Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 11: Gregor ------------------ Als ich wieder zu Hause ankam, war es schon recht spät geworden. Feige wie ich war, hatte ich einen extra langen Weg hierher gewählt, der mich viel Zeit gekostet hatte. Immer wieder hatte ich es vor mir selbst damit gerechtfertigt, dass ich noch Zeit brauchte, um mir einen Plan zurechtzulegen, doch in Wirklichkeit hatte ich einfach nur Angst gehabt. Angst davor, dass es nicht klappen würde, dass sie mich durchschauen und angewidert vor mir zurückweichen würden. Egal wie lange und oft ich mir ihre Reaktionen ausmalte, dieses Szenario verlor kein bisschen seines Schreckens. Seufzend blieb ich vor meinem Elternhaus stehen und blinzelte irritiert. Alle Fenster waren dunkel, kein einziges Licht brannte. Wo konnte meine Familie nur sein? Ich warf einen Blick auf die Auffahrt, doch es war kein Auto zu sehen. Entweder war tatsächlich niemand zu Hause oder die Fahrzeuge standen in der Garage. Mit einem nervösen Flattern in der Magengegend schloss ich die Haustür auf und horchte. Das Haus lag still und düster da, kein Laut war zu hören. Langsam schlich ich in den Flur, wobei ich das Gefühl hatte, das Quietschen meiner noch immer nassen Schuhe würde monströs laut durchs ganze Haus schallen. Wo zum Teufel waren sie alle? Am liebsten hätte ich nach meiner Familie gerufen, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Irgendwie lag eine seltsam bedrohliche Atmosphäre auf dem Haus. Vorsichtig schielte ich ins Wohnzimmer, in die Küche und ins Esszimmer, doch nirgends war auch nur eine Menschenseele zu entdecken. Schnell warf ich einen prüfenden Blick auf den Schlüsselhalter neben der Haustür. Paps’ Schlüsselbund fehlte. Anscheinend war meine Familie unterwegs. Sofort machte sich das bohrende Gefühl des Ausgeschlossenseins in mir breit. Aber was hatte ich erwartet? Dass sich die Welt meiner Familie zu drehen aufhörte, nur weil ihr fast erwachsener Sohn rum bockte? Wohl kaum. Eigentlich hätte ich mich nun entspannen können, schließlich war augenscheinlich niemand außer mir zu Hause. Damit war das Gespräch mit meinen Eltern erst mal verschoben und ich lief auch nicht Gefahr, Mel zu begegnen, was wieder dieses brennende Verlangen in mir geweckt hätte. Doch irgendwie konnte ich einen kleinen Rest meiner nervösen Anspannung einfach nicht abschütteln. Langsam stieg ich die gewundene Holztreppe zu den Schlafräumen hinauf. In dem kleinen Flur blieb ich erneut kurz stehen und lauschte. Noch immer war kein Mucks zu hören, doch komischerweise ließ mir genau das einen Schauer über den Rücken laufen. Irgendwie war es zu ruhig... Ich schüttelte innerlich den Kopf über mich. Zu ruhig? Wie konnte es in einem leeren Haus zu ruhig sein? Wie von selbst wandte ich den Kopf nach links und betrachtete im Dunkeln Mels Zimmertür. Warum ich kein Licht angemacht hatte und lieber wie ein Einbrecher durch die Düsternis schlich, wusste ich selbst nicht. Gerne hätte ich die Tür geöffnet und einen Blick in ihr Zimmer geworfen, um ihr auf unschuldige Art ein wenig nah zu sein. Mich so distanziert von ihr zu halten, schmerzte heftiger als ich jemals erwartet hätte. Sie fehlte mir, obwohl ich sie täglich sah. Paradox. Endlich riss ich meinen Blick von der dunklen Maserung der Tür los und wandte mich meinem eigenen Zimmer zu, das genau gegenüber lag. Langsam drückte ich die Klinke herunter und hoffte aus irgendeinem Grund, dass Paps die Scharniere geölt hatte. Warum ich nicht wollte, dass die Tür jetzt knarrte, konnte ich nicht sagen. Mein Zimmer lag in vollkommener, undurchdringlicher Finsternis vor mir wie ein Höllenschlund. Bereit, mich bei der kleinsten Unachtsamkeit zu verschlingen. Verwirrt zog ich die Stirn kraus. