Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 18: Zweites Date ------------------------ Was gäbe ich jetzt für meinen MP3-Player. Ich sitze in der U-Bahn nach Nikuni und kann nichts anderes tun, als starr aus dem Fenster zu schauen. Zu Hause, in meiner Welt, wäre ich nie ohne meinen MP3-Player losgegangen. Fast nie. Es ist ungewohnt, ohne Musik Zug zu fahren. Selbst auf meinem Smartphone befindet sich keine Musik. Lediglich die beiden Tracks, die ich als Klingeltöne verwende in abgeschnittener Länge. Nicht einmal die kann ich hören, dabei sehnt es mich nach der Vollversion zu Kindan Secret Zone. Ich habe das Lied so gern gehört, deswegen wurde ein Teil des Refrains zu meinem SMS-Ton. Ich ärgere mich über den Verlust. Zu Hause wäre es undenkbar für mich gewesen, nur einen Tag ohne meine Musik auszukommen. Jede Minute, die ich sie nicht hören konnte, war nervig gewesen. Ich habe es aus diesem Grund gehasst, wenn ich zu lange ohne MP3-Player unterwegs war. Oder wenn ich woanders übernachten musste. Schrecklich. Aber seit ich hier bin, habe ich so richtig die Arschkarte gezogen. Eine Woche bin ich jetzt schon auf Entzug. So langsam wird der Verzicht spürbar. Ich hätte es ja verstanden, wenn nur ein Teil meiner Musik weg wäre. Granrodeo zum Beispiel oder die UtaPuri-Tracks. Jener Anteil eben, den diese Welt offenbar nicht duldet. Aber gleich alles? Selbst Gruppen wie Agonoize und Eisenfunk? Sänger wie Adam Lambert und IAMX? Das ist doch zum Heulen. Mir sind nur meine Erinnerungen geblieben. Melodien und Texte, die sich in meinen Kopf eingeprägt haben. Die in meinem Herzen wohnen, wo sie zeitlos und unantastbar sind. Ich versuche mich damit zu trösten, dass ich mich wenigstens derer noch bedienen kann. ‚Please don’t go, I want you to stay. I’m begging you please, please don’t leave here. I don‘t want you to hate for all the hurt that you feel. The world is just illusion, trying to change you.‘ Ich schließe die Augen. In meinem Kopf klingt die sanft-melancholische Melodie des Liedes, das mich schon so oft getröstet hat. Es erfüllt mich mit Emotionen, schwer und bedrückend. Zugleich ist es, als würde mir jemand über den Kopf streicheln und flüstern, dass es okay ist, wenn ich weine. Und ich habe geweint. Oft, sehr oft. Über Jahre hinweg. Danach ging es mir besser, jedes Mal. Die Erinnerung lässt mich seufzen. Illusion ist ein wirklich sehr schönes Lied. VNV Nation sind großartig, mein Ex-Freund hatte recht.   Es ist viel Bewegung am Bahnhof von Nikuni. Auf dem Weg hierher war die U-Bahn voller gewesen als beim letzten Mal. Es blieb kaum ein freier Sitzplatz. Doch hier scheint es besonders schlimm zu sein. Eine Masse an Menschen kommt mir entgegen, als ich die Bahn verlassen will. Von drinnen werde ich mehr hinausgeschoben, als dass ich gehe. Ich bin froh, als ich dem Bahnhof endlich entflohen bin. Unfallfrei. Draußen ist es wesentlich ruhiger, wenn auch hier und da ein Einzelner flitzt, um seine Bahn pünktlich zu kriegen. Ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt bleibe ich stehen und drehe mich um. Seit ich losgegangen bin, habe ich das dubiose Gefühl, dass mir jemand folgt. Doch jedes Mal, wenn ich mich umsehe, ist niemand da. Seltsam. Vermutlich ist es mein Unterbewusstsein, das mir Streiche spielt. Die ganze Zeit schon kreist meine Sorge um Orion. Was, wenn er zurückkommt und vor verschlossener Tür steht? Ich habe ihm zwar angekündigt, den Abend weg zu sein … Hoffentlich kommt er klar. Ich tue es mit einem Schulterzucken ab. Selbst wenn, kann ich es jetzt nicht mehr ändern. Es sind ja nur ein paar Stunden. Orion ist ein pfiffiges Kerlchen und nicht das, wofür man ihn hält. Er wird das schon packen, da bin ich mir sicher. Wie beim letzten Mal steuere ich direkt auf den Brunnen zu und lasse mich dort nieder. Das Wasser rauscht stetig im Hintergrund, um mich herum bewegen sich verschiedene Personengruppen. Ein Blick auf mein Handy bestätigt mir, dass ich schon wieder zu früh bin. Naja, was soll‘s. Fünf Minuten sind nicht lang, die überstehe ich schon irgendwie. Aufmerksam sehe ich mich um. Nicht weit von hier erkenne ich einen Crêpe-Wagen, von wo es verlockend duftet. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Zu Hause gehörte es für mich zum Festprogramm, bei jedem ersten Weihnachtsmarktbesuch eine frische Crêpe zu genießen. Inzwischen wäre diese Zeit. Ich frage mich, ob sie wohl auch Nutella-Crêpes haben. Oder zumindest etwas in der Richtung. Kopfschüttelnd wende ich den Blick ab. Nicht daran denken. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Crêpe. Ich bin hier, um mich mit Luka zu treffen. Mädel, reiß dich zusammen! Ich lasse meinen Blick durch die Umgebung schweifen, und mit ihm meine Gedanken. Unweit vom Crêpe-Wagen sitzt ein altes Ehepaar auf einer Bank. Dicht beieinander und Händchen haltend, wie es scheint. Süß. Vor ihnen watscheln einige Tauben, die eifrig am Boden picken. Tröstend, dass es diese Ratten der Lüfte auch hier gibt. Irgendwie … löst dieses Bild etwas in mir aus. Ich habe das Gefühl, exakt diese Szene schon einmal gesehen zu haben. Das alles schon einmal erlebt zu haben. Aber wann? Und wo? Ich saß hier, exakt an dieser Stelle. Das Wasser rauschte in meinem Rücken. Crêpe wurden an Passanten verkauft und ich war bemüht, der Versuchung nicht nachzugeben. Ich war verabredet, aber derjenige ließ mich warten. Ich hatte einen Block auf meinem Schoß aufgeschlagen und schrieb darin, um die Zeit sinnvoll zu nutzen. Mein Blick ging immer wieder zur Uhr. Wo blieb er nur? Plötzlich hörte ich es rascheln. Ich hob den Kopf und sah auf einen breiten Blumenstrauß, der mir mit seiner vielfältigen Schönheit kurz den Atem raubte. Dahinter stand Luka, der mir ein versöhnliches Lächeln schenkte. „Bist du mir noch böse?