Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 22: Veronica -------------------- Missgelaunt schlug ich die Beine übereinander und betrachtete halbherzig die Vielfalt der Farben um mich herum. Der Herbst war mit Riesenschritten heran geeilt und hatte die Wälder rund um unser Internat bunt gesprenkelt. Eigentlich liebte ich diese Jahreszeit, in der die Sonne ihre Strahlen wie eine riesige, goldene Decke über der Erde ausbreitet. Trotzdem konnte ich mich schon seit Tagen einfach nicht dazu aufraffen, mich an der Schönheit der Natur zu erfreuen oder gar gute Laune zu haben. Mit einem genervten Gesichtsausdruck strich ich mir eine vorwitzige Strähne, die mich an der Stirn gekitzelt hatte, aus dem Gesicht. Nachdem Gregor mich während unserer ersten gemeinsamen Mathestunde so aufmerksam gemustert hatte, war ich davon überzeugt gewesen, sein Interesse hinreichend geweckt zu haben. Doch nun versuchte ich schon seit Wochen vergeblich, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Inzwischen antwortete er nicht einmal mehr auf meinen allmorgendlichen Gruß. Die einzige Reaktion war ein trauriges Glitzern in seinen Augen, wann immer ich das Wort an ihn richtete. Langsam fragte ich mich, ob dieses Schimmern nicht einfach bedeutete, dass Gregor bedauerte, überhaupt angesprochen worden zu sein. Das nahe Geräusch von Schritten auf dem vom langen, heißen Sommer ausgedörrten Gras ließ meinen Kopf zur Seite schnellen. Ein wenig umständlich linste ich um den vollen Jasminbusch herum, hinter dem ich mich wie so oft versteckt hatte. Dies hier war seit jeher mein Lieblingsplatz. Ironischerweise schien dasselbe für Gregor zu gelten... Ich konnte die vielen Male, die ich ihn hinter den Büschen verborgen beobachtet hatte, gar nicht mehr zählen. Wie sonst auch kniete er sich nun vor den See und schaute mit verträumt wirkenden Augen auf das glitzernde Wasser. Wie so oft fragte ich mich, wo er wohl mit den Gedanken war. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Entrücktes an sich und auf seinen Lippen lag ein kleines, aber wehmütiges Lächeln. Nur mit Mühe konnte ich ein Seufzen unterdrücken, als mir klar wurde, dass mir sein Gesicht inzwischen viel zu vertraut war. Doch auch wenn ich wusste, dass ich ihn zu oft ansah und heimlich beobachtete, konnte ich einfach nicht damit aufhören. Es war beinah als wäre dieser Junge eine hochgradig süchtig machende Droge und ich das leichtgläubige Opfer. Die Zeit, in der ich versucht hatte, mir einzureden, dass ich Gregor einfach nur deshalb im Auge behielt, weil ich wissen wollte, weshalb er immer so gequält aussah, war längst vorbei. Inzwischen hatte ich mir endlich eingestanden, dass ich auch aus einem völlig anderen Grund immer wieder zu ihm hin schaute: Ich sah ihn einfach gerne an – genauso wie ich vor einigen Jahren in einem Museum meinen Blick nicht von einer besonders gelungenen Replik von Michelangelos David hatte lösen können. Ich hatte eben eine Schwäche für alles Schöne und Kunstvolle. Plötzlich drang erneut das Geräusch von Schritten an meine Ohren. Der weiche Untergrund dämpfte das Dröhnen ein wenig, doch es war trotzdem unverkennbar, dass jemand mit schnellen, wütenden Schritten auf den See zuhielt. Ich lehnte mich ein Stück weiter vor und versuchte, den Neuankömmling zu entdecken, ohne mich aus meinem Versteck zu wagen. Gregor wäre sicherlich nicht sehr erfreut gewesen, wenn er erfahren hätte, dass ich ihn beobachtet hatte. Leider näherte sich die Person in einem dermaßen ungünstigen Winkel, dass ich nicht einmal den Blick auf den Zipfel ihrer Kleidung erhaschen konnte. Doch schon wenige Augenblicke später war dies auch gar nicht mehr nötig. Eine laute, harte Stimme donnerte über die leicht hügelige Landschaft: „Hier verkriechst du dich also, Blondie!