Progressing 4 u von Phantom (Tales of Xillia) ================================================================================ The Proof of Truths which Stand all Trials (Code J, Final Report) ----------------------------------------------------------------- Als Agent des zweithöchsten Ranges, den die Spirius AG ihren fleißigsten Arbeitern in Aussicht stellt, habe ich die Achtlosigkeit, von hinten überrascht zu werden, natürlich lange überwunden. Ich gewahre, wann das Knistern hinter mir der friedlich durch einen Strauch streichende Wind verursacht und wann der unaufmerksame Schritt eines Wilden Keilers, dessen Rippen sich vor ahnungsloser Zuversicht, mir Stück für Stück die Stationen seines Verdauungssystems vorführen zu können, erregt einziehen und senken. Und dennoch zucke ich jedes Mal, wenn die Klinge durch den Widerstand hin auf das Brett schlägt, eklatant auf meinem Stuhl zusammen. Stunden zuvor hatte ich mich dieses simplen Duetts von Stahl und Holz mit einer angenehmen Sehnsucht erinnert. Der sichere, beschwingte Takt spendierte mir das Behagen, meiner grundlegendsten Aufgabe wieder einen Tag mehr zwar nicht erfolgreich, aber zumindest förderlich gedient zu haben. Und das sich charmant in die Nase stehlende Versprechen eines kulinarischen "Willkommen daheim" bedeutet kaum geringer einen Verlust, der die Sorge um den Schmerz in meinem linken Arm theatralisch erscheinen lässt. Ich habe versagt. Erneut ziehen sich meine Eingeweide zusammen, als das Messer neben das Brett fällt, akkompagniert von einem verärgerten Zischen. Jene mangelhafte Koordination ist so untypisch für ihn wie der hilflose Bammel für mich; ich weiß nicht, ob die daraus entwickelte Vermutung, die Katastrophe des Abends werfe nicht nur mich aus der Bahn, mich etwas beruhigen darf oder vielmehr ängstigen. Mir ist klar, dass ich die Verantwortung trage, jetzt aufzustehen, mich umzudrehen und ihn festzuhalten – festzuhalten zu jedwedem Zweck, aus dem man jemanden festhalten möchte… oder muss. Jeder ist für seine eigenen Entscheidungen, Aktionen sowie deren Auswirkungen zur Rechenschaft zu ziehen und kann sie nicht auf irgendjemanden sonst abwälzen, nur weil sie sich nicht so ergeben haben, wie man es sich das vorstellte. Trotz dieses Bewusstseins, trotz der tiefen Enttäuschung über und der enormen Wut auf mich selbst rühre ich mich keinen Zentimeter weiter, als es das Erschrecken für mich tut. Wie ein Schuljunge, der am Mittagstisch eine miserable Note zu enthüllen hat, sitze ich steifgerade an dem mir zugewiesenen Platz und starre auf die Platte, in der sich die Leuchtröhren spiegeln, während er seine Arbeit wieder aufnimmt, ohne zur Packung mit den Pflastern gegriffen zu haben, falls er überhaupt weiß, wo sie sich befindet. Nicht einmal dringen Worte hinter dem Schutz meiner Lippen hervor. "Sei vorsichtig" und "Ich werde dir etwas zu essen machen" lauteten die wenigen, die seit Marksburg zwischen uns gefallen waren, und sie sind alle von ihm gekommen. Dem so von sich selbst überzeugten, seine Überlegenheit ohne Rücksicht zur Schau stellenden Kronenagenten, Weltenzerstörer und erbärmlichen Bruder Julius Kresnik fiel kein Satz ein, diese von ihm selbst herbeigeführte Krisensituation zu entschärfen. Wann ist mir die Übersicht entglitten? Mein sorgfältig organisiertes Testament ist in Flammen aufgegangen, zu einer widerstandslosen Pyramide aus Asche geworden, die verwehen wird, sowie die Panischen an ihr vorüberrennen. Schwere Wolken scharen sich über unseren Städten zu einem düsteren Heer, und über dem Handschlag von Rieze-Maxia und Elympios thront, unmöglich zu meiden, ein violetter Mond wie