Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 26: Gregor ------------------ Ich lag auf meinem Bett, starrte an die weiße Decke und ärgerte mich über mich selbst. Wieso ließ ich mich von dieser Sache so verletzen? Es war ja nicht so als wäre sie mir neu. Dass sie mir trotzdem einen Stich versetzte, machte mich wütend auf mich selbst, was alles nur noch schlimmer machte. Als es an der Tür klopfte, brummte ich nur ein unfreundlich klingendes „Herein.“. Augenblicklich streckte Vroni ihren Kopf durch den Spalt. Ich erkannte sie an ihren verwuschelten Haaren schon bevor ich ihr Gesicht zu sehen bekam. „Hey du!“ Wie immer klang sie beinah unverschämt gut gelaunt. Ich lächelte ihr matt zu, blieb aber liegen. Langsam kam sie auf mich zu, wobei sie mich ein wenig besorgt musterte. Als sie sich auf meine Bettkante setzte, bemerkte ich, dass sie ein Stück Papier in den Händen hielt. Obwohl ich ein Stück zur Seite gerückt war, berührte ich in dem schmalen Bett ihren Hintern mit meinem Oberschenkel. Es schien sie nicht zu stören. Einige Minuten lang schwiegen wir Beide und nur das Geräusch unserer regelmäßigen Atemzüge verriet, dass wir keine Statuen waren, die vor langer Zeit an diesem Ort vergessen worden waren. Vroni betrachtete eingehend mein Gesicht mit den angespannten Kiefermuskeln und den aufgebissenen Lippen und ich starrte noch immer an die Decke und ärgerte mich. Schließlich war es Vroni, die das Schweigen endlich brach. Sie nahm meine kalte Hand zwischen ihre warmen Finger und drückte sie sacht. „Was ist los?“ So war es jedes Mal, wenn mich irgendetwas bedrückte. Sie fragte nie, ob etwas nicht stimme, sondern stellte einfach fest, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie ließ mir nie die Möglichkeit, auszuweichen und so zu tun als wäre alles prima. Schon allein dafür hatte ich sie unglaublich ins Herz geschlossen. Wortlos reichte ich ihr die kleine Karte, die ich die ganze Zeit über fest umklammert gehalten hatte. Vroni zog die Stirn kraus, klappte das Schreiben auf und begann laut vorzulesen: „Wir wünschen dir alles Gute zum Geburtstag und wunderbare Weihnachten. Komm bald nach Hause, wir vermissen dich. Dein dich liebender Vater und Mel.“ Vroni sah mich mit einem seltsam verständnislosen Blick an. „Aber das ist doch schön. Wo ist dein Problem? Hast du Heimweh?“ Ich warf ihr einen beinah zornigen Blick zu. „Hast du’s wirklich nicht bemerkt? Dann lies es noch mal.“ Verwirrt überflog Vroni erneut die wenigen Zeilen und schüttelte dann ahnungslos den Kopf. Ich atmete tief durch und bereitete mich innerlich darauf vor, es auszusprechen. Ich wusste, dass die Worte, wenn sie erst einmal meine Lippen verlassen hatten, noch mehr schmerzen würden als sie es als leise wispernde Gedanken taten. „Ich habe auch noch – also theoretisch zumindest – eine Mutter...“ Mit einem Mal verlor Vroni jegliche Gesichtsfarbe und sie sah mich aus großen, geweiteten Augen an, die wie Opale funkelten. Als sie endlich ihre Sprache wiederfand, brachte sie nur ein schwaches „Oh.“ hervor. Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich die Ignoranz meiner Mutter wirklich verletzte. Tatsächlich hatte sie sich wie eine von Mutters Kletterrosen um mein Herz gewunden und zerstach es jetzt mit vielen, langen, leicht gekrümmten Dornen. Am liebsten hätte ich einfach geweint, fand meine Tränen jedoch nicht. Nach ein paar Minuten begann Vroni gedankenverloren meine Hand in der ihren zu drehen und zu wenden. Sie zeichnete mit dem Zeigefinger meine Lebenslinie entlang und machte ein nachdenkliches Gesicht. Ich hatte fast das Gefühl, sie wolle mir meine Zukunft voraussagen, doch als sie wieder sprach, fragte sie etwas vollkommen anderes: „Du, Greg? Wieso hast du eigentlich auf diese Schule gewechselt?