Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 24: Lass nicht los! --------------------------- Vorbei, das war’s. Ende der Fahnenstange. Wieso auf einmal? Was habe ich verbrochen, dass das passiert? Ich will noch nicht sterben … Meine Hände jagen durch die Luft. Ich greife, wonach auch immer ich zu fassen kriege. Ich erwische ein Stück Mauer, die unter meinen Fingern zerbröselt wie morsches Knäckebrot. Meine Hände rutschen an der feuchten Hauswand entlang, sie ist zu glatt. Mist, ich habe keine Zeit! Ich finde keine Alternative. Mein Körper kippt nach hinten. Ah, so schnell kann es also gehen. Wenn ich mit dem Kopf oder Genick aufschlage, ist es vorbei. Ich könnte auch Glück haben und es erwischt nur ein paar Knochen. Das ist der zweite Stock. Meine Lage und Höhe berücksichtigt, wie hoch sind meine Überlebenschancen? Schwerkraft mal Gewicht … Hätte ich in Physik nur besser aufgepasst. Ich sehe den dunklen Wolkenhimmel über mir. Diese hässlichen, grauen Miesepeterdinger, die diesen Tag verspotten. Selbst durch die fetten Tropfen, die auf meiner Brille verwischen, erkenne ich sie noch. Welch Ironie. »An Tagen, an denen es regnet, passiert immer etwas Schlimmes«, heißt es. Ich erinnere mich genau an Lupins Worte. So toll ich Code:Realize auch fand, dieses Klischee ist doof. Einfallslos. „Du darfst nicht sterben“, hat sie gesagt. Ob Mari wohl wusste, was mir bevorsteht? Ich werde sie nie mehr fragen können. Schlimmer, ich kann ihre Bitte nicht erfüllen. Es tut mir leid. Wessen Schuld ist es? Ach, egal. Ist jetzt eh zu spät, es macht keinen Unterschied. Es ist vorbei. Tränen brennen in meinen Augen. Ich schließe sie in einer stummen Kapitulation. Es gibt so vieles, was ich bereue. Mein Traum, eines Tages als Autor ein Buch rauszubringen, wird sich nie mehr erfüllen. Ich habe zu lange gewartet. Meine Zeit, hier und in meiner eigentlichen Welt, ich habe sie nicht richtig genutzt. Sie war zu kurz, nun ist es vorbei. Gerade als ich das denke und mit allem abschließe, packt etwas nach meinem Bein. Ein heftiger Ruck stoppt meinen Fall. Bevor ich mich versehe, hänge ich kopfüber in der Luft. Es ist, als hätte jemand die Zeit angehalten. Ich kapiere nicht, was los ist. „Hmpf, das war es also? Perfektes Timing.“ „Ukyo!“, schnappe ich laut. Ich kann nicht fassen, dass Rettung eingetroffen ist. In letzter Minute, nein, Sekunde! „Bitte, zieh mich rauf!“ Meine Arme wirbeln herum, auf der Suche nach Halt. Wie auf Knopfdruck sind alle Lebensgeister zu mir zurückgekehrt, und mit ihnen der Zeitverlauf. Ich darf nicht aufgeben, ich werde es nicht! Mir pumpt so heftig das Adrenalin durch die Venen, dass es in meinen Ohren rauscht. „Oh, du verstehst mich falsch“, höre ich Ukyo sagen. Es klingt … belustigt. Wieso lacht er? „Ich meinte kein perfektes Timing für dich, sondern für mich!“ Etwas stimmt nicht, das wird mir schlagartig bewusst. Das Schaudern ergreift meinen Körper schneller, als mein Kopf schalten kann. Ich beuge mich hoch, so gut ich kann. Über dem Rand der Balkonmauer erkenne ich das Gesicht meines Mitbewohners. Es ist feucht von dem klatschenden Regen. Sein langes Haar wirbelt in dem tosenden Wind. Was ich des Weiteren erkenne, behagt mir nicht. Dieses Grinsen, unverhohlen amüsiert … es bereitet mir Grauen. Er lacht, lauter dieses Mal. Ich kann das Beben von seiner Hand aus spüren. Seine Finger verrutschen an meinem Fußgelenk, was mein Herz einen Schlag überspringen lässt. „Welch erfreulicher Anblick! Habe ich es nicht gesagt? Ich habe ihm gesagt, dass es passieren wird. Wenn es auch länger gedauert hat, als ich erwartet habe. … Egal, jetzt hat das Warten ein Ende. Alles wird wieder seine gerechte Ordnung bekommen.“ Wovon redet er da? „Ukyo, bitte“, appelliere ich drängend. „Zieh mich hoch, schnell!“ „Auf keinen Fall“, spricht er gleichgültig. „Das ist die perfekte Gelegenheit. Sobald ich loslasse, erledigt sich alles von selbst. Es ist so einfach, fast bedauerlich.“ Mir gefriert sämtliches Blut. Es besteht kein Zweifel, welcher Ukyo das ist. Trotz dass er mich hält, stehen meine Überlebenschancen nicht besser als zuvor. Das wird mir jäh bewusst, und es schnürt mir die Kehle zu. „Tu’s nicht!“, stoße ich aus. Die Panik hat mich fest im Griff. „Bitte, lass nicht los!“ „Du wirst es kaum merken“, übergeht er mein Flehen und ich höre, dass er grinst. „Sei froh, du kannst dich glücklich schätzen. Ein kurzes Knacken, Ende. Es könnte qualvoller sein.“ „Gott verdammt, zieh mich hoch!“ „Ukyo? Was ist denn … Shizana!“, höre ich eine Jungenstimme von oben. Gott sei Dank! „Orion!“ „Warte, ich helfe –“ „Zurück!“, fährt Ukyo schneidend dazwischen. Darauf poltert es laut, es ruckt und ich stoße einen hohen Schrecklaut aus. „Orion, nehme ich an? Noch eine Dummheit, und ich lasse sie fallen!