ein unverrückbarer Diktator. Die Stimmen der Menschen unter seinem zweifelhaften Schirm klingen intuitiv gedämpft, als würden sie befürchten, er könne jedes Wort verurteilen, und die Hoffnung, zuvor gestärkt durch die verheißungsvollen Annäherungen der beiden Nationen, wird hingeworfen wie ein vom Unwetter bedrohtes Fest. Nicht lange, und die schüchternen Souvenirs aus Rieze-Maxia in unseren Balkontöpfen und Simskästen werden eingegangen sein. Dies ist die Welt, die ich zurücklasse. Dies ist die Zukunft, der ich Ludger anvertrauen muss. Mir ist schlecht, und als der gefüllte Teller vor mir platziert wird, muss ich einen Brechreiz hinunterschlucken. Tomatensuppe. Das Blattpaar Basilikum schwimmt inmitten des roten Pfuhls gleich den ausgelieferten Körpern seiner Freunde. Leia Rolando, der kleine Alfie… Selbst König Gaius und der Geist Muzét… Vermutlich wird nicht einmal der Tod mich von diesen Anblicken erlösen. Dr. Mathis und der Herr der Geister hatten ihre Hände ineinander verschränkt… Die junge Elize lag in den tröstlichen Armen Rowen Ilberts, ihre Wangen nass vor zerschmettertem Glauben… Meine Augen fahren die Arme der Gestalt neben mir hinauf bis zu ihrem Gesicht. Die roten Spritzer kleben noch auf seinen Wangen. Hat er sie nicht bemerkt oder ist es ihm egal? Er lächelt. Ich sollte die Zubereitung zu mir nehmen. Aktuell verschafft mir die Konfrontation mit ihr eine ähnliche Nervosität wie eine ohne Frage dumme Mutprobe, aber ich vermag seine Reaktion nicht abzuschätzen, wenn ich es nicht tue. Das ist wohl meine Strafe dafür, bisher derart verrückt nach seiner Tomatensuppe gewesen zu sein. Ich möchte nicht, dass ihm auffällt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, obschon es meine Pflicht darstellt, ihm exakt das klarzumachen. Was scheine ich durch mein Schweigen erreichen zu wünschen? Versuche ich bereits, eine für mich perfekte Splitterdimension um mich her zu errichten? Aus dem verdorbenen Material dieser unterganggeweihten Welt? Nein. Es ist gerade das Bewusstsein über jene Verdammung, die mich lähmt. "Mach dir keine Sorgen." Er hat sich leicht über den Tisch geneigt, um meine Hände zu erreichen. "Selbst wenn sie es herausfinden: Sie können uns nichts mehr anhaben. Ich werde uns beschützen." Bar der Notwendigkeit langer Überlegungen erfasse ich, dass er mit "es" seine entsetzliche Tat meinen muss und mit "sie" sämtliche Exekutive der Gesetze von Elympios und Rieze-Maxia. Leider schwant mir auch, was er mit "beschützen" meint. Und ich glaube ihm. Ich glaube ihm, dass er uns verteidigen kann. Sogar ein Kind könnte das in der diamantharten Rüstung des Chromatus. Ich räuspere mich, ehe ich zu sprechen beginne. Ihm ist der verbale Staffelstab entglitten, den ich brauche, um endlich loszulegen, ohne nicht zu wissen, in welche Richtung. Ich darf diese Chance nicht aus Phlegma passieren lassen. Reiß dich zusammen, Agent. "Und die Folgen seines übermäßigen Gebrauchs? Hast du keine Angst um Elle?" Als er daraufhin stockt, just des zuversichtlichen Lächelns beraubt, atme ich innerlich auf. Ich hatte befürchtet, er habe heute Abend jegliche Raison verloren, sei zu einem seligen Vollidioten geworden, doch dass der Name Elle sofort einen Alarm erwirkt, bezeugt mir das Gegenteil. Seine Züge verdüstert nun entschlossener Ernst – der gleiche, den ich auch oft im Spiegel erblicke. "Es muss noch einen anderen Weg geben, Julius", wiederholt er, weiterhin an meinen Händen festhaltend. "Ich werde ihn finden. Ich gehe nach Canaan und rette Elle. Ich werde Bisley aufhalten! Und dann wird alles wieder wie früher!" Kaum erträglich schweres Mitleid ist alles, was meine