“ Unwillkürlich begann ich zu zittern, obwohl mir nicht kalt war. Was hatte mein Bruder hier verloren? Gregor richtete sich langsam auf und wandte sich mit einem verschlossenen, abweisenden Gesichtsausdruck zu Manuel um. „Gibt’s ein Problem?“ Seine Stimme klang wie splitterndes Eis und seine gesamte Körperhaltung zeigte eine derartige Ablehnung, dass ich an der Stelle meines Bruders sofort eingeschüchtert wieder abgezogen wäre. Was Manuel nur mit Hilfe seiner Fäuste zu sagen wusste, konnte Gregor alleine durch seine Körpersprache ausdrücken. Es war nicht verwunderlich, dass Manuel diese Sprache nicht verstand. „Ja, ich glaube, du hast ein Problem, Blondie!“ Der aggressive Ton in der Stimme meines Bruders ließ meinen Magen sich nervös zusammenziehen. Man musste Manuel nicht besonders gut kennen, um zu hören, dass er auf eine Prügelei aus war. Aber warum suchte er sich dafür ausgerechnet Gregor aus? „Warum ignorierst du meine Schwester? Ist Vroni dir nicht hübsch genug oder was?!“ Reflexartig presste ich mir die Handfläche gegen die Lippen, um nicht vor Überraschung aufzukeuchen. Was zur Hölle hatte ich denn damit zu tun? Vor Nervosität wurde mir plötzlich so schwindelig, dass die Stimmen hinter dem Busch zu einem unverständlichen Summen wurden. Eine schnell dahin fließende Melodie aus wild schlagenden Flammen und scharfkantigem Eis. Ich krampfte meine Hand um die Lehne der alten Bank, die hier zwischen den Jasminbüschen stand, und versuchte, ruhig zu atmen. „Entscheide dich mal, was du willst. Erst drohst du mir, mich zusammen zu schlagen, wenn ich deiner Schwester zu nah komme und jetzt, wo ich mich von ihr fern halte, ist es auch nicht richtig!“ Inzwischen hatte sich auch in Gregors Stimme dieser raue Unterton geschlichen, der bei Männern immer signalisierte, dass sie bereit waren, ihre Fäuste zu benutzen. Sofort wirbelte ich herum und rannte davon, um Hilfe zu holen. Wenn ich mich beeilte, schaffte ich es vielleicht noch bis zu der kleinen Gartenlaube des Hausmeisters und wieder zurück, bevor etwas Schlimmeres passieren konnte. Während ich Hals über Kopf über die Rasenfläche stürzte und immer wieder über kleine Steinchen und Bodenwellen stolperte, fragte ich mich, was ich nur angestellt hatte. Meine Lunge schmerzte inzwischen heftig und schrie verzweifelt nach mehr Sauerstoff, doch ich rannte dennoch weiter und weiter. Ich bemerkte das krampfhafte Ziehen in meiner Brust kaum. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, an die Ereignisse des vergangenen Vormittags zu denken. Manuel hatte träge auf meinem Bett gelegen und gelangweilt in einem meiner Manga-Hefte geblättert. „Wie kannst du so einen Dreck nur lesen? Das macht doch alles gar keinen Sinn.“ „Du musst es ja auch von rechts nach links lesen, Blödmann.“ Gereizt hatte ich ihm das kleine Buch entrissen und es wieder auf den Stapel auf meinem Schreibtisch geworfen. „Wieso bist du so schlecht gelaunt?“ Manuel hatte sich irritiert blinzelnd aufgesetzt und mich ehrlich verwundert angestarrt, während ich mich wütend in meinen alten, ausgesessenen Sessel hatte fallen lassen. „Das fragst du noch? Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich dank dir inzwischen keinen einzigen Freund mehr habe? Inzwischen bedrohst du die anderen Jungs ja sogar schon, bevor ich auch nur die Chance hatte, sie kennen zu lernen.“ „Und? Wozu brauchst du denn Freunde? Du hast doch mich. Reicht das denn nicht?“ „NEIN!“ Ich hatte all die Wut und Enttäuschung, die sich seit dem Tod unserer Eltern in meinem Herzen angestaut hatte, in meine Stimme gelegt und Manuel aus voller Lunge angeschrieen. Angesichts des tiefen Schmerzes, der sich auf seinem Gesicht breit gemacht hatte, hatte ich es sofort bereut, doch ich war nicht in der Lage gewesen, mich zu stoppen. „Du gehst mir mit deiner wichtigtuerischen Beschützernummer total auf die Nerven. Ich will selbst entscheiden können, mit wem ich befreundet sein will und nicht gegen eine Mauer rennen, nur weil du dich nicht zurückhalten konntest und den armen Jungen schon bedroht hast!“ Augenblicklich hatte Manuel die Ohren gespitzt und mich aus ungläubigen Augen angesehen. „Du machst dieses Theater wegen dieses Schnösels?!“ „Ich hab keine Ahnung, von wem du sprichst...“ Obwohl ich gespürt hatte, dass mir das Blut in die Wangen geschossen war, hatte ich versuchen müssen, die Ahnungslose zu spielen. Was selbstverständlich nicht funktioniert hatte. „Natürlich weißt du, wen ich meine. Den Neuen, mit dem du in letzter Zeit ständig reden willst. Dieser... dieser... Georg?“ „Gregor.“ Missbilligend hatte Manuel die Lippen aufeinander gepresst und für wenige Minuten geschwiegen. „Ich versteh’ nicht, was du an diesem Milchgesicht findest. Der sieht doch schon vollkommen verweichlicht aus.“ „Du bist doch nur neidisch.“, war es mir durch den Kopf geschossen, doch als ich den Mund aufgemacht hatte, waren andere Worte heraus gekommen: „Es geht nicht um Gregor oder sonst irgendeinen bestimmten Jungen. Es geht ums Prinzip. Ich will mein eigenes Leben so gestalten wie es mir gefällt. Bekommst du das in deinen Dickschädel?“ Während ich meinen Bruder eindringlich angestarrt hatte, hatte er mit mahlenden Kiefern nachgedacht. Schließlich hatte er mir einen kurzen Blick zugeworfen und gefragt: „Wenn ich das mit diesem Milchbubi wieder einrenke, hörst du dann auf rum zu zicken?“ Mit einem breiten Grinsen hatte ich mich tiefer in meinen Sessel gekuschelt und „Vielleicht.“ geantwortet. Ich hatte gedacht, Manuel hätte mit „einrenken“ gemeint, dass er sich bei Gregor entschuldigen wollte. Wenn ich gewusst hätte, dass er ihn stattdessen zu einer Meinungsänderung hin prügeln wollte, hätte ich seine Frage ohne zu zögern verneint. Aber eigentlich hätte es mir klar sein müssen... Schließlich kannte ich meinen Bruder. Manuel tat nie das, was man von ihm erwartete, und kämpfte grundsätzlich mit unfairen Mitteln. Ich hetzte gerade das letzte Stück Hügel hinauf, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung ausmachte. Irritiert blieb ich stehen und kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, was am See vor sich ging. Sofort breitete sich eine schneidende Eiseskälte in meinem Inneren aus, als ich die zwei Gestalten identifizierte, die sich Gregor und Manuel näherten: Lukas und Björn, die beiden Handlanger meines Bruders. Ich warf einen schnellen Blick zu dem kleinen Schuppen des Hausmeisters auf der Hügelkuppe. Normalerweise hätte Jörg hier irgendwo herumwuseln und arbeiten müssen, doch er war nirgends zu sehen. Damit ich nicht noch mehr Zeit verlor, machte ich auf dem Absatz kehrt und eilte zurück zum See. Wenn Björn und Lukas eingriffen, war Gregor mit Sicherheit chancenlos. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass er seine Knochen einzeln aufsammeln musste – lieber legte ich mich persönlich mit meinem Bruder an. Als ich die Jasminbüsche endlich wieder erreichte, war ich so außer Atem, dass meine Sicht ganz schwarz wurde und kleine, weißbunte Sternchen vor meinen Augen tanzten. Die Stimmen der Jungs auf der Buschseite drangen nur gedämpft an meine Ohren, so als stünden sie hinter einem Vorhang aus rauschendem Wasser. Ich biss die Zähne fest zusammen, holte tief und pfeifend Luft und zwang mich trotz des heftigen Schwindels, der mich erfasst hatte, stehen zu bleiben. Vorsichtig spähte ich um den stark belaubten Busch herum und versuchte, den Schauer, der mir über den Rücken lief, zu unterdrücken. Björn und Lukas hielten Gregor, der sich mit solch einer überraschenden Kraft wehrte, dass die Beiden Schwierigkeiten hatten, nicht los zu lassen, an beiden Armen fest und Manuel beugte sich so tief zu seinem Opfer herab, dass er den Jungen fast verdeckte. Ich sah lediglich eine Hälfte von Gregors Gesicht, doch das reichte, um mir mit einem namenlosen Entsetzen den Magen umzudrehen. Etwa drei Viertel seiner Wange starrten vor angetrocknetem, rostrotem Blut, das offenbar aus einer breiten Platzwunde direkt über seinem Jochbein stammte und an seinem rechten Mundwinkel lief ein dünner, blutiger Speichelfaden herab. Doch obwohl er übel mitgenommen wirkte, glitzerte in seinen leicht zusammengekniffenen Augen ein provozierender Triumph, der meinen Bruder schier wahnsinnig machen musste. Ich fragte mich, wie Gregor in dieser Situation so etwas wie Befriedigung oder Freude empfinden konnte. Bevor ich mir jedoch eine Antwort überlegen konnte, zischte mein Bruder ihn plötzlich an: „Dir wird dein Hochmut auch noch vergehen – spätestens, wenn ich dir dein hübsches Gesicht zu Brei schlage. Wie wär’s wenn ich mit deinem zierlichen Näschen anfangen würde, hm? Was würdest du dazu sagen?“ Nur einen Sekundenbruchteil später riss er bereits die Faust in die Höhe und zielte präzise auf Gregors Nase. Unterbewusst registrierte ich, dass dieser seine Lippen zu einem hämischen Grinsen verzog, so als freue er sich diebisch über irgendetwas. Doch anstatt mich darüber zu wundern, trat ich endlich zwischen den Büschen hervor – bereit, meinen Bruder von hinten anzufallen, sollte er sich nicht durch Worte vertreiben lassen. Gregor erblickte mich, bevor ich etwas sagen konnte, und seine Augen wurden vor Überraschung groß und rund. Manuel schien davon nichts zu bemerken und suchte sich einen festen Stand, um seinen Schlag möglichst effektiv durchziehen zu können. „Was zur Hölle machst du da? Hast du völlig den Verstand verloren?!“ Ich war selbst von der schneidenden Kälte und der Festigkeit in meiner Stimme überrascht. Es erstaunte mich also nicht weiter, dass Manuel heftig zusammenzuckte und auch Björn und Lukas mich beinah panisch anstarrten. Nur in Gregors Augen schimmerte ein leichter Hauch von Bedauern. Tat es ihm etwa leid, dass ich meinen Bruder daran gehindert hatte, ihm das Nasenbein zu zertrümmern?! Mit wütenden Schritten stampfte ich um Manuel herum, dessen Rückenmuskeln sich zunehmend versteiften. Als ich ihn umrundet hatte, glotzte er mich aus riesigen, ängstlich flehenden Augen an. Erstaunt