“ „Nein!“ „Ukyo …?“, schnauft Orion gepresst. Er klingt angeschlagen. „Wieso? Warum tust du das? Willst du sie wirklich verletzen?“ „Falsch. Ich helfe ihr, dass es leichter wird.“ „Leichter? Du willst sie doch retten, oder nicht? Lass mich dir helfen!“ „Wieder falsch.“ Ukyos Pause lässt mich vermuten, dass er den Kopf schüttelt. Sehen tue ich es nicht. „Es ist ihr Schicksal, hier zu sterben. Ich habe das nicht ausgesucht. Doch ich muss zugeben, es könnte mir nicht gelegener kommen.“ „Was sagst du da? Ukyo, soll das ein Scherz sein? Ich dachte, ihr seid Freunde!“ Er lacht, bitter und finster. „Freunde? Unmöglich! Sie ist das Schlimmste, das uns passieren konnte! Sie ist der Grund, dass sich die Dinge wiederholen! Wie kann man so blind sein, so naiv und dumm? … Egal, es wird gleich vorbei sein.“ „Tu’s nicht!“, schreie ich aus. „Gott, lass nicht los! Ich will nicht sterben!“ „Ukyo, bitte!“, appelliert Orion an ihn. „Sei doch vernünftig! Ich weiß nicht, was los ist, aber du bist nicht du selbst. Du würdest Shizana doch nie etwas antun!“ „Hmpf, naives Kind.“ „Niel-sama vertraut darauf!“, fährt Orion fort. „Er glaubt daran, dass sie bei dir in sicheren Händen ist. Deswegen hat er sie dir anvertraut. Und ich weiß, dass er –“ „Still!“ Ein weiterer Ruck geht durch meinen Körper. Ich brülle wie am Spieß, voller Angst, dass er den Halt um meine Fessel verliert. Doch zu meinem Erstaunen ist sein Griff eiserner denn zuvor. Es schmerzt. „Genug mit dem Geplänkel! Es endet hier. In dieser Welt –“ „Ukyo will das nicht!“, rufe ich dazwischen. Trotz des Rauschens in meinen Ohren, dem Pochen in meinen Schläfen und der eisigen Kälte auf meiner Haut ist mir eine Sache nicht entgangen. Die Belastung auf meinen Körper ist enorm, doch jetzt ist nicht die Zeit zum Wegdriften. Ukyo, er ist … „Er hält mich fest, oder nicht? Wenn du mich so sehr töten willst, wieso hänge ich dann hier noch herum? Ich weiß nicht, was ich dir getan habe, aber Ukyo würde niemals –“ „Was weißt du schon?!“, fährt er mich an. Die Klammer um mein Gelenk wird fester. „Was glaubst du über ihn zu wissen? Heuchlerin, du weißt nicht das Geringste!“ „Das ist nicht …“ „Weißt du denn, warum er sich Nacht für Nacht aus dem Haus schleicht? Was er wegen dir durchmacht? Von wegen!“ Seine Worte schneiden tief. Sie schmerzen mehr als alles, was er mir sonst antun könnte. In meinem Hals formt sich ein Kloß. „Ich habe ihn gewarnt, dass es so kommen wird, aber der Idiot wollte nicht hören“, spricht er weiter, begleitet von einem kehligen Knurren. „Wir könnten uns all den Ärger ersparen. Wenn du nicht aufgetaucht wärst! Wenn du nicht wärst …!“ „Ukyo, bitte“, flehe ich mit schwacher Stimme. „Ich weiß, dass du mich hören kannst. Lass das nicht zu! Dann wäre alles umsonst gewesen!“ „Zwecklos.“ „Wir sind Freunde! Du hast mich gerettet!“ „Es ist vorbei.“ Es nützt nichts. Meine Worte dringen nicht zu ihm durch. Nun gut, wenn Worte nicht helfen … Ich spanne mich an. So gut ich kann, strecke ich das Kinn nach vorn und suche nach Ukyos Arm. Konzentration, Anwinkeln, und dann mit aller Kraft …! Der Stoß versetzt meinen Körper ins Pendeln. Mit Schrecken bemerke ich, wie der Halt um meine Fessel rutscht. Im selben Moment bereue ich, was ich soeben getan habe. Jetzt ist mir das Ende gewiss. Doch der erwartete Fall bleibt aus. Ich richte all meine Sinne in Richtung Fußgelenk, taub vom aufgescheuchten Klopfen meines Herzens. Die Hand, die mich hält … sie ist noch da! „Ah, M-Mist. Schwer … Was ist …? Shizana!“ Oh Gott, ich kann’s nicht glauben! Ich lächle beim Klang seiner Stimme. Sie ist von Verwirrung und Aufruhr geprägt, aber sie lässt mich hoffen. – Es ist noch nicht vorbei. „Hat er …? Hör zu, du darfst nicht aufgeben! Ich hole dich rauf, versprochen!“ Ich will etwas sagen, etwas erwidern, doch jedes Wort bleibt mir im Halse stecken. Meine Lippen gehorchen mir nicht, sie beben unkontrolliert. „ Verd…“, presst er hervor. Die Anstrengung ist unüberhörbar. „Tut … mir leid. Das ist ganz allein … meine Schuld. Wenn ich ihn nur nicht … herausgelassen hätte …“ „Ukyo“, unterbreche ich ihn. Meine Kehle schmerzt dabei, meine Stimme ist brüchig. „Schon gut. Zieh … mich einfach hoch!“ „Okay.“ Sein Griff um meinen Knöchel wird fester. Ich spüre, wie seine Finger zittern. Bitte, lass ihn nur nicht weiter abrutschen! „Ich … kann nicht“, keucht er gedrückt. „Es ist … schwer. Ich kann mich … nicht … bewegen.“ Ich bin versucht, mich nach oben zu beugen. Mein Körper fühlt sich an wie Blei. Vielleicht besser so, jede meiner Bewegungen würde es Ukyo nur zusätzlich erschweren. Also halte ich still, bange unruhig und bemerke am Rande, wie einzelne Klümpchen und Bröckchen an mir vorbeirieseln. Ich bete, dass die Mauer Ukyos Gewicht standhalten wird. Wenn nicht, stürzen wir beide in die Tiefe. In dem Moment, als mir das bewusst wird, wünschte ich, er würde loslassen. „Ukyo!