, ich schlaf heute Nacht besser alleine. Ich bin so aufgewühlt, ich würde dich vermutlich permanent treten und schlagen.“ Ein Grinsen stahl sich in sein leicht rundliches Gesicht und seine grünbraunen Augen leuchteten. „Das wäre schon okay. Du weißt, dass ich es selbst dann schön finde, mit dir in einem Bett zu schlafen, wenn du mich nachts verprügelst.“ Unwillkürlich musste ich zurücklächeln und ein warmer Schauer durchrieselte meinen Körper, bevor ich ihn zärtlich auf die etwas zu schmalen Lippen küsste und mich noch tiefer in seinen Arm kuschelte. Er drückte mich sanft und ließ seinen Daumen liebevoll über meine Hand streichen. Hier bei ihm erschienen mir die früheren Geschehnisse des Tages total surreal, so als hätte ich nur schlecht geträumt oder einen nahe gehenden Film gesehen. Doch wenn ich wieder an Gregs wütend verzogenen Mund, seine eiskalte Stimme und vor allem an die Gemeinheiten dachte, die er mir an den Kopf geworfen hatte, fühlte ich sofort wieder einen heißen Stich im Herzen. Was hatte er damit gemeint, ich käme sowieso immer überall rein? Ich drehte den Kopf ein wenig, damit ich Johannes besser betrachten konnte. Es tat gut, dass er so vollkommen anders aussah als mein Bruder. Jo war eher klein und untersetzt, während Greg groß und schlank war und sich mit der Geschmeidigkeit eines durchtrainierten Sportlers bewegte. Jos dunkelbraune Locken umspielten locker sein Gesicht und lenkten ein wenig von seinen schmalen Lippen und der Nase ab, die eine Spur zu breit war. Alles in allem war Johannes vor allem im Vergleich zu Greg keine Schönheit, aber er hatte diese unglaublichen Augen, in die man sich einfach verlieben musste. Außerdem hatte ich mich vom ersten Augenblick an bei ihm geborgen gefühlt – etwas, das ich zumindest momentan nicht von meinem Bruder behaupten konnte. Am liebsten wäre ich doch einfach über Nacht hier geblieben, aber irgendetwas zog mich trotzdem nach Hause. Vielleicht war es die kindliche Hoffnung, dass Greg wie ausgewechselt sein würde, sobald ich wieder da wäre, und ich endlich wieder den Bruder hätte, den ich schon so lange schmerzlich vermisste. Als ich zu Hause ankam, war es bereits stockdunkel und am Himmel leuchteten Tausende Sterne. Für einen kurzen Moment legte ich den Kopf in den Nacken und hielt nach einer Sternschnuppe Ausschau. Jo zog mich sanft in seinen Arm und blickte ebenfalls nach oben. „Bist du sicher, dass ich nicht mit rein kommen soll?“ In seiner Stimme schwang so viel Sorge mit, dass ich beinah ein schlechtes Gewissen bekam, dass ich mich mittags nicht ein bisschen beruhigt hatte, bevor ich zu ihm gefahren war. Ich war so vollkommen aufgelöst bei ihm angekommen, dass er mir noch immer nicht wirklich glaubte, dass es mir wieder besser ging und ich mich stark genug fühlte, meinem Bruder wieder zu begegnen. Ich wandte mich in seinen Armen um, sodass ich ihm ins Gesicht sehen konnte, und küsste ihn. „Ja, ich bin mir sicher. Und ich ruf dich morgen wie versprochen an, großes Indianerehrenwort.“ Er lächelte unglücklich und strich mir über die Wange. „Das hoffe ich. Schlaf gut, Süße.“ Dann küssten wir uns ein letztes Mal zum Abschied und Jo verschwand in der Dunkelheit. Einen Moment lang sah ich ihm hinterher, dann holte ich tief Luft und versuchte mich selber davon zu überzeugen, dass ich meinen Freund nicht angelogen hatte. Ich konnte das! Ich konnte Greg wieder unter die Augen treten. Und ich konnte ihn ignorieren, wenn es das war, was er wollte. Im Flur war es fast noch dunkler als draußen, da durch das Nordfenster kaum Mondlicht fiel. Dennoch schaltete ich die Deckenleuchten nicht ein. Irgendwie hatte diese Düsternis etwas seltsam Tröstliches an sich. Ich fühlte mich so einfach wohler. So leise wie möglich schlich ich die Treppe hinauf, um mich in meinem Zimmer zu verkriechen und möglichst niemandem zu begegnen – schon gar nicht meinem Bruder. Ich war schon fast an meiner Tür, als ich bemerkte, dass aus Gregs Zimmer ein schmaler Streifen Licht fiel. Für einen kurzen Moment stand ich unschlüssig in der Dunkelheit und kaute auf der Unterlippe. Ich hatte mir geschworen, meinen Bruder zu ignorieren. Doch galt das auch dann, wenn er meine Anwesenheit gar nicht bemerken würde? Auf leisen Sohlen schlich ich auf seine Tür zu, um durch den winzigen Spalt vielleicht einen Blick auf ihn werfen zu können, als ich die Stimmen hörte. Mein Herz pochte vor Aufregung so laut, dass ich kein einziges Wort verstand. Ich hatte noch nie irgendwo gelauscht, doch dieses Mal konnte ich mich einfach nicht zusammen reißen. Ich presste mich dicht an die Wand, sodass mein Ohr fast direkt am Türspalt lag, und zwang mich, ruhig zu atmen, um mich nicht zu verraten. Doch als ich endlich nicht mehr nur mein laut rauschendes Blut hörte, war es als hätte mir jemand urplötzlich den Boden unter den Füßen entzogen. Gregs Stimme drang zwar nur recht undeutlich an meine Ohren, doch ich hörte trotzdem wie müde und unendlich traurig sie klang. Aber viel mehr als seine Stimmlage erschütterten mich seine Worte: „Ich werde gleich morgen früh wieder abreisen. Das ist einfach besser so. Mels Anwesenheit macht mich krank.“ Kapitel 51: Johannes -------------------- Dafür, dass es noch nicht einmal Mai war, war die Luft um mich herum erstaunlich warm, während ich missmutig durch die Nacht stapfte, doch das nahm ich nur am Rande wahr, da ich mit den Gedanken ganz woanders war. Es gefiel mir ganz und gar nicht, dass Mel darauf bestanden hatte, noch an diesem Abend nach Hause zurück zu kehren – und das hatte nichts damit zu tun, dass ich sie einfach gerne bei mir gehabt hätte. Als sie am Mittag so plötzlich vor meiner Tür gestanden hatte, hatte mir ihr Anblick beinah das Herz gebrochen. Sie war vollkommen aufgelöst, ja schon beinah hysterisch gewesen und hatte so lange und heftig geweint, dass es fast eine Viertelstunde gedauert hatte, bis ich heraus bekommen hatte, was mit ihr los gewesen war. Greg war wieder zu Hause. Eigentlich hatte ich immer gedacht, Mel würde vor Freude im Kreis springen, wenn dieser Tag kommen würde, doch offensichtlich hatte ich mich da ziemlich geschnitten. Ich dachte an den großen, blonden Jungen, mit dem ich früher so oft Basketball gespielt hatte. Ich hatte immerzu das Gefühl gehabt, dass er seine Schwester von Herzen liebte und niemals zulassen würde, dass ihr jemand weh tat. Ich hätte mein eigenes Hinterteil darauf verwettet, dass Greg bei all seiner Wut auf seine Eltern Mel immer vermisst hätte, doch offenbar hatte ich mich auch in dieser Beziehung getäuscht. Der Greg, den Mel mir heute geschildert hatte, hatte nichts mehr mit meinem Freund aus Kindertagen gemeinsam. Dieser neue Gregor schien seine Schwester regelrecht zu hassen oder sie zumindest als eine Art Abschaum zu empfinden. Während ich mich fragte, ob er womöglich einfach eifersüchtig auf Mel war, weil sie das leibliche Kind ihrer Eltern war, brandete eine heiße Wut in mir auf. Wie konnte Greg sich nur so rücksichtslos und wie ein Vollarsch verhalten? Sah er nicht, wie sehr er Mel damit verletzte? Sie konnte doch überhaupt nichts dafür, wie die Dinge damals gelaufen waren. Wenn er sich nicht so halsstarrig angestellt hätte, hätte er seine Familie doch niemals zu verlassen brauchen. Als ich meinen Schlüssel ins Schloss der Haustür schob, fiel mir wieder ein, dass ich früher einmal gedacht hatte, Greg hätte die Macht mit einem einzigen Fingerschnippen seine gesamte Familie zu zerstören – allen voran Mel. Dieser Eindruck hatte sich heute leider nur noch bestärkt. Mel hatte regelrecht zerschmettert gewirkt. Und trotzdem hatte sie darauf bestanden, die Nacht zu Hause zu verbringen, wo sie der Eiseskälte ihres Bruders hilflos ausgeliefert war. Dabei war sie so schon kalkweiß gewesen und hatte irgendwie fiebrig gewirkt. Vermutlich hatte sie mal wieder den ganzen Tag lang nichts gegessen – das kam leider öfter vor, wenn sie traurig war. Ich schüttelte matt den Kopf und machte ein knurrendes Geräusch, das tief aus meiner Brust zu kommen schien. Manchmal hasste ich den Dickschädel meiner Freundin. Ich ließ mich flach auf mein Bett fallen und verschränkte die Hände hinter meinem Kopf. In meinem Magen rumorte es unablässig und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass das wirklich dicke Ende erst noch kommen würde. Irgendetwas schien seine düstere Hand nach Mel auszustrecken, um sie in die Tiefe zu ziehen – und dieses Etwas war zusammen mit Greg gekommen. Ohne dass ich es hätte verhindern können, ballte sich tief empfundener Hass für meinen ehemaligen Freund in meiner Brust zusammen. Wenn er Mel irgendetwas tun würde, würde ich ihn umbringen... Genervt streifte ich im Liegen meine Turnschuhe ab und stellte meine Füße dann so aufs Bett, dass ich die Beine anwinkeln musste. Alles, was ich momentan tun konnte, war abwarten und hoffen, dass Mel am nächsten Tag anrufen und erzählen würde, dass alles nur ein großes Missverständnis war und dass nun wieder alles in bester Ordnung sei. Doch auch wenn ich nicht wusste, woher ich diese Gewissheit nahm, war mir klar, dass dies nicht passieren würde. Irgendetwas war aus dem Gleichgewicht geraten und ich hatte die leise Ahnung, dass sich Gregs Rückkehr auch auf meine Beziehung zu Mel auswirken würde – warum auch immer. Wie eine Ratte hatte sich dieses Gefühl in meinem Magen eingenistet und nagte unablässig an meinem Innersten. Aus unerfindlichen Gründen machte mir diese Situation Angst. Rational betrachtet hatte ich doch eigentlich gar nichts zu verlieren. Greg war lediglich Mels Bruder, nicht ihr lange verschollener Exfreund. Doch mein heftig schlagendes Herz wollte sich nicht einreden lassen, dass alles in Ordnung war. Egal wie ich die momentanen Umstände in meinem Kopf drehte und wendete, meine Gefühlswelt schrie, dass Greg bald wieder verschwinden musste, sonst würde womöglich noch ein Unglück geschehen. Ich versuchte, mir einzureden, dass ich mir einfach Sorgen um Mel machte – was ja auch angesichts ihres heutigen Zustands nicht verwunderlich war – doch wenn ich ehrlich zu mir war, konnte ich die unterschwellig bohrende Eifersucht nicht verleugnen. So schäbig es war, irgendwo tief in mir drin empfand ich eine leise Erleichterung darüber, dass Greg sich so abweisend Mel gegenüber verhielt. Ich wollte sie einfach nicht teilen, noch nicht einmal mit ihrem Bruder. Kapitel 52: Gregor ------------------ Ich hatte mich kaum bewegt, seit ich Mel aus meinem Zimmer geschmissen hatte. Schmerz, Trauer und ohnmächtige Wut hatten mich mit ihrem zentnerschweren Gewicht auf den Boden gedrückt und dort festgehalten. Selbst als Mutter zu Mittag- und Abendessen gerufen hatte, hatte ich mich kein Stück gerührt. Ich hatte sowieso kein Essen verdient. Inzwischen hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch Zeit niemals helfen würde. Alles, was ich tun konnte, war von hier zu verschwinden, mein Herz zu begraben und zu versuchen, Vroni wenigstens ansatzweise der Freund zu sein, den sie verdiente. Eigentlich wollte ich schon lange ein Taxi gerufen haben, aber ich fühlte mich zu leer und zu kraftlos, um auch nur einen Finger zu bewegen. Doch als es jetzt an meiner Tür klopfte, kehrten meine Lebensgeister schlagartig zurück und ich sprang auf die Beine. Mein Herz raste und mein Mund war so trocken, dass mir die Zunge am Gaumen klebte. War das womöglich Mel, die einen zweiten Anlauf wagte? Obwohl ich mich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, hoffte ein Teil von mir sehnsüchtig darauf, dass sie sich nicht hatte einschüchtern lassen und mich noch nicht aufgegeben hatte. Als sich die Tür öffnete und sich ein brauner Schopf durch den Spalt zwängte, bevor ich geantwortet hatte, sorgte dieser Teil dafür, dass mein Herz einige freudige Hüpfer machte. Doch als die Person ihren Kopf drehte, erkannte ich, dass es nicht Mel, sondern nur unsere Mutter war und obwohl ich einerseits erleichtert aufatmete, spürte ich dennoch einen tiefen Stich im Herzen. „Ich wollte nur sehen, ob mit dir alles in Ordnung ist.“ Mutters Stimme klang unsicher und ich fragte mich unwillkürlich, ob sie sich vor mir – ihrem eigenen Sohn – fürchtete. „Ist schon okay. Mir geht’s gut.“ „Sicher?“ „Ja, klar.“ Ich versuchte, zu lächeln, doch Mutter schob die Tür hinter sich zu und betrachtete mich kritisch. Unterbewusst registrierte ich, dass das Schloss nicht ganz einrastete und die Tür wieder wenige Millimeter aufschwang. „Ich will dir nicht zu nahe treten, Gregor, aber du siehst nicht danach aus. Und die Art wie du Mel heute Mittag behandelt hast, spricht auch nicht gerade dafür, dass alles in Ordnung ist.“ Ich seufzte und nahm endlich wieder meine Sonnenbrille ab. Die Augen, die darunter zum Vorschein kamen, waren vom stummen Weinen rot gerändert, aber Mutter hatte mich sowieso schon immer durchschauen können. Warum sollte ich mich also jetzt vor ihr verstecken? „Ich dachte, du meintest, ob ich vorhabe, mich von dem nächsten Hochhaus zu schmeißen oder so.“ „Gregor!“ Sie sah mich aus riesigen, blauen Augen an, so als wäre sie vorher noch nie selbst auf die Idee gekommen, dass ich noch immer manchmal an Selbstmord denken könnte. „Tut mir leid.“ Ich zuckte mit den Schultern und streifte ihren strafenden Blick einfach ab. Dieser Spruch war nichts, weswegen ich ein schlechtes Gewissen hätte haben müssen. Denn auch wenn ich noch immer nicht davon überzeugt war, dass mein Tod nicht vielleicht doch das Beste für meine Familie gewesen wäre, wusste ich dennoch, dass mir für Suizid einfach der Mumm fehlte. Mutter durchquerte mit schleppenden Schritten mein Zimmer und setzte sich seufzend auf mein Bett. Sie sah unendlich müde und geschafft aus – wie wir alle vermutlich. Ich holte tief Luft und versuchte, den bitteren Geschmack des schlechten Gewissens herunter zu schlucken. Ich hätte nicht zurückkommen dürfen. „Hast du eine Ahnung, wie es weiter gehen soll?“ Ich schüttelte stumm den Kopf und starrte auf den grauen Teppich, der voller alter, verblasster Flecken war. Ich hätte die Geschichte zu jedem einzelnen erzählen können. Der Große direkt neben meinem rechten Fuß zum Beispiel war entstanden, als mir während einer heimlichen Party eine Cola-Flasche umgekippt war. Und die kleinen Blassroten, die in einer fast geraden Linie in der Nähe der Tür verliefen, stammten von einem Tag, an dem Mel und ich alleine gewesen waren und sie mir beim Toben die Tür so heftig ins Gesicht geschlagen hatte, dass ich Nasenbluten bekommen hatte. Bei der Erinnerung daran musste ich unwillkürlich grinsen. Mutter runzelte die Stirn und sah mich mit einem strengen Blick an, der klar sagte, dass sie glaubte, ich wäre nicht mit genügend Ernst bei der Sache. „Willst du Mel für den Rest deines Lebens das Gefühl geben, dass du sie hasst?“ Verdammt, ich wollte jetzt nicht darüber reden. Eigentlich wollte ich mich nur noch auf meinem Bett zusammen rollen, die Decke anstarren und beim ersten Tageslicht wieder verschwinden. Wieder mal davon laufen. „Nein, natürlich nicht.“ „Dann verrat mir doch mal, wie du dir die Zukunft vorstellst.“ Ihr fordernder, anklagender Ton machte mich krank. Sie klang, als hätte ich eine Wahl, als würde ich das alles freiwillig machen. Genervt brüllte ich sie an: „Verflucht, ich weiß es nicht. Okay?!“ „Nein, das ist nicht okay!“ Minuten lang starrten wir uns stumm an, während ich beobachtete, wie Tränen in ihre Augen traten. Super! Ich war nicht ganz einen Tag wieder hier und hatte schon zwei Familienmitglieder zum Weinen gebracht. Ganz großes Kino. Dann holte Mutter tief Luft und strich sich ihr kinnlanges Haar hinter die Ohren. Unterbewusst fragte ich mich, ob die tiefen Falten, die sich nun in ihrem Gesicht abzeichneten, schon vor drei Jahren da gewesen waren oder ob ich auch daran schuld war. „Komm mal her, Gregor.“ Sie streckte ihren Arm nach mir aus und mein Körper setzte sich in Bewegung, ohne dass ich es wirklich wollte. Ich kniete mich vor mein Bett und legte meinen Kopf auf den Schoß meiner Mutter, die mir liebevoll über die Haare streichelte. So hatten wir uns früher oft vertragen, als meine Welt noch in Ordnung gewesen war, bevor ich von meinem Fluch gewusst hatte. „Kannst du mir etwas versprechen?“ Ihre Stimme war ganz nah an meinem Ohr. „Was denn?“ „Lauf nicht wieder weg.“ Sofort versteifte sich mein Körper und ich wollte aufstehen, doch Mutter zwang mich mit sanfter Gewalt zurück. „Ich will keines meiner Kinder verlieren. Ich hab dich in den letzten Jahren so sehr vermisst.“ Sie hatte mich vermisst? Ja, klar... Und ich war der Weihnachtsmann... Doch bevor ich etwas sagen konnte, hauchte sie mir einen Kuss auf die Schläfe und holte Luft, so als wolle sie noch etwas anfügen. Angespannt wartete ich darauf, dass sie aussprach. Irgendetwas sagte mir, dass mir nicht gefallen würde, was sie noch sagen wollte. Und tatsächlich: „Kannst du nicht wenigstens versuchen, so zu tun, als wäre nichts?“ Ich sprang auf die Füße und funkelte meine überrascht wirkende Mutter wütend an. „So tun als wäre nichts?! Hast du eine Ahnung, wie lange ich das schon versuche?“ Mutters Gesicht verwandelte sich in eine schmerzverzerrte Fratze, während ich ihr all die Tatsachen an den Kopf knallte, von denen sie am liebsten nichts gewusst hätte. „Ich kann meine Gefühle nicht ignorieren. Verdammt, Mutter, ich begehre Mel nicht nur, ich liebe sie – und das seit Jahren! Kannst du dir vorstellen, wie das ist, damit leben zu müssen? Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie sehr ich mich selbst dafür hasse, dass die einzige Frau, die ich wirklich von Herzen will, meine eigene Schwester ist?“ Kraftlos ließ ich mich auf meinen blau bezogenen Schreibtischstuhl sinken. „Und dann ist da noch tagtäglich diese Angst, dass irgendjemand etwas merken und sich vor mir ekeln könnte. Am schlimmsten ist der Gedanke, dass Mel selbst es irgendwann womöglich begreifen könnte. Das wäre noch schlimmer als das hier jetzt, obwohl es mir selbst weh tut, wenn ich sie so unglücklich sehe. Es fällt mir nicht leicht, so zu ihr zu sein, glaub mir das.“ Mutter hatte sich eine Hand vor den Mund geschlagen und sah mich nun mit einer Mischung aus Sorge, Schmerz und Abscheu an. Vermutlich fragte sie sich wieder einmal, was für ein Monster sie vor zwanzig Jahren geboren hatte. Sie hatte inzwischen genauso wie ich erkennen müssen, dass es keinen Zweifel daran gab, dass ich eine verfluchte Monstrosität war – und immer bleiben würde. Ich hatte gehofft, mit Abstand würden meine verqueren Gefühle wieder verschwinden, doch spätestens heute hatte ich gemerkt, dass dem nicht so war. Von dem ersten Augenblick an hätte ich Mel am liebsten auf ihre himmlischen Lippen geküsst und sie nie wieder aus meinen Armen gelassen. Aber ich wusste, dass ich so etwas nicht durfte, niemals. Doch ihre überschwängliche Freude mich zu sehen machte es nicht gerade einfacher, dieses Bedürfnis unter Kontrolle zu halten. „Und was hast du jetzt vor?“ Mutters Stimme klang vor lauter unterdrückter Tränen wie gepresst. Ich zuckte müde mit den Schultern. Blieb mir tatsächlich eine Wahl? „Ich werde gleich morgen früh wieder abreisen. Das ist einfach besser so. Mels Anwesenheit macht mich krank.“ Kapitel 53: Melanie ------------------- Sofort breitete sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund aus und mein Bauch krampfte sich so heftig zusammen, dass ich mich vornüber beugen musste. Noch während ich keuchend nach Luft schnappte, merkte ich wie mir die Magensäure in den Hals stieg. Langsam, mit weichen Knien und mit einer Hand immer an der Wand abgestützt schleppte ich mich in Richtung Bad. Ich weiß nicht mehr, wie, aber irgendwie schaffte ich es tatsächlich bis zur Toilette, bevor ich mich laut würgend übergeben musste. Ich hatte das Gefühl, ich würde alles aus mir heraus brechen – meinen Mageninhalt, mein Herz, meine Seele. Nach einem nur kurzen Augenblick stürzte Mama hinter mir ins Bad und schlug sich mit einem unterdrückten Schluchzen eine Hand vor den Mund. Ich musste tatsächlich so erbärmlich aussehen, wie ich mich plötzlich fühlte. „Oh, Mel!“ Mama eilte zu mir, kniete sich neben mich und strich mir mit einem besorgten Gesichtsausdruck über den Rücken. „Was hast du?“ Während der kurzen Pause zwischen zwei Würgewellen zuckte ich mit den Schultern, doch bevor ich etwas sagen konnte wie „Vermutlich was Falsches gegessen.“ füllte sich mein Mund erneut wieder mit beißender Magensäure und ich musste ausspucken. Ein klebriger Film kalten Schweißes überzog bereits meinen ganzen Körper, als Greg in der Tür auftauchte. Bei seinem Anblick krampfte sich mein eh schon wunder Magen noch mehr zusammen. Ich spuckte ein weiteres Mal Magensäure und Gallensaft in die weiße Porzellanschüssel unter mir, als Mama sich mit flehendem Ton an meinen Bruder wandte: „Jetzt tu doch was, Gregor!