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Vorhänge geöffnet gelassen hatte, als ich gegangen war. Eigentlich hätte der fahle Mondschein mein Zimmer in silbriges Licht tauchen müssen. In diesem Moment schaltete jemand meine Schreibtischlampe ein. Erschrocken taumelte ich ein paar Schritte rückwärts und starrte mit schockgeweiteten Augen auf die Person, die mit übereinander geschlagenen Beinen auf meinem alten, dunkelblau bezogenen Schreibtischstuhl saß und mich streng musterte. Mutters rosafarbener Bademantel ergoss sich in einem Wasserfall aus Flanell auf den graublauen Teppichboden. Paps saß auf meinem Bett, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich intensiv an. In seinen Augen lag eine erdrückende Mischung aus Wut, Enttäuschung und Sorge. „Wo kommst du her?“ Mutters Tonfall war schneidend und sofort breitete sich auf meinem ganzen Körper eine Gänsehaut aus. Schon als Kind hatte ich mich vor ihren Zornesausbrüchen gefürchtet und seitdem war es keinen Deut besser geworden. Hilfesuchend warf ich einen Blick auf meinen Vater, doch dieses Mal schien er nicht besänftigend eingreifen zu wollen. Das war seine Art, mir zu zeigen, dass er ebenfalls vor Wut kochte. Ich schluckte hart und atmete tief durch, während ich mir wieder und wieder ins Gedächtnis rief, dass ich nur meinen Eltern gegenüberstand. Meinen Eltern, die mich liebten – auch wenn man das Mutter kaum anmerkte, wenn sie erst einmal richtig in Rage war. Scheu warf ich einen Blick auf meine Mutter, die mich ungnädig ansah. Ich wusste, dass ich irgendetwas sagen musste, um mich zu verteidigen, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Als ich es endlich schaffte, einen Satz hervor zu würgen, kamen jedoch nicht die Worte heraus, die ich mir eigentlich zurecht gelegt hatte: „Wo ist Mel?“ Für einen kurzen Moment blinzelten mich meine Eltern irritiert an, so als könnte ich ihnen erklären, warum ich in dieser Situation nach meiner Schwester fragte. Dabei war ich selbst fast genauso überrascht von dieser Frage wie sie. Innerlich seufzte ich auf. Vermutlich würde eher die Hölle zufrieren, bevor ich aufhörte, mir Gedanken um Mel zu machen, sobald ich nicht wusste, wo sie war. Paps kratzte sich nachdenklich am Kinn, entschied sich dann aber doch dafür, meine Frage zu beantworten: „Mel ist bei Josephine. Wir haben uns gedacht, es wäre vielleicht ganz gut, wenn sie nicht hier ist, während wir mit dir reden.“ Bei dem letzten Satz zuckte ich kaum merklich zusammen und begann leicht zu zittern. Das klang nach einer Kopfwäsche, wie sie im Buche stand. Ich wagte kaum zu atmen, als Mutter mich auch schon wieder ankreischte: „Ich habe dich gefragt, wo du warst!“ „Draußen.“ Ich drückte mich ins Zimmer, damit ich nicht mehr so doof im Flur stand, durchquerte mit wenigen langen Schritten den Raum und lehnte mich gegen meine Fensterbank. Mutter sah mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an, so als hätte sie meine Antwort überrascht, doch dann kehrte der Zorn zurück. „Draußen?“ „Ja.“ „Und was hast du draußen gemacht?“ Ich seufzte unterdrückt. Die Wahrheit würde sie mir nie glauben. „Ich bin nur ein wenig rum gelaufen.“ Mutter machte einen abfälligen Laut, um mir zu zeigen, für wie bescheuert und unglaubwürdig sie meine Antwort hielt. Vermutlich hätte sie mir eher geglaubt, wenn ich behauptet hätte, mit Nutten und Kinderschändern gekokst zu haben. Doch bevor sie etwas dazu sagen konnte, erklang Paps’ normalerweise ruhige, klare Stimme: „Doch nicht etwa in Richtung Industriegebiet, oder?“ Überrascht zog ich die Augenbraunen in die Höhe, wobei ich nicht sagen konnte, ob ich mich mehr darüber wunderte, dass er wusste, wo ich gewesen war, oder darüber wie seine Stimme geklungen hatte. Alarmiert. Gab es irgendetwas zwischen den alten, verlassenen Gebäuden, von dem ich nichts wusste? Ich befeuchtete meine Lippen mit der Zungenspitze, bevor ich ein leises, zögerliches „Doch?