“, höre ich Orion rufen. Mein Herz macht einen Hüpfer. Gott, den Jungen hatte ich ganz vergessen. „Lass mich dir helfen! Ich kann … Sag mir, was ich tun soll!“ „Orion? Was machst du …? Egal jetzt. Decken!“ „Was?“ „Hol Decken, schnell!“ „Wo finde ich die?“ „In … meinem Schrank. Hol zwei. Und verknote sie fest!“ „Aber wie …?“ „Beeil dich!“ Es folgt keine Antwort. Ukyos Finger verrutschen ein weiteres Stück. Ich fühle mich hilflos, dass ich nichts tun kann, um ihn zu entlasten. Mir gehen die Ideen und die Kraft aus. Und was Ukyo vorhat, ich weiß es, doch ich habe laute Zweifel, dass es funktionieren wird. „Ukyo … Das klappt nicht.“ „Orion muss sich beeilen“, knirscht er zwischen den Zähnen. Das Zittern seiner Hand wird stärker. „Ich weiß nicht, wie lange …“ „Wir werden beide abstürzen.“ „Das werden wir nicht! Ich werde dich nicht loslassen, auf keinen Fall! Ich verspreche dir, es wird alles wieder gut. Also … gib nicht auf!“ Wie gerne würde ich ihm glauben, doch die Angst ist stärker. Hier geht es nicht mehr nur um mein Leben, sondern auch um seines. Ich will nicht sterben, wirklich nicht. Aber so, wie die Aussichten stehen … „Wir können das schaffen!“, stört Ukyo meine Gedanken, als habe er sie gehört. Sein schweres Schnaufen verrät, wie er um Kräfte ringt. „Ich … ich glaube daran. Ganz fest sogar! Du darfst … nur nicht aufgeben!“ „Ich bin zu schwer“, presse ich hervor. Die Verbitterung treibt neue Tränen in mir hoch. Ich kneife die Augen zusammen. „Du kannst mich kaum halten. Und dann noch der Regen …“ „Glaub daran!“, drängt er. „Wir können … wenn wir alle zusammen …“ „Hey, Sie da!“, ruft eine fremde Männerstimme dazwischen. Ich will aufsehen, kann aber nicht. „Was machen Sie da? Brauchen Sie Hilfe?“ „Ich … kann sie nicht hochziehen.“ „Was, da ist noch jemand? Warten Sie, ich helfe! Gut festhalten!“ Meine Gehirnzellen arbeiten, aber es nützt nichts. Ich kann diese Stimme keiner Person zuordnen. Ein Nachbar vielleicht? Das wäre die einzige Erklärung. Sie kam von oben, glaube ich. Das ist durch den Wind nicht so gut zu bestimmen. „Ukyo, ich habe die Decken!“ „Bring sie her“, fordert Ukyo an. „Hast du sie gut verknotet?“ „Ich habe es so fest gezogen, wie ich konnte. Aber ich weiß nicht, ob das reicht.“ „Das ist zu riskant!“, werfe ich ein. Der Gedanke, dass mein improvisiertes Rettungsseil reißen könnte, bereitet mir Horror. „Lass ihn lieber mit festhalten! Versucht mich zu zweit raufzuziehen!“ „Orion ist nicht stark genug“, widerspricht Ukyo. „Wir können nicht umgreifen. Ich … kann mich nicht genug abstützen, um dich raufzuziehen.“ „Ich könnte dich stützen?“ „Zu gefährlich“, weist Ukyo zurück. „Wir müssen das mit den Decken versuchen. Wir haben … keine andere Wahl.“ „Lasst uns lieber warten. Auf die Hilfe“, sage ich. Das scheint mir das Einzige zu sein, was wir im Moment tun können. Ich hoffe nur, dass Ukyo durchhalten wird. Es fällt mir schwerer, meine Aufmerksamkeit nach oben zu richten. Mein Kopf schmerzt, die Ohren drücken und mir ist kalt, so unsagbar kalt. Es ist kaum zu ertragen. Bitte, lass es bald vorbei sein. Lange stehe ich das nicht mehr durch. „Aufgepasst!“, ertönt die Männerstimme von vorhin. Es erschien mir wie eine Ewigkeit des Harrens, doch jetzt wage ich wieder zu hoffen. „Ich lasse ein Seil runter!“ Die Sekunden ziehen sich wie Gummi, bis ich aus dem Seitenblickwinkel das graue Wunder aus geflochtenem Garn erfasse. Ich warte voller Ungeduld, bis es weit genug zu mir hinunterreicht, rufe ein „Stopp!“ und greife danach. „Gehen Sie mit einem Arm durch die Schlaufe“, wird mir gewiesen, „und fassen Sie dann mit beiden Händen über den Knoten. Sagen Sie, sobald sie einen festen Griff haben, dann ziehe ich Sie rauf!“ Leichter gesagt, als getan. Ich starte einige Manöver, doch mein Körper ist in dieser Position und Verfassung schwer zu koordinieren. Der reißende Wind macht es nicht besser. Es kostet mich alle verbliebene Konzentration, um ruhig und gezielt zu hantieren. Erst beim dritten Versuch klappt es und ich klammere mit allem, was ich an Kräften übrig habe, an dem rau-kratzigen Material. „Gut festhalten!“ Endlich geht es aufwärts und mit dem Straffen des Seils zurrt sich die lockerliegende Schlaufe eng um mein Handgelenk. Ich spüre noch Ukyos Hand an meinem Fuß, der nicht loslässt, bis ich ihm meinen sicheren Halt versichert habe. Danach geht es schnell. Ehe ich mich versehe, greifen zwei starke Arme um meinen Körper und ziehen mich aus der Luft. Nach einer schieren Ewigkeit in Bange und Furcht spüre ich wieder sicheren Boden unter den Füßen. Ich höre Ukyos bebende Stimme, die mich tröstet und mir versichert, dass alles überstanden ist. Seine Kleider sind nass, wie er mich eng an seinen Körper drückt. Meine Glieder zittern, mein Blick verschwimmt. Dann wird alles schwarz. Ich sacke kraftlos in mich zusammen.   