“ „Was soll ich denn machen? Ihr die Haare halten?!“ Seine Stimme klang so kalt und abfällig wie ich es schon gewohnt war, doch als ich vom vielen Erbrechen erschöpft den Kopf drehte und ihn auf den kalten Rand der Toilettenschüssel legte, sah ich, dass sich neue Tränen in Gregs eh schon geröteten, hellgrünen Augen sammelten. Ich war ihm also doch nicht ganz egal... „Ich... ich glaub, ich... möchte ins... Bett.“ Allein zu sprechen fiel mir schwer. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie ein Versuch ausgesehen hätte, von alleine wieder auf die Beine zu kommen. Mama schob mir etwas ungelenk ihre Hände unter die Achseln und versuchte, mich hoch zu ziehen. Greg beobachtete ihr fruchtloses Unterfangen für etwa eine Minute stumm und unbewegt, doch dann trat er mit energischen Schritten ans Waschbecken, füllte meinen roten Zahnputzbecher bis zum Rand mit kaltem Wasser und kniete sich vor mich. „Hier spül dir den Mund aus, sonst wird’s bald richtig unangenehm.“ Fürsorglich legte er seine große, warme Hand auf meine, als ich versuchte, den Becher allein zu halten. Während ich seinem Rat nachkam und Mama sich mit einem Seufzen auf den Badewannenrand hinter mir setzte, betrachtete ich Gregs Gesicht, das fast direkt neben meinem war. Seine leicht geschwollenen Augen beobachteten konzentriert jede kleine Bewegung meinerseits, zwischen seinen dunklen Augenbraunen, die er ein wenig zusammen gezogen hatte, waren zwei kleine Falten entstanden und seine aufgebissenen Lippen formten einen schmalen Strich. Als der Becher leer war, stellte Greg ihn einfach blind neben der Toilette ab und hob mich auf seine starken Arme. Ich wollte protestieren, dass ich zu schwer war, doch ich war vollkommen ausgelaugt und kraftlos. So ließ ich meinen Kopf einfach gegen seine breite Brust rollen, anstatt mich zu sträuben. Mit einer Leichtigkeit als würde ich gerade mal fünf Kilo wiegen trug Greg mich zu meinem Bett, wo Mama, die uns gefolgt war, mich liebevoll zudeckte. Kaum dass er mich abgelegt hatte, wollte Greg sich auch schon wieder zurückziehen, doch ich packte ihn mit einer Macht, die mich selbst erstaunte. Ich hatte also doch noch ein wenig Energie übrig. „Nein, Greg! Bleib! Bitte, bleib.“ Er warf Mama einen gequälten Blick zu, den ich nicht verstand, und ließ sich dann mit einem resigniert klingenden Seufzen auf meiner Bettkante nieder. Unsere Mutter stand eine Weile unschlüssig im Raum und betrachtete meinen Bruder mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck, der mich verwirrte, doch bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, überkam mich eine gewaltige Müdigkeitswelle und die Augen fielen mir zu. Ich bekam fast gar nicht mehr mit, wie Mama mich auf die Stirn küsste und sagte: „Schlaf gut, meine Kleine. Ich ruf Papa im Krankenhaus an und sag ihm, dass du krank bist. Gregor bleibt hier und passt auf dich auf.“ Mein Kopf rollte zur Seite und ich war beinah schon ins Land der Träume abgedriftet, als ich plötzlich merkte, wie jemand versuchte, das Handgelenk, das ich umklammert hielt, aus meinen Fingern zu lösen. Sofort war ich wieder hellwach und versuchte, mich aufzurichten, doch Greg drückte mich sanft zurück in die Kissen. „Immer mit der Ruhe, Kleines. Ich will mir nur einen Stuhl holen, das ist bequemer.“ Widerwillig ließ ich ihn los und beobachtete ihn mit sorgengroßen Augen wie er den Raum durchquerte und mit meinem rotgepolsterten Schreibtischstuhl zurück kam. Kaum dass er sich gesetzt hatte, griff ich wieder nach seiner Hand, die er mir mit einem traurigen Lächeln überließ. „Gehst du auch wirklich nicht weg?“ Er strich mir über die Wange und schluckte hart, bevor er antwortete: „Nein. Ich bleib die ganze Nacht bei dir. Versprochen.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief ich schließlich ein. Das war endlich wieder der Bruder, den ich kannte. Kapitel 54: Gregor ------------------ Durch die halbherzig zugezogenen Vorhänge drang schmutziges Licht, während die Sonne sich langsam hinter dem Horizont hervor kämpfte. Ich gähnte herzhaft und rieb mir mit der linken Hand über die vor Müdigkeit brennenden Augen. Die andere Hand wurde noch immer von Mel umklammert und war inzwischen so taub, dass ich sie kaum noch spürte. Vorsichtig bewegte ich einen Finger, was sofort ein schmerzhaftes Kribbeln zur Folge hatte. Erschöpft lehnte ich mich wieder auf dem Stuhl zurück und betrachtete Mel. Nach Stunden war sie endlich in einen tiefen Schlaf verfallen und schlummerte nun selig vor sich hin. Vorher hatte sie sich unruhig hin und her geworfen und immer wieder „Geh nicht, Greg. Bitte, bitte, verlass mich nicht.“ gewimmert. Plötzlich öffnete sich Mels Zimmertür und unser Vater huschte in den Raum. Er sah in etwa so müde aus wie ich mich fühlte. „Wie geht’s ihr?“ Gegen vier Uhr morgens war Paps gleich, sobald er nach seiner Spätschicht im Krankenhaus wieder zu Hause gewesen war, nach oben gestürmt und hatte nach seiner kleinen Prinzessin gesehen. Dabei hatte er bemerkt, dass Mel nicht nur völlig entkräftet war, sondern auch erhöhte Temperatur hatte und vermutlich unter Fieberträumen litt. „Besser, glaub ich. Auf alle Fälle ist sie ruhiger. Aber ich glaub, sie hat immer noch Fieber.“ Mein Vater bedachte mich mit einem sonderbaren Blick, der mich sogleich zusammen zucken ließ. Beschämt biss ich mir auf die Unterlippe, starrte auf meine Hände und ärgerte mich über mich selbst. Warum zum Teufel hatte ich ein schlechtes Gewissen, nur weil ich Mel über die Stirn gestrichen hatte, um ihren Schweiß wegzuwischen? Das war doch auch etwas, das normale Brüder taten. Oder etwa nicht? Ich seufzte und beobachtete meinen Vater, wie er Mel eine Hand an die Stirn legte, um ihre Temperatur zu schätzen. Ich wusste genau, warum mich mein Gewissen zwickte... Weil ich nicht das dabei empfand, was ein Bruder fühlen sollte, wenn er sich um seine kranke Schwester kümmerte. Für mich war der Schweißfilm auf ihrer Stirn nur ein willkommener Grund, sie zu berühren. Etwas, das ich für mich selbst vorschieben konnte, obwohl ich eigentlich wusste, dass ich einfach nur ihre weiche Haut unter meinen Fingerkuppen spüren wollte – ein Gefühl, das mein Herz rasen und meine Hand zittern ließ. „Ich glaube, ihre Temperatur ist ein wenig runter gegangen, aber Fieber hat sie definitiv immer noch.“ Paps richtete sich wieder auf und sah mich dann mit einem besorgten Gesichtsausdruck an. „Soll ich dich ablösen? Du siehst aus, als könntest du dringend Schlaf gebrauchen und außerdem...“ Er ließ den Satz unfertig und bedeutungsschwer im Raum hängen. Ich war versucht, ihn anzugiften: „Und außerdem was? Hast du Angst, ich könnte über sie herfallen, so lange sie weggetreten ist?“ Da ich mir nicht sicher war, dass mir nicht etwas Aufsässiges entwischt wäre, sobald ich den Mund aufgemacht hätte, schüttelte ich nur den Kopf. Paps kam langsamen Schrittes zu mir herüber und fasste mir mit dem Zeigefinger unters Kinn, damit ich ihn ansah. „Aber du versprichst mir, dass du irgendwann ins Bett gehst? Sonst hab ich bald zwei kranke Kinder und das will ich nicht.“ Obwohl ich wusste, dass er es liebevoll gemeint hatte, konnte ich mir ein sarkastisches Schnaufen nicht verkneifen. „Das hast du doch jetzt schon. Mel hat Fieber und ich bin krank im Kopf.“ Die Ohrfeige, die mir mein Vater daraufhin verpasste, sah ich nicht einmal kommen. Winzige, weiße Sternchen tanzten vor meinen Augen und in meinen Ohren klingelte es so heftig, dass mir für einen kurzen Moment schwindelig wurde. Überrascht starrte ich zu meinem Vater herauf und hielt mir die schmerzende Wange. Er hatte mich noch nie geschlagen. „Sag so etwas nie wieder. Ist das klar?“ Paps keuchte als hätte er einen Marathonlauf hinter sich und blickte mich zornig an. Trotzig schob ich die Unterlippe vor und wandte das Gesicht ab. „Warum nicht, wenn es doch die Wahrheit ist?“ Mel drehte leise stöhnend den Kopf und sofort zuckte mein Blick zu ihr zurück. Doch sie schlief noch immer tief und fest und hatte ein kleines Lächeln auf den Lippen so als träumte sie etwas schönes. Paps setzte sich mir gegenüber auf die Bettkante und betrachtete nachdenklich meine Hand, die Mel fest umklammert hielt. „Es ist aber nicht die Wahrheit. Du bist nicht krank. Es ist vielleicht ungewöhnlich, was dir passiert ist und wir müssen sehen, wie wir damit in Zukunft umgehen, aber das macht dich nicht zu einem schlechteren Menschen. Hörst du?“ Sein Blick wanderte zu mir und suchte meine Augen. Die Aufrichtigkeit in seinem Gesicht schmerzte. Er glaubte tatsächlich, was er da sagte. Ich wünschte mir, er hätte recht, doch ich wusste es besser. Ich war nicht einmal mehr nur ein schlechterer Mensch. Ich war ein verachtenswertes Monster. Als ich nicht antwortete, atmete mein Vater tief durch und verschränkte die Arme vor der Brust. Erst jetzt fiel mir auf, dass er noch immer seinen Arztkittel trug, der genau wie die ausgebleichten Strähnen in seinem dunkelblonden Haar durch das schmutzige Licht der ersten Sonnenstrahlen mehr grau als weiß wirkte. „Ich weiß, dass du mir das nicht glaubst. Du hasst dich für deine Gefühle und suchst jede erdenkliche Möglichkeit, nur um dich dafür zu bestrafen, dass du... anders bist. Aber das ist nicht der richtige Weg. Ich denke, du solltest hier bleiben und versuchen, dich deinen Dämonen zu stellen.“ Paps klang so entsetzlich verzweifelt, dass ich tatsächlich Schuldgefühle dafür bekam, dass ich vor drei Jahren vor meinen widernatürlichen Gefühlen geflohen war. Ich betrachtete Mels zierlichen Hände, die meine Hand mit einer Kraft umklammert hielten, die man den schmalen Fingern gar nicht zutraute. Ich dachte an ihr herzzerreißendes Gewimmer, das sie im Fieberwahn ausgestoßen hatte, und seufzte. Dann richtete ich meinen Blick wieder auf Paps, der mich aus besorgten blaugrünen Augen musterte. „In der nächsten Zeit werde ich nirgendwo hin gehen, versprochen. Mel braucht mich.“ Kapitel 55: Veronica -------------------- Ich schreckte aus einem unruhigen, mit düstren Träumen gespickten Schlaf hoch, als das Telefon endlich klingelte. Verschlafen langte ich auf den Couchtisch und rieb mir über die Augen, bevor ich das Gespräch annahm. Ich war tatsächlich auf dem Sofa eingeschlafen... „Sorry, dass es so spät geworden ist.“ Gregs Stimme klang leblos und weit weg. Mein Herz zog sich sofort schmerzhaft zusammen und ich war augenblicklich hellwach. So wie er sich anhörte, war das Aufeinandertreffen mit seiner Familie nicht gut gelaufen. Verstohlen warf ich einen Blick auf die große Wohnzimmeruhr. Es war sechs Uhr in der Früh. „Macht nichts. Ich hab eh noch gearbeitet.“, log ich, um ihm ein bisschen seines schlechten Gewissens zu nehmen, das er sicherlich hatte – ich kannte ihn. Für einen langen Moment, in dem mein Herz so laut klopfte, dass ich fast sicher war, dass Greg es auf der anderen Seite bestimmt schlagen hören konnte, sagte keiner von uns ein Wort. Doch dann nahm ich endlich all meinen Mut zusammen und fragte mit zitternder Stimme: „Und? Wie sieht’s jetzt aus?“ Für lange Zeit hörte ich einfach nur Gregs unregelmäßige Atemzüge, was jedoch eigentlich schon Antwort genug war. Hätte er festgestellt, dass Melanie inzwischen nur noch geschwisterliche Gefühle in ihm weckte, hätte er dies sofort begeistert heraus posaunt. Der bittere Geschmack nach Galle machte sich auf meiner Zunge breit. Schließlich holte Greg tief Luft und gab zu: „Nicht gut. Ich glaube, es ist über die Jahre sogar eher schlimmer geworden. Hier zu sein ist die Hölle.“ „Aber jetzt hast du wenigstens Gewissheit.“, versuchte ich einen optimistischen Ton anzuschlagen, obwohl ich mich am liebsten gleich hier auf den Teppich erbrochen hätte. Greg würde mich niemals lieben, nicht so wie ich ihn. „Ja... Aber ich frage mich, ob es tatsächlich immer besser ist, Gewissheit zu haben. Ich glaub, ich hätte mich ganz gerne noch ein paar Jahre länger beschissen.“ Seine Worte klangen rau, so als müsste er sich stark bemühen, um nicht zu weinen. „Komm nach Hause.“, forderte ich ihn mit ebenso tränenerstickter Stimme auf. Bohrende Gewissensbisse machten sich in mir breit, weil ich ihn zurück zu seiner Familie gezwungen hatte. „Das würde ich gerne, aber ich kann nicht.“ „Warum nicht?“ Mein Herz begann wie wild gegen meine Rippen zu hämmern. Wollte er mir jetzt sagen, dass er so nicht mehr mit mir zusammenleben konnte? Sollte ich tatsächlich auch das letzte Bisschen von ihm verlieren, das mir noch geblieben war? „Mel ist krank und will mich unbedingt an ihrer Seite haben. Sie bekommt regelrecht Panik, wenn ich nur den Raum verlassen will.“ In meinen Ohren rauschte das Blut so laut, dass ich Greg kaum verstand. Ich blinzelte ein paar Mal und versuchte, mich auf jedes einzelne Wort zu konzentrieren, während er unbeirrt weiter sprach. „Ich hab Angst, dass sich ihr Zustand noch verschlechtert, wenn ich jetzt gehe. Ich kann sie so einfach nicht verlassen, das musst du verstehen. Trotz allem ist sie doch noch immer meine kleine Schwester.“ Seine Stimme klang so flehend, dass es mir die Kehle zuschnürte. Ich konnte mir gut vorstellen wie er mit gequältem Gesichtsausdruck vor einem Fenster stand, in die anbrechende Dämmerung blickte und versuchte, dem Zwiespalt in seinem Inneren zu entkommen. Denn er fühlte sich mir verpflichtet, das wusste ich. Er glaubte, dass er es mir schuldig war, sofort zu mir zurück zu kommen. Wenn ich nicht die Befürchtung gehabt hätte, dass es ihn vollends zerbrochen hätte, hätte ich ihn um seinetwillen verlassen. „Ist okay. Dann weiß ich Bescheid.“ Obwohl ich mich wirklich bemühte, schaffte ich es nicht, mehr als ein tonloses Flüstern zustande zu bringen. „Du meldest dich, wenn es etwas Neues gibt?“ „Ja, natürlich. Ich denke, in ein paar Tagen bin ich auch wieder bei dir. Ich vermi–“ Bevor er ausgesprochen hatte, legte ich auf. Ich konnte einfach nicht mehr und ich wollte in diesem Moment auch gar nicht mehr stark spielen. Das Telefon glitt mir aus den plötzlich kraftlosen Fingern und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem dicken Teppich. Mein Magen krampfte sich so schmerzhaft zusammen, dass ich mir die Arme um den Oberkörper schlingen und mich vornüber beugen musste. Mehrere heftige Schluchzer drückten sich mir die Kehle hinauf und schnürten mir die Luft ab. Während mir die Tränen wie Sturzbäche übers Gesicht strömten, drängte sich mir der Gedanke auf, dass zu sterben sicherlich nicht schlimmer schmerzen konnte als ein gebrochenes Herz. Spontan musste ich an ein Lied von Farin Urlaub denken: „Manchmal wünsch’ ich mir, ich wäre tot. Keine Gefühle. Kein Problem. Das klingt nach einem verlockenden Angebot, aber ich werd’s überleben und mit Glück bleibt nur eine Narbe zurück.“ Eigentlich hätte ich möglichst schnell meine Sachen packen und vor Greg fliehen sollen, in der Hoffnung, dass die Wunde, die er in meinem Herzen gerissen hatte, irgendwann verheilen würde. Doch ich hatte Angst, dass ich seine eh schon geschundene Seele dadurch vollends zerstören würde und da ich ihn mehr liebte als mich selbst, hatte sein Seelenheil einfach Vorrang. Während der Weinkrampf langsam abebbte und nur dumpfe Leere zurückließ, stellte ich mir die Frage, warum es manchmal so verdammt schwer ist, das Richtige zu tun. Kapitel 56: Melanie ------------------- Als ich wieder wach wurde, fiel goldenes Sonnenlicht in breiten Bahnen ins Zimmer. Ich streckte mich und reckte die Arme nach oben, um wacher zu werden. Doch mitten in der Bewegung erstarrte ich plötzlich. Meine Hände waren leer! Erschrocken riss ich die Augen auf und versuchte, mich hinzusetzen, doch zwei starke Hände drückten mich wieder in die Kissen. „Brr, immer langsam mit den jungen Pferden.“ Gregs Stimme war ganz nah an meinem Ohr und endlich konnte ich den Schlaf genügend weg blinzeln, um sein Gesicht klar zu erkennen. Er hatte dicke, schwarze Ringe unter den Augen und seine Haut war aschfahl, doch auf seinen Lippen lag ein schiefes Lächeln, das mich aufatmen ließ. „Du bist noch hier.“ Meine Stimme klang kratzig und mein vom vielen Erbrechen wunder Hals schmerzte höllisch. Außerdem fühlte es sich an, als wären meine Mandeln geschwollen. Ich versuchte zu schlucken und verzog das Gesicht. Greg setzte sich neben mich aufs Bett und hielt mir ein Wasserglas entgegen. „Hier, trink das.“ „Was ist das?“ Die Flüssigkeit im Inneren war pissegelb und schien eiskalt zu sein. Die Außenseite des Glases war beschlagen und ich sah kleine Eiswürfel in dem Getränk umher schwimmen. „Einer von Paps’ Vitamin-Drinks.“ „Muss der so kalt sein?“ „Ja. Das soll gegen die Schwellung in deinem Hals helfen.“ Kleine Wassertropfen stahlen sich unter den Fingern meines Bruders hervor und rollten das Glas entlang, bis sie am unteren Ende herab fielen. „Na schön.“ Folgsam nahm ich das Getränk entgegen und stürzte es in einem Zug hinab, obwohl mir eh schon kalt war. Greg lächelte mich breit an und nickte. „So ist es brav.“ „Warum hast du meine Hand los gelassen?“ Die Frage rutschte mir einfach raus, ohne dass ich vorher darüber nachgedacht hatte. Ohne mich anzusehen, nahm Greg mir das Glas wieder ab und stellte es auf meinen Nachtschrank, bevor er nach etwas griff, das er an das Fußende meines Bettes gelegt hatte. „So, jetzt bindest du dir das hier noch um und dann sind deine Halsschmerzen bald weg.“ Er hielt mir ein schwarzgrün gemustertes Palästinatuch hin, das ich sofort wiedererkannte. Es war dasselbe Halstuch, das ich ihm vor zwei Jahren in London gekauft hatte. Argwöhnisch nahm ich das weiche Stück Stoff entgegen und fragte mich, ob das ein eleganter Versuch war, mir ein unbeliebtes Geschenk zurück zu geben. Doch als ich das Tuch umwickelte, bemerkte ich, dass es nach Greg roch. Der Geruch war einfach zu intensiv, um von einem ungetragenen Kleidungsstück auszugehen. Als Greg mein glückseliges Lächeln bemerkte, kehrte sein schiefes Grinsen zurück. „Ich glaub, ich hab mich dafür noch gar nicht bei dir bedankt.“ „Nein, hast du nicht.“ „Schande über mich. Also: Vielen Dank für dieses wunderbare Pali-Tuch, Schwesterherz.“ „Gefällt’s dir wirklich?“ „Auf jeden Fall. Ich würde sagen, ich hab’s fast täglich getragen.“ Obwohl er mich so breit anlächelte, dass er dabei eine Reihe seiner starken, weißen Zähne entblößte, hatten seine Augen irgendwie einen wehmütigen Glanz, der mich irritierte. Doch bevor ich nachfragen konnte, fiel mir eine andere Frage ein, die er mir noch nicht beantwortet hatte. „Warum hast du meine Hand los gelassen?“, wiederholte ich mit einer Stimme, die selbst in meinen Ohren ungeduldig klang. Ein amüsierter Ausdruck glitt über Gregs Gesicht. „Kannst du dir das nicht denken? Ich musste mal austreten. Außerdem war mir die Hand eingeschlafen und tat weh.“ „Oh...“ Ich biss mir auf die Unterlippe und schämte mich ein wenig dafür, dass ich gedacht hatte, er hätte sich womöglich von mir gelöst, weil meine Berührung ihn anekelte. Aber irgendwie war er mit seinem Verhalten vom vorherigen Tag ja selbst schuld daran, dass ich solche Gedanken hatte... Trotzdem hatte ich plötzlich das Gefühl, ich hätte ihm schrecklich unrecht getan. Doch bevor ich mich für meinen drängelnden Ton entschuldigen konnte, stand Greg auf und streckte seinen langen Körper. „Bevor ich’s vergesse: Da hat ein Johannes für dich angerufen.“ Bei dem Gedanken an meinen Freund begann ich unwillkürlich zu strahlen. Aus irgendeinem Grund verdüsterte sich Gregs Gesichtsausdruck fast simultan. Ein wenig irritiert zog ich die Augenbraunen zusammen, doch wieder kam mir mein Bruder zuvor: „Ich schick dir Mutter mit Frühstück hoch und leg mich dann schlafen. Ich bin hundemüde.