Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 52: Gregor ------------------ Ich hatte mich kaum bewegt, seit ich Mel aus meinem Zimmer geschmissen hatte. Schmerz, Trauer und ohnmächtige Wut hatten mich mit ihrem zentnerschweren Gewicht auf den Boden gedrückt und dort festgehalten. Selbst als Mutter zu Mittag- und Abendessen gerufen hatte, hatte ich mich kein Stück gerührt. Ich hatte sowieso kein Essen verdient. Inzwischen hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch Zeit niemals helfen würde. Alles, was ich tun konnte, war von hier zu verschwinden, mein Herz zu begraben und zu versuchen, Vroni wenigstens ansatzweise der Freund zu sein, den sie verdiente. Eigentlich wollte ich schon lange ein Taxi gerufen haben, aber ich fühlte mich zu leer und zu kraftlos, um auch nur einen Finger zu bewegen. Doch als es jetzt an meiner Tür klopfte, kehrten meine Lebensgeister schlagartig zurück und ich sprang auf die Beine. Mein Herz raste und mein Mund war so trocken, dass mir die Zunge am Gaumen klebte. War das womöglich Mel, die einen zweiten Anlauf wagte? Obwohl ich mich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, hoffte ein Teil von mir sehnsüchtig darauf, dass sie sich nicht hatte einschüchtern lassen und mich noch nicht aufgegeben hatte. Als sich die Tür öffnete und sich ein brauner Schopf durch den Spalt zwängte, bevor ich geantwortet hatte, sorgte dieser Teil dafür, dass mein Herz einige freudige Hüpfer machte. Doch als die Person ihren Kopf drehte, erkannte ich, dass es nicht Mel, sondern nur unsere Mutter war und obwohl ich einerseits erleichtert aufatmete, spürte ich dennoch einen tiefen Stich im Herzen. „Ich wollte nur sehen, ob mit dir alles in Ordnung ist.“ Mutters Stimme klang unsicher und ich fragte mich unwillkürlich, ob sie sich vor mir – ihrem eigenen Sohn – fürchtete. „Ist schon okay. Mir geht’s gut.“ „Sicher?“ „Ja, klar.“ Ich versuchte, zu lächeln, doch Mutter schob die Tür hinter sich zu und betrachtete mich kritisch. Unterbewusst registrierte ich, dass das Schloss nicht ganz einrastete und die Tür wieder wenige Millimeter aufschwang. „Ich will dir nicht zu nahe treten, Gregor, aber du siehst nicht danach aus. Und die Art wie du Mel heute Mittag behandelt hast, spricht auch nicht gerade dafür, dass alles in Ordnung ist.“ Ich seufzte und nahm endlich wieder meine Sonnenbrille ab. Die Augen, die darunter zum Vorschein kamen, waren vom stummen Weinen rot gerändert, aber Mutter hatte mich sowieso schon immer durchschauen können. Warum sollte ich mich also jetzt vor ihr verstecken? „Ich dachte, du meintest, ob ich vorhabe, mich von dem nächsten Hochhaus zu schmeißen oder so.“ „Gregor!“ Sie sah mich aus riesigen, blauen Augen an, so als wäre sie vorher noch nie selbst auf die Idee gekommen, dass ich noch immer manchmal an Selbstmord denken könnte. „Tut mir leid.“ Ich zuckte mit den Schultern und streifte ihren strafenden Blick einfach ab. Dieser Spruch war nichts, weswegen ich ein schlechtes Gewissen hätte haben müssen. Denn auch wenn ich noch immer nicht davon überzeugt war, dass mein Tod nicht vielleicht doch das Beste für meine Familie gewesen wäre, wusste ich dennoch, dass mir für Suizid einfach der Mumm fehlte. Mutter durchquerte mit schleppenden Schritten mein Zimmer und setzte sich seufzend auf mein Bett. Sie sah unendlich müde und geschafft aus – wie wir alle vermutlich. Ich holte tief Luft und versuchte, den bitteren Geschmack des schlechten Gewissens herunter zu schlucken. Ich hätte nicht zurückkommen dürfen. „Hast du eine Ahnung, wie es weiter gehen soll?“ Ich schüttelte stumm den Kopf und starrte auf den grauen Teppich, der voller alter, verblasster Flecken war. Ich hätte die Geschichte zu jedem einzelnen erzählen können. Der Große direkt neben meinem rechten Fuß zum Beispiel war entstanden, als mir während einer heimlichen Party eine Cola-Flasche umgekippt war. Und die kleinen Blassroten, die in einer fast geraden Linie in der Nähe der Tür verliefen, stammten von einem Tag, an dem Mel und ich alleine gewesen waren und sie mir beim Toben die Tür so heftig ins Gesicht geschlagen hatte, dass ich Nasenbluten bekommen hatte. Bei der Erinnerung daran musste ich unwillkürlich grinsen. Mutter runzelte die Stirn und sah mich mit einem strengen Blick an, der klar sagte, dass sie glaubte, ich wäre nicht mit genügend Ernst bei der Sache. „Willst du Mel für den Rest deines Lebens das Gefühl geben, dass du sie hasst?