stellte ich fest, dass Manuel ebenfalls viele kleine Schürfwunden im Gesicht hatte. Hatte er sie etwa Gregor zu verdanken? Kein Wunder, dass Björn und Lukas eingegriffen hatten. Für eine Weile starrte ich böse zurück, um ihm zu zeigen, dass ich dieses Mal wirklich sauer war, und wandte mich dann an seine beiden Komparsen, um sie mit giftiger Stimme dazu aufzufordern, Gregor los zu lassen. Kaum dass die Beiden meinem Wunsch nachgekommen waren, bereute ich ihn beinah. Gregor sackte fast augenblicklich ein wenig zusammen und schien sich nur unter großen Schmerzen alleine aufrecht halten zu können. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, warum er sich nicht einfach auf den Boden sinken ließ. Doch dann wurde es mir schlagartig klar – schon allein die Art und Weise wie er den Kopf hoch hielt, hätte es mir verraten können: Er war dafür viel zu stolz. So lange die anderen Jungs hier wären, würde er sich dazu zwingen, auf den Beinen zu bleiben – koste es, was es wolle. So schnell ich konnte, verscheuchte ich meinen Bruder und seine Freunde, die sich erstaunlich schnell verdrückten. War ich wirklich so furchterregend? Vielleicht hätte ich viel eher wagen sollen, Manuel mit wütender Strenge auf den rechten Pfad zu zwingen, anstatt zu versuchen, ihn zu verstehen... Als ich mich wieder zu Gregor umwandte, hatte er sich auf dem trockenen Gras lang ausgestreckt und atmete mehrfach tief durch. Vorsichtig setzte ich mich neben ihn und betrachtete sein ramponiertes Gesicht. Rund um die schlimm aussehende Platzwunde bildete sich bereits ein tiefdunkles Hämatom, das sich im Laufe des Tages sicherlich noch weiter ausbreiten würde. Seine Unterlippe war rissig und mit vielen kleinen Wunden übersät, doch ich konnte nicht sagen, welche davon er sich selbst zugefügt hatte und welche von meinem Bruder stammten. Bis auf die Platzwunde sah er äußerlich ziemlich unverletzt aus, doch die Art und Weise wie die Hand auf den Bauch drückte, legte den Schluss nahe, dass mein Bruder auch eher andere Körperteile als Gregors Gesicht bearbeitet hatte. Besorgt musterte ich seine schmerzverzerrten Züge und streckte die Hand nach ihm aus, ließ sie dann aber wieder sinken, ohne ihn berührt zu haben. Ich war mir nicht sicher, ob er das gewollt hätte. Stattdessen fragte ich ihn einfach nur: „Geht’s?“ Langsam und offenbar unter heftigen Qualen setzte Gregor sich auf und warf mir einen sonderbar leeren Blick zu, so als bräuchte sein Körper alle Kraft, um die Schmerzen zu unterdrücken. „Ich denke, ich werd’s überleben.“ Seine Stimme klang gepresst und brüchig, was mir Tränen in die Augen trieb. Ich versuchte, sie einfach weg zu lächeln, doch das schlechte Gewissen fraß mich von innen auf. Ich konnte den Gedanken, dass ich an all dem hier schuld war, einfach nicht abschütteln. Ich holte tief Luft, schluckte einen kleinen Schluchzer herunter und entschuldigte mich bei Gregor. Das war das Einzige, das ich tun konnte. Doch er sah mich nur aus großen, ungläubigen Augen an und zuckte mit den Schultern. „Es war nicht deine Schuld.“ Verlegen riss ich ein paar Grashalme aus und ließ sie vom Wind davon tragen. Natürlich war es meine Schuld. Ich hätte wissen müssen, dass Manuel so reagieren würde. Ich hatte diese Prügelei heraufbeschworen, indem ich immer wieder Gregors Nähe gesucht und nicht genügend geleugnet hatte, dass mir etwas an diesem sonderbar schönen Jungen lag. Doch auch als ich versuchte, Gregor das zu erklären, schien er mir nicht glauben zu wollen. Stattdessen wehrte er meine Entschuldigungen ab: „Es war trotzdem nicht deine Schuld. Ich hab mir das wohl eher selbst zuzuschreiben.