“ Mit diesen Worten verschwand er schnellen Schritts aus meinem Zimmer, ohne eine Antwort abzuwarten. Für ein paar Herzschläge blickte ich ihm verwirrt hinterher, doch dann zuckte ich die Schultern, griff zu dem kleinen, schwarzen Schnurlostelefon, das auf meinem Nachtschrank lag und wählte Jos Nummer. Kapitel 57: Gregor ------------------ Winzige Bläschen blubberten durch meine Adern, brachten mein Blut zum Kochen und verhängten meinen Blick mit einem roten Wutschleier. Ich saß mit zu Fäusten geballten Händen auf Mels leise quietschendem Schreibtischstuhl und durchbohrte den Jungen auf der gegenüberliegenden Bettkante mit meinen Blicken. Mit mahlenden Kiefern schob ich meine Fäuste unter die Achseln, um zu verbergen, dass meine Hände zitterten. Das unkontrollierte Zucken meines Bizeps konnte ich leider nicht so einfach verstecken. Mel warf mir einen besorgten Seitenblick zu, widmete sich dann aber gleich wieder ihrem Freund, der ihr gestenreich eine Anekdote aus seiner Kindheit erzählte und sie zum Lachen brachte. Am liebsten hätte ich diesen Kerl auf der Stelle wieder raus geworfen. Mit wütendem Blick starrte ich auf ihre in einander verschlungenen Hände, die neben Mels zierlichem Körper auf der blutroten Decke lagen. Dass dieser Wicht Mel mit seinen fetten Wurstfingern angrabbelte, widerte mich an. Ich fuhr mir mit der flachen Hand übers Gesicht. Was war eigentlich mit mir los? Ich mochte Johannes! Mit einem bitteren Schnaufen gestand ich mir endlich ein, dass ich eifersüchtig war. Rasend eifersüchtig. Doch dies war nicht die normale Eifersucht eines großen Bruders, dessen Schwester ihren ersten festen Freund nach Hause brachte, das war mir klar. Ich war nicht sauer auf das Schicksal, weil ich nicht mehr die erste Geige in Mels Leben spielte, weil sie nicht mehr zu mir, sondern zu ihrem Freund lief, wenn sie Probleme hatte. Ich wollte derjenige sein, der Mels Hand hielt und sie zum Lachen brachte, den sie mit diesem verklärten Lächeln und diesem glücklichen Leuchten in den Augen ansah. Ich atmete tief durch und beobachtete die beiden Turteltäubchen auf dem Bett aus den Augenwinkeln. Mel lag noch immer tief in ihre Kissen gekuschelt in der Mitte ihres breiten Bettes und Johannes saß mit dem Rücken zu mir auf der Bettkante, hielt ihre Hand und redete und redete als würde die Welt untergehen, wenn er mal für fünf Minuten still sein sollte. Sie sahen aus als würden sie mich gar nicht beachten, doch jedes Mal, wenn ich hatte gehen wollen, um diesem schmerzenden Anblick zu entfliehen, hatte Mel so panisch reagiert, dass ich aufgegeben und mich in mein Schicksal gefügt hatte. Wenn es Mel glücklich machte, würde ich die zärtliche Vertrautheit der Beiden ertragen, auch wenn ich das Gefühl hatte, mein Herz würde Säure statt Blut durch meine Adern pumpen. Ein grimmiges Grinsen, das Mel irritiert ihre Stirn in Falten werfen ließ, huschte über mein Gesicht, als mir der Gedanke kam, dass wenigstens meine Mutter jetzt beruhigt sein müsste, seit Johannes da war. Früher am Tag war ich kurz unten gewesen, um meinem knurrenden Magen etwas Beschäftigung zu verschaffen, doch als ich gerade die Türklinke zur Küche hatte herunter drücken wollen, hatte ich meine Eltern im Esszimmer nebenan gehört. „Meinst du wirklich, es ist eine gute Idee, die Beiden allein zu lassen, Paul?“, hatte meine Mutter in einem drängenden Ton gefragt. „Natürlich. Warum nicht?“ Paps hatte wie immer mit der ruhigen, gleichmäßigen Stimme eines Arztes gesprochen, der es gelernt hatte, mit Patienten zu reden, ohne sich anmerken zu lassen, wie schlimm es wirklich um sie stand. „Ich meine ja nur... Was, wenn Gregor sich mal nicht in der Gewalt hat?“ Für einen kurzen Moment war das Geraschel von Papier zu hören gewesen. Vermutlich hatte Paps eine seiner geliebten Zeitungen zusammen gefaltet, um Mutter mit einem strengen Blick zu strafen. „Was soll das heißen?“ Noch immer hatte kaum Gefühl in seiner Stimme gelegen. Kalter Schweiß war mir in breiten Bahnen den Rücken hinab gelaufen, während ich angestrengt gelauscht hatte. Es war endlich einmal eine Gelegenheit gewesen, um heraus zu finden, was meine Eltern wirklich von mir dachten. „Na ja, Mel ist im Moment so hilflos. Das kann schon mal heftige Gefühle in einem jungen Mann wecken und Gregor –“ „Und Gregor was?“, hatte Paps Mutter das Wort abgeschnitten. „Margarethe, es tut mir leid, aber du redest Blödsinn.“ Die winzige Spur Ärger, die in seiner Stimme mitgeschwungen hatte, war kaum hörbar gewesen. „Ach, tue ich das? Willst du also abstreiten, dass er diese... abnormale Gesinnung hat?“ Ich hatte mich gefühlt, als ob mir jemand mit voller Wucht in den Magen getreten hatte. Wie erstarrt hatte ich da gestanden, die Klinke noch immer in der Hand, unfähig, mich zu bewegen, und hatte mir mitanhören müssen, dass meine eigene Mutter mich tatsächlich für ein abstoßendes Monstrum hielt. Obwohl ich es vorher gewusst hatte, hatte es heftiger geschmerzt, sie diese Worte aussprechen zu hören, als ich vorher gedacht hatte. Dem nachfolgenden Knall nach zu urteilen hatte Paps seine Zeitung heftig auf den Tisch geschmissen. „Ehrlich, Margarethe, du redest Bullshit! Wenn Mel irgendein Mädchen wäre, würdest du doch auch nicht glauben, dass Greg sie gleich vergewaltigt!“ Allein bei der Aneinanderreihung dieser beiden Wörter – Mel, vergewaltigt – war ich heftig zusammen gezuckt. Ich hätte ihr niemals wehtun können, nicht so. Die Stimme meiner Mutter hatte sich einige Oktaven in die Höhe geschraubt, bis sie mir in den Ohren geschmerzt hatte. „Sie ist aber nicht irgendein Mädchen! Sie ist seine Schwester!“ „Na und?“ Vor Zorn hatte jetzt auch Paps’ Stimme gebebt. Harmonisch dazu hatte ich draußen auf dem Flur zu zittern begonnen. „Nur weil er amouröse Gefühle für seine Schwester hat, heißt das noch lange nicht, dass er ein Monster ohne jede Moral und Anstand ist. Verdammt, Margarethe, denk doch mal nach, was du hier redest. Er ist dein Sohn!“ Dann war mein Vater so schwungvoll aufgestanden, dass sein Stuhl laut scheppernd auf den hell gefliesten Boden gekracht war. Doch anstatt ihn wieder aufzustellen, war Paps nach draußen gestürmt, wo er mich vorgefunden hatte, wie ich noch immer wie paralysiert vor der Tür gestanden hatte. „Oh, Junge...“ Paps’ Gesicht war vor Schmerz und Mitgefühl ganz verzerrt gewesen, doch ich hatte mich – plötzlich wieder aus meiner Bewegungslosigkeit erwacht – einfach an ihm vorbei gedrückt und war die Treppe hinauf gestürmt, zurück in Mels Zimmer. Der Appetit war mir gründlich vergangen gewesen. „Hey! Jemand zu Hause?“ Mel fuchtelte mir mit ihren dünnen Ärmchen vor dem Gesicht herum, während sie und Johannes mich aus sorgenvollen Augen musterten. Blinzelnd kam ich langsam wieder in der Gegenwart an und ich richtete meinen Blick auf Mel, die sich ängstlich auf die Unterlippe biss. „Ja, klar doch. Alles prima.“, versuchte ich sie zu beruhigen, doch es schien nicht ganz zu klappen. „Du warst vollkommen weggetreten. Wir haben dich mehrfach angesprochen, aber du hast nicht reagiert.“ Ich strich mir ein paar vorwitzige Strähnen aus der Stirn, während Mel sich wieder in ihre Kissen zurück fallen ließ. „Ich hab nur über etwas nachgedacht, das ist alles.“ „Aber doch nicht darüber, wann du uns wieder verlässt, oder?“ Sofort machte sich neue Panik auf ihrem hübschen Gesicht breit, was Johannes dazu veranlasste, ihr beruhigend über den Unterarm zu streichen und mir einen grimmigen Blick zuzuwerfen. Um zu erraten, was er dachte, musste man keine übernatürlichen Fähigkeiten haben: „Langsam reicht es! Meinst du nicht, du hast ihr in den letzten Stunden genug zugemutet? Hör auf, ihr immer und immer wieder Angst zu machen.“ Ich schüttelte träge den Kopf. „Nein. Ich hab darüber nachgedacht, was ich jetzt eigentlich mit meinem Leben anfange. Ich hab die Schule beendet und mein Zivildienst liegt auch hinter mir. Ich glaub, ich möchte Arzt werden – wie Paps.“ Die Idee war mir erst mit dieser kleinen Notlüge gekommen, doch sie gefiel mir. Ja, ich wollte wirklich Arzt werden. Mel lächelte breit, während sie mit Jos Fingern spielte, der sie mit einem hirnlosen Gesichtsausdruck anhimmelte. „Das ist eine super Idee. Das kannst du bestimmt richtig gut.“ Dann wandte sie sich wieder ihrem Freund zu und erzählte ihm begeistert, wie toll ich schon immer darin gewesen wäre, sie gesund zu pflegen, und dass es bestimmt schon bald keinen Krankheitserreger geben würde, der sich nicht vor mir in Acht nehmen müsste. Während ich ihrem überschwänglichen Enthusiasmus zuhörte und die Selbstverständlichkeit betrachtete, mit der Mel Jos Hand hielt und ihm in unregelmäßigen Abständen mit dem Daumen über den Handrücken streichelte, dachte ich mit einem bitteren Lächeln daran, wie schade es war, dass man kranke Herzen nicht genauso leicht heilen konnte wie kranke Körper. Kapitel 58: Johannes -------------------- Als Mel mich an diesem Morgen angerufen hatte, hatte ich zunächst an einen Scherz und dann an ein Wunder geglaubt. Sie hatte wie ausgewechselt geklungen, war gut drauf gewesen und hatte sogar munter gescherzt, obwohl man ihrer Stimme angehört hatte, dass sie zumindest körperlich angeschlagen war. Ich hatte mich tierisch für Mel darüber gefreut, dass Greg anscheinend wieder der Alte war, auch wenn sich die Eifersucht sofort wieder bemerkbar gemacht hatte. Ich hatte wirklich geglaubt, dass mein Bauchgefühl sich getäuscht hatte und jetzt vielleicht alles gut werden würde. Doch nun saß ich auf Mels Bett und fühlte mich schrecklich unwohl. Als ich in das Zimmer gekommen war, hatte ich zunächst nur Mels zierliche Gestalt gesehen, die in den dicken, blutroten Kissen förmlich versank. Im nächsten Moment hatte ich jedoch Greg entdeckt, der auf dem Schreibtischstuhl neben dem Bett gesessen hatte. Der Anblick seiner unglücklich wirkenden Gestalt war mir durch und durch gegangen und hatte dafür gesorgt, dass sich meine Nackenhaare abwehrend aufgestellt hatten. Wieder betrachtete ich ihn aus den Augenwinkeln, während ich mit halbem Ohr Mel zuhörte, die ganz begeistert war von Gregs Idee, Arzt zu werden. Gregs Haut war aschfahl und wirkte irgendwie brüchig, seine Unterlippe war so blutig gebissen, dass ich allein vom Gucken fast das Gefühl hatte, selbst Blut auf der Zunge zu schmecken, und seine verhangenen Augen starrten auf Mels Hand, die meine umklammert hielt, schienen aber nichts wirklich zu sehen. Alles an diesem Mann wirkte irgendwie müde und abgespannt, ausgehöhlt und stumpf. Wie tot. Er erweckte den Eindruck, dass es irgendetwas gab, das ihn von innen heraus auffraß, bis er irgendwann nur noch eine leere Hülle sein würde. Die einzige Reaktion, die irgendwie nach Leben ausgesehen hatte, hatte ich kurz nach meiner Ankunft beobachten können. Ich hatte Mel zur Begrüßung geküsst und war kurz darauf Gregs Blick begegnet, der so voller Wut und Hass gewesen war, dass ich innerlich zusammen gezuckt war. Gerne hätte ich ihn gefragt, was sein Problem war, doch das Aufheben, das Mel um ihren Bruder machte, hatte mich schweigen lassen. Ich wollte mir ihren schrecklichen Wutausbruch, den es sicherlich zur Folge gehabt hätte, wenn ich Greg durch eine bissige Frage vertrieben hätte, nicht einmal vorstellen. Plötzlich stemmte Greg sich auf die Füße und nickte unbestimmt in unsere Richtung. Sofort spannten sich sämtliche Muskeln in Mels Körper an und sie streckte die Hand nach ihrem Bruder aus. „Wo willst du hin?“ Die Panik in ihrer Stimme drehte mir den Magen um. Ich fragte mich, ob Greg es vielleicht genoss, dass sie so offensichtlich um seine Nähe bettelte. Doch ein Blick in seine gequält blickenden Augen reichte, um diese Überlegung wieder zu verwerfen. „Ich hab Paps versprochen, dass ich ein paar Besorgungen für ihn mache. In spätestens zwei Stunden bin ich wieder hier.“ „Versprochen?“ Greg nickte stumm und verschwand mit wenigen, langen Schritten aus dem Zimmer. Die Geschwindigkeit, die er dabei an den Tag legte, überraschte mich ein wenig. Irgendwie wirkte es, als hätte er es gar nicht abwarten können, zu verschwinden. Mel sah ihm mit traurigem Blick nach und knabberte nervös an ihrem Daumennagel. Als sie bemerkte, dass ich sie musterte, zuckte sie ein wenig verlegen die Schultern. „Ich hab immer noch Angst, dass er plötzlich wieder gehen könnte ohne zu sagen, wann er wiederkommt. Bis gestern war mir gar nicht klar gewesen, wie sehr ich ihn wirklich vermisst habe.“ Ich starrte stumm auf ihre schmalen Finger, die sich um meine Hand geschlossen hatten, und hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, mich mit Greg zu unterhalten. Ich hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen und murmelte noch schnell „Ich bin sofort wieder da.“, bevor ich hinter Gregor her stürzte. Als dieser mich erblickte, wurden seine Augen vor Überraschung groß und er blickte mich ratlos an. „Was willst du denn hier? Solltest du nicht oben sein und M–... meiner Schwester das Händchen halten?“ Die Feindseligkeit in seiner Stimme überraschte mich ebenso wie die Tatsache, dass er sich gestoppt hatte, bevor er Mels Namen hatte aussprechen können. Doch besonders irritierend fand ich die Art, wie er das Wort Schwester betont hatte – so als wäre ihm die Tatsache, dass er kein Einzelkind war, vollkommen neu. Ohne auf seine Sticheleien einzugehen, verschränkte ich die Arme vor der Brust und fragte: „Was ist hier eigentlich los? Gestern kommt Mel völlig aufgelöst bei mir an und erzählt mir, ihr Bruder sei zu einem Eisklotz mutiert. Und heute seid ihr plötzlich wieder ein Herz und eine Seele, aber sobald sich irgendwer auch nur einen Millimeter bewegt, zuckt ihr Beide zusammen, so als würdet ihr irgendetwas befürchten. Dass Mel Angst hat, dass du wieder gehst, ist mir klar. Aber was ist mir dir? Was ist dein Problem?“ Der plötzliche Schmerz, der über Gregs Gesicht glitt, ließ meinen Atem stocken. War ich zu weit gegangen? Nach einem Moment, der so lang war, dass ich schon glaubte, ich würde gar keine Antwort bekommen, flüsterte Greg schließlich: „Das geht dich nichts an.“ Obwohl ich sah, dass ihn jedes weitere Wort verletzte wie ein Fausthieb, konnte ich nicht aufhören. Ich musste einfach wissen, was los war, schließlich konnte ich nicht wirklich für Mel da sein, so lange ich die Umstände nicht verstand. „Das geht mich sehr wohl etwas an, schließlich liebe ich Mel. Oder glaubst du, dein gequälter Gesichtsausdruck würde ihr entgehen oder ihr nicht wehtun? Du bist für sie doch wie eine riesige, eiternde Wunde auf zwei Beinen!“ Gregs Wangen wurden noch ein wenig blasser und seine Haut bekam regelrecht einen ungesunden Grünstich, doch in seinen Augen flammte ungezügelte Wut auf. „Misch dich nicht in Dinge, die du nicht verstehst!“, zischte er, während er mich giftig anfunkelte. „Ob ich sie verstehe, ist unwichtig. Viel wichtiger ist, dass Mel es offensichtlich auch nicht versteht. Siehst du nicht, dass es sie zerreißen würde, wenn du sie noch einmal verlassen würdest?“ „Soll ich vielleicht für den Rest meines Lebens in diesem Haus bleiben?!“ Man hörte seiner Stimme deutlich an, dass er sich anstrengen musste, mich nicht laut anzubrüllen. „Nein, aber du könntest dich ein bisschen mehr anstrengen, deiner Schwester das Gefühl zu geben, dass sie sich auf dich verlassen kann und dass du dich nicht plötzlich in Rauch auflöst, sobald du keine Lust mehr hast, hier schlechte Laune zu verbreiten.“ Greg klappte vor Überraschung über diese Worte der Mund auf, doch bevor er etwas sagen konnte, machte ich kehrt und stieg die Treppe wieder herauf. Nur ein paar Momente später fiel die Haustür mit einem leisen Geräusch ins Schloss und ich fragte mich, ob es ein Fehler gewesen war, Greg so deutlich die Meinung zu sagen... Kapitel 59: Melanie ------------------- „Du hast echt Glück mit einem Bruder wie Greg.“ Finchen hatte sich auf dem Bauch liegend quer auf meinem Bett ausgestreckt und betrachtete die Tür, durch die mein Bruder gerade verschwunden war, als könnte sie Greg noch immer dahinter sehen. Ich lächelte breit und nahm die dampfende Teetasse, die Greg mir unaufgefordert gebracht hatte, vom Tablett neben mir. „Ja, er ist wirklich fürsorglich.“ Der aromatische Duft von Pfefferminze stieg mir in die Nase und ich fühlte mich gleich ein bisschen gesünder. Josephine drehte den Kopf und bedachte mich mit einem eigentümlichen Blick, so als hätte ich eine seltendämliche Frage gestellt. „Fürsorglich? Mag sein, aber das meinte ich gar nicht.“ Irritiert blinzelte ich sie an. „Nicht?“ Sie rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf. „Mann, dein Bruder ist heiß! Wen interessiert denn bei dem Hintern, ob der dazu gehörige Mann fürsorglich ist?“ Ich schnaubte abfällig und trank einen Schluck von meinem Tee. „Ehrlich, Finchen, du bist echt schlimm. Hast du eigentlich noch was anderes als das im Kopf?“ Mit einem breiten Grinsen zuckte Josephine mit den Schultern. „Wenn du ihn nicht willst... Ich nehm’ ihn.“ Irritiert zog ich eine Augenbraue in die Höhe. „Wie, wenn ich ihn nicht will? Wir reden hier von meinem Bruder...“ „Adoptivbruder.“, berichtigte mich Finchen, während sie an ihrem Nasenring drehte. Ich habe nie verstanden, warum sie sich dieses scheußliche Ding ins Gesicht hängte. Mit ihren großen, blauen Augen, dem erdbeerfarbenen Schmollmund, der Stupsnase mit den Sommersprossen und den langen, glatten, rotblonden Haaren sah sie eigentlich aus wie ein unschuldiges Püppchen, doch seit einiger Zeit schminkte sie sich dunkel, was ihre Haut unnatürlich blass wirken ließ, und sie hatte sich dieses unsägliche Piercing stechen lassen. Wenn man mich fragte, war das nicht gerade eine Verbesserung. „Ja, gut, er ist nur mein Adoptivbruder. Aber na und? Macht das einen Unterschied?“ Ich stellte meine bunt geblümte Teetasse auf meinen Nachtschrank und lehnte das Tablett von außen gegen mein Bett. „Natürlich! Ich meine, im Grunde ist es nichts anderes als wäre er der nette Nachbarssohn, den du schon dein Leben lang kennst. Und mit dem würdest du doch auch schlafen, oder nicht?“ Mit riesigen Augen starrte ich Finchen an, die sich lasziv auf meinem Bett räkelte und spitzbübisch grinste. Mit Greg schlafen? Mit dem Jungen, der Jahre lang um mich gewesen war, der mir kleinere Schrammen und Macken verarztet hatte und der mich seit meinem siebten Lebensjahr immer bemuttert hatte, sobald ich krank geworden war? Im Leben nicht, niemals! „Ich glaube, das ist doch ein bisschen was anderes. Greg ist mein Bruder, auch wenn wir vielleicht nicht verwandt sind.“ Finchen grinste noch ein bisschen breiter und knuffte mich gegen den Unterschenkel. „So denkst du nur, bis du ihn mal als Mann siehst und nicht als ein geschlechtsloses Etwas. Das solltest du wirklich mal ändern. Glaub mir, das lohnt sich.“ Ich schüttelte den Kopf und trat spielerisch nach Finchen, die mir noch immer grinsend die Zunge heraus streckte. „Selbst wenn... Du weißt genau so gut wie ich, dass ich mit Johannes zusammen bin.“ Mit einem unterdrückten Stöhnen verdrehte Finchen die Augen. „Als könnte ich deinen Möchtegern-Rockstar vergessen...“ Finchen hatte Jo ja noch nie ausstehen können, doch seit Adam sie verlassen hatte, hasste sie alles, was mit ihm zu tun hatte von Herzen – so auch meinen Freund. Doch auch vor Adams „Hilfe“ waren die Beiden sich zu meinem Leidwesen bereits tierisch unsympathisch gewesen. Er hielt sie für ein überdrehtes, verzogenes Highsociety-Rotzgör mit neureichen Eltern und sie dachte von ihm nur als unterbelichteten Neandertaler, der permanent unausstehlichen Krach alleine auf einer E-Gitarre oder zusammen mit seiner Band produzieren musste. „Ehrlich, Mel, ich hab nie verstanden, was du an dem findest. Er sieht weder gut aus, noch hat er Geld.“ Böse zog ich die Augenbraunen zusammen. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie so abfällig von ihm sprach. „Er hat Charakter.“ Finchen machte ein abfälliges Geräusch und sah mich von unten herauf missbilligend an. „Sicher... Wenn man den in Kilo messen kann, hat er davon sogar jede Menge.“ Genervt schubste ich sie leicht an, sodass sie zwar auf die Seite rollte, aber nicht aus dem Bett fiel. „Du bist blöd. Lass Jo in Ruhe. Er ist ein toller Kerl und er ist echt gut zu mir. Ich hab ihn wirklich gern.“ Finchen setzte sich auf und schüttelte mit einem verschwörerischen Gesichtsausdruck den Kopf. „Nur so lange, bis du dir mal einen Typen wie deinen Bruder genauer anguckst. Versprochen.“ Ich seufzte resigniert und rieb mir über die Augen. Obwohl Greg sich wirklich fantastisch um mich kümmerte und ich mich auch schon viel besser fühlte, wurde ich trotzdem noch immer schnell müde. Um das anstrengende Thema endlich abzuhaken, schlug ich ihr einen Handel vor: „Okay. Ich werd mich einen Monat lang bemühen, Greg als Mann zu sehen, so als hätte ich ihn zufällig auf der Straße getroffen. Wenn ich dann aber immer noch meinen Johannes will, sagst du nie wieder auch nur ein schlechtes Wort über ihn.“ Josephine grinste breit und schlug ohne zu zögern in die ihr dargebotene Hand ein. „Deal!