“ ausstieß. Es klang mehr wie eine Frage denn wie eine Bestätigung. Paps kniff die Augen zusammen und holte tief Luft, was ihn irgendwie leidend wirken ließ. Schnell warf ich einen Seitenblick auf meine Mutter, doch sie sah genauso verwirrt aus wie ich mich fühlte. Als Paps wieder sprach, klang seine Stimme gepresst, angespannt: „Und diesen Weg bist du gestern auch schon gegangen, nicht wahr?“ Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, worauf mein Vater hinaus wollte. Auch Mutter schüttelte leicht verärgert den Kopf. „Was sollen diese Fragen, Paul? Du glaubst ihm diesen Blödsinn doch nicht etwa?!“ „Ich will es einfach wissen, Margarethe. Okay?!“ Ob der Heftigkeit und der Lautstärke seiner Stimme, zuckte ich unwillkürlich zusammen. So kannte ich Paps gar nicht. Normalerweise blieb er immer ruhig, ganz egal, um was es ging. Selbst als ich im letzten Jahr während meines Schulpraktikums im Krankenhaus mal wichtige Patientenakten verschlampt hatte, war er nicht so laut geworden. Mich beschlich eine leise Ahnung, was meinen Vater so aufwühlen konnte. „Ja, ich bin auch gestern in diese Richtung unterwegs gewesen.“ Meine Stimme war so leise, dass es an ein Wunder grenzte, dass meine Eltern mich verstanden. Tiefer Schmerz und Gram machten sich auf Paps’ Gesicht breit, während Mutters Blick verwirrt zwischen meinem Vater und mir hin und her zuckte. „Oh, Greg...“ Paps’ Stimme war so voller Trauer und Verzweiflung, dass es mir die Kehle zuschnürte. Er ahnte es. Irgendwie ahnte er es... Mutter wurde langsam ungehalten, weil sie nicht verstand, was vor sich ging. „Würde mich bitte jemand aufklären? Paul? Gregor?“ Ich starrte stumm auf meine Schuhspitzen. Ich konnte es ihr einfach nicht sagen. Fasziniert stellte ich fest, dass ich trotz der Situation bemerkte, dass ich dringend neue Schuhe benötigte. Der Linke meiner grauen Chucks würde bald über dem großen Zeh ein prächtiges Loch haben. Nach schier endlosen Minuten fand Paps seine Stimme wieder: „Ich habe heute Dietmar getroffen.“ Er warf mir einen Seitenblick zu, so als müsste ich wissen, wer Dietmar war. „Das ist einer unserer Rettungssanitäter.“ Wieder pausierte er für einen kurzen Moment und es machte endlich Klick bei mir. Der Rettungswagen. Ich spürte wie mir das restliche Blut aus den Wangen entwich und sich meine Haut aschfahl färbte, während ich langsam begriff, dass Paps’ nicht nur eine Ahnung von meinen Suizidgedanken hatte, sondern von meinem halbgaren Versuch wusste. Ich starrte ihn aus großen Augen an und suchte noch nach Worten, um es ihm irgendwie zu erklären, als Mutter auch schon ungeduldig fragte: „Ja, und?“ „Er hat gestern Vormittag einen jungen Mann auf der Autobahnbrücke gesehen, dessen Beschreibung sehr genau auf unseren Gregor passt. Einen Jungen, der springen wollte.“ Paps sah mich aus traurigen Augen an und endlich fand ich meine Stimme wieder. „Das stimmt so gar nicht... Ich wollte eigentlich gar nicht... Ich hatte nicht vor... Ich wollte wirklich nicht...“ Doch bevor ich einen Satz zu Ende stammeln konnte, unterbrach mich Mutters schrille Stimme: „Und das erzählst du mir erst jetzt?!“ Mutter war so weiß wie eine Kalkwand geworden und die feinen Äderchen unter ihrer dünnen Haut schimmerten rot und bläulich im grellen Licht der Schreibtischlampe. Paps schüttelte müde den Kopf. „Ich hatte gehofft, dass er sich geirrt hat. Dass es nicht Greg gewesen ist.“ Schuldgefühle schwappten wie Säure durch meine Adern. Wieso nur hatte ich diese fixe Idee gehabt? Und warum war ich dann auch noch auf die andere Seite vom Geländer geklettert? Paps wandte mir das Gesicht zu. Irgendwie wirkte er plötzlich um viele Jahre gealtert. Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen schossen, doch ich versuchte, sie zurück zu halten. Auch wenn meine Eltern mich nie so erzogen hatten, hatte sich bei mir doch irgendwie das alte Klischee festgesetzt, dass Männer nicht weinen durften. Stattdessen biss ich mir so heftig auf die Unterlippe, dass ich Blut schmeckte, das mir salzig und mit einem leichten Metallgeschmack in den Mund sickerte. „Was hast du dir dabei gedacht, Greg?“ Paps Stimme klang hohl, so als hätte sie jedes Leben verloren. Meine Antwort hingegen fiel ziemlich patzig aus, weil ich noch immer mit den Tränen kämpfte: „Wo ist das Problem? Ich bin doch gar nicht gesprungen. Ich bin hier und an einem Stück. Müsst ihr daraus jetzt so ein Drama machen?“ Paps schnaufte ungläubig und schüttelte den Kopf, während Mutter ruckartig aufstand und auf mich zu kam. Mein Schreibtischstuhl wurde durch den Schwung ein wenig nach hinten geschleudert und rollte leise quietschend durch den Raum, bis er gegen mein Bücherregal stieß, wo ein paar Bände wackelten und mit einem dumpfen Dröhnen auf die Seite fielen. Mutter packte mich grob an den Oberarmen und schüttelte mich so heftig, dass meine Zähne gegeneinander schlugen. „Nicht so ein Drama machen? Nicht so ein Drama machen?!“ Ihre Stimme überschlug sich und schließlich brach Mutter schluchzend zusammen. Sie umklammerte meine Unterschenkel und lehnte sich heftig weinend gegen mich, während ich unfähig war, mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Das war einfach alles zu viel für mich. Paps betrachtete seine Frau mit einem leidenden Blick, blieb aber auf meinem Bett sitzen. Schließlich ließ ich mich doch noch auf den Boden sinken und nahm meine Mutter in den Arm. „Es... es tut mir leid. Hör auf zu weinen, bitte.“ Weinende Frauen machten mich immer verlegen und hilflos. Sie legte ihre tränennasse Wange gegen meine Schulter und atmete mehrfach tief durch, um sich zu beruhigen. Dann begann sie, über mein Haar zu streichen und mein Gesicht mit Küsschen zu übersäen, so als wäre ich immer noch der kleine Junge, dem sie Gute-Nacht-Geschichten vorlesen musste. Normalerweise hätte ich sie weggeschoben, doch dieses Mal traute ich mich nicht, obwohl auch diese Zuneigungsbekundung irgendwie etwas Falsches an sich hatte. Zwischen den Küsschen murmelte sie immer wieder: „Was ist im Moment nur mit dir los? Was hast du nur, dass du solche Sachen tust?“ Jetzt war es wohl an der Zeit, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Auf dem langen Weg nach Hause hatte ich mir etwas einfallen lassen. Eigentlich war ich ein Idiot, dass ich nicht eher auf die Idee gekommen war. Ein Internat war die Lösung für mein Problem. Ich wäre weit weg von zu Hause, hätte Abstand zu Mel und würde mir dennoch nicht meine Zukunft verbauen. Außerdem erschien mir die Idee auch noch ziemlich gefühlsschonend für meine Familie. So würde ich niemanden mehr verletzen. Das hatte ich in den letzten Wochen schon zu genüge getan. Doch bevor ich etwas sagen konnte, sah mich Paps mit strengem Blick an und fragte: „Hast du irgendwelche Probleme, Junge? Nimmst du Drogen?“ Für einen kurzen Moment starrte ich ihn irritiert an, doch dann brach ich in Lachen aus. Diese Vermutung war so weit von der Wirklichkeit entfernt, dass ich es mir nicht verkneifen konnte. Dafür wurde ich dann allerdings auch von zwei Seiten mit vernichtenden Blicken gestraft. Mutter schob mich ein Stück von sich und stand wieder auf. Ich hingegen blieb weiterhin auf dem Boden sitzen, obwohl ich mich ihr so noch unterlegener fühlte als normal. „Könntest du mir bitte erklären, was daran so witzig ist, junger Mann?“ Von der Liebe und Wärme, die sie vorher gezeigt hatte, war nicht einmal mehr ein Hauch geblieben. Stattdessen hatte ihre Stimme den alten, schneidenden Tonfall wiedergefunden. Ich zuckte mit den Schultern. „Abgesehen davon, dass diese Theorie völliger Schwachsinn ist?