Was danach alles passiert ist, habe ich nur am Rande mitbekommen. Kurze Zeit nach meiner Rettung war ein Auflauf an Polizei, Feuerwehr und Rettungsleuten in unserer kleinen Wohnung eingetroffen. Soweit ich es aufgeschnappt habe, hatte einer der Nachbarn den Notruf bedient. Aufmerksam, ohne Frage, und ganz klar die richtige Entscheidung. Leider äußerst unglücklich für mich. Wenn ich eines gern vermieden hätte, dann schon wieder an die Polizei zu geraten. Zum zweiten Mal binnen drei Tage. Kein guter Kurs. Ich wurde zum Vorfall befragt, doch mehr als dass ich einen Anschlag ausschließe, konnte ich nicht beitragen. Zu meiner geringeren Überraschung befand der Rettungshelfer einen Schockzustand an mir, worauf man sich mit allen weiteren Fragen an Ukyo hielt. In all der Zeit war Orion nicht von meiner Seite gewichen. Seine Hand streichelte behutsam über meinen Arm, während wir gemeinsam auf der Couch verblieben. Ich vermag nicht zu sagen, was seine Worte mir geflüstert haben. Sie sind an mir vorbeigegangen, so wie alles andere, was meine Aufmerksamkeit nicht länger bedurfte. Auch jetzt sehe ich zu niemandem auf. Ich nehme nichts um mich herum wahr, blende alles aus. Die vielen Menschen, ihre verschiedenen Stimmen, selbst die wohlige Decke um meine Schultern. Nicht einmal der vertraut duftende Cappuccino in meinen Händen behält mich im Raum.   Auf Orions Anraten nehme ich ein Bad. Als ich aufgewärmt und in trockener Kleidung ins Wohnzimmer zurückkehre, hat sich die Meute verzogen. Ich höre keine Gespräche, sehe nur Orion, der soeben auf mich zukommt. „Ukyo ist bei den Nachbarn“, erklärt er gleich. „Sich für die Hilfe bedanken und für die Sache mit dem Balkon entschuldigen. Er sagt, dass du dir keine Gedanken machen sollst. Er regelt das schon. Magst du etwas trinken?“ „Nein“, sage ich und schüttle den Kopf. „Ich … denke, ich will einen Moment allein sein. Ich gehe in mein Zimmer.“ Orion hält mich nicht ab und ich gehe, ohne ihn eines Blickes gewürdigt zu haben. Jetzt gerade kann ich keinen von ihnen ertragen. In meinem Zimmer lasse ich mich aufs Bett sinken. Ich sitze eine Weile nur da, starre auf den Dielen imitierenden PVC-Boden und denke an nichts. Dann, in einer Art Ausbruch, werfe ich mich bäuchlings auf die Matratze, kralle um das Kissen und vergrabe mein Gesicht tief darin. Ich weine. All das, was ich die letzte Stunde erfolgreich unterdrückt habe, besiegt mich jetzt. Ich werde von meinen Emotionen überrollt: der Angst, der Verzweiflung und der plättenden Erleichterung, dass ich wie durch ein Wunder überlebt habe. Schon wieder. „Ich kann nicht mehr“, wimmere ich laut. Mein Schluchzen wird von dem Stoff erstickt. „Bitte, ich will nicht mehr. Ich will nur noch nach Hause. Ich kann einfach nicht mehr …“ Ich lasse mich gehen, zerfließe in meinem Elend, bis mir die Tränen versiegen. Ich fühle mich längst nicht befriedigt, schon gar nicht getröstet. Frustriert versuche ich, noch etwas aus mir herauszudrücken, doch bis auf mühsame Schluchzer kommt da nichts mehr. ‚Wieso passiert das alles?‘ Diese Frage geht mir nicht aus dem Kopf. Bei aller Fanliebe, die ich stets für Amnesia übrig hatte und mit allen Mitteln verteidigt habe, aber ich hatte nie auf dem Plan, dafür im wörtlichen Sinne mein Leben zu lassen. Wieso wird ein Segen zu so einem Fluch? Was habe ich in meinem vorherigen Leben verbrochen, dass ich dieser Glaubensprüfung unterzogen werde? – Ha, wenn es nur das wäre. Ein wünschenswertes Kinderspiel. „Wieso hast du mich hergeholt?“, frage ich erstickt in den Raum hinein. Es gilt Mari, die mir natürlich nicht antwortet. Das wäre wohl zu einfach. Was gäbe das auch, wenn ich frei nach Laune mit ihr kommunizieren könnte? Dieses System der Geister weiß schon, wie es richtig geht. Bloß nicht zur Stelle sein müssen, wenn es unangenehm wird. Ich fühle mich von allem im Stich gelassen. „Wieso bist du nicht hier?“, gilt mein nächster Vorwurf meinem Vorgänger-Ich. Mari hat angedeutet, dass sie noch da ist. Sie kommuniziert mit mir. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, dass sie es wieder täte. „Wo bist du? Was ist mit dir passiert? Wieso … musste ich für dich einspringen?