“ Kalter Schweiß rann mir in dicken, vereinzelten Tropfen über den Rücken und klebte mir das T-Shirt, das ich unter meinem Pullover trug, an die Haut. In all den Wochen, in denen wir nun befreundet waren, hatte ich dieses Thema immer vermieden. Ich hatte Angst, dass sie mir meine vorgeschobenen Gründe nicht glauben und die Wahrheit erkennen könnte. Manchmal raubte mir dieser Gedanke sogar den Schlaf. Vroni war mein einziger Freund. Ich wollte sie nicht verlieren. Sie strich mir mit dem Daumen über den Handrücken und ich wunderte mich über mich selbst. Es war erstaunlich, dass ich mich selbst jetzt noch, wo ich so angespannt war, von ihr anfassen ließ – ja, mehr noch: ihre Berührungen genoss. Ich starrte auf unsere Hände und schwieg, während ich fieberhaft überlegte, welche Begründung sie mir abnehmen könnte. Plötzlich hörte sie auf, meine Hand zu streicheln und sah mich fest an. Die grünen Flecken in ihren Augen wirkten wie trockenes Moos auf alter Baumrinde. „Du musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst. Aber gehe ich recht in der Annahme, wenn ich davon ausgehe, dass es mit deiner Mutter zu tun hatte?“ Ich überlegte kurz, ob ich einfach nicken sollte. Damit wäre das Thema erledigt und unsere Freundschaft gerettet gewesen. Doch als ich in ihre großen, unschuldig wirkenden Augen sah, konnte ich sie einfach nicht anlügen. „Nein. Meine Mutter hat nur etwas über mich erfahren, das sie mir nicht verzeihen kann. Seitdem geht sie mir wann immer möglich aus dem Weg. Wahrscheinlich versucht sie, sich einzureden, dass sie gar keinen Sohn hat.“ Ich hörte selbst, wie traurig und enttäuscht meine Stimme klang und ärgerte mich schon wieder. Warum konnte ich meine Mutter nicht einfach abhaken so wie sie mich? Vroni verzog wütend ihr Gesicht, sodass zwischen ihren Augenbraunen eine kleine Zornesfalte entstand. „Was kann denn bitte so schlimm sein, dass eine Mutter ihr Kind verstößt?“ Ich zuckte mit den Schultern und wollte gerade sagen, dass ich gerne das Thema wechseln würde, als sie wütend hervor spie: „Etwa, dass du gekifft hast? Wie albern ist das denn?!“ Vor Überraschung klappte mir die Kinnlade herunter und ich starrte Vroni dümmlich blinzelnd an. „Wie bitte? Wie kommst du auf die Idee, ich hätte gekifft?“ Sie grinste mich ein wenig überlegen an. „Greg, das konnte man an deinem ersten Tag fünf Meilen gegen den Wind riechen.“ Ich seufzte und verfluchte Markus und seinen unglaublichen Marihuanakonsum. „Das war nicht meine Schuld! Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie an einem Joint gezogen.“ Vroni zog die rechte Augenbraune nach oben und sah mich ungläubig an. Bevor sie etwas sagen konnte, setzte ich mich auf und nickte bestimmt. „Ehrlich.“ „Gregor, du hast an deinem ersten Tag gestunken wie ein 68er Althippie...“ Bei ihrem harschen Ton zuckte ich ein wenig zusammen. War es tatsächlich so schlimm gewesen? Ich wollte gar nicht wissen, was Frau Dr. Andersen von mir gedacht haben musste. „Das mag ja sein.“, räumte ich ein. „Aber ich kann dir das erklären.“ Dann erzählte ich ihr, dass ich nach dem Zerwürfnis mit meiner Mutter zu Hause raus gemusst und mich für einige Tage bei Markus verkrochen hatte. Vroni hörte stumm zu, sah mich dann aber wieder mit einem leicht zweifelnden Blick an. „Und in all der Zeit hast du nicht mal an einem Joint gezogen?“ Ich nickte, was ihr ein breites Grinsen ins Gesicht trieb. „Ich wusste gar nicht, dass du so ein Klosterschüler bist.“ Irgendwie stieß mir dieser Kommentar sauer auf und meine Miene verdunkelte sich schlagartig. Klosterschüler... Mit meiner schwarzen Seele war ich alles andere als das. Ich kiffte, rauchte und trank vielleicht nicht und hurte auch nicht herum, aber mit meinen Gefühlen für Mel war ich viel schlimmer als alle Kiffer, Säufer und Sexbesessenen dieser Welt zusammen. Zwar hatte die Sehnsucht ein wenig an Intensität verloren, doch manchmal träumte ich noch immer von dem unbekleideten Körper meiner Schwester oder davon wie es sich anfühlen würde, ihre nackte Haut auf meiner zu spüren. Mit einem Kopfschütteln vertrieb ich die Gedanken daran, bevor sie zu übermächtig werden konnten. Vroni sah mich wieder mit der ihr typischen, grübelnden Miene an. Immer wenn sie nachdachte, schürzte sie ihre Lippen und verschob sie ein klein wenig nach rechts, während sie die rechte Augenbraune leicht anhob. „Weshalb hast du dich denn so mit deiner Mutter überworfen?