Miene ihm darauf erwidern kann. "Glaubst du das wirklich?" Anscheinend fasst er die Frage als ein Stück hoffnungsversprechenden Treibguts im teerigen Meer meines Pessimismus auf – eine Flaschenpost, die das Verlangen nach Rettung enthält. Ich wünschte, ich verfügte noch über den Optimismus, sie auszuschicken. "Ja", versetzt er, unterstrichen von einem Nicken, begleitet von einem Lächeln. "Ich fürchte, du verstehst mich nicht…", muss ich ihn enttäuschen. Doch er lässt es nicht zu: "Falsch. Ich habe dich niemals so gut verstanden wie heute. Was du auf dich genommen hast. Wofür du es getan hast. Ich war so blind. Aber jetzt sehe ich es endlich. Niemals war ich dir so nahe, Julius. Lass uns jetzt unsere Rollen tauschen." "Du willst der flüchtige Dimensionsagent sein?", frage ich müde nach. "Dein großer Bruder." Er lächelt unverändert. "…Iss etwas. Du brauchst Energie. Eine Nacht verbringen wir noch hier, aber morgen müssen wir aufbrechen." Ich bin ehrlich erstaunt. "Wohin?" "Nach Drellin", sagt er und steht auf. "Von dort aus über den Catamar-Gipfel zum Epsilla-See. Das ist eine verlassene Gegend; da wird uns erst mal niemand aufspüren." Dass er so plant, zeigt mir, dass er sich der Intensität seines Verbrechens bewusst sein muss. Mir schaudert ob des Fehlens trotzdem jeglichen Anzeichens von Reue oder Zweifel. Und weil ich nicht mitbekommen habe, seit wann "Ich schneide mir den Weg frei" eine akzeptable Option für ihn darstellt. Gewalt sollte ihm nie näher kommen als im Bildschirm unseres Fernsehers. Und nun muss ich feststellen, dass sie ihm bereits so selbstverständlich zu sein scheint wie Zähneputzen. "Julius, Elle, Rollo und ich…", murmelt er, außerhalb meines Sichtfeldes. "Ludger…" Kein mir bekanntes Wort genügt, um meiner Verzweiflung adäquat Ausdruck zu verleihen. Selbst zum Weinen ist meine Motivation zu geschwächt. Die wiederkehrenden Krämpfe in meinem Arm, meinen Schultern lassen die Suppe kalt werden. Ludger ist sofort zur Stelle. Mit der Geduld eines tadellosen Krankenpflegers hilft er mir bei der Wäsche, beim Umkleiden, obwohl er es eilig hat, zu packen. Er lädt mich auf der Couch ab, schaltet den Fernseher ein und direkt um, als er die Nachrichten laufen erkennt. Was danach geschieht, erlebe ich lediglich in weitestgehend unzusammenhängenden Fragmenten: Es klingelt mehrmals hintereinander; etwas Größeres fällt um. Vier runde Füße treten über meinen ruhenden Körper. Es donnert oder Schüsse aus einer Serie oder einem Film. Werbung und eine streichelnde Hand. Wasser rauscht draußen oder im Nebenraum, wo etwas kontinuierlich gegen die Fliesen schlägt. Ludger, ohne Blutspritzer, sitzt über mir und lächelt mich an. Ludger liegt still über meinem Schoß. Es ist der Moment, in dem ich aufwache aus meinem Schlaf oder meiner Bewusstlosigkeit. Die TV-Anlage läuft weiterhin, allerdings nehme ich die Farbensprünge und das Geräuschpotpourri aus ihr nur wahr wie einen undefinierten Brei. Sie strahlt Ludgers Profil an, dessen Lid geschlossen ist. Meinen Blick hebend, kann ich in den unstetigen Lichtverhältnissen drei Koffer vor der Küchenzeile ausmachen. Gut gedacht, Bruder, aber schlecht umgesetzt: Das sind drei Koffer zu viel für eine Flucht vor der Verantwortung. Ich senke ihn wieder. Lasse meine Hand behutsam über das Hemd, die Hose streichen. Er hat sich umgezogen; eine ungewöhnliche Kombination für ihn. Der Kontrast jener beiden bedeutungsträchtigen Farben ist derart enorm, dass ich mich frage, ob er sich nicht entscheiden kann, für weiß zu schuldig und für rot zu anständig zu sein. Womöglich ist er nur so zu einem Kompromiss gelangt. In einer Tasche werde ich