Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 70: Melanie ------------------- Die letzten Tage hatte ich wie durch einen Nebel erlebt. Ich hatte das Gefühl gehabt, vollkommen von meinem Körper losgelöst zu sein. Irgendwie hatte ich es geschafft, die Dinge zu tun, die hatten erledigt werden müssen, doch die ganze Zeit über hatte ich nichts gespürt. Ich war eine leere, leblose Hülle gewesen. Doch jetzt schlug die Realität mit einer dermaßen immensen Brutalität wieder zu, dass ich mich innerlich krümmte. Erst als Gregs Sarg langsam in sein Grab gelassen wurde, wurde mir wirklich bewusst, dass ich ihn für immer verloren hatte. Dass er tot war. Ich holte schluchzend Luft und hatte das Gefühl, meine Beine würden jeden Moment unter mir nachgeben. Noch immer konnte ich es nicht begreifen. Ich wartete immer noch darauf, dass Greg im nächsten Moment um die Ecke kommen und mich umarmen und küssen würde. Ich fragte mich, ob er mich noch gehört hatte und in dem Wissen gestorben war, dass ich ihn liebte und dass diese Liebe nichts Unnatürliches war. Mit einem dicken Kloß im Hals dachte ich an das wilde Feuer in Gregs Augen, kurz bevor wir miteinander geschlafen hatten. Vermutlich war dies der schönste Anblick, dem ich in meinem bisherigen Leben ansichtig geworden war. Und nun sollte ich es niemals wieder sehen... Dicke Stacheldrahtstränge legten sich um mein Herz und wurden langsam von unsichtbaren Händen zusammen gezogen. Mein Puls begann hektisch zu rasen und ich atmete stockend, bis meine Welt an den Rändern dunkel wurde und ich gegen Jo taumelte, der neben mir stand und mich auffing. Nur schwer konnte ich meinen tränenverschleierten Blick von Gregs Grab losreißen und Jo ansehen. Er presste die Lippen fest aufeinander und musterte mich aus mitfühlend wirkenden Augen. Die Liebe, die darin geschrieben stand, brannte wie Feuer in meinen Adern. Ich hatte ihm gegenüber ein unglaublich schlechtes Gewissen wegen meiner Gefühle für Greg – und vor allem wegen der Nacht, die ich mit ihm verbracht hatte. Zu meiner Schande musste ich sogar gestehen, dass ich die ganze Zeit über nicht an Johannes gedacht hatte. Erst später, als ich mir in meinem Bett die Augen ausgeweint hatte, weil ich geglaubt hatte, Greg wäre mein leiblicher Bruder gewesen, war mir mein Freund plötzlich wieder eingefallen. Eigentlich hätte ich die Beziehung gleich beenden sollen, doch dafür war ich zu selbstsüchtig. Ich brauchte Jo – vor allem jetzt. Außerdem spürte ich unter den heißlodernden Gefühlen für Greg immer noch die beruhigende, alltägliche Liebe für meinen Freund. Mit ein bisschen Zeit würde unsere Beziehung bestimmt wieder wie früher werden. Daran wollte ich einfach glauben. Ich lehnte mich gegen ihn und starrte wieder auf das tiefe, dunkle Loch, in dem Gregs Sarg verschwunden war. Die Wunde, die sein Tod in meinem Herzen gerissen hatte, war bestimmt genauso tief und klaffend. Plötzlich überkam mich das Gefühl, beobachtet zu werden und ich riss den Kopf hoch. Einige Meter entfernt von uns stand eine junge Frau, die ungeniert zu mir herüber blickte. Sie war groß und schlank und wirkte irgendwie verloren. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, was sie hier wollte, doch dann fiel es mir wieder ein. Papa hatte erzählt, dass sie kommen würde: Die junge Frau musste Gregs Freundin Veronica sein. Mit einem Anflug von Eifersucht kniff ich die Augen zusammen und musterte die Fremde. Sie hatte mittellanges, dunkles Haar und ein hübsches Gesicht, das vor lauter Trauer ganz verzerrt war. Auch wenn ich es ungern zugab, konnte ich verstehen, was Greg an ihr gefunden hatte. „Entschuldigt mich mal eben.“ Ohne weitere Erklärung ließ ich Jo und Papa stehen und strebte auf die junge Frau zu. Ob sie einen anderen Greg gekannt hatte als ich? Plötzlich brannte ich darauf, mit ihr zu reden und etwas mehr über die Jahre zu erfahren, die sie mit Greg verbracht hatte. Bevor ich sie erreicht hatte, wurde ich jedoch von einem weiteren Trauergast abgefangen, der mir bisher überhaupt nicht aufgefallen war. Zwei kräftige Hände packten mich an den Schultern und zogen mich in eine klammernde Umarmung, die mir die Luft aus den Lungen presste. „Es tut mir so leid, Mel.“, schluchzte eine raue Stimme dicht an meinem Ohr. Nur mit Mühe schaffte ich es, den jungen Mann ein Stück weit von mir weg zu schieben, damit ich ihn ansehen konnte. Ich blickte in verweinte, braune Augen, in die einige Strähnen nassen, schwarzen Haares hingen und die mir sehr vertraut waren. Das dazu gehörige, schmale Gesicht war weniger markant gewesen, als ich es das letzte Mal gesehen hatte, doch ich erkannte es sofort. „Chris!“ Wieder drückte mich Gregs ehemaliger bester Freund gegen seine Brust und schluchzte. Irgendwie machte mich seine unbändige Trauer verlegen und ich bekam Angst, dass Veronica verschwinden könnte, während Chris mich aufhielt. Ich warf ihr einen hilfesuchenden Blick zu, den sie mit einem leicht amüsierten, schiefen Grinsen quittierte. „Ich werde mir nie verzeihen, dass ich unsere Freundschaft damals so hab auseinander gehen lassen.“, schniefte Chris. „Ich wusste doch, dass Greg einfach nur verletzt war und bin trotzdem nie auf ihn zu gegangen, weil ich der Meinung war, dass er dieses Mal an der Reihe gewesen wäre. Aber ich hab so oft daran gedacht, ihn anzurufen und jetzt... jetzt ist es zu spät...“ Ich spürte seine Not, so als wäre es meine eigene, doch ich hatte in diesem Moment wirklich keinen Nerv, mich damit zu beschäftigen. Entschuldigend lächelnd wand ich mich aus seiner Umarmung und murmelte: „Ich bin mir sicher, Greg hat das gewusst. Mach dich nicht so fertig.“ Dann drehte ich mich um, bevor Chris antworten konnte, und strebte auf die junge Frau am Rande der Trauerfeier zu. Aus der Nähe konnte ich den ungesunden Grauton ihrer Haut und die dunklen Schatten unter den Augen erkennen, was mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Obwohl wir uns kein Stück ähnlich sahen, hatte ich irgendwie das Gefühl, in den Spiegel zu gucken. Der Schmerz, der sich tief in die Gesichtszüge dieser Frau gegraben hatte, war derselbe, der mein Herz bei jedem Schlag schmerzen ließ wie eine eiternde Wunde. „Ich würde gerne mit dir reden.“, platzte ich ohne nachzudenken heraus. Veronica nickte, deutete stumm auf die kleine Kapelle in der Nähe und setzte sich dann in Bewegung, ohne zu schauen, ob ich ihr folgte. Ein wenig unsicher schaute ich schnell über die Schulter und fing Jos besorgten Blick auf. Ich lächelte ihm aufmunternd zu und folgte Gregs Freundin dann in das Trockenheit verheißende Gebäude. Hosted by Animexx e.V. 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