“ Ich seufzte und blickte in ihre Augen, die mich erwartungsvoll ansahen. In ihnen spiegelte sich so viel Zuneigung für mich, wie ich es selten bei einem Freund gesehen hatte. Nur Chris hatte mich bisher auf diese Art angesehen. Ihm hatte ich immer alles erzählt und er hatte mich jedes Mal verstanden. Vor Aufregung zog sich mein Magen krampfhaft zusammen, als ich überlegte, ob ich es wagen konnte und Vroni den wahren Grund für das schlechte Verhältnis zu meiner Mutter und für meinen Internatsaufenthalt sagen sollte. Doch gerade als ich den Mund aufmachte, um ihr alles zu erklären, winkte sie plötzlich ab. „Vergiss es. Das sind Familieninterna und gehen mich nichts an. Außerdem bin ich eigentlich gekommen, um dir das hier zu geben. Ist heute Morgen bei der Postverteilung irgendwie zwischen die Briefe einer Bekannten gerutscht.“ Sie reichte mir einen weißen Umschlag, auf dem mein Name und die Anschrift des Internats standen. Lächelnd strich ich über die kleinen, etwas schiefen, aber fein geschwungenen Buchstaben aus blauer Tinte. Mels Handschrift hätte ich unter Tausenden wiedererkannt. Etwas hektisch riss ich den Umschlag auf und holte das zweimal gefaltete, linierte Papier heraus. Vroni wollte gehen, doch ich legte ihr eine Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf. Ich war mir sicher, dass Mels Brief meine Laune merklich heben würde, und hatte plötzlich große Lust, nach dem Lesen etwas mit Vroni zu unternehmen. Schnell faltete ich das Blatt Papier auf und begann zu lesen. Mel berichtete detailliert von der alljährlichen Weihnachtsparty an meiner alten Schule, die Mel inzwischen auch schon seit zirka drei Jahren besuchte, und dem vorausgegangen Styling durch Josephine. Als ich ihre Beschreibung ihres Outfits las, warf ich ein wenig verärgert die Stirn in Falten. Ich hätte ihr niemals erlaubt, in diesen Klamotten ohne Aufsicht vor die Tür zu gehen. Sie war doch noch ein halbes Kind! Dennoch musste ich zugeben, dass ich mir gut vorstellen konnte, wie hübsch sie ausgesehen hatte. Doch dann wendete ich das Blatt und las weiter. Sofort begann meine Hand so heftig zu zittern, dass die Buchstaben vor meinen Augen auf und ab tanzten. Ich versuchte, das Papier mit zwei Händen still zu halten, hatte aber nur mäßigen Erfolg. Angestrengt entzifferte ich die Worte, die mir einen Dolch ins Herz rammten und ihn genüsslich hin und her drehten. Vroni war augenblicklich alarmiert und musterte mich besorgt von der Seite, doch ich beachtete sie kaum. Stattdessen las ich die wenigen Zeilen noch einmal und hoffte, dass sich der Text wie durch Zauberhand geändert hatte. Doch egal, wie oft ich den Schluss des Briefes las, die Worte blieben dieselben. Noch immer stand dort: „Ich hab auf der Party übrigens auch Johannes kennen gelernt. Erinnerst du dich? Er hat früher neben Chris gewohnt und ihr habt öfter mal etwas miteinander unternommen. Er hat nach dir gefragt und lässt dich recht herzlich grüßen. Ich muss sagen, ich hab ihn wirklich gern. Er ist ein unglaublich netter und witziger Kerl – aber das weißt du ja selbst. Na ja, was soll ich sagen? Ich glaub, ich hab mich zum ersten Mal verliebt. Auf alle Fälle kribbelt es in meinem Bauch, wann immer ich an ihn denke, und wenn er anruft, bin ich jedes Mal so aufgeregt, dass ich kaum einen Ton raus kriege. Wir sind für Mittwoch verabredet. Wir wollen ins Kino. Ist das nicht aufregend? Mein erstes richtiges Date. Freust du dich für mich? Wenn ich ehrlich bin, hoffe ich ja ein bisschen darauf, dass er mich küsst...