Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 71: Johannes -------------------- Der Regen fiel als schwere Tropfen aus den tiefhängenden stahlgrauen Wolken und prasselte unablässig auf uns herab. Meine dicken Locken saugten das Wasser auf wie ein Schwamm und ich hatte inzwischen das Gefühl, einen Sandsack auf dem Kopf zu haben. Wir waren alle so sehr von Schock und Trauer gelähmt, dass keiner von uns daran gedacht hatte, einen Schirm mitzunehmen. Ich betrachtete den Sarg aus dunkelrotem Holz, der langsam in die dafür vorgesehene, tiefe Grube hinabgelassen wurde. Die Vorstellung, dass darin der Körper eines jungen Mannes lag, mit dem ich in meiner Kindheit oft gespielt hatte, fühlte sich verdammt merkwürdig an. Ich wollte mir nicht einmal vorstellen, wie sich Mel und die anderen Mitglieder ihrer Familie fühlen mussten. Verstohlen blickte ich mich um und entdeckte Frau Klare, die ein wenig von uns entfernt stand und mit erstaunlich gefasster Miene auf den Sarg ihres Sohnes starrte. Sicher, Greg war nicht ihr leibliches Kind gewesen, aber ihre erstarrten Züge erschütterten mich trotzdem. Sie erweckten beinah den Eindruck, dass Mels Mutter sich schon lange mit dieser Situation abgefunden hatte, dass Greg schon vor seinem Tod für sie gestorben gewesen war. Aber vielleicht tat ich der armen Frau mit diesem Gedanken auch unrecht. Vielleicht gehörte sie einfach zu den Menschen, die ihre Gefühle schlecht nach außen tragen können. Langsam ließ ich meinen Blick weiter wandern und musterte Paul, der fast mit genauso unbewegter Miene auf Gregs Grab schaute. Doch anders als bei seiner Frau stand ihm sein Schmerz deutlich ins Gesicht geschrieben. Schlaflose Nächte hatten so tiefe Ringe unter seine Augen gemalt, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass sie irgendwann vermutlich wieder verschwinden würden, und seine von neuen Falten zerfurchte Haut wirkte dünn und durchscheinend. Der Anblick dieses Vaters, der versuchte, den Tod seines Sohnes mit so viel Würde und Fassung zu tragen, obwohl es ihm offensichtlich das Herz zerriss, machte mir das Atmen schwer. Schnell sah ich wieder zu Mel, die in diesem Moment heftig zu schluchzen begann und ein wenig schwankte, so als würde sie im nächsten Moment zusammenbrechen. Reflexartig machte ich einen kleinen Schritt zur Seite und fing sie auf, gerade als ihre Knie einzuknicken drohten. Sie lehnte sich mit ihrem winzigen Vogelgewicht an mich und weinte so heftig, dass ich mich selbst hundsmiserabel fühlte. So hilflos zu sein, machte mich ganz krank, doch ich konnte einfach nichts anderes tun als sie festzuhalten und zu hoffen, dass sie eines Tages über ihre Trauer hinweg kommen würde. Ich betrachtete ihr langes, nasses Haar, das ihr in wirren Strähnen wie Seetang neben dem Gesicht herab hing, und ihre schmalen Schultern, die sich unter den Schluchzern bebend hoben und senkten. Behutsam verstärkte ich meine Umarmung, obwohl eigentlich am liebsten zur Seite getreten wäre. Noch immer schwelte die eine Frage in meinem Herzen, die mit ihrem beißenden Rauch meinen ganzen Geist vernebelte: Hatte Mel sich in Greg verliebt? Und was war mit ihm gewesen? Wieder sah ich seinen hasserfüllten Blick, dem ich begegnet war, nachdem ich Mel geküsst hatte, sah erneut sein leidendes Gesicht, mit dem er die ineinander verschlungenen Hände von Mel und mir betrachtet hatte, sah wieder seine ganze gequälte Gestalt, die sich um irgendeinen inneren Schmerz gekrümmt zu haben schien. War es möglich, dass er seine Schwester in all der Zeit so sehr geliebt hatte wie ich und dass ihn diese Liebe schier wahnsinnig gemacht hatte? Auf einmal empfand ich tiefes Mitgefühl für Greg, obwohl ich seit seiner Rückkehr nur wenig positive Gedanken für ihn übrig gehabt hatte. Mel umfasste meine Hand mit eiskalten, glitschignassen Fingern und drückte sie dankbar. Wieder warf ich einen schnellen Blick auf ihr Gesicht, das so von Trauer und Leid verzerrt war, dass ich es nicht lange aushielt, es anzusehen. Ihre ansonsten funkelnden Augen wirkten trüb und vom vielen Weinen irgendwie ausgewaschen und ihre eigentlich rosafarbenen Lippen waren deutlich blasser, stachen aber immer noch als Farbklecks