“ ‚Vielleicht ist ihr etwas Ähnliches passiert‘, geht mir durch den Sinn. In den letzten Tagen sind mir so viele Dinge widerfahren, die mich beinah das Leben gekostet hätten. Da war diese Sache mit dem Auto … Kurz darauf kam die Pfanne und heute wäre ich mal eben in den Tod gestürzt. Das sind zu viele Vorfälle auf so kurze Zeit, um es als Zufall abzutun. Die Welt … hat es auf mich abgesehen. Ja, das ist die einzige Erklärung. Arbeitet Amnesia nicht mit der Theorie, dass Eingriffe in die Weltenordnung von einer höheren Macht verfolgt und schwer bestraft werden? Ukyo hat das erfahren müssen. Er ist unzählige Male gestorben, weil er in fremde Welten eingedrungen ist. Was, wenn mir nun ganz genau dasselbe droht? „Ich kann doch nichts dafür …“ Ich weigere mich, dieses Schicksal anzuerkennen. Ich hatte keinerlei Einwirkung auf das, was hier geschehen ist. Oder was gerade geschieht. Ich bin doch einfach nur hier, mehr nicht. Ich bin nicht mehr als eine Gefangene in dieser Welt … Genieße ich diesen Umstand zu sehr? Ist das der Grund, dass ich so bestraft werde? „Hey, antworte mir“, knirsche ich verzweifelt. Meine Sinne tasten nach einer Gegenwart, die nicht vorhanden ist. „Was ist passiert? Wo bist du? Sag mir, wie ich mich verhalten soll. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Bitte … Ein Zeichen, irgendeins. Egal was.“ Ich lausche in den Raum hinein, vergebens. Eine Antwort bleibt aus. Vielleicht ist es besser so. Eine Stimme aus dem Nichts zu hören, wäre gruselig gewesen und hätte mich wohlmöglich überfordert. Mir ist durchaus bewusst, dass das Wenigste hier mit reiner Logik zu erklären ist. Das bedeutet aber nicht, dass ich jede Abstrusität so einfach hinnehmen kann. Das geht nicht, unmöglich. Ich bin noch eine Weile still, warte auf irgendwas. Schließlich setze ich mich auf, schaue im Zimmer umher, sehe aber nichts Außergewöhnliches. Dieselben Möbel wie immer, schlicht und dem Nutzen genügsam, wie ich sie inzwischen gewöhnt bin. Orions provisorisches Bett vor meinen Füßen. Das Fenster hinter mir geschlossen und reglos. Aus der Wohnung höre ich nichts. Es ist ruhig und einsam. Geistesabwesend greife ich unters Kissen. Ich erfühle das harte Cover und ziehe das kleine Buch hervor, das ich dort versteckt hatte. Ich hebe es auf meinen Schoß und betrachte es teilnahmslos. ‚Vielleicht stecken Antworten darin‘, denke ich bei mir. Wenn sie mir so schon keiner geben will, was hält mich davon ab, sie mir zu holen? Dieser kleine Träger enthält bestimmt etwas, das mir Aufschluss gibt. Und sei es nur, wie das Ganze seinen Anfang nahm. Vielleicht erfahre ich auch, was passiert ist. Was »mir« widerfahren ist. … Ich zweifle für eine Sekunde, ob es gut ist, das zu erfahren. Schließlich ist genau das der Grund, warum sich Orion und Mari so bedeckt halten. ‚Lass gut sein‘, rede ich mir zu und schüttle den Kopf. Entschieden lege ich das Büchlein zurück und streiche das Kissen glatt. Meine Nerven sind zerwühlt genug. Wenn ich ehrlich bin, will ich gar keinen weiteren Input aufnehmen. Es reicht für heute. Mir soll einfach alles egal sein. Ich rolle mich auf den Rücken und mache mich lang. Während ich stumm zu der weißen Decke starre, kommen die Gedanken und Bilder wieder in mir hoch. Endlich sammeln sich neue Tränen und ich bekomme eine zweite Chance, mich von meinen Emotionen überschwemmen zu lassen. Ich drehe mich zur Seite und schlinge die Decke um mich. Die Nase in dem warmen Stoff vergraben, vergesse ich alles um mich herum. Ich wimmere hemmungslos.     Das Zimmer ist lichtdurchflutet, als ich blinzelnd die Augen aufschlage. Wie ich es geschafft habe einzuschlafen, ist mir ein Rätsel. Es war gegen sechs abends gewesen, als ich das letzte Mal auf die Uhr gesehen habe. Jetzt ist es … keinen Schimmer. Brummend mühe ich mich nach oben und halte mir den Schädel, kaum dass ich im Schneidersitz angelangt bin. Die erste Frage, die ich mir an diesem Morgen stelle, lautet, ob wir Kopfschmerztabletten im Haus haben. Müssten wir, im Medizinschränkchen hatte ich welche gesehen, wenn mich nicht alles täuscht. Wie herrlich, wenn man den Tag direkt mit einem Chemiecocktail beginnen darf. Ein erster Blick auf mein Handy zeigt mir, dass es bereits nach zehn ist. Ein zweiter, dass ich eine Nachricht erhalten habe. Ich bin nicht gerade bester Dinge, als ich das Mobiltelefon entsperre und feststellen muss, dass sich mein Stalker erneut gemeldet hat. Die neue Botschaft, schlicht formuliert mit »Bald sehe ich dich wieder. Ich freue mich darauf«, ist so aussagekräftig denn je. Ich will am liebsten mein Handy gegen die nächste Wand pfeffern, oder zumindest meine Nummer abmelden lassen. Bevor ich Ähnliches tun kann, empfängt mich ein Anruf. Ich erschrecke so stark durch die plötzliche Vibration, dass ich das Gerät aus der Hand verliere. Skeptisch prüfe ich die angezeigte Nummer, nur um eilig das Telefon aufzusammeln und überstürzt anzunehmen. „Ja?“ „Guten Morgen“, säuselt dieser wohle Klang von Stimme, worauf ein amüsiertes Kichern folgt. „Oder sollte ich besser sagen: Guten Tag. Ich war nicht sicher, ab wann ein Anruf dich nicht stört, und jetzt ist es später geworden, als ich vorgehabt hatte.