Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 12: Bewerbungsgespräch ------------------------------ Als Victor das nächste Mal wach wurde, war ihm sogar noch heißer als zuvor. Sein Brustkorb fühlte sich wie zugeschnürt an und er bekam nur schlecht Luft. Das Schlimmste aber war diese Hitze. Diese unglaubliche Hitze. Vielleicht sollte ich den Notdienst anrufen?, ging es kurz durch seinen schmerzenden Kopf. Sein Gehirn versuchte gegen den Nebel zu arbeiten, den das Fieber mitbrachte und er brauchte einen Moment, bis er sein Umfeld wahr nahm. „Makkachin! Ich liebe dich wirklich, aber runter von mir! Ich sterbe, mir ist doch schon warm genug!“, jammerte er und versuchte kraftlos, den großen Pudel von sich zu schieben, der mit der ganzen vorderen Hälfte auf seinem Brustkorb lag. Nun wunderte sich auch nicht mehr darüber, dass ihm so heiß war. „Bitte! Makkachin... Mein lieber Junge“, ächzte er, während er ihn von sich schieben wollte. Aber sein Hund war wohl fest davon überzeugt, dass die Wärme seinem erkrankten Herrchen gut tun würde. Gerade als er sich mit dem Gedanken abgefunden hatte, dass er wohl aufstehen musste, hörte er, wie seine Wohnungstür aufging. „Victor?“, leise erklang Katyas Stimme im Wohnzimmer. Begeistert bellend sprang Makkachin auf und nahm die Abkürzung aus dem Zimmer direkt über Victors Bauch. „Uff!“, keuchte er. „Makkachin! Erst möchtest du mich ersticken und nun trampelst du auf mir rum?! Was habe ich dir getan?“, wimmerte Victor theatralisch. Die Form der Nachbarstochter erschien im Türrahmen, doch Victor konnte erkennen, dass die junge Frau vermied, in sein Zimmer zu schauen. „Ich gehe mit Makkachin eine Runde. Nehme es bitte nicht persönlich, Victor, aber du musst hier mal lüften. Es riecht nach Mamas Suppe und abgestandener Luft.“ Ihre Worte ließen Victor blinzeln. Runde mit Makkachin gehen...? „Wie spät ist es?“, fragte Victor müde. „Halb 9“, meinte sie kurz. „Dann musst du nicht gehen. Ich war eben erst“, sagte Victor unwirsch. Hatte er wirklich gerade mal 2 Stunden geschlafen? „Halb 9 morgens, Victor.“ Es war schon Sonntag? Er hatte so lange schlafen? „Oh“, war alles, was Victor dazu einfiel. „Ja. Oh“, imitierte Katya ihn. „Ich bin dann mal weg“, kurz danach hörte Victor, wie die Tür ins Schloss fiel. Seufzend richtete er sich auf und schwang die Füße über die Bettkante, um aufzustehen. Katyas Rat beherzigend, ging er los und kippte alle Fenster in seiner Wohnung. Das waren nicht wenige, aber Victor hatte bei der Wohnungssuche darauf geachtet, dass die Wohnung möglichst hell war. Eine zu dunkle Wohnung würde ihn nur depressiv machen. Er drehte sich in Richtung Küche und sah eine Tüte auf dem Esstisch. Daneben war ein Becher von dem Café, welches in der Nähe war. Er nahm den Becher in die Hand und öffnete den Deckel. Der Geruch war unverkennbar. Karamell Macchiato. Katya war ein Engel. In der Tüte war einer der Brownies mit gesalzenem Karamell, die das Café manchmal neben anderen Backwaren zum Verkauf anbot. Selig lächelnd nahm er die Tüte und stellte den Brownie in den Kühlschrank. Den würde er sich für später aufbewahren. Er nahm sich ein paar Minuten, um den Kaffee zu genießen, bevor er dann ins Bad ging. Eine Dusche würde ihm sicher wieder gut tun. Kurz kam ihm der Gedanke, wie schön es wäre, jemanden in seinem Leben zu haben, der in solchen Situationen für einen sorgte. Direkt danach glitten seine Gedanken zu Yūri. Er hielt kurz inne und schüttelte den Kopf. Er bezahlte den Kerl im Prinzip, um ihm schöne Worte in den Hörer zu stöhnen. Der Gedanke war einfach nur lächerlich. Yūri war noch nie gut in so etwas gewesen. Und an einem Montagmorgen sogar noch weniger. 