aus dem kalkweißen, müde wirkenden Gesicht hervor. Hatte sie sich in Greg verliebt? Weinte sie hier um ihren Bruder oder um den Mann, mit dem sie ihr Leben hatte verbringen wollen? Oder hatte sie sich in den letzten Tagen so merkwürdig verhalten, weil sie erfahren hatte, dass Greg sie begehrt hatte – dass er das getan hatte, war, jetzt wo ich genauer darüber nachdachte, eigentlich nicht zu übersehen gewesen – und nicht gewusst hatte, wie sie damit hatte umgehen sollen? Ich konnte einfach nicht damit aufhören, mir diese Fragen zu stellen und es gab nichts, das mir bei der Beantwortung irgendwie geholfen hätte. Dass Mel diejenige von uns war, die am heftigsten zu trauern schien, war nicht weiter verwunderlich. Sie war schrecklich sensibel und unglaublich nah am Wasser gebaut. Außerdem hatte sie ihren Bruder schon immer abgöttisch geliebt – auch schon bevor ich die Befürchtung gehabt hatte, dass diese Liebe plötzlich womöglich alles andere als geschwisterlich gewesen war. Traute ich ihr das überhaupt zu? Glaubte ich wirklich, dass Mel in der Lage dazu war, mit mir zusammen zu sein, während ihr Herz einem anderen gehörte? Nein, eigentlich nicht. Aber wer traute dem Menschen, den er am meisten auf der Welt liebte, so etwas zu? Am liebsten hätte ich laut geschrieen. Das war doch zum verrückt werden! Egal, was ich tat, meine Gedanken drehten sich immer nur im Kreis und alles, was ich tun konnte, war abwarten. Die Zeit würde schon zeigen, was Mel wirklich noch für mich empfand. Und eigentlich spielte es doch auch gar keine Rolle mehr, ob sie sich in Greg verliebt hatte oder ob ihr seltsames Verhalten daher rührte, dass sie von seinen Gefühlen erfahren hatte. Egal, welcher der beiden Gründe der Richtige war, es hatte jetzt so oder so ein Ende. Mit einem brennenden, schlechten Gewissen fiel mir auf, dass ich fast ein wenig erleichtert über Gregs Tod war. Während ich noch versuchte, dieses schändliche Gefühl zu vertreiben, löste Mel sich plötzlich aus meinen Armen, murmelte etwas Unverständliches und strebte davon. Für einen Moment warf ich irritiert die Stirn in Falten, doch dann entdeckte ich Chris, der wie ein Häufchen Elend am Rand des Grabes kauerte. Bei seinem Anblick empfand ich sofort heftiges Mitleid für meinen ehemaligen Nachbarn, der aussah als würde er alles Leid der Welt auf seinen Schultern tragen oder als gäbe er sich die Schuld an Gregs Tod, was vollkommen lächerlich war. Zwar hatte die Polizei den Unfallverursacher bisher nicht gefunden, doch Zeugenaussagen zur Folge hatte es sich dabei um ein Auto mit einheimischem Kennzeichen gehandelt – womit Chris, der in einem anderen Landkreis lebte, ausgeschlossen war. Gerade als ich mich fragte, weshalb Chris dann so von Selbstvorwürfen geplagt aussah, wandte Mel sich von ihm ab und ging auf eine junge Frau zu, die mir bislang überhaupt nicht aufgefallen war. Nach einem kurzen Wortwechsel drehte Mel sich halb um und lächelte mich an, dann folgte sie der Fremden in die nahegelegene Kapelle. Ich trat ein wenig unruhig von einem Bein aufs andere und spielte mit dem Gedanken, hinterher zu gehen, als mir jemand eine Hand auf die Schulter legte. „Mach dir keine Sorgen. Das Mädchen war Gregs Lebensgefährtin.“ Paul lächelte mich matt an, um mich zu beruhigen, doch seine Worte hatten nur den gegenteiligen Effekt. Was wollte Mel denn von dieser Frau? „Aber... warum...?“ Meine Gedanken wirbelten so wild durcheinander, dass ich keinen gescheiten Satz zustande brachte. Paul zuckte knapp mit den Schultern. „Das arme Mädchen ist vollkommen aufgelöst, schließlich hat es gerade seine Liebe verloren. Ist es da nicht verständlich, dass es erst mal mit einer anderen Frau reden will in der Hoffnung, dass sie es versteht?“ Ich nickte stumm, wobei mir ein paar Regentropfen in die Augen liefen, und hoffte, dass er gerade von Gregs Freundin und nicht von Mel gesprochen hatte. Seufzend wurde mir klar, dass ich auch in dieser Situation nichts anderes tun konnte als abzuwarten. Die Zeit würde zeigen, wie es weiter gehen würde. Ich durfte nur nicht aufhören, an Mel zu glauben und zu hoffen, dass alles wieder gut werden würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)