Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 20: Veronica -------------------- Müde rieb ich mir über die Augen und gähnte. Eigentlich hatte ich nie Probleme damit früh aufzustehen, doch die letzte Nacht hatte ich viel zu lange wach gelegen und über den Jungen vom See nachgedacht. Erst als die kleinen, roten Ziffern meines Weckers auf zwei Uhr morgens gesprungen waren, hatte ich mich endlich gefragt, warum ich einfach nicht aufhören konnte, an diesen Jungen zu denken. Ja, ich hoffte, ihn wiederzusehen und etwas gegen den leidenden Ausdruck in seinem Gesicht unternehmen zu können, weil ich mich dann selbst besser fühlen würde. Wenn ein scheinbar so tief empfundener Schmerz wie bei diesem Jungen überwindbar wäre, dann hätte ich auch endlich wieder Hoffnung, dass mein gebrochenes Herz eines Tages heilen würde. Doch das konnte nicht der einzige Grund sein, denn sonst hätte ich aufhören können, über ihn nachzudenken – oder hätte zumindest über andere Dinge nachgegrübelt. Dann hätte ich Pläne geschmiedet, wie ich mit ihm ins Gespräch kommen und ihm sein Geheimnis entlocken könnte. Stattdessen musste ich immer wieder an das Gefühl denken, dass mich überkommen hatte, als ich sein gequält wirkendes Gesicht erblickt hatte: eine unbeschreibliche, fast mütterliche Wärme und das Bedürfnis, alles Böse dieser Welt von diesem Jungen fern zu halten. Plötzlich hallte ein lauter Knall wie ein Pistolenschuss durch den Klassenraum und ich zuckte heftig zusammen. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass Herr Friedrichs herein gekommen war. Das knallende Geräusch musste von seinem Lehrbuch gekommen sein, das er wie jeden Morgen achtlos auf sein Pult geworfen hatte. Ich richtete mich schnell ein wenig auf und suchte eine freie Seite in meinem Heft. Herr Friedrichs stellte seinen Aktenkoffer aus schwarzem Leder neben seinen Tisch und erklärte unsere Ziele für die heutige Stunde, während ich ein miesgelauntes Gesicht zog. Ich war immer gut in Mathe gewesen, doch Kurvendiskussionen würden mich irgendwann noch mal zu Tode langweilen, ich wusste es genau. Ich war fast froh, als meine Gedanken sich wieder verselbstständigten, den Klassenraum verließen und wieder an den vergangenen Nachmittag zurückkehrten. Obwohl er ziemlich groß und anscheinend auch recht kräftig war, hatte dieser Junge etwas an sich, das die Fürsorge in mir weckte und den Wunsch ihn zu beschützen in mir wach rief. Ich fragte mich, ob dies an dem Schmerz in seinem Gesicht lag, und schüttelte dann den Kopf. Nein, der Grund für dieses Bedürfnis war mehr als nur ein Paar leidend blickender Augen. Der Auslöser für mein Gefühl lag in seinem gesamten Erscheinungsbild – in seinen aufgebissenen Lippen, in seinen leicht nach vorn gekrümmten Schultern, in seinem milchigtrüben Blick, in dem Schwung seiner niedlichen Stupsnase. Denn trotz seiner Größe und der offensichtlichen körperlichen Stärke strahlte dieser Junge eine Schutzbedürftigkeit aus, der man sich einfach nicht entziehen konnte. Er wirkte zerbrechlich, so als wäre seine physische Kraft nur Teil einer dünnen Schutzschicht rund um ein kostbares, fragiles Innere. Irgendwie erinnerte er mich dadurch an eines der bunten Fabergé-Eier, die meine Mutter mit so viel Begeisterung gesammelt hatte. Als Kind hatte ich einmal versehentlich eines zwischen meinen kleinen Fingerchen zerbrochen und war erschüttert gewesen, wie wenig Kraft es bedurft hatte, etwas so schönes zu zerstören. Gerade als ich mich fragte, wer oder was wohl schuld daran war, dass die dünne Hülle des Jungen so heftige Risse bekommen hatte, dass er sein leidendes Inneres nicht mehr verbergen konnte, klopfte es ein wenig zaghaft an der Tür. Irritiert ließ ich meinen Blick schweifen, konnte aber keinen freien Platz entdecken. Anscheinend waren alle Kursteilnehmer bereits hier. Sofort machte mein Herz einen kleinen, nervösen Hüpfer, was mich den Kopf über mich selbst schütteln ließ. Es war bestimmt ungesund, dass ich jetzt schon so heftig auf den Gedanken an diesen Jungen reagierte. Herr Friedrichs schlug sein