fündig. Ganz sacht ziehe ich an den Ketten, dabei die Aufmerksamkeit unbeirrt auf sein Antlitz gerichtet. Ich fange gar nicht erst an, mir vorzustellen, welche Konsequenzen das haben wird, sowie er aufwacht. Es ist eine Maßnahme, die ergriffen werden muss, und ich darf mich von meinen Gefühlen ihm gegenüber nicht ablenken lassen. Oder verleiten nicht gerade sie mich hierzu? Ich kann nicht behaupten, dass die Welt mich auf eine andere Art interessiere denn als Umgebung Ludgers. Sie sollte das Anwesen, der Spielplatz und die Schule sein, die ich um ihn her forme. Jetzt ist sie das unermessliche Sportfeld für seine Schattenseite. Der Chromatus hat ihm Blut schmackhaft gemacht und ihn die Würze unantastbarer Dominanz kosten lassen. In welchem Bilderbuch habe ich existiert, dass ich mich darauf verlassen konnte, er sei immun wider die Versuchung? Gerade mit Rücksicht auf seine labile Psyche darf man ihm doch nicht vorwerfen, diese raffinierten Zutaten fortan jeder Bestellung ungemütlicher Gäste beizufügen, die unverhoffte Superkraft zu verwerten. Er wollte etwas tun. Er wollte mich stolz machen. Meine Obhut hat ihn zu einem Leben in Sicherheit und Ohnmacht verdammt. Ich war der Überzeugung, ich könnte ihn ebenso zu meiner privaten Unterhaltung heranziehen wie Rollo, aber das Verlangen eines jungen Mannes geht nun einmal über Gummifischlis hinaus, und letztlich erwies sich sogar mein Kater der weiten, wilden Welt gegenüber alles andere als abgeneigt. Unsere Uhren klackern, als ich sie mir um den Hals hänge; ich kann sie um ihre unbekümmerte Nähe zueinander nur beneiden. Indem ich sie ihm wegnehme, liefere ich Ludger dem nächsten Kommando aus, das kommt, um ihn einzusperren oder zu töten. Indem ich sie ihm lasse, gebe ich ihn unserem Fluch an die Hand, der ihn führen wird in eine stetig finsterer werdende Dimension der Leere. Sie ist es, die auf mich wartet, bis ich mich noch einmal verwandle. Egal, wo ich grabe: Kein Rinnsal wird die durstige Blume Hoffnung erreichen, wenn er sich auch den Epsilla-See wieder glitzernd träumt. Vielleicht sollte ich… der Blume ein langsames Hässlichwerden ersparen… seinem Traum verbieten, zu enden. Ich hatte das Folgende schon einmal durchgezogen. Vielleicht wird mein… kaltblütiger Wille dieses Mal seine befriedigende Illusion nicht zertrümmern… sondern sie konservieren können. Ich drücke meinen Daumen auf den fügsamen Hahn. Die Mündung zwischen den silbernen Strähnen zittert kein bisschen. Ich hätte nicht so weit gelangen können, wäre dies anders. Claudia Kresnik wäre mir zuvorgekommen. …Aber wäre das so verkehrt gewesen? Verrate mir, Ludger: Wenn wir dir die Entscheidung anvertraut hätten, wärst du bei ihr geblieben oder mit mir gegangen? Ach… Vergiss die Frage. Natürlich hättest du dich für sie entschieden, schließlich war ich zu diesem Zeitpunkt bloß ein fremder Rüpel, der an deiner Taschenuhr interessiert war. Lass sie mich anders formulieren. Wenn sie gestern zwischen deinen Freunden gestanden hätte… Allein angesichts des Kokons deines Schlafes wage ich es, diese Forderung in meinem Verstand zu konstruieren. Jeder Entschluss öffnet uns Türen und schließt welche, und während wir oft nicht erahnen, was die neuen, noch dunklen Zimmer beinhalten, ist uns meist bewusst, was wir in den vergangenen zurücklassen. Wir handeln mit dem Schicksal, müssen etwas, das wir besitzen, gegen das, was es uns offerieren kann, einlösen. Du kennst das Prinzip von dem sehr trivialen Beispiel, wann immer ich zögerte, ob du mit den Tomaten ein Omelette zubereiten sollst oder ob ich mir lieber die Möglichkeit bewahren möchte, sie zu betrachten und über den Tag