Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 19: Gregor ------------------ Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich hundsmiserabel. Mein Kopf dröhnte und schmerzte so sehr, dass ich mir fast sicher war, dass er auf die doppelte Größe angeschwollen war – was anatomisch gesehen natürlich vollkommen unmöglich war. Langsam und schwerfällig setzte ich mich auf und schwang die Füße über die Bettkante. Für einen kurzen Moment kreisten die bunten Scheibenstücke meines Fensters vor mir wie in einem Kaleidoskop. Stöhnend stützte ich die Ellbogen auf die Knie und vergrub mein Gesicht in der Dunkelheit meiner Hände. Das helle Licht der Sonne, das in mein Zimmer fiel, schmerzte in meinen Augen und verursachte ein widerliches Stechen irgendwo in meinem Hinterkopf. Am liebsten hätte ich die dicken Vorhänge aus bordeauxrotem Leinen zugezogen und mich wieder in meinem Bett verkrochen. Doch mit einem Blick auf die Uhr in meinem Handy stellte ich fest, dass ich dafür keine Zeit mehr hatte. Eigentlich hätte ich schon in diesem Moment beim Frühstück sitzen müssen, da in gut einer halben Stunde bereits Unterrichtsbeginn war. Bei dem Gedanken an Frühstück knurrte mein Magen vernehmlich, doch wenn ich mir vorstellte, mit diesen Kopfschmerzen etwas zu essen, überkam mich sofort ein heftiger Würgereiz. Also entschied ich mich dafür, lieber ausgiebig zu duschen, anstatt mich in einen Saal voller lärmender, sich unterhaltender Schüler zu setzen. Das Gemeinschaftsbad am hinteren Ende des östlichen Wohnzellentraktes war in zwei große Räume unterteilt und ganz anders als ich erwartet hatte. Im ersten Raum waren zu beiden Seiten jeweils sechs eckige Waschbecken mit einem polierten Spiegel angebracht. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fiel mir auf, dass ich mir am vergangenen Abend gar nicht die Zähne geputzt hatte. Schnell suchte ich aus meinem schwarzen Kulturbeutel, den ich vor einigen Jahren von Mel geschenkt bekommen hatte, Zahnpasta und Bürste heraus. Auf dem Waschbeckenrand, rechts neben dem Wasserhahn, lag ein Stück unbenutzter lila Seife, vermutlich Lavendel. Mit einem Blick durch den Raum stellte ich fest, dass alle Waschbecken mit neuen Seifenstücken ausgestattet waren. Ich fragte mich, ob sie dort schon seit Ewigkeiten lagen oder ob sie tatsächlich jeden Morgen ausgetauscht wurden. Im hinteren Raum befanden sich links von mir zwölf Duschzellen, die alle durch eine hohe, geflieste Mauer voneinander getrennt und mit einem dunkelblauen, undurchsichtigen Plastikvorhang versehen waren. An der Wand mir gegenüber waren hohe, weiß gestrichene Regale mit viel Stauraum für die mitgebrachte Kleidung und rechts von mir befanden sich die Toiletten. Ich zog mich aus, legte meine Klamotten und meinen Kulturbeutel auf das Regal und schnappte mir ein Handtuch, das ich an den dafür vorgesehenen Haken vor der nächsten Duschzelle hängte. Danach zog ich den Vorhang zur Seite und staunte nicht schlecht. Alles hier war so sauber, dass es mir beinah den Atem verschlug. In allen Jugendherbergen, in denen ich in meinem bisherigen Leben gewesen war, hatte das völlig anders ausgesehen. Dort war es teilweise so verdreckt gewesen, dass man sich fragen musste, ob man nach der Dusche wirklich sauberer war als vorher. Hier entgegen war alles so penibel geputzt, dass man beinah ein schlechtes Gewissen bekam, wenn man etwas dreckig machte. Als der kalte Wasserstrahl meinen Körper traf, seufzte ich wohlig auf, obwohl mein gesamter Körper von einer Gänsehaut überzogen wurde. Ich fror und konnte nur schwer den Impuls unterdrücken, das Wasser wärmer zu stellen, doch die Kälte schien meine Kopfschmerzen zu vertreiben. Etwa fünfzehn Minuten später huschte ich nur mit einem Handtuch bekleidet über den langen Korridor zurück zu meinem Zimmer. Da vermutlich alle anderen Schüler und Lehrer beim Frühstück waren, ging ich davon aus, niemandem zu begegnen. Wieder in meinem Zimmer angekommen, stand ich grübelnd vor meinem Schrank. Kalte Wassertropfen liefen mir aus den Haaren und den Rücken entlang. Mit einem Zeigefinger strich ich über die ordentlichen Stapel T-Shirts und überlegte, was ich anziehen sollte. Schließlich zuckte ich mit den Schultern und zog irgendein weißes Shirt aus dem Schrank. Ich war hier, um von meiner Sehnsucht nach Mel loszukommen und zu lernen, nicht um einen Styling-Wettbewerb zu gewinnen. „Wo ist dieser verfluchte Raum?