“ Verdammt, ich wollte jetzt nicht darüber reden. Eigentlich wollte ich mich nur noch auf meinem Bett zusammen rollen, die Decke anstarren und beim ersten Tageslicht wieder verschwinden. Wieder mal davon laufen. „Nein, natürlich nicht.“ „Dann verrat mir doch mal, wie du dir die Zukunft vorstellst.“ Ihr fordernder, anklagender Ton machte mich krank. Sie klang, als hätte ich eine Wahl, als würde ich das alles freiwillig machen. Genervt brüllte ich sie an: „Verflucht, ich weiß es nicht. Okay?!“ „Nein, das ist nicht okay!“ Minuten lang starrten wir uns stumm an, während ich beobachtete, wie Tränen in ihre Augen traten. Super! Ich war nicht ganz einen Tag wieder hier und hatte schon zwei Familienmitglieder zum Weinen gebracht. Ganz großes Kino. Dann holte Mutter tief Luft und strich sich ihr kinnlanges Haar hinter die Ohren. Unterbewusst fragte ich mich, ob die tiefen Falten, die sich nun in ihrem Gesicht abzeichneten, schon vor drei Jahren da gewesen waren oder ob ich auch daran schuld war. „Komm mal her, Gregor.“ Sie streckte ihren Arm nach mir aus und mein Körper setzte sich in Bewegung, ohne dass ich es wirklich wollte. Ich kniete mich vor mein Bett und legte meinen Kopf auf den Schoß meiner Mutter, die mir liebevoll über die Haare streichelte. So hatten wir uns früher oft vertragen, als meine Welt noch in Ordnung gewesen war, bevor ich von meinem Fluch gewusst hatte. „Kannst du mir etwas versprechen?“ Ihre Stimme war ganz nah an meinem Ohr. „Was denn?“ „Lauf nicht wieder weg.“ Sofort versteifte sich mein Körper und ich wollte aufstehen, doch Mutter zwang mich mit sanfter Gewalt zurück. „Ich will keines meiner Kinder verlieren. Ich hab dich in den letzten Jahren so sehr vermisst.“ Sie hatte mich vermisst? Ja, klar... Und ich war der Weihnachtsmann... Doch bevor ich etwas sagen konnte, hauchte sie mir einen Kuss auf die Schläfe und holte Luft, so als wolle sie noch etwas anfügen. Angespannt wartete ich darauf, dass sie aussprach. Irgendetwas sagte mir, dass mir nicht gefallen würde, was sie noch sagen wollte. Und tatsächlich: „Kannst du nicht wenigstens versuchen, so zu tun, als wäre nichts?“ Ich sprang auf die Füße und funkelte meine überrascht wirkende Mutter wütend an. „So tun als wäre nichts?! Hast du eine Ahnung, wie lange ich das schon versuche?“ Mutters Gesicht verwandelte sich in eine schmerzverzerrte Fratze, während ich ihr all die Tatsachen an den Kopf knallte, von denen sie am liebsten nichts gewusst hätte. „Ich kann meine Gefühle nicht ignorieren. Verdammt, Mutter, ich begehre Mel nicht nur, ich liebe sie – und das seit Jahren! Kannst du dir vorstellen, wie das ist, damit leben zu müssen? Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie sehr ich mich selbst dafür hasse, dass die einzige Frau, die ich wirklich von Herzen will, meine eigene Schwester ist?“ Kraftlos ließ ich mich auf meinen blau bezogenen Schreibtischstuhl sinken. „Und dann ist da noch tagtäglich diese Angst, dass irgendjemand etwas merken und sich vor mir ekeln könnte. Am schlimmsten ist der Gedanke, dass Mel selbst es irgendwann womöglich begreifen könnte. Das wäre noch schlimmer als das hier jetzt, obwohl es mir selbst weh tut, wenn ich sie so unglücklich sehe. Es fällt mir nicht leicht, so zu ihr zu sein, glaub mir das.“ Mutter hatte sich eine Hand vor den Mund geschlagen und sah mich nun mit einer Mischung aus Sorge, Schmerz und Abscheu an. Vermutlich fragte sie sich wieder einmal, was für ein Monster sie vor zwanzig Jahren geboren hatte. Sie hatte inzwischen genauso wie ich erkennen müssen, dass es keinen Zweifel daran gab, dass ich eine verfluchte Monstrosität war – und immer bleiben würde. Ich hatte gehofft, mit Abstand würden meine verqueren Gefühle wieder verschwinden, doch spätestens heute hatte ich gemerkt, dass dem nicht so war. Von dem ersten Augenblick an hätte ich Mel am liebsten auf ihre himmlischen Lippen geküsst und sie nie wieder aus meinen Armen gelassen. Aber ich wusste, dass ich so etwas nicht durfte, niemals. Doch ihre überschwängliche Freude mich zu sehen machte es nicht gerade einfacher, dieses Bedürfnis unter Kontrolle zu halten. „Und was hast du jetzt vor?“ Mutters Stimme klang vor lauter unterdrückter Tränen wie gepresst. Ich zuckte müde mit den Schultern. Blieb mir tatsächlich eine Wahl? „Ich werde gleich morgen früh wieder abreisen. Das ist einfach besser so. Mels Anwesenheit macht mich krank.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)