'Wo liegen ihre Stärken und Schwächen?', 'Wo sehen sie sich in 5 Jahren?' und sein besonderer Favorit: 'Warum sollten wir ausgerechnet sie nehmen?' Was sollte er denn auch sagen? 'Ich habe kein Selbstbewusstsein' war eine genauso schlechte Antwort wie 'Bitte nehmen sie mich, ich habe keinen Bock mehr auf die Telefonsex-Hotline'. Kaum saß Yūri im Auto, lockerte er die Krawatte, die Phichit ihm gegeben hatte. Sein Mitbewohner hatte darauf bestanden, dass er nicht 'das hässliche blaue Ding' trug, sondern eine von seinen nahm. Nur mit Mühe hatte er ihm ausreden können, seine Glückskrawatte zu tragen. Da fragte sich Yūri generell, welcher halbwegs seriöse Arzt mit einer Krawatte rumlief, auf der Cartoon-Hamster abgebildet sind. Aber so war Phichit. Ob er die Stelle nun hatte oder nicht, würde er im Laufe des Abends oder des nächsten Tags erfahren. Er war sich nicht wirklich sicher, wie er abgeschnitten hatte. So unwohl, wie er sich bei dem persönlichen Gespräch gefühlt hatte, genauso war er bei dem praktischen Test in seinem Element. Für ihn war kein Problem, Hardware in einem PC zu tauschen, auch wenn sie sich natürlich ein paar kleine Kniffe hatten einfallen lassen. So hatten sie zum Beispiel den PC auf Standby geschaltet gehabt. Wenn man nervös war, könnte man das vielleicht übersehen, dabei wusste jedes Kind, dass man die Komponenten nur bei ausgeschalteten Geräten tauschte. Doch das war kein Problem für ihn gewesen. Sollte er genommen werden, hatte er sich alles gedanklich schon zurecht gelegt. Er würde versuchen, mit dem Betreiber der Telefonsex-Hotline zu sprechen, damit er am Anfang vielleicht zweigleisig fahren konnte. Dafür musste aber sein fester Dienst wegfallen. Er hatte einfach Sorgen, dass er am Anfang nicht genügend Aufträge bekam. Er musste auf jeden Fall erst einmal das nehmen, was so möglich war. Wenn er dann in einer Firma guten Eindruck hinterlassen hat, konnten diese ihn auch direkt anfordern. Aber die Auftragsannahme übernahmen Mitarbeiter in der Kunden-Hotline. Diese tragen die Aufträge mit Zieltermin und Anforderungen in eine Datenbank und jeder Mitarbeiter konnte sich diese sogenannten Supporttickets zuweisen. Man musste nur erledigen, was man sich nahm. Das barg gleich zwei Gefahren. Wenn man sich zu viele Tickets auf einmal zuwies und es irgendwo länger dauert, konnte er ganz schnell in Schwierigkeiten geraten. Wenn er aber immer nur ein Ticket nahm, konnte es auch sein, dass er kaum Aufträge und somit auch weniger Lohn bekam. Aus diesem Grund machte sich Yūri nichts vor. Der Anfang würde holprig werden. Er hatte zwar wieder einige Rücklagen, aber was würde er tun, wenn irgendetwas passierte? Die Waschmaschine kaputt ging oder so etwas? Und schon wären seine Reserven aufgebraucht. Natürlich wurde Phichit ihn auffangen, aber er wollte auf eigenen Beinen stehen. Er war alt genug, um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Im Prinzip würde er auch lieber in einer eigenen Wohnung leben, aber seine Existenzängste ließen das zurzeit einfach nicht zu. Aktuell fühlte er sich mit dem doppelten Boden, auch als Phichit bekannt, noch wohler. Es war damals schon ein riesiger Schritt für ihn gewesen, das heimische Nest hinter sich zu lassen und Phichit ins Unbekannte, nach Detroit zu folgen. Er seufzte, legte den Gang ein und fädelte sich in den Verkehr ein. Für das Bewerbungsgespräch hatte er heute die Uni sausen gelassen, aber das war auch nicht weiter tragisch, da heute aufgrund Krankheit auch nur 2 Vorlesungen für ihn gewesen