“ Weiter konnte ich nicht lesen. Nein, ich freute mich definitiv nicht! Ich hatte vielmehr das Gefühl, jemand würde mir mit einer krallenbewehrten Hand in die Brust greifen und ganz, ganz langsam mein Herz zerquetschen, bis die scharfen Krallen es zu blutigen Fetzen zerschnitten hatten. Ich knüllte den Brief zusammen und zeriss ihn, bis ich heftig zu weinen begann. Eigentlich hasste ich es, vor anderen Menschen zu heulen, doch ich konnte einfach nicht anders. Vroni rutschte ein Stück näher an mich heran und nahm mich liebevoll in den Arm. Ohne Fragen zu stellen, strich sie mir beruhigend über den Rücken und ich klammerte mich an sie wie an eine Rettungsboje auf hoher See. Ich vergrub mein Gesicht in ihrer Halsbeuge und weinte und weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte. Die ganze Zeit über hielt sie mich fest und gab mir stumm das Gefühl, dass sie selbst dann noch für mich da war, wenn alles andere um uns herum in sich zusammenfiel. Wir Beide gegen den Rest der Welt. Ich war so unglaublich dankbar dafür, dass ich sie hatte, dass ich es nicht in Worte fassen konnte. Für sie hätte ich es mit fünf Manuels aufgenommen – gleichzeitig. Ich wusste nicht, was ich in diesem Moment ohne sie getan hätte. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke und ich drehte meinen Kopf ein wenig. Unsere Gesichter waren so nah nebeneinander, dass ich die feinen roten Äderchen in ihren Augäpfel und die leicht vergrößerten Poren auf ihrer schlanken, langen Nase sehen konnte. Ohne groß weiter darüber nachzudenken, presste ich meine Lippen auf ihre, doch anstatt meinen Kuss zu erwidern, schob sie mich sanft, aber bestimmt von sich weg. Beschämt blickte ich auf meine noch immer leicht zitternden Hände und wartete darauf, dass Vroni mich für meine Impertinenz ohrfeigte. Als auch nach über einer Minute noch nichts passiert war, hob ich vorsichtig meinen Blick und begegnete dem ihren, der erstaunlich liebevoll war. Irgendwie wirkte sie gar nicht wie ein Mädchen, das ohne seinen Willen geküsst worden war. „Es... es tut mir leid... es war nur...“, stammelte ich in dem Versuch, mich irgendwie zu erklären. Vroni legte mir sanft eine Hand an die Wange und streichelte mich zärtlich. „Ist schon okay. Du bist gerade verwirrt und aufgewühlt und sehnst dich nach Nähe und Zusammenhalt. Ich versteh das. Der Kuss hatte nichts zu bedeuten.“ „Wir... wir sind immer noch Freunde?“, fragte ich zaghaft. Ich musste einfach sicher gehen. Lachend zerzauste Vroni mir meine eh schon unordentlichen Haare. „Natürlich, Dummerchen.“ Ich atmete erleichtert auf und Vroni schwang sich elegant auf die Füße. „Aber ich muss jetzt trotzdem los. Wir sehen uns später, Greg.“ Sie küsste mich sachte auf die Stirn und verschwand aus meinem Zimmer. Während ich ihr hinterher sah, fragte ich mich, ob dieser Kuss tatsächlich nichts zu bedeuten hatte. Ja, ich wusste gerade nicht, wo mir der Kopf stand und ich hatte das widersinnige Bedürfnis verspürt, Mel zu verletzen, indem ich ein anderes Mädchen küsste – dabei würde es Mel nicht einmal dann weh tun, wenn sie etwas davon wüsste. Aber ich hätte doch nicht irgendein Mädchen geküsst, oder? Außerdem mochte ich Vroni wirklich gerne und sie war ausgesprochen hübsch, fast schon schön... Natürlich tat es weh, zu wissen, dass Mel in einen anderen verliebt war. Doch hatte der Schmerz in Vronis Armen nicht gleich ein bisschen nachgelassen? War ich ein wenig in sie verschossen oder hatte es einfach nur gut getan zu wissen, dass da jemand war, der zu mir hielt? Seufzend ließ ich mich zurück auf den Rücken fallen und starrte erneut die Decke an. Vermutlich würde ich erst dann herausfinden, was mir dieser Kuss bedeutet hatte, wenn sich mein aufgewühltes Inneres wieder beruhigt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)