Buch zu und forderte den Menschen vor der Tür auf, einzutreten. Nach einem etwas zu langen Moment, so als hätte die Person kurz gezögert, trat eine hochgewachsene, sich sichtlich unwohl fühlende Gestalt ein. Es war der Junge vom See. Ich erkannte ihn an seiner ungewöhnlichen Haarfarbe schon bevor ich sein Gesicht sah. Mit einem jähen Anflug heißen Neids stellte ich fest, dass er offenbar gar kein direktes Sonnenlicht brauchte, damit seine Haare so kostbar schimmerten. Auch so wirkten sie, als hätte Rumpelstilzchen sie aus teuren Goldfäden gewebt. Während Herr Friedrichs mit ihm sprach, betrachtete ich das scharf geschnittene Profil des Jungen und ließ seine Stimme auf mich wirken. Die Töne seiner Worte sprangen zwischen hoch und tief hin und her, doch es war bereits jetzt zu erkennen, dass er irgendwann einmal eine ziemlich wohlklingende Stimmlage haben würde. Generell war der Junge eine sehr angenehme Erscheinung. Mit seinem ebenmäßigen Gesicht mit den feinen Zügen, dem fast unnatürlich wirkenden Goldschimmer seiner Haare und der scheinbar athletischen Figur wirkte er als wäre er gar nicht wirklich von dieser Welt. Er sah eher aus wie ein Engelskrieger, ein Seraph. Mit einem unterdrückten Kichern fragte ich mich, ob er unter seinem weißen T-Shirt wohl ein Paar Schwingen versteckte. Doch da es keine Engel gab, war es vermutlich sehr viel wahrscheinlicher, dass sich hinter der Maske aus Schönheit und Schmerz ein diabolischer Geist versteckte. Ich hatte schon öfter gehört, dass die brutalsten Menschen oft ein so engelsgleiches Gesicht hatten, dass ihre Opfer ihnen auch dann noch trauten, wenn sie mit blitzendem Messer auf sie zukamen. Unwillkürlich drängte sich mir die Frage auf, ob dieser Junge wohl zu jener Sorte Mensch gehörte und ob er heimlich kleinen Krabbeltieren Flügel und Beine ausriss oder Hunden und Katzen brennende Holzstücke an den Schwanz band. Vielleicht war sein leidender Gesichtsausdruck der letzte Rest eines fast verbannten schlechten Gewissens. Herr Friedrichs forderte den Jungen auf, sich einen Platz zu suchen. Fast ein wenig widerstrebend wandte dieser sich um und ließ seinen Blick über die Reihen schweifen. Sofort versuchte eine kleine Gruppe Mädchen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ganz besonders Sarah – eine aufgetakelte Tussi, die ich von ganzem Herzen hasste – warf sich ordentlich ins Zeug und lehnte sich so weit nach vorne, dass ihre flachen Hühnerbrüstchen beinah aus dem tiefen Ausschnitt ihres Tops fielen. Angewidert zog ich die Nase kraus. Wie konnte man sich einem Typen so dermaßen billig anbieten? Da konnte sie sich doch gleich eine Preisliste für ihre verschiedenen Dienstleistungen aufs T-Shirt drucken lassen... Doch während Herr Friedrichs rot anlief und sich verlegen hüstelnd hinter seinem Lehrbuch versteckte, schien der Junge von Sarahs Bemühungen gar keine Notiz zu nehmen. Ich wusste selbst nicht genau, warum, doch irgendwie erfüllte mich dies mit diebischer Freude. Inzwischen hatte der Junge seinen Blick bis in die hinterste Reihe wandern lassen. Plötzlich wurde er ein wenig blass um die Nase und zuckte kaum merklich zusammen. Irritiert warf ich einen Blick über die Schulter und entdeckte meinen Bruder, der ihm mit einem hämischen Grinsen zuwinkte. Ich seufzte unterdrückt. Was hatte Manuel jetzt schon wieder angestellt? Manuel litt noch viel mehr als ich unter dem Tod unserer leiblichen Eltern und hatte seitdem immense Probleme, sich in ein Sozialgefüge einzupassen. Eine Zeit lang hatten wir in einer Pflegefamilie gelebt, doch Manuel war so aufsässig und aggressiv gewesen, dass unsere „Eltern“ nur den Ausweg gesehen hatten, ihn aufs Internat zu schicken. Manuel hatte es geschafft, unseren eigentlich sehr sanftmütigen Pflegevater so sehr zu reizen, dass dieser drauf und dran gewesen war, ihn zu schlagen. Ich hätte bei der Familie bleiben können, hatte mich aber dafür entschieden, lieber meinen Bruder zu begleiten. Als offiziellen Grund hatte ich angegeben, dass ich versuchen wollte, einen mäßigenden Einfluss auf ihn