Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 28: Gregor ------------------ Dicke, dunkelgraue Wolken hingen über dem Nachthimmel und ließen die Atmosphäre düster und gedrückt wirken. Aber vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil ich in melancholischer und depressiver Stimmung war. Seit ich Mels Brief erhalten und Vroni geküsst hatte, waren schon zwei Tage vergangen, doch ich fühlte mich immer noch total gerädert. Der Gedanke an Mels Gefühle für Johannes pochte und schmerzte wie eine eiternde Wunde und die Erinnerung an meinen Kontrollverlust gegenüber Vroni drehte mir den Magen um. Trotzdem konnte ich mich nicht dazu durchringen, den Kuss zu bereuen. Trotz des schreienden Schmerzes in meinem Herzen hatte es sich gut angefühlt – und das hatte nicht nur damit zu tun, dass ich die Genugtuung der Rache an Mel genossen hatte. Irgendwo tief in mir hatte ich von Anfang an gespürt, dass Vroni für mich etwas anderes war als meine bisherigen weiblichen Freunde. Sie hatte mich durch ihr selbstsicheres Auftreten, ihr warmherziges, offenes Wesen und ihren scheinbar unüberwindbaren Dickschädel verzaubert. Ganz zu schweigen von ihrem unglaublich attraktiven Äußeren. Sie hatte Augen, die jedem bis auf den Grund seiner Seele blicken zu können schienen, Lippen, die fürs Küssen geschaffen waren, und eine umwerfend kurvige, weibliche Figur. Wäre Mel nicht gewesen, hätte ich mich sicherlich Hals über Kopf in Vroni verliebt. Ich fragte mich, ob diese Tatsache meine Fahrkarte raus aus dem Selbsthass, weg von der brennenden, verzehrenden Sehnsucht nach Mel und rein in ein normales, glückliches Leben war, in dem ich rein geschwisterliche Liebe für meine Schwester empfand. Falls das überhaupt jemals möglich sein würde... Vielleicht würde ich auch immer mit blutendem Herzen neben Mel stehen, selbst wenn ich eine andere Frau an meiner Seite hätte. Vielleicht würde ich nie bei einer anderen Frau finden, was Mel mir allein durch ihre Anwesenheit geben konnte. Vielleicht würde ich dieses aufgeregte, wilde Herzrasen, das ich bekam, sobald Mel einen Raum betrat, niemals bei einer anderen Frau und somit niemals ohne ätzende Gewissensbisse spüren. Doch vielleicht konnte ich zumindest eine Frau finden, bei der ich mich sicher und geborgen fühlte, für die ich zwar nicht dieses heiße Feuer wie für meine Schwester empfand, aber immerhin eine liebevolle Wärme, die ausreichte um zufrieden zu sein. Vielleicht hatte ich diese Frau sogar in Vroni schon gefunden. Plötzlich klopfte jemand an meine Zimmertür und ich zuckte heftig zusammen. Ich war so in meinen Gedanken versunken gewesen, dass dieses einfache, alltägliche Geräusch mich zutiefst erschreckte. Fragend runzelte ich die Stirn und warf einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel nach elf, also eigentlich ein bisschen spät, um noch Besuch von einem Lehrkörper zu bekommen. Hatte Vroni irgendetwas liegen lassen, als sie heute Vormittag kurz hier gewesen war? Schnell schlug ich die Bettdecke zurück, schlüpfte in meine Hausschuhe und eilte zur Tür, um diese zu entriegeln. Bevor ich auch nur den Hauch einer Chance hatte, zu erkennen, wer im Flur stand, stießen mich plötzlich zwei große, fleischige Hände zurück in den Raum. Taumelnd krachte ich gegen meinen Schreibtisch und verzog vor Schmerz das Gesicht. „So, jetzt unterhalten wir uns mal ein wenig.