“ „Da bist du ja!“ Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Was war das gerade? Ein Déjà-vu? Es hat sich nicht wie ein Tagtraum angefühlt. Indem ich den Kopf hebe, erkenne ich Luka, wie er in meine Richtung eilt. Mir bleibt keine Zeit für weiteres Grübeln. Ich schiebe alle Gedanken beiseite und erhebe mich. Um eine logische Analyse kann ich mich später immer noch kümmern. „Bitte entschuldige, der Verkehr war eine Zumutung. Musstest du lange warten?“ „Es ging.“ „Ein Glück.“ Vor mir bleibt er stehen. Kurz betrachtet er mich von oben bis unten, bis er mich mit einem Lächeln besieht. „Ich freue mich so, dich zu sehen. Du siehst einfach umwerfend aus heute.“ „Danke“, nuschle ich. Er übertreibt, da bin ich mir sicher. Dennoch, ich kann nicht leugnen, dass mich das Kompliment freut. „Du siehst auch sehr gut aus.“ Das hingegen erscheint mir untertrieben. Luka ist eine natürliche Schönheit, genau wie seine Schwester. Da ist »gut aussehen« gar keine Bezeichnung. Er sieht vermutlich immer gut aus. Ob er je das Problem hat, sich erst stundenlang vor dem Spiegel herrichten zu müssen? Eigentlich müsste ich stolz sein. Luka ist charmant, attraktiv und sicher kein Geringverdiener. Viele Frauen würden sich nach einem Date mit ihm die Finger lecken. Nun ja, was soll ich sagen? Wenn ich einmal von meinen Zweifeln hinsichtlich unserer Beziehung absehe … Vielleicht wäre es ein Anfang, wenn er an seinem Modegeschmack feilen würde. Mit weniger auffälligen Prollmänteln wäre es wesentlich unbefangener, neben ihm zu stehen. „Danke. Du trägst den neuen Mantel, den wir gekauft haben? Das freut mich.“ Seine Worte veranlassen mich dazu, mich einmal nach links und nach rechts zu drehen. Über die Schultern versuche ich, mir selbst ein Bild zu meiner Darstellung zu machen. Abschließend drehe ich mich, mehr zum Spaß, um Luka das gute Stück von allen Seiten zu präsentieren. „Es wäre ja auch eine Verschwendung, wenn er nur zu Hause rumhängen würde“, sage ich, was wie eine Rechtfertigung klingt. „Das ist wahr. Dafür ist er viel zu schön. Und er steht dir wirklich ausgezeichnet. Ganz wie ich es mir vorgestellt hatte.“ „Ja, ja, ich weiß. Du bist eben ein Künstler.“ Er lacht auf hin meiner gescherzten Aussage. Zum Glück. Kurz hatte ich Zweifel, ob es beleidigend geklungen haben könnte. Scheint nicht so zu sein. „Ich freue mich, wirklich. Ich hatte Bedenken, dass ich ihn kein zweites Mal an dir zu Gesicht bekommen würde. Du machst mir damit eine große Freude.“ Ich muss meinen Blick abwenden. In meinen Wangen kribbelt es verräterisch. Weiß der Geier, warum ich jetzt verlegen werde. Oder nein, eigentlich weiß ich es. Aber ich weigere mich, es mir einzugestehen. Zugegeben, ich hatte gehofft, dass sich Luka über meine Kleiderwahl freuen würde. Aber dass es einen solchen Effekt haben würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Er freut sich wirklich aufrichtig, das kann ich seinem Gesicht ablesen. Dabei ist es gar keine so große Sache. „Und du hast dich hübsch gemacht. Für mich?“ „Nein, für den Weihnachtsmann“, gebe ich brummend zurück. Vorwurfsvoll sehe ich ihn an. „Natürlich für dich, was denkst du denn? Ich will nicht, dass du mir wieder Vorwürfe machen kannst. Das ist alles.“ „Ah, so ist das“, lächelt er amüsiert zurück. Argh, ich hasse es. Verflucht seist du, Luka! Mögest du dafür ewig in der Hölle schmoren! Natürlich freue ich mich, dass er es bemerkt hat. Das zeigt, dass meine Bemühungen nicht umsonst waren. Zugleich hasse ich es, einfach weil es mich verlegen stimmt. „Aber küssen werde ich dich heute nicht“, stelle ich klar. Abwehrend verschränke ich die Arme vor der Brust. „Nicht?“ Seine Augen nehmen einen überraschten Ausdruck an. Nur kurz, bevor es einem verschmitzten Grinsen weicht. „Hm, kein Problem. Dann …“ Er macht einen Schritt auf mich zu. Im nächsten Wimpernschlag spüre ich seine Hände an meinen Schultern. Mir wird bewusst, was hier passiert. – Zu spät. Bevor ich darauf reagieren kann, trifft mich ein warmes Gefühl auf die Wange. Es ist ein einziger, kurzer Moment. Schon ist es vorbei und ich sehe Lukas Gesicht von meinem zurückweichen. Mir schleicht ein Duft in die Nase, eindeutig ein Herrenparfum. Die Note ist frisch und dezent. Es riecht verdammt angenehm. Unwillkürlich hebe ich mir die Hand an die Stelle, auf die er mich geküsst hat. Meine Wange fühlt sich heiß unter meinen Fingern an. Zudem bemerke ich, wie es in meiner Brust poltert. Aber warum? Da ist doch nichts dabei. Ich bin solche Küsschen von Freunden und Kollegen gewohnt. Wieso drehe ich dennoch so auf? Ich sehe, wie Luka lächelt. In seinen grünen Augen liegt etwas, das ich als Genugtuung deute. Scheint, als sei er außerordentlich zufrieden mit dem, was er hier verzapft hat. Idiot. „Wir sind quitt.“ „Ja, schätze schon.“ „Also, hast du Hunger?“, fragt er unschuldig. „In der Gegend hat ein neues Restaurant geöffnet. Die Kritiken sind gut. Ich denke, es dürfte dir zusagen.“ „Hm, es geht.