“ Kapitel 60: Gregor ------------------ Zirka eine Woche nach ihrem Zusammenbruch war Mel endlich wieder vollständig auf dem Damm. Trotzdem bettelte sie mich immer noch jedes Mal an, bei ihr zu bleiben, wenn ich den Raum verlassen wollte. Also spielte ich mit ihr unglaubliche Mengen an Brettspielen oder las ihr aus meinen Lieblingsbüchern vor, immer in der Hoffnung, meine wilden Gedanken durch die Beschäftigung im Zaum zu halten. Bei ihr zu sein ohne ihr wirklich nah zu sein, fiel mir immer noch schwer, doch ich gab mir alle erdenkliche Mühe. Noch immer geisterten die harschen Worte, die Johannes mir entgegen geschleudert hatte, durch den Kopf. Auch wenn es weh tat, es mir einzugestehen, musste ich zugeben, dass er recht gehabt hatte. Ich war so mit meinem eigenen Schrecken und meinen Gefühlen beschäftigt gewesen, dass ich mir nie die Mühe gemacht hatte, darüber nachzudenken, ob Mel unter der Situation vielleicht auch litt. Dabei wollte ich gerade das vermeiden. Lieber wollte ich bis an den Rest meines Lebens in der Hölle schmoren, als zuzulassen, dass Mel meinetwegen weiter Angst hatte. Eine Zeit lang lief auch alles bestens, doch dann veränderte sich plötzlich etwas. Auf einmal begann Mel nach meiner körperlichen Nähe zu lechzen. Diesen Wunsch hätte ich ihr zwar nur zu gerne erfüllt, doch nur auf eine Art und Weise, die sie sicherlich sehr verstört hätte. Das Gefühl ihre Haut einfach nur auf meiner zu spüren, ohne dass ich dem Drang nachgeben durfte, sie zu küssen, war verdammt schwer. Doch Mel schien davon gar nichts wahrzunehmen. Etwa drei Tage nach ihrer Erkrankung – das musste der Tag gewesen sein, an dem ihre beste Freundin Josephine da gewesen war – hatte sie darauf bestanden, dass ich mit ihr eine DVD guckte: „The Grudge – Der Fluch“. Und weil der Film ja ach so gruselig gewesen war, hatte ich unbedingt zu ihr ins Bett klettern müssen, auch wenn ich mich lange mit Händen und Füßen dagegen gesträubt hatte. Kaum hatte ich mich neben ihr ausgestreckt, hatte sie sich auch schon an mich gekuschelt und ihren Kopf auf meine Brust gelegt. Sie hatte mir sogar ein Kompliment zu meiner Brustmuskulatur gemacht. „Du hast ja eine echt straffe Brust. Toll! Das find ich unglaublich sexy bei Männern.“ Mir war ganz anders geworden und mein Herz hatte so heftig zu schlagen begonnen, dass Mel mich mit einem irritierten Gesichtsausdruck gemustert hatte. Ich hatte stumm und mit aufeinander gepressten Lippen auf den Bildschirm gestarrt und versucht, sie zu ignorieren. Und heute wollte sie mich vor eine noch größere Herausforderung stellen... „Bitte, Greg!“ Sie kniete neben meinem Bett und ihre Stimme klang so quengelig wie bei einem dreijährigen Kind. „Ich hab gesagt, ich hab keine Lust.“ „Aber wenn ich dich doch so lieb bitte...“ „Du bist verzogen.“ Ich bemühte mich, meine Stimme so kalt und abweisend wie möglich klingen zu lassen, während ich meine Nase in einen Roman von Joy Fielding steckte und tat, als würde ich lesen. Nur wenige Augenblicke später riss sie mir das Buch aus der Hand und blickte mich mit ärgerlich zusammen geschobenen Augenbraunen und einem nicht dazu passenden Schmollmund an. „Greg... biiiiiiitteeeee...“ Mit einer schnellen Bewegung eroberte ich mir meine Lektüre zurück, ließ mich wieder auf mein Bett fallen und stopfte mir mein Kissen in den Nacken. „Nein. Frag deinen Freund.“ „Ich will aber mit dir schwimmen gehen!“ Allein die Vorstellung, sie mit von feinen Wasserperlen übersäter Haut in einem Bikini zu sehen, drehte mir in stillem Horror den Magen um und jagte mir ein heißes Kribbeln in die Lenden. Verrückt, dass man zwei so gegensätzliche Gefühle gleichzeitig empfinden konnte. Entsetzen und Lust, glücklich vereint, Hand in Hand. „Und ich hab Nein gesagt. Also, hör auf, mir damit auf den Keks zu gehen.“ Mit sorgsam einstudierter, genervt wirkender Miene blätterte ich um, obwohl ich nicht einen Satz auf der Doppelseite gelesen hatte. „Du hast ja nur Schiss!“ Ihre Stimme klang noch immer schmollend und nicht von plötzlicher Erkenntnis erhellt, doch trotzdem blieb mir für einen Moment das Herz stehen. Nur mühsam brachte ich einen Satz heraus: „Vor was denn?“ „Davor, dass die anderen Männer im Schwimmbad viel hübscher und trainierter sind als du.“ Trotz des Schreckens, der mir noch immer in den Knochen steckte, musste ich unwillkürlich lachen. Ohne nachzudenken zerzauste ich ihr die Haare und grinste. „Manchmal bist du echt süß.“ Sie legte den Kopf schief, stand auf, packte mich am Handgelenk und zog mich hoch. „Ich weiß. Und deshalb wirst du jetzt mit mir schwimmen gehen.“ Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich mich sträuben sollte, doch dann schwang ich resigniert die Füße aus dem Bett und blickt zu ihr herauf. „Wie stehen die Chancen eigentlich, dass du Ruhe gibst, bevor du deinen Willen bekommen hast?“ Mit einem triumphierenden Grinsen beugte sie sich zu mir herab, bis nur noch wenige Zentimeter unsere Lippen voneinander trennten. Als sie wieder sprach, hatte ich das Gefühl, ihren süßen Geschmack auf der Zunge zu haben, und wurde augenblicklich ganz leicht im Kopf. Ich glaube, in diesem Moment hätte sie alles von mir verlangen können. „Hm... Schlecht bis ganz schlecht. Also, Großer, beweg dich endlich.“ Die Situation im Schwimmbad war allerdings sogar noch viel schlimmer als befürchtet. Schon als sie aus der Damendusche kam und mir der Atem so heftig stockte, dass die Welt an den Rändern dunkel wurde und mich ein leichter Schwindel erfasste, wusste ich, dass ich mich niemals hätte weich klopfen lassen dürfen. Ich hätte auf den alarmierten Blick unserer Mutter hören sollen, den sie mir zugeworfen hatte, als Mel ihr berichtet hatte, wohin wir wollten. Seltsamerweise hatte genau dieses Entsetzen in ihren Augen aber dazu beigetragen, dass ich trotz besseren Wissens mit Mel hierher gewollt hatte. Mels zierlicher, schlanker Körper steckte in einem grünbraun gemusterten, knappen Bikini, der nicht nur ihre Augen hübsch zum Leuchten brachte, sondern auch allen Männern im Umkreis von fünfundzwanzig Metern den Kopf verdrehte. Zumindest kam es mir so vor. Es war ihr itsybitsyteenieweenie Honolulu-Strandbikini... „Alles okay mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Mit besorgter Miene und einem wiegenden Gang, der verboten gehört hätte, kam sie langsam auf mich zu, während ich panisch versuchte, meinen Blick von ihren kleinen, aber wohlgeformten Brüsten, dem straffen, flachen Bauch oder der sanften Kurve ihrer schmalen Hüfte zu nehmen. „Ja, alles prima. Ich bin nur... ein wenig wasserscheu.“, log ich mit belegter Stimme, als ich es endlich schaffte, ihr ins Gesicht zu sehen. Ihr langes Haar hatte sie zu einem sorgsamen Zopf zusammen geflochten. „Ach, tatsächlich?“ Ein hinterlistiges Grinsen machte sich auf ihren vollen Lippen breit, doch ehe ich mir darüber Gedanken machen konnte, versetzte sie mir plötzlich einen Stoß und ich stürzte rücklings ins kalte Becken hinter mir. Überrascht schnappte ich nach Luft und hustete geschlucktes Wasser aus, sobald ich die Oberfläche wieder durchbrochen hatte. Mel hockte am Rand und grinste noch immer. „Und? War das jetzt schlimm?“ Mit der flachen Hand strich ich mir mein flachsblondes Haar aus der Stirn und fixierte sie mit einem gespielt bösen Blick. Dann ließ ich meine Arme plötzlich nach oben schnellen und riss sie neben mich ins kühle Nass. „Kostprobe gefällig?“ Kaum dass ihr Kopf unter Wasser gewesen war, tauchte sie auch schon wieder auf und sah mich erschrocken an. „Das war böse.“ Ich zog die rechte Augenbraune in die Höhe und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ach ja?“ Schmollend schob sie die Unterlippe vor und setzte ihren niedlichsten Dackelblick auf. „Ja. So etwas...“, der Hundeblick wich einem hinterlistigen Glänzen, „... darf nämlich nur ich!“ Dann stürzte sie sich auf mich und versuchte, mich unter Wasser zu drücken, ohne selbst dabei unterzugehen. Jedes Mal wenn meine Hand bei meinen halbgaren Versuchen, mich zu wehren, versehentlich ihre Brüste oder ihren Po streifte, setzte mein Herzschlag für einen winzigen Augenblick aus. Etwa drei Stunden später saßen wir völlig außer Atem am Beckenrand, ließen die Beine ins Wasser baumeln und beobachteten die anderen Gäste. Mel lehnte ihren Kopf müde an meine Schulter und gähnte herzhaft, was mich grinsen ließ. Ich stupste ihr mit dem Zeigefinger auf die Nase und neckte sie ein wenig. „Was ist denn das? Bist du etwa schon fertig mit der Welt, Zwerg?“ Statt einer Antwort drückte sie mir einfach ein Küsschen auf die Wange und meine Welt hörte augenblicklich für einen kurzen Moment auf, sich zu drehen. Hatte ich mir das nur eingebildet oder hatten ihre Lippen dabei ganz kurz und schüchtern die meinen berührt? War es ein Versehen gewesen oder die Idee von einem Kuss, so unsicher wie herzzerreißend schön? Ich schüttelte innerlich mit dem Kopf. Nein, natürlich nicht. An diesem Nachmittag wünschte ich mir nichts sehnlicher, als nicht ihr Bruder zu sein. Das Verlangen nach dieser unerreichbaren Realität war so gewaltig, das es beinah körperlich schmerzte. Diese Stunden mit ihr waren einfach zu perfekt... Wäre Mel nicht meine Schwester gewesen, wäre ich der glücklichste Mann auf Erden gewesen. Doch so spürte ich, wie mein Herz mit jeder Minute einen langsamen, bitteren Tod starb. Erstickt an seinen eigenen unerfüllbaren Träumen. Kapitel 61: Melanie ------------------- Unwillig musste ich einräumen, dass Josephine Recht hatte. Wenn man Greg als einen Mann betrachtete und nicht wie ich als eine Art Inventar, dann kam man kaum umhin, festzustellen, dass er wirklich ziemlich attraktiv war. Sein ständig verzaustes, eigenwilliges Haar hatte besonders in der Sonne einen hübschen Goldschimmer und umgab sein Gesicht mit den feinen, ebenmäßigen Zügen wie ein Heiligenschein. Irgendwie war das unglaublich passend, fand ich. Greg hatte seit jeher viel mehr von einem Engel als von einem Menschen. Eigentlich fehlten nur noch die Flügel... Seine ausdrucksstarken, katzengrünen Augen mit dem leicht rotbraunen Retinaring waren kaum sichtbar schräg gestellt, was sie aus der Masse der nichtssagenden 08/15-Glotzer heraushoben. Sie waren über alle Maßen interessant und wahrscheinlich neben all seinen anderen körperlichen Vorzügen das Schönste an ihm. Die Augen sind eben doch der Spiegel der Seele. Auch wenn Greg auf den ersten Blick ein Gesicht hatte, das dem eines Models ebenbürtig war, war es im Gegensatz zu seinem sportlichen Körper weit davon entfernt, perfekt zu sein. In seiner Kinnfalte verlief eine alte, fast verblasste Narbe, seine schön geschwungenen Augenbraunen waren für sein blondes Haupthaar und die blasse, feinporige Haut eigentlich einen Tick zu dunkel und an seinem linken Schneidzahn fehlte ein winziges Stück. Doch all diese kleinen Fehler machten ihn eigentlich erst wirklich anziehend. Sie nahmen seiner natürlichen Schönheit das Einschüchternde und ließen ihn attraktiver wirken als die Plastikmodels aus einschlägigen Zeitschriften. Und trotzdem war es nicht sein Gesicht, das meine Aufmerksamkeit fesselte, als ich aus der Dusche kam. Stattdessen gaffte ich mit großen, faszinierten Augen auf seinen hochgeschossenen, sportlichen Körper mit den festen, geschmeidigen Muskeln unter der hellen Haut. Ich ließ meinen Blick an ihm herab gleiten und blieb ganz besonders an seinem flachen Bauch hängen. Über einer schmalen, senkrechten Spur dunkler Haare, die frech über den Rand seiner schwarzen Badeshorts hinweg guckte, sah man deutlich seine ausgeprägte Muskulatur. Es war nicht direkt ein ausgewachsenes Sixpack wie man es von Bodybuildern kennt, aber es war unverkennbar ein Waschbrettbauch. Jos kleine Wampe war eigentlich immer das Einzige gewesen, das mich an ihm gestört hatte... Als ich mich bei dem Gedanken ertappte, Greg mit den Fingern über seine Bauchmuskeln zu streichen, um einfach zu testen wie sich das anfühlte, riss ich meinen Kopf nach oben und richtete meinen Blick mit einiger Anstrengung auf Gregs Gesicht, auf dem ein eigenartiger Ausdruck lag. Sämtliches Blut war aus seinen Wangen entwichen, wodurch seine Haut aschfahl wirkte, und seine leicht zitternde Unterlippe drückte stummes Entsetzen aus. Doch in seinen Augen brannte ein begehrendes Feuer wie ich es von Jo nur kannte, kurz bevor wir miteinander schliefen. Obwohl mir bei dem Gedanken, dass Gregs Gedanken womöglich in eine solche Richtung gehen könnten, mulmig wurde, spürte ich wie ein aufgeregtes Kribbeln meinen Rücken entlang rieselte. Plötzlich wurde ich von dem unbändigen Verlangen gepackt, Greg zu berühren – ihn auf eine Art anzufassen, an die ich bei ihm eigentlich nicht einmal denken sollte. Ich wollte mich fest gegen seinen statuenhaften Körper pressen, während er seine starken Arme um mich legte und... Ich biss mir von innen auf die Wange. Nein, ich würde nicht zulassen, dass Finchen auch in dieser Beziehung recht behielt. Ich liebte Johannes. Ich wollte keinen anderen Mann. Trotzdem war es auf einmal als hätte jemand zwischen Greg und mir unsichtbare Fäden gespannt, an denen dieser mich nun unaufhaltsam zu sich zog. Um diesen Bann wieder zu brechen, sprach ich ihn endlich an: „Alles okay mit dir? Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen.“ Leider brachten meine Versuche, wieder zur Normalität zurück zu finden, keinen Erfolg – im Gegenteil. Auch als ich Stunden später neben ihm am Beckenrand saß, hatte ich noch immer das drängende Bedürfnis, Greg zu berühren. Inzwischen war es so stark, dass meine Hände kribbelten. Vorsichtshalber setzte ich mich lieber auf sie, bevor sie sich noch selbstständig machten. Trotzdem konnte ich meinen Kopf nicht daran hindern, sich wie von selbst an Gregs Schulter zu lehnen. Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu und lächelte verklärt, doch in seinen Augen lag ein so wehmütiger Ausdruck, dass es jedem, der ihn sah, das Herz zerreißen musste. Ich sah schnell wieder weg. Während Greg andere Badegäste beobachtete, dachte ich nach. Finchen Stimme hallte mir wie ein Dauerecho immer wieder durch den Kopf. „Im Grunde ist es nichts anderes als wäre er der nette Nachbarssohn, den du schon dein Leben lang kennst. Und mit dem würdest du doch auch schlafen, oder nicht?“ Irgendwo hatte sie Recht. Wäre Greg zufällig von einer anderen Familie adoptiert worden, hätte ich mich Hals über Kopf in ihn verlieben können und es hätte niemanden gekümmert. Interessanterweise irritierte es mich gar nicht, dass ich diese Worte – in Greg verliebt – denken konnte, ohne zu erschrecken. Ein Teil von mir schien bereits akzeptiert zu haben, dass es so kommen würde. Oder bereits so gekommen war? Doch was hatte Greg noch vor wenigen Tagen gemeint, als er gesagt hatte, meine Anwesenheit mache ihn krank? War es möglich, dass er diese unsichtbaren Fäden, die uns mit einer brutalen Gewalt zueinander zogen, auch spürte? Schon da gespürt hatte? War er so abweisend gewesen, weil er nichtgeschwisterliche Gefühle für mich hatte und befürchtet hatte, ich könnte ihn dafür verurteilen, wenn ich etwas davon gemerkt hätte? Ich betrachtete sein unbewegtes Gesicht aus den Augenwinkeln. Seine Augen waren auf irgendetwas in der Ferne gerichtet und ein kleines, spöttisches Lächeln lag auf seinen Lippen. Eine solche Reaktion hätte ihm zumindest ähnlich gesehen. Auch als er damals den heftigen Krach mit Chris gehabt hatte, hatte er sich trotzig und abweisend verhalten, anstatt einfach zuzugeben, dass er traurig darüber war, dass sein bester Freund aus der Stadt fortzog. Schlussendlich war die Freundschaft an Gregs halsstarrigem Verhalten gescheitert und beide Jungs waren mit schmerzendem Herzen zurückgeblieben. Dennoch war Greg das noch immer lieber gewesen, als zu seinen Gefühlen zu stehen und dann womöglich zurückgewiesen zu werden. Plötzlich musste ich heftig gähnen und Greg wandte mit einem breiten Grinsen den Kopf, sodass unsere Gesichter ganz nah beieinander waren. Liebevoll stupste er mir gegen die Nase, wobei sich seine Mundwinkel noch ein wenig weiter nach oben verschoben. „Was ist denn das? Bist du etwa schon fertig mit der Welt, Zwerg?“ Mein Körper reagierte, ohne dass ich es wollte, und ehe ich mich versah, war ich drauf und dran meinen eigenen Bruder zu küssen. Erst im letzten Moment erlangte ich die Kontrolle über mich zurück und wich schnell auf die Wange aus, doch für einen kurzen Augenblick hatte ich seinen Mund berührt. Ich schmeckte ihn deutlich, wenn ich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Vielleicht war das nur Einbildung, doch mit heftig pochendem Herzen wurde mir etwas klar, als Greg sich seufzend verspannte. In dem augenaufschlagkurzen Moment, in dem sich unsere Lippen berührt hatten, hatte Greg sich mir entgegen gelehnt und seinen Mund einen winzigen Spalt breit geöffnet. Vermutlich war es bei ihm eine genauso automatische Reaktion gewesen wie bei mir, doch trotzdem machte sie mir etwas ganz deutlich: Früher oder später würde ich Johannes mit Greg, mit meinem eigenen Bruder betrügen. So heftig wie mein Herz schlug und mein ganzer Körper kribbelte, tippte ich eher auf früher. Kapitel 62: Johannes -------------------- Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte missmutig an die dreckige Decke unseres Proberaums, während die alte Anlage in der Ecke zum vermutlich siebenunddreißigsten Mal am heutigen Tag „My world“ von SR-71 abspielte. Inzwischen konnte ich den gesamten Text auswendig mitsingen, doch ich war zu faul, um aufzustehen und die Repeat-Funktion auszustellen. Außerdem passte der Song einfach viel zu gut zu meiner momentanen Stimmung. Als der Refrain wieder einsetzte, sang ich gedankenverloren mit: „Is he everything to you? Does he make you high, make you real? Does he make you cry? Does he know the way you feel? Love is all around you, your universe is full, but in my world there is only you.” Ich wusste nicht einmal genau, was mit mir los war, aber ich war unglaublich eifersüchtig auf Greg. Die ersten Tage hatte es so ausgesehen, als hätte er sich meine Worte zu Herzen genommen und als würde er sich nun bemühen, Mel der Bruder zu sein, den sie verdiente. Mel wurde zunehmend fröhlicher und lockerer, ja, sie strahlte sogar förmlich von innen heraus. Doch dann war anscheinend irgendetwas vorgefallen, von dem ich nicht wusste, was es war. Auf jeden Fall klammerte Mel sich plötzlich wie ein Kleinkind an mich. Jeden Tag bat sie mich, vorbei zu kommen, und abends war ich kaum wieder zu Hause, da rief sie auch schon wieder an. Auch heute hatte ich regelrecht darum betteln müssen, mal ein paar Stunden für mich zu haben. Eigentlich hätte es mich beruhigen müssen, dass Mel noch immer viel Zeit mit mir verbringen wollte, auch wenn ihr Bruder jetzt wieder da war. In Wirklichkeit machte es mir jedoch nur noch mehr Angst. Ihr verzweifeltes Klammern hatte etwas derartig verkrampftes, dass ich mich unwillkürlich fragen musste, ob Mel versuchte, sich selbst durch meine ständige Anwesenheit etwas vor Augen zu führen. Die gequälten Blicke, die sie und Greg sich zuwarfen, und die Tatsache, dass die Luft zu brennen und dünn zu werden schien, wann immer die Beiden sich in einem Raum aufhielten, trugen nicht gerade dazu bei, dass ich mich entspannter fühlte. Plötzlich schwang die Tür laut scheppernd auf und ich zuckte vor Schreck heftig zusammen. Reflexartig sprang ich vom Sofa auf und starrte Peter an, der mich irritiert ansah. „Was machst du denn hier? Heute ist doch gar keine Probe.“ Die Überraschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich zuckte halbherzig mit einer Schulter. „Dasselbe könnte ich dich fragen.“ „Ich hol nur meine Gitarre, weil ich sie gestern hier gelassen hab. Ich war doch direkt nach der Probe verabredet.“ „Ah, ja.“ Ich erinnerte mich und nickte, während Peter mich aufmerksam musterte. Peter war der ruhige Pol unserer Band. Er blieb stets auf dem Boden der Tatsachen, auch wenn wir anderen abhoben und uns gedanklich bereits auf dem Rockolymp sahen. Er war auch der vermutlich Einzige von uns, der noch nie seinen Status als Rockbandmitglied ausgenutzt hatte, um ein Mädchen rum zu kriegen – dafür war er einfach zu zurückhaltend. Doch vor allem war er auch sehr sensibel, weshalb er nun sofort merkte, dass etwas nicht stimmte. „Und was machst du hier?“ „Nachdenken.“, gab ich zu und verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust. Peter zog irritiert eine Augenbraue in die Höhe, als die gerade erst abgespielte Ballade sofort von neuem anfing, sagte aber nichts. Stattdessen warf er sich ziemlich unelegant aufs Sofa und sah herausfordernd zu mir hoch. „Los, setzt dich und erzähl mir, was los ist.“ Seufzend ließ ich mich neben ihn fallen und starrte wieder zur Decke. Ich fragte mich, ob unsere Vorgänger Raketen in dem engen Raum gezündet hatten oder wie die schwarzen Flecken ansonsten auf den weißen Anstrich dort oben kamen. Dann holte ich tief Luft und begann: „Es geht um Mel.“ Peter nickte. „Das hatte ich mir bereits gedacht. Habt ihr euch gestritten?