“ Mutter setzte sich neben Paps und strich ihr in Unordnung gekommenes Haar glatt. So wie die Beiden nun nebeneinander saßen, hatte man das Gefühl, sie würden eine Front gegen mich bilden. Ob das so in irgendwelchen Pädagogikbüchern stand? Wohl eher nicht. Wobei Paps auch regelmäßig Mutters Autorität untergrub. Das stand bestimmt auch nicht in der Top Ten der besten Erziehungskniffe. „Gut, wenn unsere Idee so abwegig ist, warum erzählst du uns dann nicht, was wirklich in deinem Kopf vorgeht?“ Ich holte tief Luft und sammelte all meinen Mut. Jetzt kam es drauf an. Hopp oder Topp. Alles oder nichts. „Ich möchte auf ein Internat.“ Meine Eltern sahen mich aus großen Augen an. Ich hatte sie überrumpelt. Gut. Dies nutzte ich aus, um schnell den Rest meines auswendiggelernten Textes herunter zu rasseln. „Das hat nichts mit euch zu tun, aber mein Abitur steht ja nun relativ bald vor der Tür und gerade in der heutigen Leistungsgesellschaft sind gute Schulnoten das A und O und ich denke, auf einem Internat könnte ich bessere Ergebnisse erzielen als auf einer normalen Schule. Ich hatte nur Angst, es euch zu sagen, weil ich befürchtet hab, dass ihr glauben könntet, dass ich weg von euch will. Deswegen war ich so komisch. Tut mir leid.“ Ich war stolz auf mich. Ich hatte mein Sprüchlein aufgesagt, ohne mich auch nur einmal zu verhaspeln, und hatte nur hier und da kleine Kunstpausen gemacht, um den Eindruck zu erwecken, dass es mir schwer fiel, darüber zu reden. Mutter wiegte den Kopf hin und her und schien zu überlegen. Doch als ich Paps’ Blick traf, sank meine Hoffnung sofort wieder. „Gregor...“ Oh, oh. Mein Vater benutzte im Gegensatz zu meiner Mutter nur äußerst selten meinen vollen Namen und das in der Regel auch nur dann, wenn er meinte, streng sein zu müssen. „Gregor, du weißt, dass du mich nicht anlügen kannst. Aber wenn du’s schon trotzdem versuchst, dann beleidige mich bitte nicht und denk dir etwas besseres aus. Jemand, der einfach nur so auf ein Internat will, spielt nicht mit dem Gedanken, von Autobahnbrücken zu springen. Also: Try again.“ Verzweifelt durchforstete ich mein Hirn nach irgendwelchen Ideen, das Ganze doch noch irgendwie zu retten. Doch nach nur kurzer Zeit gab ich auf. Es hatte einfach keinen Sinn, zu schwindeln. Also würde ich ihnen doch ein Bröckchen Wahrheit hin werfen. „Ich... ich hab mich verliebt.“ Paps’ Mundwinkel zuckten ein winziges bisschen nach oben, so als ob er sich freute, des Rätsels Lösung endlich ein wenig näher gekommen zu sein. Mutter legte den Kopf schief und sah mich neugierig an. „Aber das ist doch schön.“, versuchte sie, mich zum Weiterreden zu animieren. „Nein, das ist es nicht.“ Ich schüttelte zur Untermalung meiner Worte mit dem Kopf, wobei mir einige Strähnen in die Augen fielen. Ich musste dringend mal wieder zum Friseur. „Sie und ich, das wird nie etwas werden.“ Ich sah ihre fragenden Gesichter und konnte schon förmlich Paps’ amüsierte Stimme hören, die mich neckte, warum ich so früh aufgab. Also fuhr ich fort: „Es geht einfach nicht. Es darf einfach nicht sein. Aber ich will auch nicht weiter drüber reden. Ich werde drüber weg kommen mit der Zeit. Ich will nur auf irgendein Internat, damit ich weg von ihr komme.“ Das war jetzt so nah an der Wahrheit wie es nur ging. Ich setzte den flehendsten Blick auf, den ich zu bieten hatte. „Bitte Paps. Bitte... Mama.“ Seit wir uns immer mehr entfremdeten, kam mir dieser Kosename immer schwieriger über die Lippen. Mein Vater machte ein nachdenkliches Gesicht und kratzte sich an der Nase. „Du bist dir sicher, dass du das willst?“ Ich nickte heftig und versuchte, mir meine Anspannung nicht all zu sehr anmerken zu lassen. „Also schön...