verteilt zu essen. Das ist nun einmal so, doch ich will dir dies so selten wie vermeidbar ins Bewusstsein rufen. Sie hat mir demonstriert, wie glücklich du gewesen wärst, diese Welt, in der ich den Speer des Jägers durch deinen kleinen Körper gerammt hatte. Es ist dieses Glück für dich, das ich dem Schicksal abzuringen versuchte, im Austausch gegen nichts, was ich besitze, sondern alles, was ich bin; und hier enden die Verhandlungen, und ich lösche erneut deine Existenz aus. Ich bin einfach kein talentierter Geschäftsmann. Ludger. Schlaf gut. Meine Augen schließen sich, während sich mein Finger um den Abzug windet. Das Letzte, was sie wahrnehmen, ist Rollo, der neben dem Esstisch sitzt, mich konzentriert beäugt und… nichts weiter. Ich öffne sie noch einmal. Rollos Aura ist umfangreicher als sein Leib; ich kann ihn nicht ignorieren, nicht ausblenden, und von abdrücken kann gar nicht erst die Rede sein, solange er dort hockt und mich anstarrt. Wahrscheinlich will er bloß einen Nachschub an Futter oder sorgt sich darum, wer es ihm morgen in den Napf schüttet. Andererseits darf ich ihm ausgerechnet jetzt nicht die Rolle des bewährten Wächters über meine Milde, meine Besonnenheit aberkennen. Stets spürte er sensibler als ich selbst, sowie ich mir zu viel zugemutet hatte. Dann drängte er sich mir auf und forderte schonungslos Streicheleinheiten ein, bis ich wieder ausgeglichen war. In diesem Moment kommt er nicht, als setze er seinem Dienst eine Bedingung voraus, als erwarte er zuvor von mir, einzusehen, dass seine Flauschigkeit nicht über alles hinwegzutrösten vermag. Irgendwo muss Schluss sein, und es handelt sich um jenen schwarzen Raum, den ich betrete, nachdem ich meinen Bruder getötet habe und alle anderen Türen hinter mir zufallen. Dem Labyrinth der Entscheidungen sind unsere Intentionen gleichgültig, und für wie barmherzig ich die meine auch gehalten habe: Nichts berechtigt mich dazu, Ludger ein weiteres Mal die Bestimmung über seine Zukunft zu entreißen. Wenn ich mir meiner Fehler schon bewusst genug bin, um seitenlang über sie zu jammern, sollte ich auf der letzten endlich beginnen, aus ihnen zu lernen. Der Lauf der Spirius-4304 gleitet von seiner Schläfe; ich stecke sie ihm zurück in das Halfter. Keine Sekunde später hopst Rollo zwischen uns und drückt schnurrend sein Köpfchen in meine nun freie Hand. Weshalb, weiß ich nicht – aber ich verspüre Erleichterung. Als Ludger, auf dessen Rücken Rollo turnt, süchtig nach meiner Hinwendung, zu sich kommt, sich vorsichtig erhebt und mich errötend zur Kenntnis nimmt, sieht er mein ehrliches Lächeln. Dann schließe ich ihn in eine Umarmung. "Bleibt bei mir… Bitte bleibt bei mir, bis es vorbei ist. Bitte, Ludger." Er erwidert sie. Und er bleibt. Jede Sekunde. Der Zug Richtung Drellin fährt ohne uns drei. Die Morgen grauen, die Abende dämmern. Tage brechen an, und Nächte spannen sich über uns, aber es beeinflusst unser Handeln nicht im Geringsten. Wir haben keine Fahrkarten mehr, um uns weiter mit der Welt zu drehen. Sie hat uns aus dem Karussell geworfen, und dort bleibe ich zufrieden liegen, wie er nun bei mir. Julius und Ludger Will Kresnik – Ende. Dead, Dead End (大丈夫 - Daijōbu) ------------------------------ Allein lumineszierende Gewächse beleuchteten das Innere der menschenverlassenen Tatalian-Kluft. Ein toller Ort zum Verstecken, fiel Alvin ein, verloren in einem Gang, auf sein Ende zusteuernd. Geschützt durch die Höhen und Tiefen, bevorteilt aufgrund seiner kindlichen Körpergröße, hätte ihn hier niemand und nichts gefunden. Das ist vorbei, dachte er. Nun ist er zu groß, um sich verstecken zu können, dachte er mit abwesendem Blick auf die Sohle weit unter sich. Dort, wo vorhin ein Siegel geglüht hatte, zogen zerbrochene Schienen seine Aufmerksamkeit auf sich, und auf ihnen rastete eine kleine Lore – leer, und ohne Weg weder vorwärts noch zurück. In der folgenden Sekunde fühlte er sich schwer wie die Last, die sie einst getragen hatte, und die kleine Lore wurde auf einmal größer. „Hey.