“ „Nein. Aber es ist... einfach seltsam momentan. Ich... ich glaube...“ Ich würgte an den Worten, die ich schon seit Tagen mit mir herum trug und die mir wie Steine im Magen lagen. Als ich es endlich schaffte, sie hervor zu speien, war es beinah eine Wohltat: „Ich glaube, sie hat sich in Gregor verliebt.“ Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass Peter so etwas wie „Scheiße, nein!“ oder „Oh...“ sagen würde, doch er starrte mich nur verständnislos an. „Du... du meinst ihren Bruder?“, brachte er dann endlich heraus, wobei seine Stimme fast ein bisschen ärgerlich klang, so als hätte ich versucht, ihn zu veräppeln. „Hm-mh, ihren Adoptivbruder. Die Beiden sind kein Stück verwandt. Sie sind nur zufällig miteinander aufgewachsen.“ Bildete ich mir das ein oder klang ich tatsächlich so verbittert wie meine Tante, wenn sie über ihren „elenden Ex-Mann“ sprach? „Aber das spielt doch eigentlich gar keine Rolle. Ich meine, die Beiden sind zusammen aufgewachsen und es sind doch nicht nur die Gene, die entscheiden, ob ich jemanden als meinen Bruder oder meine Schwester sehe.“, versuchte Peter, mich zu beruhigen, doch ich schüttelte den Kopf. In diesem Moment wurde mir klar, dass es für mich längst Gewissheit und nicht länger Befürchtung war: Mel hatte sich in ihren Bruder verliebt! „Das mag ja sein, aber die Beiden haben sich jetzt drei Jahre lang nicht gesehen. Greg ist für sie doch inzwischen ein vollkommen fremder Mann – ein fremder Mann, der ziemlich gut aussieht. Ich meine, hast du ihn dir mal angeguckt? Dagegen hab ich keine Schnitte. Ich hab mich sowieso schon immer gefragt, was Mel mit mir wollte.“ Bevor ich weiter in Selbstmitleid verfallen konnte, brachte Peter mich mit einer herrischen Geste zum Schweigen. „Hast du dir schon mal selbst zugehört? Komm wieder runter.“ Ich wandte den Kopf und funkelte ihn böse an, doch mein Bandkollege fuhr unbeirrt fort: „Du weißt doch überhaupt nicht, ob deine Vermutung richtig ist, also mach dich nicht jetzt schon verrückt. Natürlich ist im Moment alles seltsam und natürlich verhält Mel sich momentan vielleicht anders als sonst. Aber versuch dir mal vorzustellen, was für ein Gefühlschaos in ihr herrschen muss, jetzt wo Gregor nach so langer Zeit wieder da ist. Sie hat ihn schrecklich vermisst, das haben wir alle gemerkt. Also gib ihr Zeit und mal nicht gleich den Teufel an die Wand.“ Ich nickte stumm und starrte wieder an die Decke. Vielleicht hatte Peter recht und ich sah Gespenster. Aber egal wie sehr ich mich bemühte, vernünftig zu sein, ich konnte den bitteren Geschmack der Vorahnung nicht herunter schlucken – genauso wenig, wie ich leugnen konnte, dass Mel sich plötzlich fremd und weit weg anfühlte. Während Peter aufstand und seinen Gitarrenkoffer suchte, verfluchte ich stumm Greg und den Tag, an dem er zurückgekommen war. Warum hatte er nicht bleiben können, wo er gewesen war?! Kapitel 63: Veronica -------------------- Wie gebannt starrte ich auf das kleine, silberfarbene Schnurlostelefon, das wieder mal auf dem Wohnzimmertisch lag, und wartete darauf, dass es endlich wieder klingeln würde. Inzwischen war es schon einige Tage her, dass Greg mich das letzte Mal angerufen hatte, und ich wurde langsam ein wenig nervös. Ich wippte leicht mit dem Oberkörper vor und zurück und fragte mich zum gefühlten tausendsten Mal, ob ich ihn bei seinem letzten Anruf nicht so hätte abwürgen dürfen. Glaubte er jetzt, dass ich wütend auf ihn war? Wieder griff ich nach dem Telefon, nur um den Arm dann wieder sinken zu lassen. Irgendwie konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihn anzurufen. Ich hatte Angst, dass ich ihn womöglich in einem ungünstigen Moment erwischen würde, und außerdem wollte ich, dass er mich anrief, weil er mit mir reden wollte, weil ihm meine Meinung doch noch etwas bedeutete. Ich wollte, dass ich ihm nicht völlig egal war, auch wenn er jetzt wieder bei seiner Melanie war. Mit einem knurrenden Geräusch schwang ich mich auf die Füße und tigerte zum Fenster. Ich fühlte mich schrecklich unruhig und fragte mich, wie es ihm momentan wohl ging. Beim letzten Telefonat hatte er so unglücklich und verloren geklungen, dass mir mein eigener Kummer dagegen wie ein Pappenstiel vorkam. Was musste er wohl in Melanies Nähe durchmachen? Ob in die Gegenwart seiner Schwester wohl beinah um den Verstand brachte? Oder war es im Verlaufe der Tage besser geworden? Und was machte der Gesundheitszustand seiner Schwester? War sie überhaupt krank gewesen oder hatte sie ihm etwas vorgespielt, um ihn zu Hause zu behalten? In meiner Vorstellung war Melanie eine fiese, durchtriebene Schlange. Doch ich wusste, dass dies nur Produkt meiner Eifersucht war. Wieder warf ich einen Blick auf das Telefon. Warum rief Greg nicht an? Diese Warterei machte mich einfach wahnsinnig. Ich hasste es, wenn ich nur untätig herum sitzen konnte. Am liebsten wäre ich sofort zu Gregs Familie gefahren, doch ich ahnte, dass ich dort nur noch mehr unnötige Unruhe rein gebracht hätte. Auch wenn es mir nicht gefiel, konnte ich nichts anderes tun als Greg zu vertrauen und zu hoffen, dass er sich bald melden würde. Dann würden wir ein neues Leben anfangen und die Brücken zu seiner Familie vollständig abbrechen, auch wenn ihm das nicht leicht fallen würde. Aber meiner Meinung nach war es die einzige Möglichkeit, wie Greg in der Lage sein würde, ein einigermaßen normales Leben zu führen. Zwar würde sein Herz wahrscheinlich immer ein wenig bluten, doch so würde er zumindest einen Alltag ohne den quälenden Kampf gegen eine immer wieder neu aufgerissene Wunde haben. Obwohl der Gedanke daran, dass Greg eine andere liebte, noch immer heftiger schmerzte als ich mir jemals hätte vorstellen können, blickte ich beinah zuversichtlich in die Zukunft. Denn eines war sicher: Greg würde bei mir sein. Und so lange er eine Frau begehrte, die er niemals würde haben können, wäre ich relativ sicher davor, wegen eines anderen Mädchens verlassen zu werden – schließlich wären alle anderen auch nur zweite Wahl, genau wie ich. Ich wandte mich wieder dem Fenster zu, betrachtete das dreckige Grau der Abenddämmerung und fragte mich, was mein Bruder wohl gesagt hätte, hätte er gewusst, was gerade bei mir los war. Doch Manuel war momentan als Rucksacktourist unterwegs in Amerika und nur schwer zu erreichen. Auch wenn ich mich danach sehnte, seine beruhigende Stimme zu hören oder mich von ihm in den Arm nehmen zu lassen, war ich eigentlich ganz froh, dass er nicht hier war. Er hatte sich noch immer nicht mit meiner Beziehung zu Greg abfinden können und hätte sich diese Gelegenheit, gegen ihn zu hetzen, sicherlich nicht entgehen lassen. Ich rieb mir ein wenig fröstelnd über die Oberarme und versuchte, mir selbst gut zuzureden. Bald würde wieder Ruhe in meinen Alltag kommen und dann würde alles wieder gut werden. Greg und ich mussten einfach nur dafür arbeiten. Wir mussten nur daran glauben. Kapitel 64: Gregor ------------------ Ich lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf meinem Bett und lauschte auf das laute, krachende Donnern des Sturmes, der draußen tobte, während sintflutartige Regenfälle prasselnd gegen mein Fenster schlugen und wild zuckende Blitze die Nacht mit einem bläulichweißen Flackerlicht erhellten. Mel sah in ihrem Zimmer gegenüber fern, Paps war mal wieder im Krankenhaus und Mutter war bei Oma, die sich bei Gewittern immer zu Tode fürchtete. Aber eigentlich war es mir absolut gleich, wo meine Mutter war. Meinetwegen hätte sie auch mit klappernden Zähnen da draußen im Regen stehen können. Seit ich das Gespräch zwischen ihr und Paps belauscht hatte, hatten wir kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Ich schmollte gekränkt vor mich hin und Mutter... ja, keine Ahnung. Vielleicht war es ihr ganz recht, dass ich sie ignorierte. Doch sie war nicht das einzige Familienmitglied zu dem der Kontakt angeknackst war. Seit unserem Schwimmbadaufenthalt vor wenigen Tagen gingen Mel und ich uns geflissentlich aus dem Weg. Ich konnte noch nicht genau sagen, was, aber irgendetwas hatte sich verändert. Während der wenigen, zufälligen Begegnungen in den letzten Tagen war es ein wenig so gewesen als hätte die Luft gebrannt. Wir hatten uns dann gegenseitig auf die Lippen gestarrt und so unbewegt da gestanden, als wären wir zu Salzsäulen erstarrt. Wieder weg zu gucken und damit fortzufahren, was ich eigentlich vor gehabt hatte, war jedes Mal aufs Neue eine höllische Herausforderung gewesen. Deswegen hatte ich mich hinter meine Bücher zurück gezogen und getan, als würde ich für einen eventuellen Aufnahmetest an einer Uni lernen und Mel klebte geradezu an ihrem Johannes. Ich fragte mich wieder einmal, was der Auslöser für diese fast greifbare Veränderung gewesen war. Lag es an diesem bloß angedeuteten Kuss? Oder hatte ich mich womöglich irgendwie verraten? Noch während ich vor mich hin grübelte, wurde plötzlich meine Tür aufgeschoben und Mel steckte ihren Kopf ins Zimmer. „Greg? Schläfst du schon?“ Obwohl sie im Flüsterton sprach, zitterte ihre Stimme ein wenig. Besorgt warf ich die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin noch wach. Ich lieg öfter mal im Dunkeln auf dem Bett, das ist normal.“ Vorsichtig drückte sie sich ganz durch den Spalt und schloss die Tür hinter sich. Ein gleißender Blitz, dessen darauf folgender Donner Mel heftig zusammen zucken ließ, erhellte für wenige Sekunden das Zimmer. Mel trug leicht ausgefranste, grüne Shorts und ein weites, blauschwarzes Schlabber-T-Shirt mit aufgedruckten Totenköpfen, das ich sofort erkannte. Früher hatte ich es immer während des Schulsports getragen, bis es eines Tages einfach aus meinem Schrank verschwunden gewesen war. „Der Strom ist ausgefallen und ich... ich hab Angst.“ Sie nestelte nervös an ihrem T-Shirt-Saum und sah mich aus riesigen, furchtsamen Augen an. In diesem Moment war sie so sehr Kind, dass ich ohne nachzudenken einfach den Arm ausstreckte, ein wenig zur Seite rückte und sie aufforderte, zu mir ins Bett zu hüpfen. Dankbar glitt sie neben mich und kuschelte sich so nah wie sie nur konnte an meinen Körper. Ein wenig umständlich zerrte ich meine Bettdecke unter uns hervor und deckte uns zu, um Mel das Gefühl von Geborgenheit zu geben und ihr unkontrolliertes Zittern einzudämmen. Nach einigen Minuten entspannte sie sich endlich und sie seufzte zufrieden auf, was an meiner nackten Haut kitzelte, als ihr Atem meinen Hals streifte. „Das ist schön hier bei dir.“ Ihre Stimme klang warm und ein wenig schläfrig, fast so wie eine Katze, die sich in einem Sonnenfleckchen zusammen gerollt hatte. Gedankenverloren strich ich ihr zärtlich über den Rücken, als sie plötzlich mit dem Oberkörper vorschnellte und mich direkt unters Kinn küsste. Überrascht hielt ich in der Bewegung inne, doch sie schwang sich auf meinen Schoß, beugte sich zu mir herab und begann mein Gesicht mit Küssen zu bedecken, bis sie an meinen Lippen angelangt war. „Mel... Mel, stopp.“, versuchte ich mich halbherzig zu wehren, doch sie hörte nicht auf mich. „Shht.“ Liebevoll strich sie mir mit dem Daumen über die aufgebissene Unterlippe, was ein wenig brannte. „Mel, bitte... Wir... wir dürfen das nicht.“, unternahm ich einen weiteren Anlauf, doch sie legte mir ihren filigranen Zeigefinger auf den Mund. „Shht. Verrat mir hinterher, warum nicht.“ Dann presste sie ihre Lippen auf meine und etwas in mir gab nach. Ich fühlte, wie mein Widerstand zerbröckelte wie eine zu trockene Sandsteinmauer und in sich zusammen fiel. Nach Jahren der Selbstverleugnung war ich des Kämpfens einfach müde. Ich hatte nicht mehr die Kraft, immer und immer wieder zu widerstehen, und wollte es auch plötzlich gar nicht mehr. Mein Herz hatte so lange so viele Einschränkungen ertragen... Wenigstens für ein paar Stunden sollte es erfahren, wie es war zu leben. Ich vergrub meine Hände in Mels langen, weichen Haaren und küsste sie wie ich es seit Jahren hatte tun wollen. Alles in mir bebte und ich hatte das Gefühl, überall, wo Mel mich berührte, würde mein Körper Feuer fangen – heiße, helle Flammen, die mich trotzdem nicht verbrannten. Mel zog sich mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung ihr T-Shirt über den Kopf und ließ es achtlos neben mein Bett fallen. Dann kroch sie tiefer unter die Decke, bis sie fast auf meinen Knien saß, schob mir mein Shirt hoch und ließ ihre weichen Lippen geschickt über meine Muskelstränge gleiten. Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf schrie, dass ich Mel stoppen musste, dass ich sie mit allen nur erdenklichen Mitteln aufhalten musste, bevor es zu spät war. Doch spätestens als ihre harten Brustwarzen sanft über meine empfindliche Bauchhaut strichen, war mein Kopf vollkommen leer und leicht. Ich war außer Stande auch nur noch einen klaren Gedanken zu fassen. Ich riss mir das alte, dunkelrote Shirt vom Körper, rollte mich auf die andere Seite und begrub Mel unter mir. Sie sah aus ihren wunderschönen, dunkelgrünen Augen zu mir auf und die Liebe, die ich darin sah, zerriss mir beinah das Herz – auf eine positive, mir bisher unbekannte Art und Weise. „Greg...“ Mel brauchte bloß meinen Namen mit dieser leicht rauen, belegten Stimme zu hauchen und mir lief ein wohliger Schauer den ganzen Rücken hinab. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und küsste sie mit all der Leidenschaft, die ich für sie empfand. Als ich mich schwer atmend von ihr löste, strahlte sie mich mit einem verzückten Lächeln an. Das war genau der Blick, den ich bei ihr so oft gesehen hatte, wenn sie Johannes angeguckt hatte. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass sich dieses Mal ein Hauch mehr Begehren darin widerspiegelte. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, weil ich es gerne so gehabt hätte. Mel strich mir zärtlich ein paar Strähnen aus der vor Erregung schweißglänzenden Stirn, während ich eine Hand ganz, ganz langsam an ihrem schlanken Körper entlang wandern ließ und sie vorsichtig unter den Bund von Mels Shorts schob. Als ich ihr schnell in die Augen sah, um ihr Einverständnis einzuholen, küsste sie mich einfach zur Antwort und drückte ihren Unterleib begierig gegen meine Hand. Ein letztes Mal schrie die Stimme in meinem Hinterkopf auf, doch als Mel ihre Hand Minuten später in meine Jeans schob, war ich mehr als bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Kapitel 65: Melanie ------------------- Bumm, ba-bumm... Gregs Herzschlag war noch immer ein wenig zu schnell, doch bei Weitem nicht mehr so rasend wie kurz nachdem er mich mit einem Feuer geliebt hatte, das man seinem ansonsten eher zurückhaltenden Wesen gar nicht zugetraut hätte. Ich lag mit dem Kopf auf seiner nackten Brust, schmiegte mich an seine linke Körperhälfte und spielte gedankenverloren mit den kurzen, krausen Haaren, die in einer circa einem Zentimeter breiten Bahn fast senkrecht von seinem Bauchnabel bis zu seinem Lendenbereich wuchsen. Greg hatte einen Arm um mich gelegt und die Augen geschlossen, doch auf seinen Lippen lag ein wehmütiges, fast trauriges Lächeln. Ich fragte mich, was ihn nach diesen Stunden missmutig stimmen konnte. Diese Nacht, die wir miteinander verbracht hatten, war etwas ganz besonderes gewesen. Ich hatte zwar schon vorher oft mit Johannes geschlafen, was auch immer sehr schön gewesen war, aber ich hatte bei ihm nie dieses Gefühl gehabt, das mich in Gregs Armen überkommen hatte. Ich fühlte mich, als hätte ich ein fehlendes Puzzleteil von mir gefunden, von dem ich vorher noch nicht einmal gewusst hatte, dass ich es vermisste. Vorsichtig stützte ich mich auf den Ellbogen und betrachtete seine wunden, aufgebissenen Lippen. Während wir uns stürmisch geküsst hatten, war eine der kleinen Wunden wieder aufgeplatzt und ich hatte sein salziges Blut auf der Zunge geschmeckt. Irgendwie hatte mich das angemacht. Wieder einmal fragte ich mich, warum er sich ständig die Unterlippe aufbiss. War es einfach eine nervöse Angewohnheit oder eine leichte Form der bewussten Selbstverstümmelung? Manchmal schien Greg sich dermaßen zu hassen, dass ich es ihm durchaus zutraute. Ich drückte ihm sanft einen Kuss auf und er öffnete zögerlich die Augen. In seinem Blick lag so viel Wehmut, dass mir das Herz schwer wurde. Schnell richtete ich meine Aufmerksamkeit auf seine rechte Brustwarze, deren dunklen Hof ich spielerisch mit dem Zeigefinger umkreiste. „Was hast du vorhin eigentlich gemeint? Warum haben wir das hier nicht gedurft?“ Sofort setzte Greg sich auf und holte tief Luft, bevor er mit leiser und bedenklich zitternder Stimme antwortete: „Weil du meine Schwester bist.“ „Deine Adoptivschwester...“ Ich grinste ihn durchtrieben an und versuchte, ihn zu küssen, doch er zog sich mit ärgerlich zusammen geschobenen Augenbraunen zurück. „Nein, du verstehst mich nicht. Du bist meine Schwester.“ Ich starrte ihn mit leerem Gesichtsausdruck an. Was wollte er mir sagen? Er musterte mich besorgt von der Seite, zog die Beine an und fummelte nervös an der Bettdecke, als er stockend zu erzählen begann: „Diese ganze Adoptionssache war ein Fake. Ich... bin nicht normal, weißt du? Ich wollte so was wie das hier schon ganz, ganz lange. Aber ich wusste, dass es falsch ist. Deswegen brauchte ich eine Ausrede, um von dir weg zu kommen. Deswegen die ganze Sache mit der angeblich gefundenen Adoptionsurkunde....“ Greg sah mich wie ein kleiner Junge, der auf Prügel wartete, aus großen, ängstlichen Augen an, während ich das Gefühl hatte, einen kilometerlangen, düsteren Schacht hinab zu stürzen. Schwester... Bruder... Die Worte wirbelten ohne jede Bedeutung durch meinen Geist, während ich zu begreifen versuchte. Auf einmal ergab alles, was ich bisher nicht verstanden hatte, einen Sinn. Seine Feindseligkeit, die gequälten Blicke, sein Bestreben, sich von mir fern zu halten. „Als du gesagt hast, ich käme sowieso immer überall rein, da hast du von deinem Herzen gesprochen, oder?“ Meine Stimme klang unendlich weit weg, so als würden meine Ohren auf dem Grund eines Brunnens sitzen. Greg nickte kaum merklich. „Ja. Ich hab wirklich versucht, dich daraus zu verbannen, doch jedes Mal, wenn ich gedacht hab, ich hätte es endlich geschafft, warst du schneller wieder drin, als ich gucken konnte.“ Plötzlich hallte mir seine Stimme von seinem ersten Abend nach seiner Rückkehr durch den Kopf. „Mels Anwesenheit macht mich krank.“ Was zur Hölle hatte ich ihm angetan, als ich ihn immer und immer wieder gezwungen hatte, in meiner Nähe zu bleiben? Ich richtete meinen Blick, der in stummem Entsetzen über die Bettdecke gewandert war, erneut auf Greg und betrachtete seine nackte Brust, auf der mehrere rote Striemen glänzten, wo ich ihn gekratzt hatte. Ich schaute auf seine weichen Lippen, die er nun hart aufeinander presste, und sah ihm dann in die Augen, in denen so viel Angst und Liebe lagen, dass es mich einfach wahnsinnig machte. Dieser Mann war mein Bruder... Ich konnte, ich wollte einfach nicht glauben, dass das gleiche Blut durch unsere Adern floss. Nein, das durfte einfach nicht sein! Plötzlich wallte eine unbändige Wut in mir auf und ich begann mit den Fäusten gegen Gregs Brust zu trommeln, während mir heiße Tränen über die Wangen strömten. „Und du hast es die ganze Zeit gewusst! Du hast gewusst, dass wir Geschwister sind, aber du hast trotzdem zugelassen, dass wir miteinander schlafen. Du hast zugelassen, dass ich mich in dich verliebe, du widerlicher Mistkerl!“ Tiefer Schmerz, fast noch heftiger als der, den ich empfand, machte sich auf Gregs feinen Zügen breit, als ich ihm diese Tatsache eingestand: Ich hatte mich in meinen eigenen Bruder verliebt! In einen Mann, den ich nicht haben durfte... „Wenn du und deine beschissene Adoptionsaktion nicht gewesen wärt, hätte ich dich niemals als Mann gesehen. Dann wäre das alles nicht passiert!“ Ich hörte auf, Greg gegen die Brust zu trommeln, wo er in den nächsten Tagen sicherlich faustgroße Hämatome bekommen würde, und schlug mir die Hände stattdessen vors Gesicht, als mich ein heftiger Schluchzer schüttelte. Greg legte mir unsicher seine Hände um die Handgelenke und zwang mich, ihn anzusehen. Die Intensität seines Blicks und die Aufrichtigkeit in seinen Augen schnürten mir die Kehle zu. „Ich hab nicht gewollt, dass es so kommt, Mel. Aber verdammt, ich begehre dich so sehr, dass es schmerzt. Ich weiß, dass das falsch ist, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich liebe dich. Ich wollte dir niemals wehtun.“ Ehe mir wirklich klar war, was ich tat, holte ich aus und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. „Du hast das alles nicht gewollt? Na, das macht es ja ungemein leichter... Weißt du was? Ich hasse dich! Du bist widerwärtig!