“ „Du störst nicht“, bringe ich hervor. Nervös streiche ich durch mein Haar, ordne es, obgleich es albern ist. Er wird den Wulst auf meinem Kopf kaum sehen können. „Ich bin … nur überrascht. Was gibt’s?“ „Habe ich dich geweckt?“ Ich schlucke ertappt. Bevor ich etwas sagen kann, lacht Ikki am anderen Ende der Leitung. „Deine Stimme klingt noch etwas verschlafen. Ich hoffe, du nimmst mir meinen Anruf dennoch nicht übel.“ „Nein.“ Argh, und wieder genügt ein einziger Satz, dass er mich besiegt! Dagegen komme ich nicht an. „Sehr gut. Der Grund für meinen Anruf ist folgender: Im Kino läuft heute ein Film an, der ganz interessant klingt. Und ich dachte mir, da wir beide heute keine Schicht haben, könnten wir zusammen hingehen und ihn uns ansehen. Wie sieht es aus, wärst du frei?“ Ich bringe kein Wort heraus. Irre ich mich, oder ist das eine Einladung? Auf ein Date etwa? Au Backe. „Öhm, ich …“ „Es ist ein Tanzfilm“, beginnt er zu erläutern. „Mit Starbesetzung und verliehenem Musik-Oscar. Du sagtest einmal, dass du dich dafür interessierst. Er soll sehr gut sein. Was sagst du?“ Verdammt. „Es klingt gut, aber … Ist es wirklich okay, wenn wir zusammen gehen?“ „Wieso nicht?“ „Naja, weil eben …“ „Ken muss arbeiten“, argumentiert er. „Und ich bin frei. Kino klingt ganz gut, und mit dir wird der Film gleich umso besser. Oder hast du schon etwas anderes vor?“ „Nein.“ „Dann lade ich dich ein“, spielt er den finalen Zug. Und setzt mich ins Schachmatt. „Ich nehme an, du wünschst noch immer nicht, dass ich dich von zu Hause abhole? In dem Fall schlage ich vor, treffen wir uns direkt vor Ort. Du kennst das Kino?“ „Ich … werde mich hinfinden.“ „Ich kann dir die Adresse geben, falls du sie brauchst. Dann sagen wir 15 Uhr?“ Mein Herz rast. Oh Gott! „Okay, 15 Uhr.“ „Sehr schön. Ich freue mich sehr darauf.“ „Ich mich auch.“ „Dann sehe ich dich später. Nur keine Sorge, ich werde dich finden.“ „Ich verlasse mich darauf. Also, bis später.“ „Bye.“ Damit ist das Telefonat beendet. Ich lasse das Handy sinken. Ungläubig, was da soeben passiert ist. Ich habe einem Treffen mit Ikki zugesagt. Halb so wild, komm wieder runter. Das muss noch lange nichts heißen. Es ist nur Kino, mehr nicht. Aber … ach, verdammt! Ein Treffen mit Ikki! Ein Klopfen an der Tür unterbricht meine wüsten Gedanken. Gerade rechtzeitig, um das Fangirl in mir von einer Privatkopfparty abzuhalten. Ich vernehme Orions fragendes „Darf ich reinkommen?“, bevor er schon den Kopf durch den Rahmen schiebt. „Mit wem hast du gesprochen?“ „Mit Ikki“, sage ich ruhig und lege das Mobiltelefon zur Seite. Gott, sähe es in mir nur auch so beherrscht aus. „Er hat mich angerufen.“ Orion schließt die Tür leise hinter sich und tritt zu mir heran. Das Bett gibt kaum merklich nach, als er sich an meiner Seite niederlässt. „Was wollte er denn? Ging es um die Arbeit?“ „Nein, er hat mich eingeladen. Heute ins Kino.“ „Oh.“ Er wird still darauf, als müsse er nachdenken. „Mit Ikki? Ehrlich? Findest du nicht, dass er ein ziemlicher Womanizer ist?“ „Ja doch, schon“, gebe ich zu. „Aber, wie soll ich sagen? Ich mag ihn halt. Und ich freue mich darauf, um ehrlich zu sein.“ „Dann ist doch gut, denke ich. Du hast dir eine Auszeit verdient. Nach gestern …“ „Ja.“ Ich nicke. Mein Herz fällt von einem Freudentanz in einen schweren Trab. Gestern. Die Erinnerungen kehren zurück und brechen so heftig über mich herein, dass mir übel wird. „Geht es dir gut?“, klingt Orion besorgt. Mein Nicken ist vorsichtig. „Etwas Kopfschmerzen. Ich werde gleich eine Tablette nehmen. Aber sonst geht es mir gut, denke ich.“ „Du musst also nicht ins Krankenhaus?“ „Nein, ich denke nicht. Ich stehe vielleicht noch ein wenig unter Schock … aber mir ist nichts passiert“, versichere ich und schenke dem Jungen ein Lächeln. „Ich werde nur so bald auf keinen Balkon mehr gehen, so viel ist sicher.“ „Mh.“ Orion wendet den Blick von mir ab und sieht betreten auf seine Füße. Gerade als es unbehaglich wird, sagt er: „Tut mir leid, dass ich nichts tun konnte. Ich hätte so gern geholfen, aber ich …“ Ich schlucke unwillkürlich. Die Bilder in meinem Kopf werden immer klarer: die Welt auf Kopf, Bad-Ukyo über mir, die Angst und Kälte überall … Mist, das wird mir noch eine Weile nachhängen. „Ist schon okay, Orion“, spreche ich schwach und sehe ebenfalls weg. „Du hast getan, was du konntest, ebenso wie Ukyo. Es war eben eine sehr unglückliche Situation … Und du hättest nicht sehr viel mehr tun können. Sieh es so, mir ist am Ende nichts passiert und ich lebe noch.“ „Ja, aber was wäre, wenn der Mann nicht –“ „Denken wir nicht daran“, falle ich dazwischen. Tröstend stoße ich meine Schulter sanft gegen seine. „Es ist alles gut ausgegangen. Lass uns nicht mehr darüber reden, okay? Und keine Eventualitäten durchgehen, was hätte passieren können. Das macht’s nicht besser.