“ Ich horche in mich hinein. Wirklich hungrig bin ich nicht, aber was Gescheites gegessen habe ich auch nicht. Die Brote mit Orion liegen schon etwas zurück. Vielleicht kommt der Appetit, wenn wir erst einmal im Restaurant sind. „Ich lade dich ein“, erklärt er und hält mir den Arm hin. Kurz prüfe ich ihn, ehe ich mich unter ihm einhake. Etwas seltsam ist es. Luka scheint seine Rolle wirklich ernst zu nehmen. Und ich hingegen … Ich protestiere nicht. Luka fragt mich nach meinem Tag, worauf ich mit Nebensächlichkeiten antworte. Ich will ihm nichts von dem Unfall erzählen. Diesen Part würde ich noch hinbekommen, aber was ist mit Orion und Niel? Ein Fremder hat mich gerettet, soll ich ihm das sagen? Nein, eigentlich will ich gar nicht mehr daran denken, weswegen ich schweige. Dank meiner Zurückhaltung ist es an Luka, mir von seinem Tag zu berichten. Er erzählt, dass er seit der Früh unterwegs war für irgendeine Ausstellung, zu der er geladen war. Schnöselige Wichtigtuer hätten versucht, ihn zu beauftragen. Ich staune, als er sagt, dass er sie zurückgewiesen hat. Die Kunst, welche sie rühmten, würde nicht seinem Ideal entsprechen. Ich halte seine Einstellung für mutig. Wenn es auch dezent arrogant wirkt, wie Luka sich über die Herrschaften rümpft. Wir gehen durch die Einkaufsstraßen, welche mir vom letzten Mal noch einigermaßen in Erinnerung geblieben sind. Die »Sondermeile«, wie ich die Ladenstraße mit dem »Chic Beau« für mich selbst benannt habe, besuchen wir nicht. Im Zentrum ist es sehr belebt. Fast habe ich das Gefühl, es sei kurz vor Weihnachten, so wie die Leute in den geschmückten Geschäften ein- und ausgehen. Mich beschleicht der Gedanke, was wohl in drei Wochen sein wird. Werde ich Weihnachten hier feiern? Werde ich bis dahin wieder zu Hause sein? Was davon wäre mir lieber? „Da wären wir.“ Wir stoppen vor einem Lokal, das auf einer gegenüberliegenden Straße des bunten Treibens liegt. Neben Luka bleibe ich stehen und schaue auf. »Blue Diner« lese ich über der Tür. Ein ungewöhnlicher Name für ein japanisches Restaurant. Andererseits stimmt das nicht. Japaner schmeißen gern mal mit englischen Begriffen um sich, erinnere ich mich. „Vielleicht möchtest du zuvor einen Blick auf das Speisenangebot werfen?“, hält er mich an. In einer einladenden Geste weist er auf den bläulich beleuchteten Glaskasten, der neben der Tür befestigt ist. „Ich hoffe, dass etwas darunter ist, das dir zusagt. Laut Artikel vereint die Karte die traditionelle mit der europäischen Küche. Und sofern man den Kritiken Glauben schenken darf, soll die Umsetzung ganz passabel sein.“ „Wirklich?“, gebe ich erstaunt zurück. Ich bin wirklich überrascht, dass es so ein Restaurant gibt. Sicher hätte ich es in einer Stadt wie Tokyo erwartet, aber ich hätte mich wohl nie auf die Suche danach gemacht. Dass Luka es ist, der dies übernommen hat, rührt mich ein wenig. „Ich bedauere, dass ich die Empfehlung nicht aus erster Hand geben kann“, spricht er weiter, wobei er an meine Seite tritt. Ich bin derweil dabei, die ausgehangene Menükarte zu überfliegen. „Ich hatte im Sinn, mich zuvor selbst zu überzeugen. Bedauerlicherweise fehlte mir die Zeit. Doch dann dachte ich, dass es geeigneter wäre, gemeinsam die Qualitäten des Hauses zu testen. Wer könnte eine bessere Beurteilung abliefern als zwei Eingeweihte verschiedener Nationen?“ Ich wende mich zu Luka um. Seinen Worten war nicht ganz zu entnehmen gewesen, wie er den letzten Part gemeint hat. Erst sein Lächeln versichert mir, dass er auf keine versteckten Botschaften aus ist. Er meint es wohl gut, ohne mich in meiner ausländischen Herkunft zu schneiden. „Du übertreibst“, sage ich und wende mich erneut der Karte zu. Ich kann nicht vermeiden, dass ich verschmitzt grinse. Irgendwie ist die Vorstellung schon amüsant. Und irgendwo, so ganz tief verborgen, ist es auch süß. Ein ganz klein wenig. Ich gehe die verschiedenen Kategorien durch: japanische Küche, deutsche Küche, französische, italienische … Es sind wirklich viele Länder vertreten, die eine starke Prägnanz ausüben. Je Region steht eine Auswahl um die drei bis fünf Speisen zur Verfügung. Mit Schnitzel, Spaghetti Bolognese, Gyros und Soljanka dürften es die bekanntesten Vertreter ihrer jeweiligen Länder sein. … Schnitzel. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, dass ausgerechnet das auf der Speisekarte steht. Direkt darauf folgen Bratwurst mit Kartoffelbrei und Sauerkraut und Kohlroulade. Oh Mann. Ich bezweifle, dass ich wirklich Deutsche bin. „Ganz schön teuer“, murmle ich leise, als ich die Preise studiere. Ich habe keinen wirklichen Vergleich, was in japanischen Restaurants als teuer oder günstig gilt. Wenn ich aber sehe, dass hier ein simples Gericht um die 1500 Yen kostet, macht das umgerechnet an die 12 Euro. Bei einem Menü landen wir bei bis zu 3000 Yen. Und da sind noch keine Getränke inbegriffen, die wenigstens nicht ganz so überzogen scheinen. In den Supermärkten, wo ich bislang eingekauft habe, habe ich selten mehr als 1000 Yen für Fressalien gelassen. Krasser Unterschied. „Findest du? Eigentlich nicht.“ Luka verschränkt die Arme und legt den Kopf schief. Sein Blick wirkt verzweifelt, als er zu mir sieht. „Ich finde die Preise passabel. Sie sind bezahlbar, selbst für einen Ottonormalverdiener. Ich habe mich extra bemüht, dieses Mal etwas zu wählen, das dich nicht überfordert.