auszuüben, doch in Wirklichkeit hatte ich es einfach nicht länger ausgehalten, bei diesen Menschen zu wohnen. Es war nicht so, dass sie schlecht zu uns gewesen waren. Es war mir einfach falsch erschienen, wieder in einer Familie zu leben. Ich hatte mich die ganze Zeit gefühlt, als hätte ich meine Eltern verraten. Die ersten Monate schien Manuel hier auf dem Internat förmlich aufzublühen, doch schon nach wenigen Wochen war er völlig zusammengebrochen und verwandelte sich unaufhaltsam in einen brutalen Schläger. Ich versuchte, ihn irgendwie wieder auf den richtigen Weg zu führen, doch er hatte mit seiner Einschüchterungstaktik viel zu viel Erfolg, um sie aufzugeben. Ich wünschte beinah, dass er an jemanden geraten würde, der ihm gewachsen war und sich nicht von ihm einschüchtern ließ. Vielleicht käme er dann endlich wieder zur Vernunft. Der goldhaarige Junge setzte sich mit grimmiger Miene neben mich und rückte seinen Stuhl unauffällig so weit von mir weg wie möglich. Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, schlug er sein Heft auf und begann seinen Kugelschreiber zwischen seinen Fingern wirbeln zu lassen. Erneut warf ich einen Blick über die Schulter und sah zu meinem Bruder herüber, der den Jungen anstarrte, so als wollte er riesige Löcher in dessen Rücken ätzen. Sofort drängte sich mir der Gedanke auf, dass sich der Junge vielleicht deshalb so abweisend verhielt, weil er bereits an meinen Bruder geraten war. Als Manuel bemerkte, dass ich ihn giftig anblitzte, zuckte er nur träge grinsend die Schultern – eine Geste, die ich nur allzu gut kannte. Sie bedeutete so viel wie: „Tja, dumm gelaufen.“ Also hatte er den armen Jungen neben mir tatsächlich bereits in die Finger bekommen... Wütend knirschte ich mit den Zähnen. Ich hatte es so satt, dass mein Bruder sich ständig in mein Leben einmischte. Es war zwar irgendwo wirklich süß von ihm, dass er sich Sorgen um mich machte und ihm kein Mann gut genug für mich war, aber er machte mich dadurch schrecklich einsam. Inzwischen hatte ich gar keine Freunde mehr. Die meisten Mädchen an dieser Schule waren verzogene Mäuschen aus reichem Elternhaus – genau die Sorte Mädchen, mit der ich einfach nicht klar kam und mit der ich auch nichts zu tun haben wollte – und die Jungs mieden mich, weil sie sich vor Manuel fürchteten. Wieder warf ich meinem Bruder einen finsteren Blick zu. Ich hoffte, dass er die stumme Warnung in meinen Augen verstand. Dieses Mal würde ich nicht zulassen, dass Manuel sich einmischte, dafür interessierte mich dieser Junge einfach schon viel zu sehr. Ich wollte wissen, welchen Schmerz er mit sich herum trug und ob wir uns tatsächlich so ähnlich waren wie mein Bauchgefühl es mir weiß machen wollte. Mit einem herzlichen Lächeln streckte ich ihm meine Hand entgegen. „Hi.“ Ganz langsam, fast wie in Zeitlupe wandte der Junge den Kopf und betrachtete meine Hand mit so einem eisigen Glitzern in den Augen, dass ich mir plötzlich irgendwie nackt fühlte. Erste Zweifel schlichen sich in meine Gedanken, als der Junge störrisch die Arme vor der Brust verschränkte und wieder nach vorn starrte. Vielleicht war mein Bruder doch unschuldig und dieser Junge mochte mich einfach schlicht und ergreifend nicht? Resigniert ließ ich die Hand wieder sinken und betrachtete meinen Tischnachbarn von der Seite. Aus der Nähe konnte ich nun erkennen, dass seine Augen in einem beeindruckenden Katzengrün strahlten und einen rötlichbraunen Ring um die Iris hatten. Durch den Rotstich hatten sie etwas seltsam Beunruhigendes. Rote Augen verband ich seit jeher mit Dämonen und anderen teuflischen Gestalten. Wieder musste ich daran denken, dass so manch diabolischer Geist hinter einem Engelsgesicht lauerte. Quälte dieser Junge wohl nur aus Spaß wehrlose Kleintiere? Rund um seinen Mund, dessen Unterlippe aufgebissen und blutig war, lag ein melancholischer Zug und die dünne Haut über seinen Tränensäcken schimmerte violettschwarz, so als hätte der Junge seit Ewigkeiten nicht mehr genügend Schlaf bekommen. Wieder richtete ich meinen Blick auf seine