“ Warum zur Hölle weigerte er sich so beständig, mir zu glauben, dass es meine Schuld war? Irritiert betrachtete ich ihn von der Seite. So wie wir zueinander saßen, hatte er mir seine blutverkrustete Wange zugewandt und es juckte mich plötzlich in den Fingern, sein Gesicht zu säubern. Vielleicht konnte ich das, was mein Bruder ihm meinetwegen angetan hatte, so wieder ein wenig gut machen. Schnell fischte ich mein altes, weißes Stofftaschentuch aus meiner Hosentasche. Es hatte früher meiner Mutter gehört und seit dem Tod meiner Eltern trug ich es wie eine Art Talisman immer bei mir. Ich warf einen kurzen Blick auf das silbern schimmernde Seewasser, doch weil ich mir nicht sicher war, ob es tatsächlich so sauber war wie es wirkte, spuckte ich einfach auf den weichen Stoff, anstatt ihn im See nass zu machen. Gregor betrachtete mich argwöhnisch, zog sich aber nicht zurück, als ich begann, sein Gesicht abzutupfen. Mit einem kleinen Lächeln wischte ich ihm über die Wange, während ich mir die Platzwunde genauer ansah. Sie war etwa vier Zentimeter breit und klaffte wie ein zahnloser, höhnisch grinsender Mund auf Gregors Jochbein, doch glücklicherweise war sie frei von Dreck. „Was hast du damit gemeint, dass du dir die Schläge vermutlich selbst zuzuschreiben hast?“ Zaghaft strich ich ihm mit der Kuppe meines Zeigefingers über die Wange, was Gregor jedoch zum Glück nicht zu bemerken schien. Seine Haut war glatt und, obwohl durch die wieder sprießenden Bartstoppeln ein wenig rau, zart. Ich unterdrückte ein neidisches Seufzen. Er hatte wirklich ein Gesicht, für das jede Frau getötet hätte... Fast gelangweilt zuckte er mit den Schultern. „Naja, ich hab ihn provoziert... und beleidigt.“ Überrascht ließ ich das Taschentuch sinken und starrte den Jungen neben mir aus großen Augen an. Er hatte was getan?! Mein Bruder war an die zwei Meter zehn groß und über hundert Kilo schwer. Ich kannte niemanden, der ihn freiwillig reizte oder sich sogar mit ihm anlegte. Ernsthaft beeindruckt nahm ich meine Arbeit wieder auf. „Du bist ganz schön mutig.“ Ich hatte erwartet, dass er nun breit grinsen und mit weiteren Heldentaten prahlen würde, doch wieder einmal überraschte Gregor mich. Er ging nicht nur nicht auf mein Kompliment ein, er untergrub es auch noch: „Ich würde eher sagen, ich bin größenwahnsinnig.“ Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Sein gequälter Gesichtsausdruck, seine grundsätzlich blutig gebissene Unterlippe, die Tatsache, dass er offenbar immer nur alleine war und niemanden an sich heran ließ, der an Idiotie grenzende Mut gegenüber meinem Bruder und das bedauernde Glänzen in seinen Augen, als ich Manuel gestoppt hatte, das alles ließ nur einen einzigen Schluss zu: Was auch immer in seiner Vergangenheit passiert sein mochte, Gregor hasste sich dafür und suchte nun nach Mitteln und Wegen, sich selbst zu bestrafen. Als ich ihn darauf ansprach, wich plötzlich der letzte Rest Farbe aus seinem eh schon blassen Gesicht und in seinen Augen blitzte Überraschung und Erschrecken darüber auf, dass ich ihn durchschaut hatte. „Selbsthass?