“ Dann stand ich auf, raffte meine Sachen zusammen und verschwand türeknallend aus seinem Zimmer. Doch seinen Blick, den er bekam, als ich ihm sagte, dass ich ihn hasste, werde ich nie vergessen. Er war richtiggehend grün im Gesicht geworden, hatte keuchend geatmet und sich die Hand auf die Brust gepresst, so als würde er im nächsten Augenblick einen Herzinfarkt bekommen. Das Schlimmste jedoch waren seine Augen gewesen, die vollkommen gebrochen gewirkt hatten, wie leere Windlichter in denen keine Kerzen mehr brannten. Kapitel 66: Gregor ------------------ Der Knall der zugeschlagenen Tür hallte noch immer in meinen Ohren, obwohl Mel schon seit fast einer Stunde weg war. Ich hatte mich kaum einen Millimeter bewegt und starrte noch immer auf den leeren Fleck, an dem sie vorher gesessen hatte. Jede Bewegung schien mir unmöglich. Ich war ein hohler Turm ohne Fundament, nur einen Windhauch davon entfernt, vollständig in sich zusammenzufallen. „Ich hasse dich! Du bist widerwärtig!“ Ich hatte immer gewusst, dass sie sich wegen meiner Gefühle für sie vor mir ekeln würde, doch ich hatte niemals geahnt, dass es so schlimm werden würde. „Du hast zugelassen, dass ich mich in dich verliebe!“ Die Worte tropften wie hochprozentige, dickflüssige Säure durch mein Gehirn und zerstörten alles, mit dem sie in Berührung kamen. Wieso hatte ich das nicht gemerkt, dass sie sich auf den gleichen, schmerzhaften Weg ohne Ziel begeben hatte wie ich? Obwohl... Hatte ich es wirklich nicht gemerkt? Dieser angedeutete Kuss im Schwimmbad hätte meine Alarmglocken zum Schrillen bringen müssen, doch ich hatte nicht reagiert. Hatte ich nichts tun wollen oder hatte ich einfach nicht daran geglaubt, dass Mel genauso verflucht sein könnte wie ich? Kraftlos sackte ich in mich zusammen und starrte mit stumpfem, ausdruckslosen Blick an die Decke. Im Grunde konnte ich mich jetzt auch gleich umbringen. Ich war doch eh schon tot – für eine einzige Sünde gestorben. Aber wenigstens hatte es sich gelohnt... Denn was war schon ein Leben voller Leid, wenn man dafür ein paar Stunden lang erfahren durfte, was wahres Glück ist? Plötzlich hatte ich eine Zeile aus einem Lied von „die Ärzte“ im Kopf, das ich öfter bei Vroni gehört hatte: „Ja, das befriedigt meine Triebe – Geschwisterliebe, Geschwisterliebe...“ War ich einfach nur krank? Hätte ich mich nach jeder meiner Schwestern so sehr verzehrt, wenn ich noch mehrere gehabt hätte? Oder war es einfach Mel? In meiner Jugend hatte ich mich eine Zeit lang mit Religionen beschäftigt, die an Wiedergeburt glauben. Es gibt Menschen, die behaupten, dass man an Versprechen aus früheren Leben gebunden ist. Hatten Mel und ich uns schon in einem früheren Leben geliebt und hatten dann ein schreckliches Verbrechen begangen, weshalb wir jetzt dadurch bestraft wurden, dass wir in Körpern von Geschwistern wiedergeboren worden waren? Ich schüttelte matt den Kopf. Das war doch alles Blödsinn. Im Grunde spielte es auch gar keine Rolle, warum ich mich in sie verliebt hatte. Es war halt einfach so und ich musste damit leben. Doch anstatt das Beste daraus zu machen und ihr der beste große Bruder zu sein, den man nur haben konnte, hatte ich mich von meiner Libido ausbooten lassen und alles für ein paar Stunden Ekstase aufs Spiel gesetzt – und spektakulär verloren. Ich rollte mich auf die Seite und beobachtete ein paar Regentropfen, die langsam an der Scheibe meines Fensters hinab liefen, so als würde das Glas weinen. Bei all dem Unglück und bei all den unsäglichen Schmerzen, die ich über Mel und mich gebracht hatte, hatte das Ganze wenigstens etwas Gutes: Jetzt, wo Mel mich hasste, würde ich wenigstens problemlos wieder abreisen können. Ich würde aus ihrem Leben verschwinden und nie wieder zurückkommen. Das war ich ihr schuldig. Ich war mir nur noch nicht sicher, ob ich tatsächlich auf Vronis Versprechen, bei mir zu bleiben, eingehen sollte. Für mich wäre es natürlich sehr viel einfacher, aber ich käme mir dabei irgendwie schäbig vor. Vroni hatte einfach einen besseren Mann verdient als mich... Kapitel 67: Melanie ------------------- Als ich am nächsten Morgen wach wurde, hörte ich das Geklapper von Tellern. Frühstück... Eigentlich hatte ich gar keinen Appetit, doch ich hievte mich dennoch aus dem Bett. Ich wollte verhindern, dass meine Eltern sich Sorgen machten und womöglich nach oben kamen, um nach mir zu sehen. Mein Fußboden war mit tränennassen Taschentüchern übersät und das hätte mir einige unangenehme Fragen eingebracht, auf die ich keine Lust hatte. Unwillig tapste ich die Treppe hinab und warf einen prüfenden Blick in den Flurspiegel. Ich sah müde aus, aber zum Glück nicht mehr verheult. Als ich ins Esszimmer trat, deckte Mama gerade den Tisch. Papa saß auf seinem Platz und las wie so oft Zeitung. Die Beiden wünschten mir freudig einen guten Morgen und lächelten mir herzlich zu, als sie mich bemerkten. „Wo ist Greg?“ Trotz der vergangenen Nacht spürte ich sofort wieder die vertraute Angst, er könnte uns erneut verlassen haben. Etwas an meiner Stimme ließ Papa aufhorchen und er blickte mich mit gerunzelter Stirn an. „Dein Bruder ist Brötchen holen.“ Mama legte mehrere Marmeladenlöffel auf den ovalen Tisch und huschte zurück in die Küche, um Aufschnitt aus dem Kühlschrank zu holen. Ich setzte mich auf meinen Platz, gähnte und versuchte Papas forschenden Blick zu ignorieren. „Ist zwischen dir und Greg... irgendetwas vorgefallen?“ Alle Farbe wich aus meinem Gesicht und ich begann unmerklich zu zittern. Irgendwie klang Papa als wüsste er, was Sache war. Trotzdem hatte ich nicht vor, etwas preis zu geben. „Na ja, wir haben uns ein wenig gestritten.“, setzte ich an, als das Telefon klingelte. „Ich geh schon!“ Ehe einer von uns aufstehen konnte, eilte Mama an uns vorbei ins Wohnzimmer. Mein Vater betrachtete mich mit sorgenvoller Miene. „Gestritten? Warum?“ „Ach, nichts wildes. Ich hatte Angst vor dem Gewitter und er meinte, ich wäre ein kleiner Schisser. Da hab ich ihn einen gefühllosen Klotz genannt und so weiter und so fort.“ Ich war stolz auf meine kleine Notlüge. Das klang doch nach einem ganz normalen Streit zwischen zwei ganz normalen Geschwistern. Papa grinste erleichtert, doch bevor er etwas sagen konnte, stand Mama wieder in der Tür zum Wohnzimmer. Ihre Haut war kalkweiß und sie sah uns aus riesigen, schockgeweiteten Augen an. Als sie sprach, brach ihre Stimme gleich mehrfach, bevor sie die zwei kurzen Sätze beenden konnte: „Das war das Krankenhaus. Gregor hatte einen Unfall.“ Mein gesamtes Leben rutschte urplötzlich in eine extreme Schieflage und alles schien Kopf zu stehen. Selbst als ich etwa eine Viertelstunde später im Wartebereich des Krankenhauses saß, konnte ich es noch immer nicht glauben. Ich bekam kaum mit, was um mich herum passierte. Ich hatte nicht einmal wirklich wahrgenommen, dass Papa nicht mehr bei uns war. Er wollte sich mit seinen Kollegen kurzschließen und herausfinden, wie schlecht es wirklich um seinen Sohn stand. Doch obwohl ich schreckliche Angst um Greg hatte, beschäftigte mich eine andere Frage noch viel mehr. Als ich plötzlich den Polizeibeamten entdeckte, der in einiger Entfernung leise mit meinem Vater sprach, sprang ich auf und rannte auf die Beiden zu. Der lindgrüne Linoleumboden quietschte widerlich unter den Gummisohlen meiner dunkelblauen Turnschuhe. Ohne abzuwarten, dass der Beamte das Gespräch mit Papa beendete, fiel ich ihm atemlos ins Wort: „Hat er das mit Absicht getan?“ Papa riss überrascht die Augen auf und musterte mich intensiv, während ich mit wild klopfendem Herzen den verwirrten Polizisten fixierte. „Wie bitte?“ „Greg. Mein Bruder. Gregor. Gregor Klare. Hat er das mit Absicht gemacht? Den Unfall meine ich.“ Ich war so durch den Wind, dass ich kaum in ganzen Sätzen sprechen konnte. Der Beamte schüttelte langsam den Kopf und ich hatte kurz die Befürchtung, dass er mir beibringen wollte, dass er darüber keine Auskünfte geben dürfte. Doch dann sagte er: „Noch können wir natürlich nichts definitives sagen, doch im Moment sieht es so aus als hätte dein Bruder nicht schuld an dem Unfall. Anscheinend hat ihn jemand beim Spurwechsel so heftig geschnitten, dass Gregor in den Gegenverkehr gedrängt wurde.“ Dann sagte er noch irgendetwas davon, dass der Unfallverursacher flüchtig war, doch das interessierte mich schon gar nicht mehr. Alles, was für mich zählte, war, dass Greg nicht versucht hatte, sich umzubringen. „Wann dürfen wir endlich zu ihm?“ Ich hörte selbst, wie quengelig meine Stimme klang, doch wir waren jetzt schon seit fast anderthalb Stunden hier und noch immer hatten wir Greg nicht zu Gesicht bekommen. Mama versuchte, mich schützend in den Arm zu nehmen, doch ich wollte mich nicht anfassen lassen. Irgendwie erinnerte mich das zu sehr an Gregs Umarmung während der letzten Nacht. Stattdessen starrte ich Papa ungeduldig an, der unerhört ruhig wirkte. Doch ich wusste, dass er innerlich genauso aufgewühlt war, wie ich. „Das kann ich dir nicht sagen. Ich glaube, momentan wird er noch operiert.“ „Warum bist du nicht im OP? Warum bist du nicht bei ihm?“ Plötzlich war meine Kehle wie zugeschnürt und meine Stimme tränenerstickt. „Schatz, ich bin kein Chirurg. Glaub mir, wenn ich nicht der Meinung wäre, da drin nur im Weg zu stehen, wäre ich bei der Operation ganz vorne mit dabei.“ Ich nickte stumm und schlug die Augen nieder. „Wie schlimm steht’s eigentlich um ihn?“ In dem Moment kam einer von Papas Kollegen um die Ecke und hielt direkt auf uns zu. „Ihr könnt jetzt zu ihm. Aber ich sag’s euch gleich: Er ist nicht bei Bewusstsein.“ Sofort sprangen wir auf die Füße und folgten dem Weißkittel wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln. Als wir das kleine Zimmer auf der Intensivstation betraten, drehte sich mir augenblicklich der Magen um. Greg lag fast vollständig in dem dicken, weiß bezogenen Kissen versunken auf dem schmalen Bett. Sein wunderschöner Körper war von Infusionsnadeln zerstochen und mit Schläuchen übersät, doch ansonsten sah er erstaunlicherweise aus wie immer. Keine klaffende Wunde, kein riesiges Hämatom, nur ein paar leichte Kratzer. Ich merkte, wie meine Hoffnung bei diesem Anblick wieder anschwoll, und ich fand sogar den Mut, den Arzt zu fragen, wie schlimm es um Greg stand. Jemandem, der so unversehrt aussah, konnte es doch gar nicht so schlecht gehen, oder? Doch Papas Kollege schüttelte traurig den Kopf, was mir den Magen zu einer noch kleineren Kugel zusammen ballte, als er es eh schon vorher gewesen war. „Äußerlich hat er nicht viel abbekommen, aber er hat jede Menge innere Verletzungen und extrem viel Blut verloren. Ein Stahlteil hat sich in seinen Oberschenkel gebohrt – direkt in die Hauptarterie.“ „Das... das klingt nicht gut.“ Hilflos sah ich zu Papa auf, damit er mir sagte, dass es eigentlich gar nicht so wild war, doch er blickte stumm und mit hängenden Mundwinkeln auf Greg, der an eine Reihe monoton piepender Geräte angeschlossen war. Mühsam kämpfte ich darum, die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten, zurück zu halten. Auch wenn er nie etwas gesagt hatte, wusste ich trotzdem, dass Greg es nie gemocht hatte, wenn ich geheult hatte. Deswegen hatte ich jetzt irgendwie das Gefühl, nicht weinen zu dürfen. „Aber es ist gut, dass ihr alle hier seid. Vielleicht können wir einen von euch anzapfen.“ Irritiert warf ich die Stirn in Falten und blickte zu Papas Kollegen auf. Auch mein Vater machte ein ratloses Gesicht und blinzelte verwirrt. „Was meinst du?“ Der andere Arzt seufzte übertrieben. „Komm schon, Paul, du weißt selbst, wie knapp unsere Vorräte an Blutgruppe Null sind. Da wäre es echt klasse, wenn wir einem von euch das Blut für Gregor abnehmen könnten.“ Plötzlich wurde Mama noch blasser, was ich kaum für möglich gehalten hatte. Ihre Haut bekam einen grauen Ton und ihre Augen traten ein Stück hervor. „Null?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein kraftloses Flüstern. „Gregor kann nicht Blutgruppe Null sein.“ Jetzt war es an dem Weißkittel, verwirrt drein zu sehen. „Doch, natürlich. Das steht in seinem Blutspendeausweis, den er bei sich hatte und wir haben es auch noch mal getestet.“ „Das kann aber nicht sein!“ Dieses Mal klang Mama so schrill, dass es in den Ohren wehtat. „Das geht einfach nicht. Ich bin seine Mutter und ich hab Blutgruppe AB.“ Für einen kurzen Moment senkte sich eine gespenstische Stille über den Raum, während der man nur das immer gleiche Piepen der Maschinen hörte. Schließlich fand Papa seine Stimme als Erster wieder: „Wir werden das gleich noch einmal testen. Uns alle.“ Geduldig drückte ich mir nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit das kleine Mullstückchen auf die winzige Einstichwunde, aus der man mir wenige Milliliter Blut abgenommen hatte. „Wie lange dauert so eine Blutuntersuchung?“ Papa legte seine Zeitschrift, in der er eh nicht wirklich gelesen hatte, zur Seite und wandte mir den Kopf zu. „Eigentlich müssten die Ergebnisse jeden Moment da sein.“ „Jeder Moment“ entpuppte sich als eine weitere Viertelstunde Wartezeit, doch dann kam endlich eine ziemlich junge, hübsche Krankenschwester mit niedlichem Puppengesicht auf uns zu geeilt. In ihren ungeschminkten, braunen Augen stand die reine Verwirrung. Ohne uns zu begrüßen, fiel sie gleich mit der Tür ins Haus: „Sie hatten recht.“, wandte sie sich an meine Mutter, die ein abfälliges Schnauben ausstieß. „Natürlich hatte ich recht!“ Die Krankenschwester verzog für einen kurzen Moment ärgerlich den Mund, dann setzte sie unbeirrt neu an: „Sie hatten recht. Sie sind Blutgruppe AB, aber Gregor hat trotzdem Null. Leider kommt auch ansonsten niemand von Ihnen als Spender in Frage. Paul, Sie haben Blutgruppe A. Und ihre Tochter Melanie hat ebenfalls AB.“ Mama brach mit leerem Gesicht auf dem nächsten Stuhl zusammen und starrte ins Nichts, doch ich verstand nur Bahnhof. Ärgerlich schob ich die Augenbraunen zusammen. „Hätte vielleicht auch mal jemand die Güte, mir zu erklären, was hier los ist?“ Papa sah mich mit einem wehmütigen, leidenden Blick an, den ich sonst nur von Greg kannte. Kleine Eiskristalle prickelten durch meine Adern, während ich auf seine Antwort wartete. „Dieses Ergebnis bedeutet, dass Greg nicht unser leiblicher Sohn sein kann.“ Fast hätte ich laut los gelacht. Wollte er mich auf den Arm nehmen? „Papa, lass den Scheiß. Ich weiß, dass dieser ganze Adoptionsquatsch nur erfunden war.“ Anstatt geschockt zu reagieren, nickte mein Vater bloß. „Trotzdem kann Greg nicht unser leibliches Kind sein. Die Einzelheiten zu erklären, würde jetzt zu weit greifen, aber vertrau mir einfach, wenn ich dir sage, dass bei einer Blutgruppenkonstellation der Eltern wie sie hier vorliegt, kein Kind entstehen kann, das Blutgruppe Null hat. Mama und ich sind nicht Gregs Eltern.“ Ein riesiges Loch tat sich unter meinen Füßen auf und ich stürzte bodenlos ins Nichts. Ich hatte plötzlich das Gefühl, vollkommen von meinem Körper losgelöst zu sein. „Aber... das bedeutet ja, dass er nicht mein Bruder ist...“ Papa nickte mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. „Eben das bedeutet es.“ Ich riss den Kopf hoch und sah meinen Vater aus großen, fiebrig glänzenden Augen an. „Ich muss zu ihm! Er muss das wissen!“ Es war mir egal, ob Papa sich seinen Teil dachte, woher ich wusste, wie wichtig diese Tatsache für Greg war. Doch anstatt irritiert drein zu blicken, lächelte er mich an. „Ja. Komm, wir gehen es ihm erzählen.“ Mama folgte uns auf wackeligen Beinen, aber Papa versperrte ihr plötzlich den Weg. „Nein.“ Sie sah ihn aus großen Augen überrascht an, während ich unsicher vor der Tür zu Gregs Zimmer stehen blieb. Was ging hier vor? „Ich glaube nicht, dass Greg dich jetzt dabei haben wollen würde. Er hat dir nie verziehen, wie du damals reagiert und was du alles gesagt hast – und ich ehrlich gestanden auch nicht.“ Mama klappte der Mund auf und sie starrte ungläubig zu meinem Vater hoch. „Aber Paul...“ „Kein Aber. Überleg dir mal, wie du dich gefühlt hättest, wenn deine Eltern so über dich geredet hätten wie du über ihn. Und er war sowieso schon so einsam, weil er versucht hat, die ganze Bürde allein zu tragen... Ehrlich, ich kann mir nicht vorstellen, dass er dich jetzt dabei haben wollen würde. Und abgesehen davon: Ich will dich nicht dabei haben.“ Zorn flackerte über Mamas Gesicht, als sie zischte: „Paul! Er ist immer noch mein Sohn!“ „Ach, jetzt auf einmal?“ Papa wandte sich halb zu mir um. „Mel, geh schon mal rein. Ich komm gleich nach.“ Ich nickte und verschwand schnell durch die Tür. Es gab wichtigeres als den Ehekrach meiner Eltern. Kapitel 68: Melanie ------------------- Ich saß auf einem kleinen, unbequemen Hocker und hielt Gregs kalte, unbewegte Hand. Papa war zwischendurch kurz hier gewesen, dann aber wieder verschwunden, um sich Kaffee zu holen. Das war jetzt fast zwanzig Minuten her. Ich glaubte inzwischen viel mehr, er wollte Greg und mir Zeit für uns allein geben. Papa war schon immer gut darin gewesen, die Auren anderer Menschen zu lesen, und musste gespürt haben, dass es noch einiges gab, das Greg und ich aufzuarbeiten hatten. Zärtlich strich ich über Gregs Hand mit den langen, schlanken Fingern. Chirurgenhände. Hände, mit denen man einfach Arzt werden musste. Ich schluckte kräftig, als mir ein Phantasiebild, das sich ungefragt vor mein geistiges Auge gestohlen hatte, Tränen in die Augen trieb. Ich konnte mir viel zu gut vorstellen, als seine Freundin und nicht als seine Schwester an Gregs Seite zu stehen, wenn er seinen Universitätsabschluss machen oder zu seiner ersten, gelungenen Operation beglückwünscht werden würde. Mit tränenverschleiertem Blick betrachtete ich seine blutleeren Lippen, die mich nur wenige Stunden zuvor so leidenschaftlich geküsst hatten, dass ich allein davon verzückt aufgeseufzt hatte. Jetzt traten die vielen kleinen Bisswunden wie klaffende rote Krater auf dem wächsern wirkenden Untergrund hervor. Bisher hatte ich ihm noch nicht gesagt, was die Blutanalysen ans Tageslicht gefördert hatten. Ich hatte es selbst noch immer nicht ganz verstanden. Als Papa den Raum verlassen hatte, um sich angeblich einen Kaffee zu holen, war ich ihm zur Tür gefolgt und hatte ihn im Flüsterton gefragt: „Wie kann das eigentlich sein, dass Greg nicht mein Bruder ist? Ich meine, man adoptiert doch nicht versehentlich ein Kind.“ Papa hatte mit den Schultern gezuckt und gemeint: „Der unwahrscheinliche Fall, dass zwei Kinder kurz nach der Geburt vertauscht werden, kommt immer mal wieder vor.“ Das bedeutete wohl, dass ich irgendwo in dieser Stadt tatsächlich noch einen Bruder hatte, doch das interessierte mich im Moment herzlich wenig. Ich hatte genug damit zu tun, zu hoffen, dass der Bruder, den ich bis jetzt gehabt hatte, dass der Mann, in den ich mich so plötzlich mit einer geradezu erschütternden Heftigkeit verliebt hatte, überlebte. Doch dass ich die ganze Sache selbst noch nicht ganz verstand, war nicht der einzige Grund, weshalb ich Greg bis jetzt noch nichts von diesen Neuigkeiten erzählt hatte. Eigentlich wollte ich es ihm erzählen, sobald er wieder zu sich kommen würde. Ich wollte das hübsche, erst ungläubige, dann freudige Glänzen in seinen Augen sehen und ihn dann zur Bestätigung küssen, wenn er fragen würde, ob das die Wahrheit sei. Aus irgendeinem Grund jedoch überfiel mich jetzt plötzlich das dringende Bedürfnis, ihm alles zu berichten. Ich drückte sacht seine eisige Hand und rückte ein Stück näher an seinen Kopf, sodass ich ihm ins Ohr flüstern konnte. „Greg? Hörst du mich? Ich bin’s, Mel. Es gibt da etwas, das ich dir erzählen muss. Etwas ziemlich wichtiges. Also hör gut zu, ja? Du bist gar nicht mein Bruder. Wir sind nicht verwandt. Dein Herz hatte immer recht. Hörst du? Wir gehören zusammen, aber wir sind keine Geschwister. Du weißt, was das bedeutet. Also lass mich jetzt nicht allein.“ Ich legte meinen Kopf auf seine Brust, wo ich sein Herz schwach schlagen hörte. „Ach, und noch etwas: Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe. Du bist nicht widerwärtig. Du bist so ziemlich der tollste Mann, den ich kenne. Ein Engel – mein Engel.“ Vorsichtig legte ich meine Lippen auf seine. Sie waren eiskalt. „Ich liebe dich.“ Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, er würde meine Hand drücken, doch dann ertönte plötzlich von einem der Geräte ein widerliches, durchdringendes, langgezogenes Fiepen und innerhalb von nur einer Minute wimmelte es in dem kleinen Raum von Ärzten und Schwestern. Verwirrt blickte ich mich um, doch bevor ich auch nur registrieren konnte, was eigentlich los war, packten mich zwei starke Hände und zogen mich durch die Tür. Panisch schaute ich zu Papa auf, der mich fest umklammert hielt. „Was passiert hier?