ungewöhnlichen Augen. Nein, sie machten mir keine Angst, so wie es die glühendroten Augen eines Dämons gemacht hätten. Dieses Augenpaar wirkte zwar ebenfalls irgendwie beängstigend, aber auf eine andere Art und Weise. Der Junge schien mit diesen Augen bis auf den Grund meiner Seele sehen zu können, wo sein Blick irgendetwas berühren und streicheln konnte, das bisher noch kein anderer Mensch je zu Gesicht bekommen hatte. Diese Augen brachten irgendeine Saite von mir zum Schwingen, die mir selbst vollkommen unbekannt war. Eine Saite, die zaghafte, aber gleichmäßige Wellen durch meinen Körper vibrieren und meine Handinnenflächen kribbeln ließ. Es waren Augen, in die man sich verlieben konnte. Ein wenig erschreckt von diesem Gedanken, verkrampfte ich meine Hände ineinander und wunderte mich zugleich über mich selbst. Warum war ich da nicht eher drauf gekommen? Meine Unfähigkeit nicht an ihn zu denken, mein Bedürfnis ihn zu schützen und mein Wunsch diesen Jungen lachen zu sehen... das alles sprach doch eine ganz eindeutige Sprache. Ich hatte nie daran geglaubt, dass man sich in einen Menschen verlieben konnte, ohne ihn wirklich zu kennen, doch als ich jetzt in dieses Engelsgesicht sah, zweifelte ich nicht mehr an dieser Möglichkeit. Dieser Junge war so schön, dass man ihn einfach lieben musste – so wie das bunte Schillern des gebrochenen Sonnenlichts auf kristallklarem Wasser, so wie die ersten zarten Blumenblüten nach einem langen, harten Winter. Es war nicht die Art von tiefer Liebe auf die man Partnerschaften aufbaute, sondern eine eher oberflächliche Liebe zur Schönheit selbst, die Glück und Lebensfreude versprach. Doch obwohl ich wusste, dass diese Empfindungen nichts mit echter, ehrlicher Liebe zu tun hatten, spürte ich den beinah unbändigen Drang, die Aufmerksamkeit des Jungen wieder auf mich zu ziehen, damit ich mich weiter an seinem Glanz erfreuen konnte. Ich hatte sogar fast Verständnis für Sarahs billige Masche. Dieser Junge war wie die erste Frühlingssonne, welche die Menschen wie Magie aus den Häusern auf die Straße, in die Parks und Eiscafés lockte. Der Rattenfänger von Hameln musste ein ganz ähnlicher Typ Mann gewesen sein. „Ich bin übrigens Veronica. Meine Freunde nennen mich Vroni.“, startete ich einen neuen Versuch, das Eis zwischen dem Jungen und mir zu brechen. Ohne mich anzusehen verzog er sein Gesicht zu einer unfreundlichen Maske und brummte: „Ich bin Greg, aber Leute wie du nennen mich Gregor.“ Für einen kurzen Moment war ich über so viel Feindseligkeit geschockt, doch dann erweckte ein schwaches Funkeln in Gregors Augen meine Aufmerksamkeit. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte so etwas wie Bedauern in ihnen aufgeblitzt, so als ob es ihm Leid täte, dass er so rüde war. Sofort fiel mir das höhnische Grinsen meines Bruders wieder ein, als er Gregor gewunken hatte. War es möglich, dass dieser aus Angst vor Manuel so abweisend war? Hatte mein Bruder ihn so sehr verängstigt, dass er sich nicht einmal mehr traute, mit mir zu sprechen? So leicht würde ich es ihm nicht machen... Anstatt beleidigt zu sein, kicherte ich ein wenig und flüsterte vergnügt zu ihm herüber: „Du hast einen beißenden Sinn für Humor. Das ist toll.“ Sofort zuckten seine Augen zu mir herüber. Während der Rest seines Gesichts missgelaunt und abweisend wirkte, schimmerte in ihnen pure Ratlosigkeit. Mit einem winzigen Grinsen wandte ich mich wieder meinem Heft zu und versuchte, meine Mitschrift, die ich bisher vernachlässigt hatte, zu vervollständigen. Ich hatte genau das erreicht, was ich mir erhofft hatte: Gregor war offensichtlich ziemlich verwirrt. Sollte er sich doch zur Abwechslung auch mal ein paar Gedanken um mich machen. Rätselhafte Mädchen waren interessant, richtig? Mit einem tiefen Gefühl von Befriedigung spürte ich für den Rest der Stunde seinen forschenden Blick auf mir, auch wenn er versuchte, unauffällig zu sein. Das lief doch wirklich gut. Ich würde ihn schon noch dazu kriegen, mit mir zu reden – irgendwann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)