“ Überfordert? Wie meint er das, bitte? „Luka, ich denke nicht, dass ich mir das leisten kann“, erkläre ich. Mir ist zum Heulen, wenn ich an die Überbleibsel in meinem Portemonnaie denke. Es dürften kaum mehr als 5000 Yen sein. Nach einem Essen hier bin ich so gut wie pleite. „Kein Problem“, beschwichtigt er mit einem Lächeln. „Schon vergessen? Du bist eingeladen.“ „Aber … ich möchte nicht –“ „Darf ich dich um etwas bitten?“ Ich verstumme. Nur widerwillig sehe ich ihn an. „Belaste dich nicht mit irgendwelchen Geldsorgen“, spricht er ruhig, aber entschieden. Ich entnehme seinem Blick, dass es ihm ernst ist. „Solange wir zusammen sind, möchte ich, dass es dir gut geht. Es ist mein Wunsch, dass du dich in meiner Gegenwart wohlfühlst und alle Sorgen vergisst. Geld spielt dabei keine Rolle. Versuch mir zu vertrauen, dass ich weiß, was ich tue. Und wie viel ich mir leisten kann.“ Alles in mir sträubt sich. Ich hasse dieses leidige Thema. Schon zu Hause habe ich es nie leiden können. Es ist etwas anderes, wenn ich weiß, dass ich mich revanchieren kann. Aber einfach so, ohne eine Gegenleistung bringen zu können, hasse ich es, andere für mich aufkommen zu lassen. Egal in welcher Hinsicht. Selbst bei meinen engsten Freunden habe ich das nie gemocht. „Es soll ein schöner Abend werden“, redet Luka weiterhin betüddelnd auf mich ein. Sein Lächeln ist einladend, wofür ich ihn hasse. „Schenk mir einfach diesen Moment. Ich habe mich den ganzen Tag darauf gefreut, ihn mit dir verbringen zu dürfen.“ Ich halte noch einen Moment stand, dann seufze ich schwer und ergeben. „Na schön“, kapituliere ich. Es hat ja doch keinen Zweck. Was soll ich schon groß dagegen anbringen? Luka strahlt über das ganze Gesicht. „Ich danke dir, Prinzessin.“ Auch das noch. Ich frage mich, ob ich meine Entscheidung noch bereuen werde. Der Beschluss ist gefallen. Ganz in getreuer Gentleman-Manier hält mir Luka die Tür auf, damit ich als Erste eintreten kann. Schon der Eingangsbereich sieht sehr schick aus. Er ist vom Licht her gedämmt, in einem angenehmen Maße. Die Augen werden geschont und doch ist alles gut zu erkennen. Blaue Beleuchtungen sorgen für Akzente, wo sie angemessen sind. So wirken zum Beispiel die Pflanzen, die leere Ecken füllen, in einem geheimnisvollen Smaragdton. Bei einer Kellnerin erkundigt sich Luka nach seiner Reservierung. Die junge Frau in ihrer schwarz-blauen Servicetracht führt uns daraufhin an einen Tisch, der bei den Fenstern ist. Beim Durchgehen fallen mir vereinzelte Fotografien an den Wänden ins Auge. Sie faszinieren mich deswegen, weil unter den dunklen Rahmen ein bläulicher Schein tritt. Neckisch. Ich gebe zu, das Ambiente gefällt mir. Es ist etwas anderes als das, was man sonst so gewohnt ist. Luka nimmt meinen Mantel entgegen und bringt ihn zu einer nahestehenden Garderobe. Während ich mich setze, frage ich mich, wozu eine Reservierung notwendig gewesen ist. Das Restaurant ist nicht sehr belebt. Ich zähle mindestens fünf Tische, die noch freistehen. Scheint, als sei das Lokal nicht allzu begehrt, trotz dass es optisch was hergibt. Uns werden die Karten gebracht und prompt fragt Luka nach einem Wein, dessen Namen ich nicht zu wiederholen versuche. Bedauernd schüttelt die Kellnerin den Kopf und erklärt, dass sie nur das führen, was in der Karte steht. Er versucht es mit einem anderen, worauf sie ihn höflich auf das Getränkemenü verweist. Charmant lächelnd entschuldigt er sich und bittet sie um einen Moment, in dem wir die Karte studieren können. Kaum jedoch, dass sie außer Reichweite ist, höre ich ihn leidend seufzen. „Alles okay?“ „Ich kann nicht glauben, dass sie ihn hier nicht führen.“ „So schlimm?“ „Oh ja.“ Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und überschlägt das Bein. Die Speisekarte liegt offen in seinen Händen, doch sein Blick ist auf mich gerichtet. „Es ist der etablierteste Rotwein der Saison. Gefeiert, bestens kritisiert, eine Krone der Schöpfung. Dass es ein Etablissement gibt, das ihn nicht pflegt, ist … ist …“ „Skandalös?“, biete ich an. Er seufzt zur Antwort. „Ich hätte mich besser informieren sollen. Ich hatte höhere Erwartungen gehabt. Mir war ja bewusst, dass es nicht die beste Wahl ist … Nein, das ist nicht zu entschuldigen.“ „Komm wieder runter“, versuche ich ihn zu besänftigen. „Ich weiß nicht, was du hast. Das Restaurant ist doch schön? Es hat ein sehr angenehmes Klima und wirkt sehr freundlich. Es ist nicht überfüllt und die Preise erschwinglich. Nur weil sie irgendeinen Wein nicht haben? Komm schon … Dafür hast du es doch auch nicht ausgesucht, oder?“ „Ich wollte dir etwas Besonderes bieten.“ „Das tust du doch?“ Anzweifelnd lege ich den Kopf schief. „Du hast dir doch Gedanken gemacht, oder etwa nicht? Für mich zählt nicht, wie viel du für mich ausgeben kannst. Heb dir das lieber für jemanden auf, der es eher zu würdigen weiß. Dass du dir Gedanken gemacht hast, wie du mir eine Freude machen kannst, das beeindruckt mich. Und nichts anderes“, erkläre ich. „Shizana …“ Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Speisekarte in meinen Händen. Mann, ist das peinlich. Wieso muss ich ihm so etwas auch noch auf die Nase binden? Ihm, ausgerechnet Luka. Na großartig. Spitzenklasse. „Danke.