“ Er nickt, worauf ich mich erhebe. „Ich habe Frühstück gemacht“, meint Orion und tut es mir gleich. „Die Brötchen sind leider nicht mehr warm … Ich wollte dich nicht wecken. Aber wir können zusammen essen. Ukyo ist nicht da.“ Ich zucke bei der Erwähnung von Ukyos Namen unmerklich zusammen. Es sticht kurz in meiner Brust, während sich zeitgleich eine Gänsehaut über meine Arme zieht. „Ich habe keinen Hunger“, sage ich leise und gehe ans Fenster. Nachdem ich es geöffnet habe, wende ich mich Orion zu und lächle bemüht. „Aber ich komme mit raus und leiste dir Gesellschaft. Ein Cappuccino täte mir grad ganz gut.“   Mein Blick huscht verstohlen zu der geschlossenen Balkontür, als wir das Wohnzimmer durchqueren. Mir wird mulmig zumute, als ich daran denke, welch Chaos dahinter liegen muss. Von drinnen ist nicht viel zu erkennen, was vielleicht besser ist. Ich wüsste nicht, ob ich gemütlich mit Orion sitzen könnte, wenn ich die ganze Zeit die Hinterbleibsel einer Horrorszene vor mir hätte. „Ukyo war die ganze Nacht nicht zu Hause“, erzählt mir Orion, als ich samt Tabletten in die Küche zurückkomme. Ich setze uns Wasser auf für warme Getränke und versorge mich nebenbei. „Ich habe ihn nur kurz gesehen, als er vorhin die Brötchen gebracht hat. Ich soll dir ausrichten, dass du dir keine Sorgen machen sollst. Mit den Nachbarn ist alles geklärt und er spricht noch heute mit eurem Vermieter wegen des Schadens.“ Und da ist es wieder, das schlechte Gewissen. Während ich geschlafen habe, hat er sich den ganzen Ärger allein aufgehalst. Darunter viel unangenehmer Kram. Ich empfinde gleichzeitig Respekt, wie schnell er im Klären so vieler Dinge ist. Ich hätte das nicht gekonnt. Doch dass er jetzt nicht da ist … „Hat er etwas gesagt, wann er zurück ist?“ „Nein“, sagt Orion und schüttelt den Kopf. „Wir haben nicht wirklich gesprochen, um ehrlich zu sein. Er hat mir nur die Schlüssel gegeben und gesagt, was ich dir eben gesagt habe. Danach ist er gleich wieder gegangen.“ „Er hat dir seine Schlüssel gegeben?“, frage ich perplex. Orion nickt. „Hm, okay?“ Das ist schon seltsam. Aus welchem Grund sollte Ukyo so etwas tun? Aber gut, vielleicht mache ich mir zu viele Gedanken. Wesentlich beunruhigender ist, was Orion zuvor gesagt hatte. „Woher weißt du, dass er die ganze Nacht weg war? Hast du nicht geschlafen?“ „Naja doch, ein wenig. Ukyo hat gesagt, dass es wichtig ist, dass ich mich ausruhe. Aber ich bin oft wach geworden und bin umhergelaufen. Ich habe ihn kein einziges Mal gesehen, wenn ich wach war. Und seine Schuhe waren auch weg.“ Das klingt ziemlich übel. Armer Ukyo, was mag wohl in ihm vorgehen? Bestimmt macht er sich Vorwürfe, sicher fühlt er sich schrecklich. Ich hoffe nur, dass er unversehrt zurückkommt. Hier ist doch sein Zuhause. „Ich weiß nicht, ob ich mich entschuldigen sollte“, gestehe ich leise. „Wofür denn? Du kannst doch nichts dafür. Du musst dich nicht entschuldigen.“ „Ich weiß, aber ich habe dennoch das Gefühl, dass ich es sollte“, seufze ich. „Ich meine, ihr hattet beide so viel Ärger wegen der Sache. Und ihr habt beide schlecht geschlafen.“ „Die Hauptsache ist, dass keinem etwas passiert ist“, meint Orion und lächelt überzeugt. „Ukyo, du und ich, wir sind alle mit einem Schrecken davongekommen.“ „Einem gewaltigen Schrecken.“ „Ja.“ „Lass uns erst mal frühstücken“, schlage ich vor. „Und lass uns bitte nicht mehr darüber reden. Ich mag vorerst nicht mehr daran denken.“ Wir setzen uns gemeinsam an den Essenstisch, wo Orion seine Brötchen schmiert und ich an meiner Tasse halte. Wir lenken unser Gespräch auf das schöne Wetter und was man in Deutschland an solchen Tagen machen würde. Wir landen beim Sommer, ich erzähle von meinem Zuhause, meinen Katzen und Freunden. Irgendwann kehren wir zum Heute zurück und meiner anstehenden Verabredung mit Ikki. Gerade rechtzeitig, denn das Heimweh schlich sich bereits in die Mitte meines Herzens. Ich kann es nicht vermeiden. Wann immer ich mich unbeobachtet fühle, huscht mein Blick in Richtung Balkontür. In mir braut sich ein Gemisch aus Neugierde und böswollender Abneigung. Auf der einen Seite will ich diesen Balkon so bald nie wieder betreten müssen. Auf der anderen … will ich es sehen. Ich habe das Gefühl, dass ich es muss. Nur so werde ich mit dieser Sache abschließen können. Wirklich wohl ist mir bei diesem Gedanken jedoch nicht.   