“ Zwei feste Griffe um seinen Arm, seine Flanke entzogen ihn der saugenden Gravität und ließen ihn von der Kante zurückstolpern. Gemeinsam mit Jyde fiel er nach hinten; die flüchtige Pein, die seine Wirbelsäule hinaufjagte: Eine milde Mahnung an die unangenehmen Schmerzen, welche der ewigen Empfindungslosigkeit vorausgehen. „Ich könnte schwören, hier ging es weiter“, gluckste er leidenschaftslos, bevor der Kleinere etwas sagen konnte. Ihm war klar, wie das auf ihn gewirkt haben musste. Presa war einen Abhang hinuntergefallen. Das war tragisch gewesen, aber er hatte nicht vor, ihr auf dieselbe Weise zu folgen. Er hatte nicht vor, ihr oder Mutter oder Gilland auf überhaupt irgendeine Weise zu folgen. „Mir ist bloß schwindelig geworden“, verteidigte er sich und wischte sich Jydes Hand vom Arm. „Vielleicht sollten wir zurück zu den anderen stoßen“, sagte als nächstes Jyde. „Ich denke nicht, dass wir hier noch Schätze finden.“ Er richtete sich auf. Sein Angebot, ihm hochzuhelfen, wurde ausgeschlagen. Trotzdem hielt er ihm seine Hand offen entgegen, selbst als er bereits stand. Alvin starrte sie mit verständnisloser Skepsis an, wie ein Sandwich, das mit der merkwürdigsten Kombination an Zutaten belegt war. „Was soll das?“ „Ein Beweis meiner Bereitschaft sein, dass ich für dich da bin. Eine Bitte, dich mir anzuvertrauen.“ Sekundenlang galt Alvins Augenmerk dem jugendlichen Gesicht, ehe er seinen Kopf abwandte, um sich durch die Haare zu fahren. „Kleiner… Ich bin zu alt, um ein Kind mit meinen Problemen zu belasten.“ Die ebenholzschwarzen Strähnen rutschten über seine Stirn, als Jyde, immer noch entschlossenen Blickes, das Haupt schief legte. „Erwachsene müssen nicht mit allem allein fertigwerden, Alvin, und Kindern können manchmal die unkompliziertesten Ratschläge einfallen. Es ist nicht fair, sie nicht auch an den Sorgen teilhaben zu lassen, ihnen eine heile Welt vorzuspielen. Außerdem lastet sich dieses Kind hier vor dir viel lieber deine Probleme auf als später erneut deren Konsequenzen.“ Alvin setzte ein Lächeln auf. „Welche berücksichtigend du ganz schön nachsichtig mir gegenüber bist.“ „Vielleicht…“ – und an dieser Stelle senkten sich die farbintensiven Iriden über rot werdenden Wangen – „Vielleicht war ja nicht alles an deiner Anwesenheit schlecht.“ Derrick Guita Mathis… Jyde, du hältst an einer Person fest, die genau wie Julio oder Al oder Balan lediglich für die Dauer jenes Aktes lebt, in dem er sie spielt. Ist die Aufführung vorüber, streift der Darsteller sie ab, ohne dass etwas von ihrer ephemeren Existenz bestehen bleibt. Wann wird sich Alvin zu ihren unsichtbaren Skeletten gesellen, wann sich der schwere Vorhang endgültig zuziehen? Wann wird die Lore mit seinen Leichnamen darin ihre Fahrt aufnehmen in die einsame, schwarze Tiefe? „Alvin? Alvin!“ Obschon er um sein Gleichgewicht rang, stürzte Jyde dieses Mal nicht. Mit seinen Fingern um die schmalen Schultern versuchte Alvin, seines wiederherzustellen. „Tut mir Leid. Der Sauerstoff hier drinnen ist so knapp. Zeit für etwas Frischluft, meinst du nicht auch?“ Der Junge nickte hastig. Sobald seine stabilisierenden Hände nicht mehr nötig waren, blieb eine von ihnen abermals ausgestreckt – jedoch mit der Fläche nach oben. „Hoppla – ein Déjà-Vu?