“ Ich sehe nur kurz zu Luka auf, bevor ich mich wieder den Getränken widme. Es ist nicht richtig, ihm irgendwelche Hoffnungen zu machen. Ich verdiene dieses rührselige Lächeln nicht. Das ist alles falsch, absolut falsch. Die Kellnerin kehrt nur wenig später an unseren Platz zurück. Ich bestelle mir eine Spezi und bitte um Aufschub, da ich mich für noch kein Gericht entscheiden konnte. Luka lässt sich ein Wasser kommen und bestellt dazu irgendeinen Wein, der seinen Ansprüchen zu genügen scheint. Mit zwei Gläsern, wie er betont. Daraus schließe ich, dass ich heute noch etwas Alkoholisches geboten bekomme. Meinetwegen, ich kann’s gebrauchen. Und abfüllen wird er mich nicht können, das weiß ich mit Gewissheit. In der Zeit, in der sich Luka noch mit der Kellnerin berät, lasse ich meinen Blick durch das Fenster nach draußen schweifen. Ich halte es nach wie vor nicht für richtig, hier mit Luka zu sein. Aber es ist notwendig. Ich brauche Informationen, und dazu benötige ich die Beziehung zu ihm. Opfer müssen nun einmal erbracht werden, wenn man vorankommen will. Doch wenn ich ehrlich bin … so schlimm ist es eigentlich nicht. Jedenfalls nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Kurz schließe ich die Augen, um diesen Gedanken auf mich wirken zu lassen. Genau in diesem Moment poltert es laut gegen die Fensterscheibe, was mich erschrocken auffahren lässt. Mein Herz rast wie verrückt, als ich in das aufgebrachte Jungengesicht blicke. Noch presse ich mir die Hand gegen die Brust, bis ich erkenne, wem es gehört. „Shizana!“ „Orion?“ „Was tust du denn da?“ Ich verstehe seine Worte nur schlecht durch das Glas. Perplex starre ich ihn an und weiß nicht, wie ich mich richtig verhalten soll. Erst, als Orion auf der anderen Seite zurücktritt, sich hektisch nach allen Seiten umsieht und sich anschließend entfernt, werde ich wach. „Entschuldige mich“, richte ich mich an Luka und erhebe mich gleichzeitig. Eilig durchquere ich den Raum, um das Lokal zu verlassen. Noch nicht ganz bei der Tür sehe ich, wie sie aufgestoßen wird und Orion hereinbricht. Ich fange ihn mit beiden Armen auf, bevor er an mir vorbei in den Speisesaal rennen kann. Bestimmt dränge ich ihn nach draußen und ziehe die Tür hinter uns zu, bevor irgendjemand auf diesen Tumult aufmerksam wird. „Orion, was machst du denn hier?“, überfalle ich ihn mit der offensichtlichsten Frage, kaum dass wir draußen allein sind. Streng sehe ich den Jungen an und halte ihn noch immer fest bei den Schultern. „Bist du verrückt? Du kannst doch nicht einfach so reinplatzen! Wie soll ich das bitte Luka erklären?“ „Komm bitte nach Hause!“ „Was? Wieso?“ „Du kannst nicht mit ihm zusammen sein! Das ist nicht richtig!“ Zögerlich lasse ich von Orion ab und trete einen Schritt zurück. Der verzweifelte Unterton in seiner Stimme trifft mich. Flehend sieht er mich an, als würde er mich am liebsten bei der Hand nehmen und von hier wegzerren. Aber er tut es nicht. Ich frage mich, warum. Ich seufze einmal schwer. Indem ich seine Hand nehme, gehe ich ein paar Schritte von der Tür weg, um ein- und ausgehenden Gästen nicht im Weg zu stehen. Um die Ecke bleibe ich stehen und drehe mich Orion zu. „Orion, du weißt, dass das nicht geht“, versuche ich auf ihn einzureden. Ich bemühe mich, ruhig dabei zu klingen. Dennoch ist es wichtig, dass er die Dringlichkeit versteht. „Ich erfahre nichts, wenn ich nichts in Kauf nehme. Und so schlimm ist Luka nicht.“ „Das weißt du doch gar nicht!“, hält er dagegen. Er klingt furchtbar aufgeregt dabei. „Du erinnerst dich nur nicht daran! Es ist gefährlich für dich, mit ihm allein zu sein!“ „Wieso?“, frage ich sanft. Mein Ausdruck bleibt ernst. „Wenn es so gefährlich ist, dann sag mir, warum.“ „Ich … kann nicht.“ „Orion, du wirst es mir nicht ewig verheimlichen können. Wie willst du mich so beschützen, wenn du mir die Wahrheit verschweigst?“ Er sieht von mir weg. Ich erkenne auf seinem Gesicht, dass er hin und her gerissen ist. Vermutlich will er es mir gern sagen, aber ich frage mich, was ihn daran hindert. Was kann wichtiger sein, als mich vor einer vermeintlichen Gefahr zu bewahren? Ich atme lang aus. „Ich unterschätze Luka nicht“, sage ich gefasst. Ich sehe Orion an in der Hoffnung, dass er mir auf die Art glauben wird. „Ich weiß, dass er gefährlich ist. Auf eine gewisse Art … Aber er ist mein Freund. Ich kann ihn nicht vor den Kopf stoßen. Es muss einen Grund geben.“ Vorsichtig sieht er zu mir auf. Noch immer scheint er einen stillen Kampf in sich auszufechten. Aber ich bin erleichtert, dass er mich zumindest anhört. „Ich glaube dir, dass du dir Sorgen machst. Und ich weiß, dass du mich nur schützen willst. Aber indem du hier hineinplatzt und Luka Grund zum Verdacht gibst … Meinst du nicht, dass das viel gefährlicher für mich ist?“ „… Ich will nicht, dass du mit ihm allein bist“, gesteht er kleinlaut. Ich lächle besänftigend. „Schon gut. Ich weiß.“ „Nein“, nuschelt er leise und dreht den Kopf von mir weg. Nein, weißt du nicht, will er vermutlich sagen. Das wäre naheliegend. Ich könnte nicht einmal bestreiten, dass er damit recht hat. „Geh bitte nach Hause“, sage ich ruhig. Ich bin mir des Risikos bewusst, wenn wir länger hier draußen reden. „Du kannst nicht hierbleiben. Luka würde Verdacht schöpfen. Mir passiert nichts, versprochen.“ Zweifelnd sieht er zu mir auf. Ich bin mir selbst nicht sicher, ob ich ihm so ein Versprechen tatsächlich machen kann. Es ist keine zehn Stunden her, dass ich beinahe hopsgegangen wäre. Aber ich schätze Luka nicht so ein, dass er mir etwas antun würde. Wenn er es wollte, hätte er es längst getan. „Shizana? Hier steckst du.“ Ich erschrecke bei dem Klang von Lukas Stimme. Ein letztes Mal sehe ich Orion eindringlich an, bevor ich mich zu ihm herumdrehe. „Was ist los? Kann ich irgendwie behilflich sein?