Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 41: Veronica -------------------- Vorsichtig warf ich einen Blick über die Schulter und blickte zu Greg herüber, der wie immer während der Ethikstunden in der hinterletzten Reihe lümmelte und nicht aufpasste. Dieses Mal starrte er jedoch nicht gelangweilt aus dem Fenster oder malte Muster auf ein leeres Blatt Papier. Heute hatte er einen Ellbogen auf den Tisch gestützt, sein Kinn in die Handfläche gelegt und seinen Blick auf den Rücken seines Vordermanns geheftet. Dabei lächelte er so verklärt, dass mein Herz vor Freude einen kleinen Hüpfer machte. Er wirkte beinah glücklich... Zwar lauerte der wehmütige Ausdruck, der ihn stets begleitete und ihm vermutlich nicht einmal bewusst war, noch immer wie ein Schatten hinter seinem verträumten Blick, doch ich war trotzdem unglaublich stolz auf Greg. Er hatte es endlich gewagt, seine Hemmungen beiseite zu schieben und sich fallen zu lassen. Als ich an die Ereignisse des heutigen Morgens dachte, machte sich sofort ein intensives Prickeln auf meinem gesamten Körper breit, so als könnte sich meine Haut an Gregs Berührungen erinnern. Nur mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, mich wohlig schnurrend unter diesem Schauer zu schütteln. Wieder warf ich einen Blick zu Greg herüber, der seine Position kein bisschen geändert hatte. Bislang hatte ich ihm nicht aus vollem Herzen glauben können, dass er vorher noch nie mit einem Mädchen zusammen gewesen war, doch er hatte sich teilweise so niedlich ungeschickt und nervös verhalten, dass meine Zweifel sich einfach in Wohlgefallen aufgelöst hatten. Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete unsere zierliche, ja geradezu winzige Ethiklehrerin. Frau Bonner saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Pult, wippte angespannt mit einem Fuß und schien sich gerade in Rage zu reden, doch ich hörte keinen Laut. Dafür war ich viel zu tief in meiner eigenen Gedankenwelt. Während Frau Bonner begann, ihre Worte nun auch noch mit Gesten zu unterstreichen, fragte ich mich, ob es ab jetzt leichter werden würde für Greg und mich. Bisher hatten wir unserem Glück so oft selbst im Weg gestanden, dass es schon beinah lächerlich war. Dabei waren wir Beide nichts anderes als zwei verletzte Seelen, die nicht glauben konnten, dass der jeweils andere es ernst meinte. Wie konnte Greg nur daran zweifeln, dass ihm die ganze Welt zu Füßen lag? Gedankenversunken knibbelte ich an dem knallgelben Lack meines Bleistifts. Ob seine Mutter daran schuld war? Aus dem Wenigen, das Greg von seinem Zuhause erzählt hatte, hatte ich entnehmen können, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn seit langem gespannt und von einer unterschwelligen, gegenseitigen Gereiztheit überschattet gewesen war, bis es schließlich nach irgendeiner ominösen Entdeckung in einem totalen Bruch geendet war. Fühlte Greg sich unzulänglich, weil er niemals die Mutterliebe bekommen hatte, die er sich gewünscht hätte? Wie so oft, wenn ich an seine Mutter dachte, kochte eine wilde Wut in mir hoch. Ich konnte einfach nicht begreifen, wie eine Mutter so grausam zu ihrem sensiblen, verletzlichen Kind sein konnte. Und Greg war über alle Maßen sensibel und verletzlich, fast schon empfindlich. Zwar war er auf der anderen Seite auch stark und unbeugsam, was ihn davor schützte, sich seinem Schmerz hinzugeben, doch jede unbedachte Bemerkung, jedes falsche Wort, jeder böse Blick blieb auf seiner Seele zurück wie die blutige