“ Innerlich jubelte ich auf. Ja! Die Freiheit, da war sie und winkte mir zu. Wenn ich an einen Gott geglaubt hätte, hätte ich ihm in diesem Moment sicherlich überschwänglich gedankt. Jetzt musste ich mir nur noch für die Ferien irgendwelche Ausreden einfallen lassen, warum ich nicht nach Hause kommen konnte, bis ich meine widernatürlichen Gefühle für meine Schwester überwunden hatte. Mutter lächelte mich zum ersten Mal seit Wochen wieder an und dieses Mal wirkte es vollkommen echt. War sie froh, mich los zu werden oder freute sie sich einfach, dass ich kein halbkrimineller Junkie war? Sie rückte ein Stück näher an die Bettkante und sah mich aufgeregt an. Irgendwie wirkte sie plötzlich wie ein pubertäres Mädchen und nicht mehr wie der furchteinflößende Drache, der sie noch vor einer Stunde gewesen war. „Wer ist sie denn?“ Es hätte mich nicht weniger geschockt, von einem Blitz getroffen zu werden, als diese Frage zu hören. Seit wann interessierte sich meine Mutter dafür, für welche Mädchen ich schwärmte und für welche nicht? Gut, ich hatte vorher noch nie überlegt, von einer Brücke zu springen. So gesehen musste ihr klar sein, dass dieses Mal etwas anders war. Mit mürrischem Gesichtsausdruck sammelte ich mir ein paar Fusseln von der inzwischen fast trockenen Jeans. „Spielt das eine Rolle? Ich hab doch gesagt, es hat keine Zukunft.“ „Es interessiert mich einfach.“ In ihren dunkelblauen Augen spiegelte sich Neugierde. Riesige Neugierde. Wenn ich ihr nicht irgendeinen Namen lieferte, würde sie mich damit nie in Ruhe lassen. „Ich... äh...“ Während ich verzweifelt nachdachte, wanderte mein Blick wie von selbst zu dem kleinen, gerahmten Foto in meinem Bücherregal. Die Fotographie war vor einigen Monaten entstanden und zeigte Mel und mich, wie wir Arm in Arm vor einem prasselnden Osterfeuer standen und in die Kamera lachten. Da war meine Welt noch in Ordnung gewesen. Ich glaubte nicht, dass Mutter sich einen Reim darauf machen konnte, dass ich in diesem Moment dieses Bild ansah, doch plötzlich wurde sie kreidebleich und schlug sich die Hand vor den Mund, während sie mich aus kreisrunden Augen anstarrte. Paps sah sie verwirrt mit kraus gezogener Stirn an und legte ihr sacht einen Arm um die Schultern. Panik kroch mir langsam das Rückgrat entlang, stahl sich in meine Brust und presste mir die Luft aus den Lungen. Mutter starrte mich weiterhin unverwandt an, durchbohrte mich mit ihren Blicken, schälte mir Haut und Muskeln von den Knochen, bis sie mein kleines, schmutziges Geheimnis in dem schwarzen Klumpen, der mein Herz war, freigelegt hatte. „Mel...“ Ihre Haut bekam einen leichten Graustich, als sie den Namen ihrer Tochter aussprach, so als ob ihr dadurch erst wirklich bewusst wurde, dass es die Wahrheit war. „Du hast dich in Mel verliebt!“ Jetzt kreischte sie nur noch, aber es war interessant, dass sie es gar nicht in Frage stellte. War es so offensichtlich gewesen? Oder hielt sie mich generell für ein seelenloses Monster, dem alles zuzutrauen war? Paps sah mich aus schockgeweiteten Augen an und schien mich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich zu sehen. Zittern erfasste meinen ganzen Körper, während ich darauf wartete, dass sie mich aus dem Haus warfen. „Mach dich nicht lächerlich, Margarethe.“ Noch wollte mein Vater mich in Schutz nehmen, doch selbst ich hörte die Zweifel in seiner Stimme, obwohl ich von ganzem Herzen daran glauben wollte, dass wenigstens er zu mir halten würde. Mutter schüttelte wie in Trance mit dem Kopf. Ihr Blick klebte noch immer an meinem Gesicht. Suchte sie nach äußeren Anzeichen, die den Fluch erkennen ließen, der auf mir lastete? „Ich mach mich nicht lächerlich. Das passt doch alles zusammen, Paul. Wer war die Erste, von der er sich distanziert hat? Mel. Wer war dabei als er aus der Aula geflohen ist? Mel. Und danach ist er immer vor ihren Berührungen zurückgeschreckt, als hätte sie die Pocken.