“ Papa blickte zurück zu Gregs Raum und schluckte heftig. „Er stirbt.“ „Nein!“ Verzweifelt versuchte ich, mich los zu machen, doch mein Vater hielt mich eisern fest. „Mel! Du darfst da jetzt nicht rein. Du würdest nur im Weg stehen.“ „Aber Papa, er stirbt! Greg stirbt!“ Meine Stimme schraubte sich immer höher und höher, überschlug sich und brach schließlich weg. Papa schüttelte einfach nur den Kopf und zog mich wieder an seine Brust. „Das tut er auch, wenn du da drin bist und die letzten, verzweifelten Versuche siehst, ihn zurück zu holen.“ „Wie kannst du dir nur so sicher sein?“ Ich war beinah wütend auf meinen Vater. Wie konnte er so wenig Vertrauen in Greg haben? Er würde uns niemals einfach so im Stich lassen! Doch Papas Antwort war ebenso einfach wie ernüchternd. „Ich bin Arzt, Mel. Ich weiß schon seit Stunden, dass es nur noch eine Frage der Zeit war.“ In dem Moment schwang die Tür zu Gregs Zimmer auf und die emsige Schar Ärzte und Schwestern strömte wieder aus dem Raum. Der Weißkittel von vorher hielt auf uns zu und schüttelte mit trauriger Miene den Kopf. „Paul, Melanie, es tut mir leid...“ Ich sackte so schnell auf den Boden, dass Papa mich nicht mehr festhalten konnte, und fing an zu schreien, unartikuliert und wild. Dass mich alle Menschen, die in der Nähe waren, geschockt ansahen, war mir egal. Ich nahm sie gar nicht wahr. Ich schrie und schrie, bis ich keine Luft mehr in den Lungen hatte und darüber hinaus. Papa kniete sich neben mich und zog mich an seine Brust als ich unkontrolliert zu weinen anfing. All die Tränen, die ich den ganzen Tag über zurück gehalten hatte, schienen auf einmal hervorzubrechen und strömten mir heiß über die Wangen. Ich schluchzte so heftig, dass ich das Gefühl hatte, es müsste mir den Brustkorb zerreißen. Eine besorgt drein blickende Schwester trat neben uns und fragte unsicher, ob sie mir etwas zur Beruhigung geben sollte, doch Papa schüttelte den Kopf. „Lass sie. Es ist gut, wenn sie ihren Schmerz raus lassen kann.“ Kapitel 69: Teil 4 - Abschied: Veronica --------------------------------------- Mit leerem Blick starrte ich aus dem Fenster des Taxis, auf dem sich dicke Tropfen sammelten. Passend zum Anlass hatte es in der Nacht zu regnen begonnen und schien auch so schnell nicht wieder aufzuhören. Es wirkte fast als weinte der Himmel um den Verlust eines Engels... Wieder schnürte es mir die Kehle zu und ich schluckte krampfhaft, um mich am weinen zu hindern. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass Greg tatsächlich tot war. Diese Tatsache wollte einfach nicht in meinen Kopf. Ich hatte mir während der Anreise diesen Satz – „Greg ist tot.“ – immer und immer wieder vorgesagt, doch anstatt mir die Erkenntnis in den Schädel zu hämmern, hatte ich dadurch nur dafür gesorgt, dass die Worte auch das letzte Bisschen ihrer Bedeutung verloren hatten. Langsam bog das Taxi um eine Kurve und durchquerte ein breites gusseisernes Tor. Der Friedhof. Blind reichte ich dem Fahrer einen Geldschein und stieg einfach aus, auch wenn mir dunkel bewusst war, dass ich gerade ein horrendes Trinkgeld gegeben hatte. Während ich langsam auf das kleine Grüppchen Trauergäste zu ging, dachte ich wieder daran, wie ich von Gregs Tod erfahren hatte: Ich war gerade dabei gewesen, Wäsche aufzuhängen, als das Telefon geklingelt hatte. Da ich gedacht hatte, Greg würde endlich anrufen, hatte ich das Wäschestück, das ich gerade in der Hand gehabt hatte – eines von Gregs T-Shirts – einfach achtlos auf die Leine geworfen und war zum Telefon gestürmt. Doch als ich die dunkle Stimme am anderen Ende der Leitung gehört hatte, hatte ich bereits geahnt, dass etwas passiert sein musste. „Entschuldigen Sie die Störung, aber... aber ich hab in der Anrufliste seines Handys gesehen, dass mein Sohn Sie in den letzten Tagen mehrfach angerufen hat.“, hatte die Stimme gesagt, wobei sie brüchig und irgendwie erstickt geklungen hatte. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie seine Lebensgefährtin sind?“ Sofort hatte mein Herz für einige Schläge ausgesetzt und meine Antwort hatte bereits wie eine ängstliche Frage geklungen: „Ja?“ Schnell hatte ich mich geräuspert und nachgesetzt: „Warum? Um was geht’s denn?“ Gregs Vater hatte schniefend Luft geholt, was mir die Kehle zugezogen hatte. Mir war klar gewesen, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung gewesen war. „Es... es tut mir leid, aber ich muss Ihnen leider sagen, dass... dass...“ Wieder war da dieses zitternde Luftholen gewesen, das wie ein Bleigewicht auf meine Brust gedrückt hatte. Mit angehaltenem Atem hatte ich in das leise Knacken der Leitung gehorcht und auf ein Wunder gehofft. „Ich muss Ihnen leider sagen, dass Gregor gestern einen tödlichen Verkehrsunfall gehabt hat.“ Ich hatte das Gefühl gehabt, in ein endlos tiefes, pechschwarzes Loch zu stürzen – bis hinab ins Nirgendwo. Schon als meine Eltern gestorben waren, war der Schmerz kaum auszuhalten gewesen, doch Gregs Tod hatte mich noch heftiger getroffen. Mein Herz hatte so wild geschlagen, dass es erstaunlich erschien, dass es mir keine Rippe gebrochen hatte, und in meinen Ohren hatte das Blut so laut gerauscht, dass ich erst mit einiger Verzögerung registriert hatte, dass ich immer wieder „Nein! Nein! Nein!“ geschluchzt hatte. Trotz seiner eigenen Trauer hatte Gregs Vater sich meinen Zusammenbruch schweigend angehört, bis ich so weit gefasst gewesen war, dass er mir Zeit und Ort der Beerdigung hatte nennen können. Und hier war ich nun... Obwohl ich eingeladen war, traute ich mich nicht so richtig an das Grab heran. Irgendwie fühlte ich mich unter den anderen Trauergästen vollkommen fehl am Platz. Deswegen hielt ich mich ein wenig abseits und beobachtete die anderen Anwesenden. Ich war erstaunt, wie wenig Personen hier waren, obwohl Greg garantiert ein ganze Schar guter Freunde gehabt hatte, bevor er ins Internat gekommen war. Ein einzelner junger Mann stand direkt vor dem Grab und schien sich hundeelend zu fühlen. Seine Augen waren blutunterlaufen und geschwollen und der Regen tropfte ihm aus den Haaren, was er jedoch gar nicht zu bemerkten schien. Ob er wohl Chris war, von dem Greg oft erzählt hatte? Ich ließ meinen Blick schweifen und entdeckte eingekeilt zwischen einem etwas pummeligen Jungen und einem fürchterlich mitgenommen wirkenden Mann Mitte Vierzig eine junge, sehr zierliche Frau mit langen rotbraunen Haaren. Sie hielt ihren Kopf gesenkt, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, doch ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass es sich bei ihr um Melanie handelte. Sofort spürte ich wie sich der heiße Stachel der Eifersucht tief in mein gebrochenes Herz grub. Das war sie also, die Frau, die Greg so vergöttert hatte. Sie wirkte so schrecklich zerbrechlich, dass ich jeden Moment damit rechnete, dass eine Windböe sie vor meinen Augen zu Staub zerbröseln würde, und hielt sich krampfhaft an dem jungen Mann neben ihr fest, der ihr immer wieder beruhigend über den Oberarm strich. Obwohl ich eigentlich alles Recht der Welt hatte, dieses Mädchen inbrünstig zu hassen, hatte ich plötzlich viel eher das Bedürfnis, es in den Arm zu nehmen und zu trösten. Seine unterdrückten Schluchzer waren so laut, dass das Geräusch bis zu mir herüber drang. Außerdem gab es keinen Grund mehr, dieses Mädchen zu verabscheuen. Melanie musste Greg ebenfalls von ganzem Herzen geliebt haben und in unserer Trauer waren wir viel mehr Komplizinnen, denn Konkurrentinnen. Als hätte sie meinen Blick auf sich gespürt, hob sie plötzlich den Kopf und begegnete meinem Blick. Der Ausdruck in ihren rotgeränderten, moosgrünen Augen ließ mein Herz gleich noch einmal brechen – zeigten sie doch viel mehr Schmerz als ich je bei einem anderen Menschen gesehen hatte. Kapitel 70: Melanie ------------------- Die letzten Tage hatte ich wie durch einen Nebel erlebt. Ich hatte das Gefühl gehabt, vollkommen von meinem Körper losgelöst zu sein. Irgendwie hatte ich es geschafft, die Dinge zu tun, die hatten erledigt werden müssen, doch die ganze Zeit über hatte ich nichts gespürt. Ich war eine leere, leblose Hülle gewesen. Doch jetzt schlug die Realität mit einer dermaßen immensen Brutalität wieder zu, dass ich mich innerlich krümmte. Erst als Gregs Sarg langsam in sein Grab gelassen wurde, wurde mir wirklich bewusst, dass ich ihn für immer verloren hatte. Dass er tot war. Ich holte schluchzend Luft und hatte das Gefühl, meine Beine würden jeden Moment unter mir nachgeben. Noch immer konnte ich es nicht begreifen. Ich wartete immer noch darauf, dass Greg im nächsten Moment um die Ecke kommen und mich umarmen und küssen würde. Ich fragte mich, ob er mich noch gehört hatte und in dem Wissen gestorben war, dass ich ihn liebte und dass diese Liebe nichts Unnatürliches war. Mit einem dicken Kloß im Hals dachte ich an das wilde Feuer in Gregs Augen, kurz bevor wir miteinander geschlafen hatten. Vermutlich war dies der schönste Anblick, dem ich in meinem bisherigen Leben ansichtig geworden war. Und nun sollte ich es niemals wieder sehen... Dicke Stacheldrahtstränge legten sich um mein Herz und wurden langsam von unsichtbaren Händen zusammen gezogen. Mein Puls begann hektisch zu rasen und ich atmete stockend, bis meine Welt an den Rändern dunkel wurde und ich gegen Jo taumelte, der neben mir stand und mich auffing. Nur schwer konnte ich meinen tränenverschleierten Blick von Gregs Grab losreißen und Jo ansehen. Er presste die Lippen fest aufeinander und musterte mich aus mitfühlend wirkenden Augen. Die Liebe, die darin geschrieben stand, brannte wie Feuer in meinen Adern. Ich hatte ihm gegenüber ein unglaublich schlechtes Gewissen wegen meiner Gefühle für Greg – und vor allem wegen der Nacht, die ich mit ihm verbracht hatte. Zu meiner Schande musste ich sogar gestehen, dass ich die ganze Zeit über nicht an Johannes gedacht hatte. Erst später, als ich mir in meinem Bett die Augen ausgeweint hatte, weil ich geglaubt hatte, Greg wäre mein leiblicher Bruder gewesen, war mir mein Freund plötzlich wieder eingefallen. Eigentlich hätte ich die Beziehung gleich beenden sollen, doch dafür war ich zu selbstsüchtig. Ich brauchte Jo – vor allem jetzt. Außerdem spürte ich unter den heißlodernden Gefühlen für Greg immer noch die beruhigende, alltägliche Liebe für meinen Freund. Mit ein bisschen Zeit würde unsere Beziehung bestimmt wieder wie früher werden. Daran wollte ich einfach glauben. Ich lehnte mich gegen ihn und starrte wieder auf das tiefe, dunkle Loch, in dem Gregs Sarg verschwunden war. Die Wunde, die sein Tod in meinem Herzen gerissen hatte, war bestimmt genauso tief und klaffend. Plötzlich überkam mich das Gefühl, beobachtet zu werden und ich riss den Kopf hoch. Einige Meter entfernt von uns stand eine junge Frau, die ungeniert zu mir herüber blickte. Sie war groß und schlank und wirkte irgendwie verloren. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, was sie hier wollte, doch dann fiel es mir wieder ein. Papa hatte erzählt, dass sie kommen würde: Die junge Frau musste Gregs Freundin Veronica sein. Mit einem Anflug von Eifersucht kniff ich die Augen zusammen und musterte die Fremde. Sie hatte mittellanges, dunkles Haar und ein hübsches Gesicht, das vor lauter Trauer ganz verzerrt war. Auch wenn ich es ungern zugab, konnte ich verstehen, was Greg an ihr gefunden hatte. „Entschuldigt mich mal eben.“ Ohne weitere Erklärung ließ ich Jo und Papa stehen und strebte auf die junge Frau zu. Ob sie einen anderen Greg gekannt hatte als ich? Plötzlich brannte ich darauf, mit ihr zu reden und etwas mehr über die Jahre zu erfahren, die sie mit Greg verbracht hatte. Bevor ich sie erreicht hatte, wurde ich jedoch von einem weiteren Trauergast abgefangen, der mir bisher überhaupt nicht aufgefallen war. Zwei kräftige Hände packten mich an den Schultern und zogen mich in eine klammernde Umarmung, die mir die Luft aus den Lungen presste. „Es tut mir so leid, Mel.“, schluchzte eine raue Stimme dicht an meinem Ohr. Nur mit Mühe schaffte ich es, den jungen Mann ein Stück weit von mir weg zu schieben, damit ich ihn ansehen konnte. Ich blickte in verweinte, braune Augen, in die einige Strähnen nassen, schwarzen Haares hingen und die mir sehr vertraut waren. Das dazu gehörige, schmale Gesicht war weniger markant gewesen, als ich es das letzte Mal gesehen hatte, doch ich erkannte es sofort. „Chris!“ Wieder drückte mich Gregs ehemaliger bester Freund gegen seine Brust und schluchzte. Irgendwie machte mich seine unbändige Trauer verlegen und ich bekam Angst, dass Veronica verschwinden könnte, während Chris mich aufhielt. Ich warf ihr einen hilfesuchenden Blick zu, den sie mit einem leicht amüsierten, schiefen Grinsen quittierte. „Ich werde mir nie verzeihen, dass ich unsere Freundschaft damals so hab auseinander gehen lassen.“, schniefte Chris. „Ich wusste doch, dass Greg einfach nur verletzt war und bin trotzdem nie auf ihn zu gegangen, weil ich der Meinung war, dass er dieses Mal an der Reihe gewesen wäre. Aber ich hab so oft daran gedacht, ihn anzurufen und jetzt... jetzt ist es zu spät...“ Ich spürte seine Not, so als wäre es meine eigene, doch ich hatte in diesem Moment wirklich keinen Nerv, mich damit zu beschäftigen. Entschuldigend lächelnd wand ich mich aus seiner Umarmung und murmelte: „Ich bin mir sicher, Greg hat das gewusst. Mach dich nicht so fertig.“ Dann drehte ich mich um, bevor Chris antworten konnte, und strebte auf die junge Frau am Rande der Trauerfeier zu. Aus der Nähe konnte ich den ungesunden Grauton ihrer Haut und die dunklen Schatten unter den Augen erkennen, was mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Obwohl wir uns kein Stück ähnlich sahen, hatte ich irgendwie das Gefühl, in den Spiegel zu gucken. Der Schmerz, der sich tief in die Gesichtszüge dieser Frau gegraben hatte, war derselbe, der mein Herz bei jedem Schlag schmerzen ließ wie eine eiternde Wunde. „Ich würde gerne mit dir reden.“, platzte ich ohne nachzudenken heraus. Veronica nickte, deutete stumm auf die kleine Kapelle in der Nähe und setzte sich dann in Bewegung, ohne zu schauen, ob ich ihr folgte. Ein wenig unsicher schaute ich schnell über die Schulter und fing Jos besorgten Blick auf. Ich lächelte ihm aufmunternd zu und folgte Gregs Freundin dann in das Trockenheit verheißende Gebäude. Kapitel 71: Johannes -------------------- Der Regen fiel als schwere Tropfen aus den tiefhängenden stahlgrauen Wolken und prasselte unablässig auf uns herab. Meine dicken Locken saugten das Wasser auf wie ein Schwamm und ich hatte inzwischen das Gefühl, einen Sandsack auf dem Kopf zu haben. Wir waren alle so sehr von Schock und Trauer gelähmt, dass keiner von uns daran gedacht hatte, einen Schirm mitzunehmen. Ich betrachtete den Sarg aus dunkelrotem Holz, der langsam in die dafür vorgesehene, tiefe Grube hinabgelassen wurde. Die Vorstellung, dass darin der Körper eines jungen Mannes lag, mit dem ich in meiner Kindheit oft gespielt hatte, fühlte sich verdammt merkwürdig an. Ich wollte mir nicht einmal vorstellen, wie sich Mel und die anderen Mitglieder ihrer Familie fühlen mussten. Verstohlen blickte ich mich um und entdeckte Frau Klare, die ein wenig von uns entfernt stand und mit erstaunlich gefasster Miene auf den Sarg ihres Sohnes starrte. Sicher, Greg war nicht ihr leibliches Kind gewesen, aber ihre erstarrten Züge erschütterten mich trotzdem. Sie erweckten beinah den Eindruck, dass Mels Mutter sich schon lange mit dieser Situation abgefunden hatte, dass Greg schon vor seinem Tod für sie gestorben gewesen war. Aber vielleicht tat ich der armen Frau mit diesem Gedanken auch unrecht. Vielleicht gehörte sie einfach zu den Menschen, die ihre Gefühle schlecht nach außen tragen können. Langsam ließ ich meinen Blick weiter wandern und musterte Paul, der fast mit genauso unbewegter Miene auf Gregs Grab schaute. Doch anders als bei seiner Frau stand ihm sein Schmerz deutlich ins Gesicht geschrieben. Schlaflose Nächte hatten so tiefe Ringe unter seine Augen gemalt, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass sie irgendwann vermutlich wieder verschwinden würden, und seine von neuen Falten zerfurchte Haut wirkte dünn und durchscheinend. Der Anblick dieses Vaters, der versuchte, den Tod seines Sohnes mit so viel Würde und Fassung zu tragen, obwohl es ihm offensichtlich das Herz zerriss, machte mir das Atmen schwer. Schnell sah ich wieder zu Mel, die in diesem Moment heftig zu schluchzen begann und ein wenig schwankte, so als würde sie im nächsten Moment zusammenbrechen. Reflexartig machte ich einen kleinen Schritt zur Seite und fing sie auf, gerade als ihre Knie einzuknicken drohten. Sie lehnte sich mit ihrem winzigen Vogelgewicht an mich und weinte so heftig, dass ich mich selbst hundsmiserabel fühlte. So hilflos zu sein, machte mich ganz krank, doch ich konnte einfach nichts anderes tun als sie festzuhalten und zu hoffen, dass sie eines Tages über ihre Trauer hinweg kommen würde. Ich betrachtete ihr langes, nasses Haar, das ihr in wirren Strähnen wie Seetang neben dem Gesicht herab hing, und ihre schmalen Schultern, die sich unter den Schluchzern bebend hoben und senkten. Behutsam verstärkte ich meine Umarmung, obwohl eigentlich am liebsten zur Seite getreten wäre. Noch immer schwelte die eine Frage in meinem Herzen, die mit ihrem beißenden Rauch meinen ganzen Geist vernebelte: Hatte Mel sich in Greg verliebt? Und was war mit ihm gewesen? Wieder sah ich seinen hasserfüllten Blick, dem ich begegnet war, nachdem ich Mel geküsst hatte, sah erneut sein leidendes Gesicht, mit dem er die ineinander verschlungenen Hände von Mel und mir betrachtet hatte, sah wieder seine ganze gequälte Gestalt, die sich um irgendeinen inneren Schmerz gekrümmt zu haben schien. War es möglich, dass er seine Schwester in all der Zeit so sehr geliebt hatte wie ich und dass ihn diese Liebe schier wahnsinnig gemacht hatte? Auf einmal empfand ich tiefes Mitgefühl für Greg, obwohl ich seit seiner Rückkehr nur wenig positive Gedanken für ihn übrig gehabt hatte. Mel umfasste meine Hand mit eiskalten, glitschignassen Fingern und drückte sie dankbar. Wieder warf ich einen schnellen Blick auf ihr Gesicht, das so von Trauer und Leid verzerrt war, dass ich es nicht lange aushielt, es anzusehen. Ihre ansonsten funkelnden Augen wirkten trüb und vom vielen Weinen irgendwie ausgewaschen und ihre eigentlich rosafarbenen Lippen waren deutlich blasser, stachen aber immer noch als Farbklecks aus dem kalkweißen, müde wirkenden Gesicht hervor. Hatte sie sich in Greg verliebt? Weinte sie hier um ihren Bruder oder um den Mann, mit dem sie ihr Leben hatte verbringen wollen? Oder hatte sie sich in den letzten Tagen so merkwürdig verhalten, weil sie erfahren hatte, dass Greg sie begehrt hatte – dass er das getan hatte, war, jetzt wo ich genauer darüber nachdachte, eigentlich nicht zu übersehen gewesen – und nicht gewusst hatte, wie sie damit hatte umgehen sollen? Ich konnte einfach nicht damit aufhören, mir diese Fragen zu stellen und es gab nichts, das mir bei der Beantwortung irgendwie geholfen hätte. Dass Mel diejenige von uns war, die am heftigsten zu trauern schien, war nicht weiter verwunderlich. Sie war schrecklich sensibel und unglaublich nah am Wasser gebaut. Außerdem hatte sie ihren Bruder schon immer abgöttisch geliebt – auch schon bevor ich die Befürchtung gehabt hatte, dass diese Liebe plötzlich womöglich alles andere als geschwisterlich gewesen war. Traute ich ihr das überhaupt zu? Glaubte ich wirklich, dass Mel in der Lage dazu war, mit mir zusammen zu sein, während ihr Herz einem anderen gehörte? Nein, eigentlich nicht. Aber wer traute dem Menschen, den er am meisten auf der Welt liebte, so etwas zu? Am liebsten hätte ich laut geschrieen. Das war doch zum verrückt werden! Egal, was ich tat, meine Gedanken drehten sich immer nur im Kreis und alles, was ich tun konnte, war abwarten. Die Zeit würde schon zeigen, was Mel wirklich noch für mich empfand. Und eigentlich spielte es doch auch gar keine Rolle mehr, ob sie sich in Greg verliebt hatte oder ob ihr seltsames Verhalten daher rührte, dass sie von seinen Gefühlen erfahren hatte. Egal, welcher der beiden Gründe der Richtige war, es hatte jetzt so oder so ein Ende. Mit einem brennenden, schlechten Gewissen fiel mir auf, dass ich fast ein wenig erleichtert über Gregs Tod war. Während ich noch versuchte, dieses schändliche Gefühl zu vertreiben, löste Mel sich plötzlich aus meinen Armen, murmelte etwas Unverständliches und strebte davon. Für einen Moment warf ich irritiert die Stirn in Falten, doch dann entdeckte ich Chris, der wie ein Häufchen Elend am Rand des Grabes kauerte. Bei seinem Anblick empfand ich sofort heftiges Mitleid für meinen ehemaligen Nachbarn, der aussah als würde er alles Leid der Welt auf seinen Schultern tragen oder als gäbe er sich die Schuld an Gregs Tod, was vollkommen lächerlich war. Zwar hatte die Polizei den Unfallverursacher bisher nicht gefunden, doch Zeugenaussagen zur Folge hatte es sich dabei um ein Auto mit einheimischem Kennzeichen gehandelt – womit Chris, der in einem anderen Landkreis lebte, ausgeschlossen war. Gerade als ich mich fragte, weshalb Chris dann so von Selbstvorwürfen geplagt aussah, wandte Mel sich von ihm ab und ging auf eine junge Frau zu, die mir bislang überhaupt nicht aufgefallen war. Nach einem kurzen Wortwechsel drehte Mel sich halb um und lächelte mich an, dann folgte sie der Fremden in die nahegelegene Kapelle. Ich trat ein wenig unruhig von einem Bein aufs andere und spielte mit dem Gedanken, hinterher zu gehen, als mir jemand eine Hand auf die Schulter legte. „Mach dir keine Sorgen. Das Mädchen war Gregs Lebensgefährtin.