Strieme eines Peitschenhiebes. Leider war er auch einfach nicht fähig, diese kleineren Wunden zu vergessen. Sie bildeten ein wildes Muster rund um sein Herz, wo sie verschorfen und verhärten würden, bis Greg irgendwann innerlich zu Stein erstarren würde. Dann würde er vermutlich niemanden mehr an sich heran lassen – schon jetzt war es teilweise sehr schwierig, ihn zu erreichen. Ich fragte mich, ob es einen Menschen gab, der wirklich immer zu Greg vordringen konnte. Sofort musste ich wieder an das Strahlen in seinen Augen denken, als ich Greg kurz vor Weihnachten den Brief seiner Schwester überreicht hatte. Noch heute spürte ich einen tiefen Stich irrationaler, aber nichtsdestotrotz realer Eifersucht. Was hätte ich nicht alles darum gegeben, damit er mich einmal so angesehen hätte?! Seufzend gestand ich mir ein, dass ich zwar vielleicht die Frau an seiner Seite war, aber sein Herz immer mit Melanie würde teilen müssen. Und auch wenn ich Greg am liebsten ganz für mich allein gehabt hätte, wusste ich doch, dass es normal war. Mein eigener Bruder hätte mich auch immer über eine mögliche Freundin gestellt und auch ich hätte es Greg niemals verziehen, wenn er je versucht hätte, den Kontakt zu meinem Bruder zu unterbinden – was er nie getan hatte, auch wenn die Beiden sich noch immer bis aufs Blut hassten. Melanie... Wieder einmal versuchte ich, mir ein Bild von ihr zu machen. Von allen Mitgliedern seiner Familie schien Greg sie am meisten zu lieben, dennoch sprach er so gut wie nie über sie, was mich manchmal ein wenig wahnsinnig machte. Aus irgendeinem, mir nicht mal selbst ganz klaren Grund wollte ich wissen, wie der Mensch war, den Greg so sehr zu vergöttern schien. Aber wann immer ich das Gespräch auf Melanie hatte lenken wollen, hatte Greg total abgeblockt und das Thema gewechselt – sogar heute Morgen, obwohl er so entspannt wie nie gewesen war. Langsam fragte ich mich, ob er ein Problem mit seiner Schwester hatte. Zum vermutlich tausendsten Mal mühte ich mich mit dem Versuch ab, Melanie ein Gesicht zu verpassen, was mir aber einfach nicht gelingen wollte. Irgendwie endete ich jedes Mal wieder bei Gregs Antlitz. Ob die Beiden sich überhaupt ähnlich sahen? Manuel und ich unterschieden uns in so ziemlich jeder erdenklichen Hinsicht, einzig und allein die Blässe unserer Lippen, der Verlauf unserer Kieferknochen und die Form unserer Augen verriet, dass wir Geschwister waren. Ein plötzlicher Gedanke ließ mich fast ein wenig zusammen zucken. Womöglich lag Gregs Unvermögen, zu erkennen, dass er alles haben konnte, was er wollte, gar nicht an seiner Mutter, sondern an seiner Schwester. Wenn sie ihm tatsächlich ähnlich sah... Ein Mädchen mit seinem goldenen Haar, seinem fast perfekt symmetrischen Gesicht und seinen feinen Zügen musste so umwerfend schön und bezaubernd sein, dass selbst Greg daneben in den Schatten getreten wäre. Hatte womöglich Melanie stets alles bekommen, während er leer ausgegangen war? Hatte er deswegen eine Art Hassliebe zu seiner Schwester entwickelt? Erneut warf ich einen kurzen Blick nach hinten, wo Greg inzwischen doch dazu übergegangen war, auf dem Deckblatt seines Blocks herum zu malen. Irgendwann würde ich ihm schon entlocken, was mit ihm und seiner Schwester los war. Ich würde nicht locker lassen, bis ich die Wahrheit kannte, schließlich liebte ich diesen Mann. Was immer er für Probleme mit sich herum schleppte, zukünftig würde ich ihm tragen helfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)