“ Paps machte ein nachdenkliches Gesicht. Vermutlich dachte er daran, dass sich in seine eigene Schwester zu verlieben durchaus ein nachvollziehbarer Grund war, von einer Brücke zu springen. Etwas kitzelte mich an der Wange. Als ich es weg wischen wollte, stellte ich überrascht fest, dass ich weinte. Ich war so auf die Reaktion meiner Eltern konzentriert gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie sich die ersten dicken Tränen aus meinen Augenwinkeln gestohlen hatten. Mutter sah mich mit einer Mischung aus Sorge und Abscheu an. Sofort fragte ich mich, ob ihre Sorge mir galt oder Mel. „Jetzt sag doch auch mal was dazu!“ Meine Stimme klang durch die unterdrückten Schluchzer noch brüchiger und krächzender als sonst. Ich konnte kaum abwarten, endlich aus dem Stimmenbruch raus zu sein. „Muss ich dazu wirklich noch was sagen? Ja, verdammt, du hast Recht.“ Es zu leugnen, hatte angesichts meiner Tränen eh keinen Sinn. „Aber deswegen will ich doch weg. Ich will diese Gefühle nicht. Und ich will sie schon gar nicht ausleben.“ Ekel überzog Mutters Gesicht, als sie sich offenbar ausmalte, was ich unter „ausleben“ verstand. Ihren Gesichtsausdruck zu sehen, war als ob mir jemand mit Tausend langen, glühendheißen Nadeln in Herz und Magen stach. Am liebsten hätte ich mich an Ort und Stelle übergeben. „Mel wird dich niemals einfach gehen lassen.“ Paps sprach wieder mit seiner ruhigen, geschmeidigen Stimme, die den Eindruck vermittelte, ihn könnte nichts auf der Welt erschüttern. Verwundert wandte ich meinen Blick von Mutter ab und richtete ihn auf meinen Vater. Paps sah mich zwar ein wenig wehmütig an, doch ich erkannte weder Hass, noch Abscheu, noch Ekel in seinen Augen. Nur Sorge und Bedauern. Was zur Hölle war mit ihm los? Er musste mich doch genauso abstoßend finden wie meine Mutter. „Wie meinst du das?“ Ich hatte es endlich geschafft, mein albernes Geheule einzustellen. „Mal angenommen, wir würden dich wirklich auf ein Internat schicken – was ich ehrlich gestanden für eine blöde Idee halte – dann würde sie dich besuchen kommen wollen. Sie würde darauf bestehen, dass du in den Ferien nach Hause kommst.“ Ich brauchte gar nicht nachzufragen, warum er die Idee nicht mochte. In seinen Augen lief ich davon, anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen. Doch leider sah ich keine Möglichkeit, meine Gefühle einfach auszustellen. Und wenn ich hier blieb, würde ich womöglich doch noch irgendwann meine eigene Schwester küssen. Dann wäre das Drama erst wirklich groß. „Dann muss ich sie halt belügen. Ich erzähl ihr einfach, dass Besuch untersagt ist.“ „Und du glaubst, dass du damit im Zeitalter des Internets lange durch kommst? Das hat Mel doch schneller auf der Internatshomepage überprüft als wir dich dahin bringen können.“ Paps schüttelte matt den Kopf. „Und außerdem würde sie dir niemals glauben, dass du in allen Ferien irgendetwas zu tun hast und nicht nach Hause willst. Ohne einen triftigen Grund würde sie das nicht akzeptieren.“ Ich sah mich hilflos im Zimmer um. Ich wusste ja, dass er Recht hatte, aber ich wollte unbedingt auf ein Internat. Irgendeins. Egal wo. Ich wollte einfach nur raus hier, bevor ich doch noch eine Dummheit machte. Für einen Moment blieb mein Blick an meiner Mutter hängen. Sie sah mich noch immer so angewidert und geschockt an, dass mich das Gefühl überkam, dass sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher wünschte als, dass ich nicht ihr Sohn war. Dass sie diese abstoßenden Monstrosität, die ihr gegenübersaß, nicht neun Monate im Bauch getragen und unter Schmerzen geboren hatte. Da kam mir eine Idee. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)