“ Paul lächelte mich matt an, um mich zu beruhigen, doch seine Worte hatten nur den gegenteiligen Effekt. Was wollte Mel denn von dieser Frau? „Aber... warum...?“ Meine Gedanken wirbelten so wild durcheinander, dass ich keinen gescheiten Satz zustande brachte. Paul zuckte knapp mit den Schultern. „Das arme Mädchen ist vollkommen aufgelöst, schließlich hat es gerade seine Liebe verloren. Ist es da nicht verständlich, dass es erst mal mit einer anderen Frau reden will in der Hoffnung, dass sie es versteht?“ Ich nickte stumm, wobei mir ein paar Regentropfen in die Augen liefen, und hoffte, dass er gerade von Gregs Freundin und nicht von Mel gesprochen hatte. Seufzend wurde mir klar, dass ich auch in dieser Situation nichts anderes tun konnte als abzuwarten. Die Zeit würde zeigen, wie es weiter gehen würde. Ich durfte nur nicht aufhören, an Mel zu glauben und zu hoffen, dass alles wieder gut werden würde. Kapitel 72: Veronica -------------------- Das Innere der Kapelle wurde durch eine kleine Elektroheizung geheizt und war nach dem kalten Regen draußen eine wahre Wohltat. Meine Muskeln, von denen ich gar nicht gemerkt hatte, dass sie sich in der Kälte schmerzhaft verspannt hatten, lockerten sich ein wenig und in meinen eisigen Fingern begann es zu kribbeln. Dennoch fühlte ich mich noch immer miserabel. Mein Herz raste und pochte unregelmäßig, als ich mich langsam und vorsichtig auf die vorderste Reihe der wenigen, langen Bänke sinken ließ. Um es den Besuchern ein bisschen komfortabler zu machen, hatte irgendjemand lange, dünne Sitzkissen, die mit einem helllilafarbenen Stoff bezogen waren, auf das harte Holz gelegt. Jeder Nerv in meinem Körper war bis zum Zerreißen gespannt, während ich auf Melanie wartete. Als die Tür dann endlich aufschwang, setzte mein Herzschlag für einen winzigen Moment aus, nur um dann mit doppelter Intensität zurückzukehren. Mein Atem ging flach und mir war fürchterlich übel. Trotzdem konnte ich nicht verneinen, dass ich mich irgendwo sogar darauf freute, Gregs kleine Schwester genauer kennen zu lernen. Endlich würde meine ewig schattenhafte Konkurrentin ein Gesicht bekommen. Vielleicht würde ich in ihr ja sogar ein wenig von Greg wiederentdecken. Während Melanie langsam auf mich zukam, fiel mir erst richtig auf, wie zerbrechlich sie tatsächlich wirkte. Anders als ihr Bruder, der ziemlich groß und sportlich gewesen war, war Melanie recht klein und zierlich, ja geradezu elfenhaft. Ihre verquollenen, rotgeränderten Augen waren von einem umwerfend intensiven Dunkelgrün und wirkten in dem blassen Gesicht fast unnatürlich groß. Ihr langes Haar war klatschnass und hing herab wie achtlos ausgekippte, mahagonifarbene Spaghetti. Trotzdem war sie alles in allem ein wirklich hübsches Mädchen, aber sie hatte nicht die Spur einer Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. Ich wusste nicht recht, ob mich das erleichtern oder enttäuschen sollte. Zaghaft setzte sie sich neben mich und krampfte nervös die Hände zusammen. Ich wusste nicht recht, warum, aber ihr schien diese Situation genauso unangenehm zu sein wie mir. Dabei saß sie doch gar nicht der Frau gegenüber, an die sie ihre Liebe verloren hatte. Trotzdem schaffte sie es kaum, den Blick vom Boden zu heben, geschweige denn mich anzusehen. Stattdessen knetete sie ihre Hände und schluckte mehrfach, so als würde sie an einem Klos in ihrem Hals würgen. Einen langen Moment sagte keine von uns ein Wort. Die einzigen Geräusche im Raum stammten von der leise brummenden Heizung und dem Regenwasser, das aus unseren Haaren und unserer Kleidung tröpfelte. Nach schier endlosen Minuten hielt ich das Schweigen nicht mehr aus und sagte mit belegter Stimme: „Das tut mir so leid für dich und deine Familie.“ Melanie nickte stumm, doch anstatt mir ebenfalls ihr Beileid auszusprechen, platzte sie plötzlich mit etwas heraus, mit dem ich niemals gerechnet hätte: „Er war nicht mein Bruder.“ Ihre Stimme war ein tränenersticktes Flüstern, doch ihre Worte fielen trotzdem wie tonnenschwere Steine in den Raum. Überrascht starrte ich Melanie an und versuchte, zu erfassen, was sie da gerade gesagt hatte. „Was?!“ Wenn er nicht ihr Bruder gewesen war, dann hätten seine Gefühle doch eine Zukunft gehabt... „Sie haben es nach seinem Unfall im Krankenhaus herausgefunden, als sie Tests gemacht haben, um herauszufinden, ob einer von uns als Blutspender für Greg in Frage kommt. Dabei ist jedoch nur heraus gekommen, dass Greg nicht der Sohn meiner Eltern sein kann.“ Noch immer konnte ich nichts anderes tun, als Melanie anzustarren, die ihren Kampf gegen die Tränen immer mehr verlor. Das war einfach schrecklich! All die Jahre hatte Greg sich gehasst, weil er geglaubt hatte, irgendetwas hätte nicht mit ihm gestimmt, weil er seiner Meinung nach inzestuöse Gefühle gehabt hatte. Dabei war immer alles in bester Ordnung mit ihm gewesen. In den Adern seiner großen Liebe hatte nie dasselbe Blut geflossen wie in seinen. Übelkeit schlug mir mit einer riesigen Faust mitten in den Magen und ich musste mir die Arme um den Oberkörper legen, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, anders auseinander zu fallen. „Hat... hat ihm das jemand gesagt?“ Ich war so geschockt, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Mir war überhaupt nicht klar, dass diese Frage für Melanie vielleicht verwirrend war. Doch sie zog nur ein unglückliches Gesicht und zuckte mit den Schultern, bevor sie flüsterte: „Ich hab es ihm gesagt, aber ich weiß nicht, ob er mich noch gehört hat. Er ist... er ist... kurz darauf gestorben.“ Sie war bei ihm gewesen, als er den Kampf gegen den Tod verloren hatte? Erneut brandete eine Welle tiefen Mitgefühls in mir hoch und ich streckte den Arm nach dem schrecklich leidenden Mädchen neben mir aus. Zunächst schreckte Melanie vor meiner Hand zurück, doch dann ließ sie die Berührung doch zu. In diesem Moment erinnerte mich ihr Verhalten so sehr an Greg, dass sich die gebrochenen Überreste meines Herzens schmerzhaft zusammen zogen. Doch ich schluckte meine eigene Trauer so gut es ging herunter und drückte sacht Melanies Schulter. Greg hätte gewollt, dass ich mich jetzt um seine Schwester kümmerte. „Aber es spielt doch gar keine Rolle, ob er es noch gehört hat oder nicht. Egal, ob ihr wirklich Blutsverwandte wart oder nicht, du warst immer die Schwester, die er sich gewünscht hätte.“, versuchte ich sie zu beruhigen, doch der Blick, den sie mir daraufhin zuwarf, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Diese unendlich grünen Augen zeigten plötzlich so einen tiefen Schmerz, dass ich das Gefühl hatte, ihre Iris müsste zu Scherben zerfallen. Sie wusste es! Schlimmer noch: Sie liebte ihn ebenfalls auf eine alles andere als geschwisterliche Weise. „Oh...“ Ich schlug mir beide Hände vor den Mund, während die Erkenntnis langsam und zäh in mein Bewusstsein tropfte. Melanie nickte resigniert und holte tief Luft. „Du hast es gewusst, oder?“ „Ja.“, gab ich zu. „Ich hab vor kurzem herausgefunden, was er für dich empfunden hat.“ Eine neue Welle aus Trauer und Schmerz huschte über Melanies Gesicht, während ich überrascht war, wie ruhig ich blieb. Mir war schrecklich schlecht und ein dicker Klos saß in meiner Kehle fest, doch ich hatte wider Erwarten nicht das Gefühl, am Boden zerschmettert zu sein. Anscheinend hatte mein Herz sich schon viel mehr damit abgefunden, dass Gregs Liebe immer einem anderen Mädchen als mir gegolten hatte, als ich gedacht hatte. Vielleicht half mir dieses Gespräch sogar dabei, mit Greg abzuschließen und irgendwann neu anzufangen. „Es war also schon länger so...“ Melanie sprach so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob die Worte wirklich mir gegolten hatten. Sie zog geräuschvoll die Nase hoch und sah mich dann wieder aus diesen leidenden Augen an. Ich hatte Gefühl, dass mir der Schmerz, der in ihnen stand, wie dünne Nadeln unter die Haut glitt. „Er... er ist damals meinetwegen gegangen, oder?“ Ihre Stimme zitterte bereits bedrohlich und als ich stumm nickte, stieß sie nur ein heißeres „Oh, mein Gott!“ aus, bevor sie endlich offen und hemmungslos zu weinen begann. Einige Herzschläge lang saß ich unschlüssig daneben, doch dann zog ich das völlig aufgelöste Mädchen sanft in meine Arme. Auch wenn ich vielleicht völlig zu recht eifersüchtig hätte sein dürfen, konnte ich mich nicht dazu durchringen. Diese Liebe hatte aus uns allen einfach nur Verlierer gemacht und es wäre idiotisch gewesen, sich jetzt noch gegenseitig zu zerfleischen. Zu meiner Überraschung warf sich Melanie ebenfalls mit ihrem ganzen Gewicht gegen mich und klammerte sich fest an mich. Mit einem heißglühenden Schmerz musste ich an den Tag denken, an dem ich Greg so im Arm gehalten hatte, an dem wir uns das erste Mal geküsst hatten. „Du hast damals wegen deiner Liebe zu Melanie geweint, nicht wahr, Greg?“, ging es mir schlagartig durch den Kopf. Während ich das Mädchen sacht in meinen Armen wiegte, ließ ich meine Zeit mit Greg Revue passieren. Jetzt, wo ich seine Gefühle für Melanie kannte und sah wie stark das Band zwischen den Beiden offenbar gewesen war, war es als fielen fehlende Puzzleteile an ihren Platz. Plötzlich ergab so vieles, das ich vorher nicht verstanden hatte, einen Sinn. Sein Selbsthass, seine Zurückhaltung, wenn es um das Thema Sex ging, seine beständige Weigerung, über Melanie zu sprechen... Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich jetzt, wo ich Greg endlich wirklich kannte, besser von ihm würde lösen können. Natürlich tat es immer noch schrecklich weh, aber es würde vorbei gehen. Schließlich konnte man nichts wirklich verlieren, das man nie wirklich besessen hatte. Nicht wahr? Der Greg, den ich in all der Zeit geliebt hatte, den ich unbedingt in ihm hatte sehen wollen, weil dieser Greg mich ebenfalls geliebt hatte, hatte nie existiert und irgendwo tief in mir hatte ich das auch immer gewusst. Ich drückte Melanie ein letztes Mal und setzte mich dann wieder ein Stück zur Seite. Sie rieb sich über die nassen Augen und schniefte, wobei das Geräusch ihrer hoch gezogenen Nase unnatürlich laut durch den stillen Raum hallte. Als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, langte ich in meine Umhängetasche und zog ein dickes, in braunes Leder gebundenes Buch heraus. Melanie sah mich irritiert aus großen Augen an, als ich es ihr unter die Nase hielt. „Was ist das?“ „Gregs Tagebuch. Ich möchte, dass du es bekommst.“ Überrascht riss sie die Lider noch ein wenig mehr auseinander. „Das kann ich nicht annehmen.“ „Doch, natürlich. Ich hab es die letzten Tage immer mit mir rum getragen, weil ich gehofft hatte, ihm dadurch noch irgendwie nah zu sein. Aber jetzt will ich, dass du es bekommst. Ich denke, es ist wichtig, dass du es liest und weißt, was er wirklich für dich empfunden hat.“ Ich tippte leicht auf den weichen Ledereinband. „Diese Worte sind schon viel zu lange ungehört geblieben.“ Zögernd nahm Melanie das Buch entgegen, wobei sie es so liebevoll berührte als wäre es ein kostbarer Schatz. „Danke. Ich weiß gar nicht, womit ich es verdient habe, dass du so nett zu mir bist.“ „Das ist doch egal.“ „Nein, ist es nicht. Ich hab dir einfach erzählt, dass Greg nicht mein Bruder war, ohne darüber nachzudenken, wie weh ich dir damit vielleicht tue. Es musste einfach raus.“ Ich strich ihr eine inzwischen fast trockene Strähne hinters Ohr und lächelte. Überraschenderweise musste ich feststellen, dass ich dieses Mädchen trotz allem irgendwie mochte. „Schon okay, ich versteh das.“ Melanie schüttelte energisch den Kopf. „Es war trotzdem nicht fair von mir. Und jetzt bist du auch noch so nett zu mir... Dabei hab ich dir Greg doch eigentlich weggenommen.“ Sie sah mich eindringlich an, wobei in ihren Augen der Wunsch nach Vergebung deutlich zu sehen war. Sofort durchzuckte mich die Frage, wie viel zwischen ihr und Greg gelaufen war, doch ich schob den Gedanken bestimmt zur Seite. Eigentlich wollte ich das gar nicht so genau wissen. „Du hast ihn mir nicht weggenommen. Lies sein Tagebuch und du wirst sehen, dass du zuerst da warst. Wenn man überhaupt so über einen Menschen mit freiem Willen reden kann, dann habe ich mir Greg höchstens von dir ausgeliehen.“ Mit diesen Worten stand ich auf und strich Melanie ein letztes Mal über den Kopf. „Ich muss jetzt leider schon wieder los. Aber du kannst mich gerne anrufen, wann immer du möchtest. Ein Zettel mit meiner Nummer liegt irgendwo in dem Buch.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ ich die Kapelle und trat in den noch immer prasselnden Regen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ein wenig Ordnung in dieses Schicksalschaos gebracht zu haben, indem ich Melanie Gregs Tagebuch gegeben hatte, denn es gehört einfach zu ihr. Trotz meiner eigenen Trauer fühlte sich das einfach gut an und ich schaffte es sogar, ein Lächeln zustande zu bringen, als ich den Friedhof verließ. Ja, ich würde über Greg hinweg kommen. Definitiv. Kapitel 73: Melanie ------------------- Eine leichte Brise wehte über das flache Land und trug den Duft einer in der Nähe wachsenden Hochstammrose zu mir herüber. Die Sonne stand tief im Westen und schickte ihre Strahlen in langen, goldenen Strahlen hinab. Mit tränenverschleiertem Blick starrte ich auf den hohen Stein aus dunklem Marmor und verspürte das vertraute, dumpfe Ziehen in meinem noch immer nicht vollständig verheilten Herzen, während ich den liebevoll gearbeiteten, männlichen Engel betrachtete, den jemand mit geschickten Händen in den harten Stein gemeißelt hatte. Es erschreckte mich jedes Mal wieder aufs Neue, wie groß die Ähnlichkeit zwischen den steinernen Zügen des Seraph und Gregs Gesicht war. Wie von selbst überflog ich die aus kunstvollen Lettern gefertigte Grabinschrift, die ich damals selbst ausgesucht hatte: „Angels only pass by.“ Es war ziemlich irritierend, aber auch lustig gewesen, als Veronica und ich festgestellt hatten, dass wir Beide Greg gedanklich immer mit einem Engel verknüpft hatten. Lächelnd dachte ich an Vroni, die mir während der schweren Zeit trotz der Umstände sehr ans Herz gewachsen war. Irgendwie war es plötzlich als hätte ich statt eines großen Bruders eine ältere Schwester. Es war schön zu sehen, dass sie sich nach anfänglichen Schwierigkeiten inzwischen erholt hatte. Sie schien über Greg hinweg zu sein, auch wenn sie noch immer mit viel Liebe in der Stimme über ihn sprach. Mit einem dicken Klos im Hals betrachtete ich die eingemeißelten Daten und fröstelte. Heute war es auf den Tag genau fünf Jahre her. Ein tiefer, heißer Stich fuhr mir ins Herz, als mir bewusst wurde, dass ich inzwischen einundzwanzig war. Greg hatte seinen einundzwanzigsten Geburtstag nie erlebt. Ich war jetzt tatsächlich älter als er... Es war ein seltsames Gefühl, das ich nicht einmal ansatzweise benennen konnte. Ich atmete tief durch und blinzelte ein paar Tränen weg, die hervorzubrechen drohten. „Hey, Greg.“, flüsterte ich. Irgendwie tat es mir gut, so zu tun als könnte er mich hören, wenn ich hier stand und leise mit ihm redete. Es stimmte eben doch: Gräber sind für die Lebenden, nicht für die Toten. „Ich muss dir etwas erzählen: Ich hab meine ersten Prüfungen bestanden. Es ist sogar eine 1,2 dabei. Ist das nicht super?“ Nach meinem Abitur hatte ich mit einem Medizinstudium angefangen. Paps, wie ich Papa seit Gregs Tod nannte, war stolz wie Oskar und ich ließ ihn in dem Glauben, dass ich in seine Fußstapfen treten wollte. Doch in Wirklichkeit hatte ich das Gefühl gehabt, Greg dadurch näher zu sein, wenn ich den Weg ging, den er hatte gehen wollen. Ansonsten hatte sich abgesehen von der Scheidung meiner Eltern in den letzten fünf Jahren nicht viel geändert. Ich war noch immer mit Johannes zusammen, auch wenn unsere Beziehung einen leichten Knacks abbekommen hatte. Ich hatte ihm nie von meinen Gefühlen für Greg oder gar von meinem Seitensprung erzählt, doch ich war mir ziemlich sicher, dass er etwas ahnte. Trotzdem war er in all der Zeit immer für mich da gewesen und allein dafür liebte ich ihn schon – wenn auch auf eine andere, weniger intensive, aber auch weniger verzehrende Weise als Greg. Josephine war die Einzige, der ich von meiner gemeinsamen Nacht mit Greg erzählt hatte. Sie hatte deswegen lange Zeit heftige Gewissensbisse gehabt, weil sie geglaubt hatte, ihre alberne Wette mit mir hätte erst dazu geführt, dass Greg und ich uns in einander verliebt hatten, aber ich fand das lächerlich. Ich war dankbar dafür, dass wir diese geheimen, viel zu kurzen Stunden miteinander gehabt hatten. Denn auch wenn der Gedanke daran noch immer höllisch schmerzte, war diese Erinnerung die schönste, die ich hatte. Bei Paps war ich mir nicht sicher, ob er womöglich wusste, was zwischen Greg und mir passiert war. Er hatte nie Fragen gestellt, woher ich wusste, dass es für Greg eine so große Rolle gespielt hätte, zu erfahren, dass er nicht mein Bruder gewesen war, und ich hatte nie etwas erzählt. Inzwischen hatte sich auch rausgestellt, dass mein tatsächlicher, richtiger Bruder wirklich kurz nach der Geburt mit Greg vertauscht worden war. Wir wussten sogar, wo er lebte, doch ich hatte kein großes Interesse daran, ihn kennen zu lernen. Greg konnte nicht ersetzt werden, durch niemanden. Mama sah das allerdings ein wenig anders und hatte Kontakt zu ihrem leiblichen Sohn aufgenommen. Auch wenn ich das irgendwo verstehen konnte, nahm ich es ihr ziemlich übel – vor allem, weil ich manchmal das Gefühl hatte, dass sie von mir erwartete, dass ich plötzlich meine geschwisterlichen Gefühle für diesen fremden Mann entdeckte. Für sie schien es nur noch Patrick zu geben, Greg hingegen war für sie ein absolutes Tabuthema. Der Unfallverursacher von damals war nie gefunden worden, doch das spielte für mich keine große Rolle. Seine Verurteilung hätte mir Greg auch nicht wieder zurückgebracht. Mich beschäftigte eine andere Frage außerdem noch immer viel mehr: Hatte er mich noch gehört? Der Gedanke, dass Greg womöglich in dem Glauben gestorben war, dass wir etwas unrechtes getan hatten und ich ihn hasste, brachte mich beinah um den Verstand. Ich atmete tief durch, um dem Schmerz in meinem Inneren Herr zu werden, und legte eine einzelne weiße Lilie auf Gregs Grabstein, wobei ich mit zitternder Stimme flüsterte: „Ich liebe dich. Du fehlst mir jeden Tag.“ Anders konnte man es einfach nicht umschreiben. Obwohl inzwischen fünf Jahre vergangen waren, vermisste ich ihn noch immer bei jedem einzelnen Herzschlag so sehr, dass es körperlich wehtat. In Gedanken rief ich mir Gregs Gesicht vor Augen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Ich meiner Vorstellung waren sie ebenmäßig und ohne jede kleinste Wunde. Dann wandte ich mich endlich ab und ging langsam auf Jo zu, der wie immer am Friedhofstor lehnte und geduldig auf mich wartete. Vorsichtig schob ich meine Hand in Jos, der sie zärtlich drückte, bevor wir nebeneinander durchs Tor schritten. Draußen blieb ich ein letztes Mal stehen und warf einen Blick zurück. Die Lilie lag lang über dem Grabstein, so dass sie mit der Blüte ein Stück über die Kante hing. Eine sanfte Abendbrise strich über ihre Blätter, wodurch es ein wenig wirkte als würde die Blume winken. Lächelnd zog ich das Tor ins Schloss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)