wären und das in Fächern, in denen er besonders gut war. Vielleicht würde er noch ein paar Anrufe entgegennehmen und dann dafür sorgen, dass wenn Phichit nach Hause kam, sie direkt essen konnten. Er konnte einfach Nudeln mit Tomatensauce machen, dann brauchte er auch nicht mehr einkaufen. Zufrieden mit seinem Plan machte er sich so auf dem Weg nach Hause. Victor fühlte sich rastlos. Er lag ausgebreitet auf seiner Couch, Makkachin schnarchte leise und zufrieden an seinen Füßen vor sich hin. Er selbst hatte einen kalten Waschlappen auf seiner Stirn, doch das Fieber war fast weg und er fühlte sich zumindest wieder halbwegs wie ein Mensch. Trotzdem war er heute nicht auf die Arbeit gefahren. Das hatte gleich zwei Gründe: So würde sein Onkel auf jeden Fall verstehen, dass er tatsächlich krank war und sich nicht nur gedrückt hatte. Der zweite, noch viel wichtigere Punkt war jedoch, dass er heute definitiv nichts mit seinem Star-Autor zu tun haben wollte. Alan war schon gesund anstrengend genug. Sara war total überrascht gewesen, als er sich krank gemeldet hatte. Er konnte es ihr nicht verübeln, es war das erste Mal, seit er in dem Unternehmen arbeitete. Das lag aber nicht daran, dass Victor immer krank auf die Arbeit gehen würde, sondern einfach und alleine daran, dass er nie ernsthaft krank wurde. Vielleicht mal ein leichter Schnupfen, aber selbst das war innerhalb kürzester Zeit abgehakt. Wenn man Victor fragen würde, wäre das vielleicht eine seiner liebsten Eigenschaften an ihm selbst. Passt ja auch zu jemanden, der sich immer in die Arbeit stürzte und von dem man sagte, dass er kein Privatleben hatte... Er seufzte und griff nach dem Manuskript auf dem Couchtisch. Er wollte wenigstens ein bisschen was machen, so lange er sich danach fühlte. Für heute hatte er sich fest vorgenommen, den neuen, japanischen Imbiss auszuprobieren, den er letztens auf einem Spaziergang mit Makkachin gesehen hatte. Seine Mutter hatte früher immer gesagt, dass das Gesundwerden immer mit einem guten Essen begann und dass man essen sollte, was man wollte und worauf man Lust hatte. Das hatte zwar mehrfach dazu geführt, dass Victor schon einmal Borschtsch und Piroggen erbrochen hatte, aber irgendwie war es das auch auf eine seltsame Weise wert gewesen. Nur Rassolnik, eine salzig-saure Suppe bei der Salzgurkensole als Basis verwendet wurde, hat er nie wieder vorgeschlagen... Victor erschauderte beim bloßen Gedanken daran. Er warf das Manuskript wieder auf den Tisch und legte sich zurück. Mit geschlossenen Augen lauschte er der Musik, die er sich angemacht hatte. Der Soundtrack zu Cloud Atlas. Die Idee hinter diesem Buch und somit auch dem Film fand er sehr faszinierend. Vielleicht auch deswegen, weil es schlichtweg nahezu unmöglich war, alleine die Komplexität der Geschehnisse zu verstehen und miteinander zu verbinden. Chris hatte ihn damals mit auf die Premiere geschleppt. Irgendwie hatte er Karten für die große Premierenaufführung bekommen und sie hatten in Sichtweite der Schauspieler gesessen. Victor hatte vermutet, dass Chris etwas mit einem dieser Schauspieler am Laufen hatte, doch dieser hat nur vehement dementiert. Bis heute war sich Victor nicht sicher, ob Chris so heftig reagiert hatte, weil es nicht stimmte oder weil er es auf keinen Fall sagen wollte. Normalerweise hatte er keine Probleme damit, Chris zu lesen, aber da war es schwierig gewesen. Doch Victor war froh gewesen, dass er vor dem Film noch das Buch gelesen hatte. So empfand er den Film als leichter verständlich. Ob das nur daran gelegen hatte, dass er mit dem Thema vertraut war oder ein