Nach dem gemeinsamen Abräumen schicke ich Orion ins Badezimmer, um sich die klebrigen Hände zu waschen. Ich warte geduldig, bis er außer Sicht ist, ehe ich mich meinem Vorhaben zuwende. Ich schiebe die Balkontür nur ein Stück weit auf, gerade ausreichend, um im Rahmen zu stehen. Der Schaden am hinteren Eck ist kleiner, als ich erwartet habe. Er wirkt lachhaft unspektakulär, dass wohl niemand erahnen würde, welche Folgen er letzte Nacht nach sich gezogen hat. Es betrifft lediglich das Wandeck, an dem vielleicht ein halber Meter Breite fehlt. Der Schaden geht knapp bis zum Boden, mittig des Lochs ist dieser fransig. Wenige Bröckchen liegen am Rand verteilt, das meiste hat wohl den Weg nach unten gefunden. Mir wird schlecht, als ich den Moment erneut durchlebe, wie jeder Halt in meinem Rücken verlorenging. Einfach so, ohne Vorwarnung. Ich versuche mich zu entsinnen, erinnere mich aber nicht, zuvor einen Mangel an der Wand bemerkt zu haben. Wie konnte ein stabiles Gerüst so einfach wegbrechen? „Shizana?“ „Komme schon“, rufe ich an Orion zurück. „Ich wollte mir nur kurz ein Bild machen. Keine Sorge, alles gut.“ Entschieden schiebe ich die Tür ins Schloss und überlasse diesen Albtraum den Trümmern seiner selbst.   Es ist gerade einmal elf. Ich habe noch locker drei Stunden, bis ich mich fertig machen muss. Was fange ich mit dieser Zeit nur an? Reglos sitze ich auf der Couch, einen zweiten Cappuccino in der Hand und starre Löcher in den Tisch vor mir. Orion liegt neben mir. Zusammengerollt und ruhig atmend kann es nicht mehr lange dauern, bis er eingeschlafen ist. Ich will ihn nicht stören, der Kleine hat sich etwas Ruhe verdient. Ich gehe in meinem Kopf die Möglichkeiten durch. Viel zu putzen gibt es nicht, die Wohnung sammelt überraschend wenig Schmutz. Auffallend, wenn man keine Tiere im Haus hat. Ich bin es gewohnt, sonst regelmäßig mit Feger und Sauger durch die Bude zu gehen. Ganz zu schweigen von den Haaren, die überall sind. Aber hier, nichts von alledem. Fast langweilig. Ich lenke meine Gedanken von zu Hause ab. Es muss doch irgendetwas geben, womit ich mir die Zeit vertreiben kann. Gott, ich weiß sonst nicht wohin mit mir. Duschen muss ich nicht, mich herzurichten macht mich nur nervöser. Gibt es nicht irgendetwas, das ich … Mein Blick fällt auf den Laptop unter der Tischplatte. Ich könnte schreiben, ist die erste Idee. Doch ich bezweifle, dass ich dafür im Moment die Ruhe habe. Und im Internet surfen? Wo soll ich mich groß herumtreiben, wenn es Seiten wie Animexx nicht gibt? Mir will nichts einfallen, das ich recherchieren könnte. Der größte Youtube-Gammler bin ich auch nicht. ‚Kentos E-Mail‘, fällt mir ein. Stimmt, die ist ja noch ausstehend. Bisher habe ich mich erfolgreich vor einer Antwort gedrückt, aber die sollte ich besser aufholen. Er hat sich immerhin Mühe gegeben und Zeit investiert, ich könnte dasselbe für ihn tun. Zumal, eine bessere Ablenkung kommt mir eh nicht in den Sinn. Kurzerhand hole ich den Laptop hervor und stelle ihn auf. Das Öffnen der E-Mail geht schnell, ich habe mich an die Programme gewöhnt. Flüchtig fliege ich über die Zeilen, die locker eine ganze Seite füllen. Ich muss ein Stück scrollen. „Ganz schön viel Text“, staune ich leise und seufze erschöpft. Die Mail beginnt mit Kentos Eindruck, den er von dem gelesenen Text hatte. Er geht fließend über in eine Interpretation, zu der ich »Rain Beat« vorsorglich öffne, um es vergleichen zu können. Es ist deutlich, dass Kento geschrieben hat, wie es ihm durch den Kopf ging. Die vielen Fragen, gefolgt von rhetorischen Antworten, machen das deutlich. Es lässt mich stellenweise schmunzeln. Am Ende folgt eine Auswertung zur Schreibtechnik und ihrer Gegenüberstellung zur Lesewirkung. Er scheint wenig am Können des Schreibers auszusetzen zu haben, gesteht aber, den Sinn und die Bedeutung des Textes nicht ganz verstanden zu haben. Er bittet mich diesbezüglich um Aufklärung. „Puh, gute Frage …“ Das ist eine wahrlich anspruchsvolle Aufgabe. Woher soll ich wissen, was mein Vorgänger-Ich beim Verfassen von »Rain Beat« im Sinn hatte? Das geht nicht wirklich aus dem Text hervor. Ich werde mir wohl etwas aus den Fingern saugen müssen. Ich nehme mir die Zeit, die Geschichte noch einmal in Ruhe zu lesen. Im Anschluss nehme ich mir erneut Kentos Interpretation zur Hand und kurble mein eigenes Köpfchen an. Einige seiner Ansätze machen Sinn, könnten sogar treffend sein. Aber irgendwie … Ich versuche, mich in die Situation meines vorherigen Ichs hineinzuversetzen. Wie mag es ihr ergangen sein? Laut Datum, an dem die Datei erstellt wurde, wie lange war sie da schon in dieser Welt? Was mag ihr zu dieser Zeit durch den Kopf gegangen sein? Ich habe einen Verdacht. Er geht ziemlich einher mit dem, was ich selbst denke und empfinde. Und je länger ich darüber nachdenke … Da bestehen immer weniger Zweifel. Ich atme tief durch, trinke noch einmal genügsam von meinem lauwarmen Cappuccino. Dann beginne ich zu schreiben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)