“ „Nein, schon gut“, weise ich ab und schüttle den Kopf. „Es hat sich bereits geklärt. Bitte entschuldige die Störung.“ „Wer ist das?“, möchte er wissen und nickt verdeutlichend in Orions Richtung. „Kennst du den Jungen?“ „Ja.“ Unsicher sehe ich zu Orion zurück. Mir muss jetzt ganz schnell etwas einfallen, wie ich die Situation erkläre, ohne ihn in Gefahr zu bringen. „Das ist der kleine Bruder ein…es Freundes von mir. Er war überrascht, mich hier zu sehen. Ich habe ihm erklärt, dass ich mit dir hier bin.“ Aufmerksam beobachte ich, wie Luka auf diese Erklärung reagiert. Sein Blick ruht auf Orion, doch auf seinem Gesicht spielt sich keinerlei Gefühlsregung ab. Ich kann nicht sagen, ob er mir glaubt oder die Lüge durchschaut hat. „Ah, so ist das.“ Seine Stimme klingt samten, als er spricht. Ein charmantes Lächeln erobert sein Gesicht, was mich still aufatmen lässt. „Ich hatte schon Sorge, dass er dich entführen wird. Konkurrenz übt sich früh.“ „Luka!“, mahne ich entrüstet. „Ich gehe dann jetzt“, verkündet Orion leise. Ich fange seinen Blick auf, bevor er sich an Luka richtet. „Bitte entschuldigt die Störung. Schönen Abend noch.“ Damit dreht er sich um und verschwindet auf der gegenüberliegenden Seite unter den Leuten. „Luka, also wirklich“, betone ich erneut, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Vorwurfsvoll sehe ich ihn an. „Mich entführen? Wirklich? Er ist viel zu jung für mich!“ „Man muss auf alles vorbereitet sein.“ Er dreht sich mir zu. Ich erkenne ein scherzhaftes Schmunzeln auf seinen Lippen. „Wirke ich auf dich, als hätte ich irgendwelche pädophilen Züge an mir?“ Er lacht erheitert auf. „Ich hoffe doch nicht.“   Der restliche Abend verläuft ohne weitere Vorkommnisse. Orion kommt kein weiteres Mal zur Sprache, während Luka und ich auf unser Essen warten. Am Ende habe ich mich für herkömmliches Curry entschieden und Luka die deutsche Bratwurst ans Herz gelegt. Lustigerweise müssen wir feststellen, dass beides nicht unserem Geschmack entspricht. Nach nur wenigen Bissen bekenne ich, dass ich Currygerichten weiterhin nicht viel abgewinnen kann. Ausgenommen denen, die ich bereits erprobt habe. Und Luka wiederum macht die Erfahrung, dass Sauerkraut keine seiner neusten Leibspeisen wird. So kommt es, dass wir am Ende die Teller tauschen und mit dem zufrieden sind, was wir bereits kennen. Es sorgt für ausgelassenen Gesprächsstoff, der sich positiv auf unsere Stimmung auswirkt. Nach einer Nachspeise vergeht noch einiges an Zeit, bis wir die Flasche Rotwein Tatsache geleert haben. Ich fühle mich ein wenig beschwipst, aber längst nicht so über den Berg, dass ich ins Taumeln gerate. Ich kann noch problemlos geradeaus gehen, als wir das Restaurant schlussendlich verlassen. Die kühle Winterluft macht mir bewusst, wie erhitzt meine Wangen durch den Alkohol sind. Meiner Zulänglichkeit tut es keinen Abbruch. Mein Kopf ist weiterhin klar bei der Sache. Es ist später geworden, als erwartet. Der ursprüngliche Plan hatte vorgesehen, dass wir nach dem Essen noch ein wenig durch die Stadt bummeln gehen. Wir belassen es bei einem ernüchternden Spaziergang durch den Nikuni-Park, der mir vom letzten Mal in Erinnerung geblieben ist. Im Park ist es angenehm ruhig im Vergleich zur Innenstadt. Einige weitere Passanten begegnen uns, was mich beruhigt. Ein paar der Besucher haben sich auf den Bänken niedergelassen und beim Brunnen spielt ein Saxophonist. Es ist ein entspannter Ausklang, wie ich ihn mir nicht anders wünschen könnte. Luka befragt mich zu den beiden Events, die wir im Meido zuletzt abgehalten haben. Ich bin froh, endlich ein Thema zu haben, über das ich offen mit ihm reden kann. Ausgelassen berichte ich ihm von dem Nikolausevent und was aus dem spontanen Kuchenwettbewerb geworden ist. Übergreifend erzähle ich von der Überraschungsparty, die wir für Shin abgehalten haben. Ich spare die Details aus, mit denen er ohnehin nichts anfangen kann. Durch sein interessiertes Zutun genügt es jedoch, nie für lange ohne Rede zu sein. „Ich bedauere, wie schnell die Zeit vergeht“, leitet Luka ein, als wir den Park längst verlassen haben. Unser Weg führt uns in Richtung Bahnhof, was den Abschied unmittelbar näher bringt. „Es gibt Momente, da wartet man vergebens, dass die Stunden verstreichen. Aber wenn ich mit dir zusammen bin, wünschte ich, ich könnte die Zeit einfangen.“ „Mhm“, bestätige ich leise. Es stimmt, dass die letzten Stunden angenehm gewesen sind. Es hat Spaß gemacht, mit Luka zusammen zu sein. So irgendwie. „Ja, es ist schade. Aber es lässt sich nicht ändern.“ Luka neben mir bleibt still. Ich bin zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um es zu bemerken. Erst, als er wieder spricht, kehre ich aus ihnen zurück. „Du warst heute anders“, bemerkt er, was mich zu ihm hochsehen lässt. Luka registriert es, worauf er ebenfalls in meine Richtung sieht. „Du warst aufgeschlossener als sonst. Ich habe das Gefühl, es ist das erste Mal, dass du in meiner Gegenwart entspannen konntest. Kann es sein, dass du dich ein wenig an mich gewöhnt hast?“ Seine Frage bringt mich aus dem Konzept. Sicher, ich hatte Spaß, das will ich nicht leugnen. Aber war ich wirklich so unbefangen, wie er sagt? War ich so anders, als er mich kennt? „Ich weiß nicht“, sage ich und sehe von ihm weg. Meine Schritte verlangsamen sich, was ich daran merke, dass Luka für mich zurückfällt. „Ich hatte Spaß, ja. Und es war in allem ein schöner Abend. Aber … ich kann’s dir nicht sagen.