anderer Grund da mitspielte, konnte er allerdings nicht sagen. Doch die Idee hinter alledem hat ihn bis heute nicht losgelassen. Es gab immer Personen, die miteinander verknüpft waren und im nächsten Leben in irgendeiner Art und Weise wieder miteinander zu tun hatten. Es war irgendwie ein tröstlicher Gedanke. So würde er wohl in einem neuen Leben seine Eltern wiedersehen. Und sie alle würden eine neue Rolle im Leben einnehmen. Vielleicht würde er in seinem nächsten Leben tatsächlich Eiskunstläufer? Oder Dachdecker! Victor lachte. Natürlich gab es Menschen, die er im nächsten Leben nicht mehr unbedingt brauchte. Seine Tante zum Beispiel. Aber es gab auch Leute, die er niemals missen wollte. Zählte Makkachin dazu? Er hoffte doch. Liebevoll schaute er zu seinem Hund, der immer noch eingerollt zu seinen Füßen lag. Aida und Katya. Yakov. Aber auch einige seiner direkten Kollegen. Sein Cousin und Ziehbruder Yuri. Yūri... Waren ihre Lebensstränge tatsächlich miteinander verwoben? War es ihr Schicksal, sich zu treffen? Oder spielte das Schicksal ihr nur eins seiner grausam-aberwitzigen Spielchen? Victor wusste es nicht und hoffte doch, dass dem nicht so war. Kurz hielt er mit seinen Gedanken inne, als die Musik ausging. Dann richtete er sich auf. Was war er denn für ein Idiot? Warum benahm er sich so? Für Yūri, wenn das überhaupt sein richtiger Name war, war er nur eine Zugabe auf dem Gehaltszettel. Er sollte langsam anfangen, im hier und jetzt zu leben, statt ständig diese Hotline anzurufen. Vielleicht sollte er lieber Makkachin mehr Leckereien kaufen oder Aida und Katya als Dankeschön für die Pflege zum Essen einladen, statt sein Geld damit zu verschwenden. Essen war ein gutes Stichwort. Er stand auf und ging in sein Ankleidezimmer. Er würde ich jetzt erst einmal was Leckeres gönnen, danach das Manuskript fertig lesen und dann ins Bett gehen, immerhin wollte er morgen wieder halbwegs fit auf der Arbeit erscheinen. Als er das Wohnzimmer wieder betrat, streckte sich Makkachin gerade genüsslich, doch als er die Leine nahm, ging der Pudel in helle Aufregung über. Aus diesem Grund entschied sich Victor für eine längere Runde. Er genoss die Wärme der Mittagssonne auf seinem Gesicht, während Makkachin ausgelassen wie ein junger Welpe durch die Gegend sprang und somit mal wieder die Reichweite der Leine auf die Probe stellte. Victor lachte fröhlich. So konnte es immer sein! Als er schlussendlich Makkachin vor dem kleinen Laden anband und noch einmal liebevoll seinen Kopf tätschelte, hatte sich der Himmel ringsherum ein wenig zugezogen. Er hoffte, dass sie beide es noch trocken nach Hause schafften. Er studierte die Tafel, doch ihm wurde schnell bewusst, dass er keine Ahnung hatte, was das alles war. Auch wenn kleine Beschreibungen unter den einzelnen Namen stand, fühlte er sich ein wenig überfordert. Es gab Ramen, das sagte ihm was. Tempura war, so glaubte er, Frittiertes in einer bestimmten Panade. Es überraschte Victor, dass viel Aal auf der Speisekarte stand. Aber irgendwo hatte er einmal gelesen, dass Aal in Japan sehr beliebt war, also machte es wohl Sinn. Interessant fand er die Gerichte mit Buchweizennudeln, hier Soba genannt. Er mochte die Buchweizen-Blinis der russischen Küche. Aber auch Yakitori mit verschiedenem Gemüse hörte sich sehr interessant an. Er legte seinen Finger an den Mundwinkel und überlegte angestrengt. Gerade, als er die Bedienung nach einer Empfehlung fragen wollte, ertönte eine Stimme hinter ihm. „Also ich kann ihnen hier vor allem das Katsudon sehr empfehlen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)