“ Ich irrte etwas planlos durch die langen Gänge und suchte Raum 218. Ich hatte am vergangenen Tag zwar einen Stundenplan mit Raumangaben von Frau Dr. Andersen bekommen, doch bei der Raumsuche war ich offensichtlich auf mich selbst gestellt. Ich hätte mir dafür in den Hintern beißen können, dass ich mir nicht gleich gestern die Räume für die nächsten Tage gesucht hatte. Nach anfänglicher Verwirrung fand ich den Raum, in dem mein Mathematikleistungskurs stattfinden sollte, doch noch. Eigentlich war die Nummerierung der Räume logisch und sinnvoll. Wenn ich mich eher damit vertraut gemacht hätte, hätte ich Raum 218 ohne Probleme gefunden. Durch die geschlossene Tür klangen leise Stimmen. Irritiert warf ich die Stirn in Falten. Ich war doch früh genug losgegangen und hatte sogar ein wenig Suchzeit miteingerechnet.... Schnell warf ich einen Blick auf meine Uhr, die fünf nach acht anzeigte. Plötzlich fiel mir siedend heiß wieder ein, dass der Unterricht an diesem Internat bereits um Punkt acht begann und nicht erst zehn Minuten später wie es an meiner alten Schule üblich gewesen war. Hier dauerte eine Unterrichtseinheit auch tatsächlich eine ganze Stunde und nicht fünfundvierzig Minuten. Ich stöhnte innerlich auf. Gleich am ersten Tag zu spät... Was wollte eigentlich noch alles schief gehen? Zaghaft klopfte ich mit dem Gelenk meines Zeigefingers gegen die dunkle, intensiv gemaserte Holztür. Eine helle, etwas verwirrt klingende Männerstimme antwortete und forderte mich auf, einzutreten. Ich atmete tief durch und öffnete die Tür. Der Lehrer, der hinter einem schlichten Pult saß, war ein junger Mann mit vollem braunen Haar, wachen blauen Augen und einem gewinnenden Lächeln. Irgendwie erinnerte er mich an Paps und ich spürte einen leichten Anflug von Heimweh. Nachdem er mich kurz gemustert hatte, stand der Pauker auf und streckte mir die Hand entgegen. „Ah, du musst unser neuer Quereinsteiger sein. Ich bin Herr Friedrichs.“ Quereinsteiger... Das klang nach Wirtschaftsjargon und Karriere. Offenbar wurden die Schüler an dieser Schule schon allein durch die Wortwahl ihrer Lehrkörper darauf vorbereitet, dass sie später einmal die Chefsessel dieses Landes besetzen sollten. Es lebe die Elitenbildung... Ich schüttelte Herrn Friedrichs’ Hand und wappnete mich innerlich dafür, mich dem Kurs vorstellen zu müssen, doch stattdessen drückte mein Lehrer mir ein dickes Lehrbuch in die Hand und grinste. „’n bisschen spät aus dem Bett gefallen, was?“ Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich einfach nicken sollte, entschied mich dann aber doch für die Wahrheit. „Ich hab mich einfach noch nicht daran gewöhnt, dass wir hier schon um acht anfangen.“ Herr Friedrichs grinste noch breiter. „Das passiert den meisten Quereinsteigern. Ist nicht so schlimm. Jetzt setz dich erst mal hin und hör zu. Solltest du Probleme haben, den Anschluss zu finden, sag mir nach der Stunde einfach Bescheid. Wir finden dann schon eine Lösung.“ Ich nickte, umfasste mein Buch fester und wandte mich jetzt endlich meinen neuen Mitschülern zu. Die Tische waren in drei langen Reihen aufgestellt, die nach hinten in den Raum ragten. In der hintersten Reihe erkannte ich Manuel und seine Freunde. Manuel grinste mich diabolisch an und winkte unauffällig zu mir herüber. Sofort zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen und ich schaute schnell wieder weg. Als ich den einzigen freien Platz entdeckte, stöhnte ich innerlich auf. Er war neben einem Mädchen mit kurzem, wild verwuscheltem Haar, das mich aus neugierigen, braunen Augen musterte. Es trug noch immer das gleiche „Devil May Cry“-Shirt vom Vortag. Manuels Schwester... Unwillig setzte ich mich in Bewegung und ließ mich schwer auf den harten Holzstuhl fallen, wobei ich Manuels stechenden Blick im Rücken spürte. Das Leben war einfach nicht fair! Herr Friedrichs hatte gerade begonnen, zu wiederholen wie man bei einer Kurvendiskussion Extrempunkte berechnete, als mich das Mädchen neben mir ansprach. „Hi.