“ „Ich halte es für eine gute Idee, dass wir dich aus den Kämpfen lassen, bis wir in Helioborg sind. Bitte gib mir dein Schwert und deine Pistole.“ Jydes Hand und seine Pupillen zitterten. Jyde ist noch klein genug, um sich hier verstecken zu können, dachte Alvin, während er die Knarre aus seinem Mantel zog, aber anscheinend hat er nicht für einen Moment diese Option in Erwägung gezogen. Ganz gleich, wie ratlos, unwissend, naiv er anfangs gewesen war: Weggelaufen war er nie. Das war nichts, wozu ihn Milla Maxwell inspiriert hatte. Das war etwas, worüber er niemals Reue zu empfinden brauchte. Auf was für eine beneidenswerte Jugend dieser Junge seine Zukunft doch bauen dürfte, sann Alvin nach, das Monstrum von Hamil zwischen ihnen haltend, was sein Gegenüber merklich nervös machte. Woraufhin sich der Arm mit der einfordernden Hand daran ostentativ weiter nach vorne streckte. „Die Pistole, Alvin. Bitte.“ Nicht Furcht um die eigene Gesundheit hielt den bernsteinfarbenen Blick an, den seinen an sich zu bannen, wie man in die schwarzen Augen einer vernunftfreien, nur nach ihrem Instinkt agierenden Bestie starrt. So jung ist Jyde, und doch weiß er, dass ein langes Teil im Mund Erlösung bringen kann. Ein Lidschlag, ein "PENG!", und die Welt rollt prompt auf jene andere Hälfte, wo die Sonne nicht auftrifft und alles finster ist. Ja: Das kannst du, du kannst die Welt verändern. Die Schwere der Waffe machte sich seinem Griff bewusst – nicht unberechenbar; er kannte, was in ihr steckte; er hatte sie zusammengebaut – sie war sein Baby. Er hatte ihr einen Namen gegeben; ein Name für niemanden, dessen Tod den Namen mit sich nimmt wie eine Fingerkuppe die Schuppen von den Flügeln einer Motte, ihn unbrauchbar macht – dieser Name bestand; er könnte durch seine Nennung stets ein Ziel adressieren; es war kein jemals in die Leere gerufenes Wort und da ihm das klar wird wurde ihm auch klar NEIN! Er kann Jyde sie nicht überlassen. „Sorry, Kleiner, aber die Lady ist ein paar Klassen zu heiß für dich“, verweigerte er die Hergabe, schob sie stattdessen zurück an ihren Platz, wo er ihr kaltes Gewicht allzeit zu spüren vermochte. „Ich verstehe deine Befürchtung zu schätzen, doch sie ist unbegründet: Ich werde mir nichts tun. Ehrlich nicht.“ Dies durfte er unbelasteten Gewissens versichern, hatte er den Versuch doch bereits hinter sich: Die Dorfgrenze Hamils war vorgesehen gewesen, letzter Anblick seiner wertlosen Existenz auf die Welt darzustellen; in den goldenen Strahlen der versinkenden Sonne hielt er allein die Knarre aus dem Kampf gegen Leia und Jyde sowie den besessenen Gedanken, sein kaputtes, funktionsuntüchtiges Gehirn an die Kisten rechts zu schießen. PENG! Er würde zusammensacken, während der beschissene rote, unnütze, ungewollte Mist gemächlich an dem verarbeiteten Holz hinabsickern würde, und sein Empfinden, sein Denken würden einfach ausgeschaltet werden. Ende. Freiheit. Doch es ist so schwierig, abzudrücken, wenn man selbst es ist, an dessen Schläfe die drohende Mündung positioniert ist. Gilland hat Recht: Er ist ein Feigling, jemand, der jeglichen Schmerz zu meiden sucht, und das ist der Grund, aus dem sein Leben derart sinnlos verlaufen ist, aus dem sich Apathie über seinen Anspruch auf Vaters Erbe ausbreitete, aus dem er wieder mit dieser Gruppe unterwegs ist und sich ihr dennoch nicht öffnet. Er hat Angst vor dem Schmerz, der damit verbunden ist, in Jydes Obhut alle Waffen fallen zu lassen, seine Vergangenheit auszukotzen, um ihnen Entschuldigungen abzunötigen, als sei dies kein selbstisches, manipulatives Strategem. Den Pfad, den man einschlägt, wählt man immer noch