“ Ich erhalte keine Antwort. Luka neben mir bleibt still, wie es vorhin schon der Fall war. Zu gern wüsste ich, was in ihm vorgeht, doch ich halte meinen Blick gesenkt. „Ich wünschte es mir.“ Sein leises Statement ist es, das mich dazu veranlasst, doch zu ihm hochzusehen. Sein Blick ist nach vorn gewandt, gen Boden gerichtet. Er sieht nachdenklich aus – das ist alles, was ich mit Sicherheit sagen kann. Schließlich, und ganz ohne Vorwarnung, bleibt er stehen. Ich bemerke es zu spät, stoppe nach zwei Schritten und drehe mich nach ihm um. Seine wachen Augen fangen meinen Blick auf. Ich weiß nicht zu deuten, was dort in ihnen liegt. „Gestattest du mir, ehrlich zu sein?“ Ich lege den Kopf schief. Ist die Frage rhetorisch? „Klar.“ Darauf setzt er sich in Bewegung und schließt zu mir auf. Vor mir bleibt er stehen und ich beobachte, wie seine Hand nach meiner sucht. Die Geste ist mir unangenehm, doch ich gestattete sie. Ihr Druck ist sanft. Das glatte Leder seiner Handschuhe fühlt sich kühl auf meiner Haut an.  „Ich möchte nicht, dass es schon vorbei ist“, spricht er gedämpft. Lindt-Schokolade auf der Zunge könnte nicht zartschmelzender sein. „Zum ersten Mal hat so etwas wie Eintracht zwischen uns bestanden. Alles war im Einklang, meinst du nicht auch?“ „Findest du?“ Er nickt entschieden. „Absolut. Es war perfekt. Das Essen, das Reden … Vollkommen. Selbst jetzt, absolute Perfektion.“ Oh wei, was jetzt? „Ich denke, du mochtest das Essen nicht?“ „Hm? Was lässt dich das vermuten?“ „Warst du nicht enttäuscht von deiner Wahl?“ „Es war nicht das, was ich bevorzugt hätte“, gesteht er mit einem leisen Seufzen. „Aber für dich war es das Richtige. Es hat dir Freude bereitet, oder nicht? Welch bessere Wahl hätte ich treffen können?“ „Ahja.“ Ich schmunzle bei seinen Worten. Sie sind geschleimt hoch zehn, aber was soll‘s. Für den Moment erheitert es mich. Seine Mundwinkel heben sich. „Das ist es.“ „Hm? Was ist was?“ Ich spüre, wie er die andere Hand an mein Gesicht legt. Seine Finger streichen kühl über meine Haut. „Dieses Lächeln. Ich sehe es viel zu selten. Es macht den Abend perfekt.“ „Ich lächle nicht.“ – Oder doch? Nein, ganz bestimmt nicht. Niemals. „Es ist wunderschön. Sieh dich an, du bist bezaubernd heute Abend. Nur für mich. Wie könnte ich jetzt loslassen?“ Ah, halt mal! Irgendetwas läuft hier gerade gehörig schief. Wieso sagt er so etwas? Wieso sieht er mich so an? Und wieso, verdammt, glühen meine Wangen so extrem? „Gestattest du mir eine Bitte?“ Ich zögere mit einer Antwort. „Was für eine?“ Seine Finger weichen von meinem Blickfeld. Sein Halt um meine Hand wird fester. Das Gefühl, welche diese Geste in mir auslöst, ist bedrückend. „Ich kann dich nicht loslassen, nicht jetzt“, haucht er zärtlich. Seine tiefe Stimme lässt mich angenehm schaudern. „Ich will nicht, dass der Tag hier endet. Ich bitte dich, mich zu begleiten.“ „Begleiten? Wohin?“ „Zu mir. Ich lade dich ein. Lass mich noch etwas Zeit mit dir verbringen.“ „Wie, jetzt noch?“ Sein Nicken ist bestimmt. Es lässt keinen Zweifel zu, dass er es ernst meint. Aber halt mal! Zu Luka nach Hause, zu dieser Uhrzeit. Heißt das … Lädt er mich etwa ein, bei ihm zu übernachten? Ah, stopp stopp stopp! Das geht nicht! Ich habe keine … Nein, was denke ich denn da? Vielleicht sind wir aus seiner Sicht ein Liebespaar, aber wir sind nicht … Wir werden doch nicht nur dasitzen und Wein trinken, oder? Und wenn doch? Aaah, böses Kopfkino! Das ist so falsch falsch falsch! Ich entziehe mich Lukas Griff. Still verfluche ich meinen Körper, dass er gegen mich spielt. Es gibt wirklich keinen Grund, mir so wildes Herzklopfen zu bescheren. „Das geht nicht.“ „Wieso?“, hinterfragt er. Ich höre keinen Drang aus seiner Stimme. „Ist es dir zu spät? Hast du morgendliche Termine? Du kannst über Nacht bleiben, wenn es dir beliebt. Ich bringe dich pünktlich, wohin du möchtest. Zu jeder Zeit, versprochen. Wie du es wünschst.“ Ich schüttle den Kopf. Nein, das ist es nicht. Sicher, ein Argument ist meine morgige Schicht im Meido. Ein Weiteres, dass ein Teil von mir Luka noch immer misstraut. Wir sind kein Paar, es gibt keine Gefühle zwischen uns. Zumindest nichts, woran ich mich halten könnte. Doch selbst das genügt nicht gegen das, was mich eigentlich bekümmert. Orion. Ich habe ihm versprochen, keine Dummheiten anzustellen. Ich habe versprochen, ihm keine weiteren Sorgen zu bereiten. Was würde ich ihm antun, wenn ich Luka jetzt zusage? Undenkbar. Und Ukyo … Ich weiß nicht, ob er inzwischen zu Hause ist. Ich weiß nicht einmal, ob er weiß, dass ich mit Luka zusammen bin. Ich habe ihm nichts davon gesagt, wann auch? Er weiß nichts von dem Unfall, der mich heute knapp das Leben gekostet hat. Oder dass ich Niel getroffen habe. Oder dass Orion aus heiterem Himmel bei uns zu Hause aufgetaucht ist. Was, wenn Ukyo auf mich wartet? Was, wenn ich über Nacht wegbleibe? Würde ihn eine SMS beruhigen, die ihn darüber informiert? … Vermutlich nicht. „Tut mir leid, ich kann nicht.“ Ich lifte mein Kinn und sehe hoch. Lukas Blick ruht auf mir, abwartend. Es fällt mir schwer, doch ich lächle. „Es war ein schöner Abend, ja. Es war lustig und wir hatten Spaß, das bestreite ich nicht. Aber nimm’s mir bitte nicht übel … Ich möchte wirklich nach Hause.“ Sekunden verstreichen. Luka sagt nichts, ich kann seinem Gesicht nichts ablesen. Ich hasse diesen Moment, der sich zu einer Ewigkeit zu strecken scheint. „Noch zu früh, hm?