“ Es hielt mir eine zierliche Hand mit langen, schmalen Fingern entgegen, die ich jedoch nicht ergriff. Stattdessen verschränkte ich die Arme vor der Brust und starrte nach vorne auf die Tafel. Nach einiger Zeit ließ das Mädchen seine Hand sinken, wagte aber einen zweiten Anlauf: „Ich bin übrigens Veronica. Meine Freunde nennen mich Vroni.“ Ich setzte die unfreundlichste Miene auf, die ich zu bieten hatte, und flüsterte zurück: „Ich bin Greg, aber Leute wie du nennen mich Gregor.“ Ich hatte beschlossen, dass es besser für meine Gesundheit war, wenn Veronica mich für einen unhöflichen Idioten hielt, mit dem sie nichts zu tun haben wollte. Zu meiner Überraschung lachte sie jedoch leise in sich hinein und lächelte mich breit an. Hinter ihrer leicht hoch gezogenen Oberlippe kamen gerade, sehr weiße Zähne zum Vorschein. „Du hast einen beißenden Sinn für Humor. Das ist toll.“ Ich warf ihr einen brummigen Seitenblick zu und fragte mich, ob das ein Flirtversuch werden sollte, doch für den Rest der Stunde blieb sie stumm. Anscheinend hatte sie einfach nur freundlich zu mir Neuankömmling sein wollen, um mir den Start zu erleichtern. Ich bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen, dass ich sie so angeblafft hatte. Während ich sorgfältig mitschrieb, betrachtete ich Veronica aus den Augenwinkeln. Sie hatte ein leicht ovales Gesicht mit einer ziemlich langen Nase und sehr vollen, aber blassen Lippen. Ihre langen Wimpern schlugen ihr jedes Mal gegen das Augenlid, wenn sie hoch sah, und sie hatte einen kleinen Leberfleck über dem linken Mundwinkel. Alles in allem wirkte ihr Gesicht besonders wegen der strahlenden Augen offen und fröhlich. Mit einem schnellen Blick musterte ich ihre Kleidung. Ihr T-Shirt war ihr ein wenig zu groß und umspielte locker ihren Körper, konnte aber trotzdem nicht ganz verstecken, dass Veronica offenbar sehr große Brüste hatte. Ihre langen, schlanken Beine steckten in hohen, geschnürten Stiefeln und einer schwarzen Strumpfhose. Ihr schwarzrotkarierter Rock hing tief auf ihren weiblichen, ausladenden Hüften und reichte ihr knapp bis zur Hälfte der Oberschenkel. Jetzt, wo ich mir Veronica etwas genauer angesehen hatte, konnte ich beinah verstehen, warum Manuel vermutete, dass jeder Junge, der seine Schwester anguckte, irgendwelche Hintergedanken hatte. Veronica hatte eine bombastische Figur und ein hübsches Gesicht dazu. Außerdem schien sie nicht eines dieser typischen Mädchen zu sein, die beim Anblick von Make-up vor Freude aufjauchzen und bei einem eingerissenen Fingernagel in Ohnmacht fallen. Sofort bedauerte ich ein wenig, dass ich mich von Manuel und seinen Freunden so hatte einschüchtern lassen. Veronica war sicherlich ein Mädchen, bei dem es sich lohnte, es näher kennen zu lernen. Ich schob den Gedanken schnell beiseite. Ich hatte nicht vor, hier neue Freundschaften zu schließen. Ich hatte nicht einmal meinen Freunden zu Hause gesagt, wo ich jetzt steckte. Die Angst, man könnte mir meinen Fluch bei genauerer Betrachtung doch irgendwie anmerken, war einfach zu groß. Ich hatte mich dafür entschieden, in Zukunft als einsamer Wolf zu leben und dabei sollte es auch bleiben. Ich konnte Menschen, die ihre Entscheidungen immer wieder umwarfen, nicht leiden. Von daher war es vielleicht ganz gut, dass Manuel mit solch Argusaugen über Veronica wachte. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und dachte an meine kleine Schwester. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie ich reagieren würde, brächte Mel einen Jungen mit nach Hause. Sofort durchschwappte mich eine Flutwelle bitterer Eifersucht. Ich fummelte an meinem Kugelschreiber und seufzte leise auf, was Veronica einen irritierten Seitenblick in meine Richtung werfen ließ. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die Trennung von Mel meine Sehnsucht nach meiner Schwester eher noch bestärkte als abschwächte... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)