“ Manuels Stimme war nur ein tiefes Grollen und in seinen Augen stand eine noch größere Wut als damals am See, als ich ihn beleidigt und verhöhnt hatte. Scharfkantige Eisklumpen bildeten sich in meinem Magen und ließen ihn schmerzhaft krampfen. „Wenn du mich zur Abwechslung mal wieder zusammenschlagen willst, sollten wir vielleicht nach draußen gehen. Hier könnten wir ein bisschen viel Krach machen. Meine Zimmernachbarn könnten sich gestört fühlen.“ Bildete ich mir das ein oder konnte man meiner gepressten Stimme wirklich meine Angst anhören? Wie erbärmlich... Auf Manuels Gesicht breitete sich ein gefährliches Grinsen aus. „Nein, ich hab dieses Mal keine große Lust, mir an dir die Hände schmutzig zu machen. Ich will einfach nur mit dir reden.“ Ich lehnte mich locker gegen meinen Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust, während Manuel die Bücher inspizierte, die ich fein säuberlich in einem erst kürzlich gekauften Regal aufgereiht hatte. „Fein. Über was denn?“ Er warf mir einen amüsierten Seitenblick zu. „Du liest auch jeden Scheiß, oder?“ Irritiert blinzelte ich ihn an, bis ich bemerkte, dass er auf einen meiner Fantasy-Bände deutete. „Möglich. Aber du bist doch nicht hier, um dich mit mir über meine Lesegewohnheiten zu unterhalten.“ Das gefährliche Funkeln in Manuels Augen nahm zu, als er sich ganz zu mir umwandte. „Stimmt.“ Er machte einen Schritt in meine Richtung und kratzte sich nachdenklich an der Nase. „Eigentlich wollte ich mit dir über Vroni reden.“ Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, doch ich nickte stumm. Das war mir von Anfang an klar gewesen. Manuel holte tief Luft und legte den Kopf schief. Irgendwie ließ ihn das wie ein gefährliches Raubtier wirken – ein Alligator vielleicht. Mein Puls schnellte augenblicklich in die Höhe und die hellrosa Narbe über meinem Jochbein begann pulsierend zu pochen. Fast gelangweilt betrachtete Manuel seine Fingernägel und sah dann unter gesenkten Lidern zu mir herüber. „Ich dachte eigentlich, ich hätte mich beim letzten Mal deutlich genug ausgedrückt.“ Obwohl er weder laut, noch besonders drohend sprach, jagte mir das Glitzern in seinen Augen eisige Schauer über den Rücken. Schweigend hielt ich seinem Blick stand und wartete darauf, dass er weiter sprechen würde. Jedes Wort von mir hätte ihn vermutlich nur noch wütender gemacht. Wahrscheinlich wollte er mir eh nur mal wieder sagen, dass ich mich von seiner Schwester fern halten sollte – eine Warnung, die ich sowieso erneut in den Wind schlagen würde. „Was war an ‚Halt dich von meiner Schwester fern.’ eigentlich nicht zu verstehen? Hm, Blondie?“ Nur schwer konnte ich ein Grinsen unterdrücken. Das war ja so klar gewesen... Doch als Manuel weiter sprach, blieb mein Herz plötzlich stehen: „Ich war ja geneigt, über diese lächerliche Freundschaft hinweg zu sehen – meiner Schwester zu Liebe. Aber anstatt mir dankbar für diese Großzügigkeit zu sein, besitzt du kleiner, widerlicher Wurm auch noch die Frechheit, Vroni an die Wäsche zu gehen!“ Unkontrollierter Zorn blitzte in Manuels Augen auf, während er langsam auf mich zukam. Doch obwohl ich wusste, dass mein Körper sicherlich mit Abwehr- und Fluchtreflexen auf die Nähe des anderen Jungen reagierte, nahm ich davon gar nichts wahr. Stattdessen machte sich ein dumpfes Gefühl in mir breit, so als hätte mich jemand in eine Styroporkiste gesteckt und den Deckel dicht zugeklebt. „W-Was meinst du mit ‚an die Wäsche gegangen’?