“ Seine Stimme klang gepresst und vibrierte vor lauter Nervosität. Ich hatte keine Ahnung, was dahinter stecken mochte, doch Gregor hatte offenbar große Angst, dass jemand den Grund für seine negativen Gefühle sich selbst gegenüber erkennen könnte. Ich tupfte einen letzten Rest verkrusteten Blutes von seiner Wange und faltete dann mein schmutziges Taschentuch wieder zusammen. Ich fragte mich, ob ich es je wieder sauber bekommen würde, doch das war nicht so wichtig. „So, jetzt siehst du wieder annehmbar aus.“, sagte ich so beschwingt wie möglich, um zu zeigen, dass wir nicht über das offensichtlich unangenehme Thema sprechen mussten. Doch Gregor ließ nicht locker: „Wie kommst du darauf, dass ich mich selbst hasse?“ Ich holte tief Luft und begann, ihm meine Gründe für diese Annahme zu erläutern, auch wenn das bedeutete, zugeben zu müssen, dass ich ihn intensiver beobachtet hatte als es vielleicht normal war. Ich hatte das Gefühl, meine Wangen müssten so rot sein, dass sie leuchteten. Als ich geendet hatte, schwieg Gregor für einige Zeit und ich fürchtete schon, dass mir unangenehme Fragen stellen würde, warum ich ihn so sehr im Auge behalten hatte. „Du bist eine gute Beobachterin.“, war jedoch alles, was er dazu sagte. Aus Erleichterung, dass ich noch einmal davon gekommen war, ohne meine verwirrenden Gefühle erläutern zu müssen, platzte ich ohne nachzudenken heraus: „Nur, wenn ich jemanden interessant finde.“ Kaum, dass mir der Satz entschlüpft war, riss Gregor den Kopf zu mir herum. Er sah mich aus großen, überrascht wirkenden Augen an und ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Mit hochroten, glühenden Wangen stammelte ich: „Also, das soll jetzt nicht heißen, dass ich dich total attraktiv finde oder so. Du wirkst halt irgendwie so verloren und verschlossen. Das ist interessant, weil ich mich bei so etwas immer frage, was dahinter steckt. Was jetzt aber auch nicht heißen soll, dass du nicht gut aussiehst, aber... aber... das interessiert mich halt nicht so sehr.“ Gregor grinste belustigt und streckte mir plötzlich die Hand entgegen. „Ich bin übrigens Greg.“ Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich ihm eine Retourkutsche verpassen und „Angenehm, Veronica.“ sagen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell. Ich hatte so lange darauf gewartet, ihm näher zu kommen, da wollte ich nicht gleich wieder alles kaputt machen, indem ich rum zickte. Mit einem wie ich hoffte bezaubernden Lächeln ergriff ich seine schmale, weiche Hand, die sich anfühlte als könnte ihr Besitzer sehr zärtlich sein, und schüttelte sie leicht. „Vroni.“ Greg lächelte breit zurück, was mit der Platzwunde auf dem Jochbein sicherlich höllisch wehtat, und blickte dann in Richtung der untergehenden Sonne. Ich folgte seinem Blick und war einen Moment lang überwältigt von der Schönheit der bunten, wie mit Goldpuder bestäubt wirkenden Farben der Bäume und dem leuchtenden Abendrot, das den Horizont aussehen ließ als würde der Himmel brennen. Doch schon nach wenigen Minuten kehrte mein Blick zu Greg zurück, der noch immer in die Ferne sah, und das warme, prickelnde Gefühl, das mich in seiner Gegenwart so oft überkommen hatte, kehrte mit doppelter Intensität zurück. Grinsend bemerkte ich die Ironie, dass gerade Manuel, der Greg aufrichtig zu hassen schien, uns zusammen geführt hatte. Womöglich hätte ich Gregs harte Schale nie geknackt, wenn ich nicht begriffen hätte, dass sie nur aus wildem, heiß loderndem Selbsthass bestand. Manchmal ging das Leben seltsame Wege. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)