Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 54: Gregor ------------------ Durch die halbherzig zugezogenen Vorhänge drang schmutziges Licht, während die Sonne sich langsam hinter dem Horizont hervor kämpfte. Ich gähnte herzhaft und rieb mir mit der linken Hand über die vor Müdigkeit brennenden Augen. Die andere Hand wurde noch immer von Mel umklammert und war inzwischen so taub, dass ich sie kaum noch spürte. Vorsichtig bewegte ich einen Finger, was sofort ein schmerzhaftes Kribbeln zur Folge hatte. Erschöpft lehnte ich mich wieder auf dem Stuhl zurück und betrachtete Mel. Nach Stunden war sie endlich in einen tiefen Schlaf verfallen und schlummerte nun selig vor sich hin. Vorher hatte sie sich unruhig hin und her geworfen und immer wieder „Geh nicht, Greg. Bitte, bitte, verlass mich nicht.“ gewimmert. Plötzlich öffnete sich Mels Zimmertür und unser Vater huschte in den Raum. Er sah in etwa so müde aus wie ich mich fühlte. „Wie geht’s ihr?“ Gegen vier Uhr morgens war Paps gleich, sobald er nach seiner Spätschicht im Krankenhaus wieder zu Hause gewesen war, nach oben gestürmt und hatte nach seiner kleinen Prinzessin gesehen. Dabei hatte er bemerkt, dass Mel nicht nur völlig entkräftet war, sondern auch erhöhte Temperatur hatte und vermutlich unter Fieberträumen litt. „Besser, glaub ich. Auf alle Fälle ist sie ruhiger. Aber ich glaub, sie hat immer noch Fieber.“ Mein Vater bedachte mich mit einem sonderbaren Blick, der mich sogleich zusammen zucken ließ. Beschämt biss ich mir auf die Unterlippe, starrte auf meine Hände und ärgerte mich über mich selbst. Warum zum Teufel hatte ich ein schlechtes Gewissen, nur weil ich Mel über die Stirn gestrichen hatte, um ihren Schweiß wegzuwischen? Das war doch auch etwas, das normale Brüder taten. Oder etwa nicht? Ich seufzte und beobachtete meinen Vater, wie er Mel eine Hand an die Stirn legte, um ihre Temperatur zu schätzen. Ich wusste genau, warum mich mein Gewissen zwickte... Weil ich nicht das dabei empfand, was ein Bruder fühlen sollte, wenn er sich um seine kranke Schwester kümmerte. Für mich war der Schweißfilm auf ihrer Stirn nur ein willkommener Grund, sie zu berühren. Etwas, das ich für mich selbst vorschieben konnte, obwohl ich eigentlich wusste, dass ich einfach nur ihre weiche Haut unter meinen Fingerkuppen spüren wollte – ein Gefühl, das mein Herz rasen und meine Hand zittern ließ. „Ich glaube, ihre Temperatur ist ein wenig runter gegangen, aber Fieber hat sie definitiv immer noch.“ Paps richtete sich wieder auf und sah mich dann mit einem besorgten Gesichtsausdruck an. „Soll ich dich ablösen? Du siehst aus, als könntest du dringend Schlaf gebrauchen und außerdem...“ Er ließ den Satz unfertig und bedeutungsschwer im Raum hängen. Ich war versucht, ihn anzugiften: „Und außerdem was? Hast du Angst, ich könnte über sie herfallen, so lange sie weggetreten ist?“ Da ich mir nicht sicher war, dass mir nicht etwas Aufsässiges entwischt wäre, sobald ich den Mund aufgemacht hätte, schüttelte ich nur den Kopf. Paps kam langsamen Schrittes zu mir herüber und fasste mir mit dem Zeigefinger unters Kinn, damit ich ihn ansah. „Aber du versprichst mir, dass du irgendwann ins Bett gehst? Sonst hab ich bald zwei kranke Kinder und das will ich nicht.“ Obwohl ich wusste, dass er es liebevoll gemeint hatte, konnte ich mir ein sarkastisches Schnaufen nicht verkneifen. „Das hast du doch jetzt schon. Mel hat Fieber und ich bin krank im Kopf.“ Die Ohrfeige, die mir mein Vater daraufhin verpasste, sah ich nicht einmal kommen. Winzige, weiße Sternchen tanzten vor meinen Augen und in meinen Ohren klingelte es so heftig, dass mir für einen kurzen Moment schwindelig wurde. Überrascht starrte ich zu meinem Vater herauf und hielt mir die schmerzende Wange. Er hatte mich noch nie geschlagen. „Sag so etwas nie wieder. Ist das klar?“ Paps keuchte als hätte er einen Marathonlauf hinter sich und blickte mich zornig an. Trotzig schob ich die Unterlippe vor und wandte das Gesicht ab. „Warum nicht, wenn es doch die Wahrheit ist?“ Mel drehte leise stöhnend den Kopf und sofort zuckte mein Blick zu ihr zurück. Doch sie schlief noch immer tief und fest und hatte ein kleines Lächeln auf den Lippen so als träumte sie etwas schönes. Paps setzte sich mir gegenüber auf die Bettkante und betrachtete nachdenklich meine Hand, die Mel fest umklammert hielt. „Es ist aber nicht die Wahrheit. Du bist nicht krank. Es ist vielleicht ungewöhnlich, was dir passiert ist und wir müssen sehen, wie wir damit in Zukunft umgehen, aber das macht dich nicht zu einem schlechteren Menschen. Hörst du?“ Sein Blick wanderte zu mir und suchte meine Augen. Die Aufrichtigkeit in seinem Gesicht schmerzte. Er glaubte tatsächlich, was er da sagte. Ich wünschte mir, er hätte recht, doch ich wusste es besser. Ich war nicht einmal mehr nur ein schlechterer Mensch. Ich war ein verachtenswertes Monster. Als ich nicht antwortete, atmete mein Vater tief durch und verschränkte die Arme vor der Brust. Erst jetzt fiel mir auf, dass er noch immer seinen Arztkittel trug, der genau wie die ausgebleichten Strähnen in seinem dunkelblonden Haar durch das schmutzige Licht der ersten Sonnenstrahlen mehr grau als weiß wirkte. „Ich weiß, dass du mir das nicht glaubst. Du hasst dich für deine Gefühle und suchst jede erdenkliche Möglichkeit, nur um dich dafür zu bestrafen, dass du... anders bist. Aber das ist nicht der richtige Weg. Ich denke, du solltest hier bleiben und versuchen, dich deinen Dämonen zu stellen.“ Paps klang so entsetzlich verzweifelt, dass ich tatsächlich Schuldgefühle dafür bekam, dass ich vor drei Jahren vor meinen widernatürlichen Gefühlen geflohen war. Ich betrachtete Mels zierlichen Hände, die meine Hand mit einer Kraft umklammert hielten, die man den schmalen Fingern gar nicht zutraute. Ich dachte an ihr herzzerreißendes Gewimmer, das sie im Fieberwahn ausgestoßen hatte, und seufzte. Dann richtete ich meinen Blick wieder auf Paps, der mich aus besorgten blaugrünen Augen musterte. „In der nächsten Zeit werde ich nirgendwo hin gehen, versprochen. Mel braucht mich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)