“ Mein Mund fühlte sich trocken und die Lippen noch rissiger als normal an. Manuel, der inzwischen nicht einmal mehr eine Armlänge von mir entfernt stand, grinste höhnisch. „Jetzt tu bloß nicht so unschuldig. Du kleiner Drecksack hast sie geküsst.“ Ich schluckte mehrfach, doch der bittere Geschmack auf meiner Zunge wurde trotzdem immer intensiver. Wenn Manuel mir einfach ins Gesicht geschlagen hätte, hätte es nicht schlimmer geschmerzt. Ich war fürchterlich enttäuscht. Wieso hatte Vroni nach meiner kleinen Dummheit gleich zu ihrem Bruder rennen müssen, von dem sie wusste, dass er mich hasste? Wollte sie, dass er mich zu Brei schlug? Mit hängendem Kopf zuckte ich die Schultern. „Ja, stimmt.“ Welchen Sinn hätte es gehabt, diesen Kuss zu verheimlichen? „Aber ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Irgendwie konnte ich kaum abwarten, dass Manuel ausholte und mir den Kiefer brach. Das war doch schließlich, was ich verdient hatte. Ich hatte abscheuliche Gefühle für meine Schwester und jetzt hatte ich auch noch die Freundschaft zu Vroni schwer beschädigt. Manuel funkelte mich gefährlich an. „Was mich das angeht? Wenn du egozentrischer Vollidiot mal die Augen aufmachen würdest, wüsstest du, wie sehr Vroni unter der jetzigen Situation zwischen euch leidet, und würdest so etwas gar nicht fragen.“ Autsch... Konnte er nicht endlich einfach zuschlagen? Das hätte weniger wehgetan als die verbalen Spitzen, die er so brutal in mein Herz rammte. Als ich tief durchatmete, um die Tränen zurück zu halten, die hervorzubrechen drohten, vibrierte mein Atem hörbar. „Ich weiß, dass sie unglücklich ist, Manuel. Aber eines musst du mir glauben: Das war so nie geplant. Es ist einfach passiert. Doch wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich es um ihretwegen tun.“ Nachdenklich kaute mein Gegenüber auf seiner Unterlippe und musterte mich aus erstaunlich offenen Augen. „Dir geht’s damit auch nicht gut, hm?“ Überrascht riss ich den Kopf hoch und starrte ihn geradezu geschockt an. Versuchte Manuel gerade, Verständnis für mich aufzubringen? Ausgerechnet Manuel?! „Spielt das irgendeine Rolle?“ Meine Stimme klang selbst in meinen eigenen Ohren müde und tonlos. Manuel betrachtete mich mit einem plötzlich beinah einfühlsamen Gesichtsausdruck. Dann hob er den Arm und ich atmete innerlich ein wenig auf. Doch anstatt mir die Faust in den Magen zu rammen, legte er mir in einer freundschaftlichen Geste die Hand auf die Schulter. Sein intensiver Blick brannte sich in meinen, bis er mir fast auf den Grund meiner Seele schauen konnte. Dann ließ er mich plötzlich los und ging zur Tür, während ich das Gefühl hatte, meine weichen Knie müssten jeden Moment nachgeben. Im Türrahmen blieb Manuel noch einmal stehen und murmelte: „Bring das wieder in Ordnung. Sonst wisch ich mit dir den Boden auf.“ Sobald das Türschloss eingerastet war, sank ich mit wild schlagendem Herzen auf den Boden. Was zur Hölle war das gerade gewesen? Irgendwie machte mir ein ruhiger, einfühlsamer Manuel mehr Angst als der wilde Schlägertyp, den ich bisher kennen gelernt hatte. Doch über allem schwebte der drückende Dunst der Enttäuschung. Ich hatte wirklich gedacht, Vroni würde immer auf meiner Seite stehen. Dass sie ihrem Bruder von unserem Kuss erzählt hatte, enttäuschte mich aus irgendeinem Grund, den ich selbst nicht ganz erfassen konnte, so sehr, dass ich es fast auf der Zunge schmecken konnte. Hatte unsere Freundschaft so überhaupt noch einen Sinn? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)