persönlich. Bist du stolz, was aus deinem geliebten Sohn geworden ist?, hätte er Mutter gefragt, sobald sie ihn wiedererkannt hätte. Kannst du stolz auf deinen Sohn sein ich habe Leute erschossen, verraten, verkauft, zurückgelassen, belogen, zerstört, habe meinen Sold Huren und Eisverkäufern gegeben, habe mich selbst verraten, verkauft, verloren, belogen, zerstört, aber konnte mich nicht erschießen, und ich darf nicht einmal behaupten, dass ich das alles für dich getan habe, Mutter, denn die Wahrheit ist: Ich habe es getan, um jeglichem Schmerz aus dem Weg zu gehen. Liebst du dein Kind, das sich nicht erinnern kann, dich geliebt zu haben, trotzdem noch? Ach, hätte er bloß das bisschen Mut aufgebracht, den Abzug zu betätigen. So oft, wie sich andere freiwillig in die Umarmung des Todes schließen lassen, schien es so leicht zu sein. Für Alvin Svent, dem die herannahende schwarze Mauer allmählich ihre wahren, unüberwindlichen, unumgänglichen Ausmaße offenbarte, blieb es allerdings ein Privileg der Unmöglichkeit. „Alvin…“ „Ehrlich nicht!“, wiederholte er schwungvoll, ohne sich gewahr zu sein, ob er noch immer auf die Bedenken des Kurzen antwortete. …Dazu bin ich zu feige. „Hm?“, machte Jyde. „Nichts. Schon gut.“ Wie um Schlaf oder eine halluzinogene Müdigkeit aus ihnen zu entfernen, kniff er die Augen zusammen, blinzelte und nahm anschließend einen tiefen Zug des verrufenen Sauerstoffes. „Maaann. Wir sollten singend über die Steppe tanzen, sobald wir endlich aus dieser schmutzigen Grube raus sind.“ Jydes Gesicht hellte auf. „Klingt gut! Dann lass uns am besten direkt losgehen.“ Finger legten sich auf das Muster von Onkels Mantel, hatten sich zwischen ihn sowie die Kante gehoben und drückten ihn sanft von ihr fort. Im ersten Moment spürte Alvin das Empfinden des Vermissens heranspülen, gleich einer Welle, welche ihn mit sich ziehen wollte. Nicht den Abgrund vermisste er, dachte er sich, sondern die Personen, die unter Erde, Stein und Wasser bestattet waren. Die Stimmen von Leia, Teepo und Milla waren von der anderen Strecke zu vernehmen, als sie jene Stelle erreichten, an der die Lore auf der Bahn stand, die nirgendwo hinführte. „Sie scheinen mehr Glück gehabt zu haben als wir“, sah der Musterschüler anhand ihrer Äußerungen ein, mit einem resignativen Schmunzeln, frei von Neid, reich an Gunst. „Hey – Jyde?“ Verwundert schaute der Angesprochene zu ihm auf. „Ja?“ Alvin blieb stehen, ehe die Töne ihrer Schritte zu den anderen getragen wurden, das Hier und Jetzt und So bewahrend. Allein lumineszierende Gewächse beleuchteten das Innere der menschenverlassenen Tatalian-Kluft. Ein toller Ort zum Verstecken. Geschützt durch die Höhen und Tiefen, bevorteilt aufgrund der behutsamen Lautstärke, mit der sie ausgesprochen wurden, würde niemand und nichts sie aufschnappen, außer jener, an den er die Worte adressierte: „Danke. …Für’s Festhalten.“ Der vielversprechende Medizinstudent erwiderte sein zaghaftes Lächeln. Die leuchtenden Augen verrieten ihm, dass dieses nicht erzwungen war. Gewiss war Jyde damit nicht beschwichtigt. Sicherlich hatte er heute die eine oder andere Lüge oder Unwahrheit diagnostiziert. Jedoch bewies er ihm, dass er nichts von ihm erwartete, zu dem er nicht bereit war. Er versicherte ihm, dass Lügen und Unwahrheiten toleriert wurden, solange er sie benötigte, um sich zu schützen. Er zeigte ihm, dass er seinem Schuldbewusstsein vertraute. Jyde sagt wortlos: Es ist in Ordnung, Alfred; und dieser Satz ist es, den Alvin zu hören braucht. Ihn möchte er sammeln, möglichst viele, bis er ihn irgendwann selbst glauben kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)