“, flüstert er schließlich, worauf ich nicke. Er entlässt ein leises Seufzen, gibt meine Hand frei und weicht einen Schritt zurück. „Scheint, als habe ich mich geirrt. Nichts hat sich verändert … In Ordnung.“ Geradewegs sieht er zu mir. Ich erkenne in seinem Gesicht weder Schmerz noch eine sonstige Gefühlsregung.  „Wenn es dein Wunsch ist, dann lasse ich dich nach Hause bringen. So spät möchte ich nicht, dass du die Bahn nimmst. Es ist zu gefährlich, das kann ich als dein Freund nicht verantworten.“ „Du willst, dass ich ein Taxi nehme?“ Er nickt. „Ich bezahle.“ „Du kommst nicht mit?“ „Nein. Es ist besser so.“   Luka begleitet mich zu dem naheliegenden Taxistand und nennt dem Fahrer meine Adresse, wo er mich absetzen soll. Mir ist nicht wohl dabei, dass er den Mann in Vorkasse bezahlt und mich auf die Rückbank lädt. „Ich habe mir die Taxinummer geben lassen“, erklärt er mir auf meine Bedenken hin. „Ich erfahre, wann du abgesetzt wurdest. Lass mir bitte eine Nachricht zukommen, sobald du zu Hause bist.“ Ich nicke versprechend und er wünscht mir eine gute Heimfahrt. Diese vergeht still, ohne dass ich mit dem Fahrer ein Wort wechsle. Schon wieder ist der Abschied kühl ausgefallen und erscheint mir noch liebloser als beim letzten Mal. Ich frage mich, ob ich Luka verletzt habe. Vielleicht ist er enttäuscht, dass ich ihn zurückgewiesen habe. Ich versuche mir einzureden, dass diese Sorgen überflüssig sind. Mein schlechtes Gewissen lässt sich davon nicht überzeugen.                                                                                                                          Auf meinem Treppenweg zum Apartment befallen mich viele Fragen. Was will ich Ukyo sagen, falls er zu Hause ist? Was will ich tun, falls er es nicht ist? Wo mag Orion jetzt wohl stecken? Werde ich den Kleinen wiedersehen? Mit einem schweren Seufzen schiebe ich all diese Dinge zurück. Ich habe meine Wohnung erreicht und drehe mich der Tür zu. Bevor ich den Schlüssel zücken kann, bemerke ich, wie sie vor mir aufgerissen wird. Im nächsten Moment finde ich mich in einer Umarmung wieder, so plötzlich, dass ich einen Schritt zurücktaumle. „Da bist du ja! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“ „Uk…yo“, presse ich hervor. Würde er mich nicht halten, ich bin sicher, ich wäre gestürzt. Mein Herz rast wie wild vor Schreck. Hätte er mich nicht vorwarnen können? Seine Arme liegen so fest um mich, dass es wehtut. Er hält mich so dicht an sich, dass seine Haare meine Nase kitzeln. Sie riechen gut. Ukyo riecht gut. Aber im Moment fürchte ich, dass es das Letzte sein wird, was ich erlebe, wenn er mich nicht bald loslässt. „Ukyo … du erdrückst mich …“ Sein Griff um mich lockert sich. Er schiebt mich zurück, gerade so weit, dass wir einander ins Gesicht sehen können. Es schockt mich nicht, als ich darin dieselbe Besorgnis erkenne, wie sie aus seiner Stimme geklungen hat. Jedoch schmerzt sie mehr als der Druck, der auf meinen Armen nachwirkt. „Ich war so in Sorge“, wiederholt er gequält. Der Klang seiner Stimme versetzt mir einen Stich in die Brust. „Du warst nicht zu Hause. Ich habe gehört, was passiert ist und … Wäre ich nur dagewesen … Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, aber du warst nicht da. Ich hatte solche Angst um dich. Wenn dir wieder etwas passiert wäre … Es tut mir so leid. Ich hätte früher da sein müssen. Ich hätte –“ „Ruhig, Ukyo“, will ich ihn besänftigen. Sein Schwall an Worten macht mir bewusst, wie ernst die Lage ist. Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen. „Ich bin hier. Schau, mir geht’s gut. Lass uns erst mal reingehen und drinnen alles besprechen, ja?“ Er nickt nach einem kurzen Zögern und tritt zur Seite, um mich einzulassen. Ich gehe an ihm vorbei mit einem Gefühl, als würde mein Herz zerreißen. Unser kurzer Austausch hat mir eine Sache nur zu deutlich gemacht: Ukyo hat gelitten. Die ganze Zeit, in der ich mich mit Luka amüsiert habe. Erbärmlich. Wie kann ich mich ein Freund schimpfen, wenn ich ihm so etwas antue? Erbärmlich, einfach nur erbärmlich. „Wie geht es dir?“, durchbricht er die Stille im Flur. Ich bin gerade dabei, Mantel und Schuhe loszuwerden. „Bist du verletzt? Ich habe gehört, was passiert ist. … Von dem Unfall.“ Das Gewicht meines Mantels ist schwer, als ich ihn am Haken anbringe. Alles in mir widerstrebt einer Antwort. Ich will nicht darüber reden, aber ich muss. Ich bin es Ukyo schuldig. „Von wem?“, frage ich flüsternd. Meine Stimme ist belegt. „Niel.“ Ich seufze zentnerschwer. „Du hast ihn getroffen?“ „Mh.“ „Ich habe ihn geschlagen. War er wütend?“ „Nein. … Darum geht es auch nicht. Wie konnte das passieren? Ich hätte da sein müssen, um dich zu beschützen!“ „Du kannst nicht immer da sein, um irgendwen zu beschützen“, sage ich und drehe mich nach ihm um. Es fühlt sich seltsam an, in dieser Situation zu lächeln, doch ich tue es. „Außerdem war es meine eigene Schuld. Ich hätte auf Orion hören sollen. Er hat mich gewarnt, nicht die Straßenseite zu wechseln. Hat er dir das auch erzählt?“ Ukyo nickt vorsichtig. Es veranlasst mich, von ihm wegzusehen. „Niel hat mich gerettet. Und zum Dank habe ich ihn geschlagen. Ziemlich dumm, hm?“ „Das …“ „Dank ihm ist mir nichts passiert. Im Übrigen war Orion zu Besuch. Schade, dass du ihn verpasst hast. Vielleicht wäre er sogar noch hier, wenn ich nicht zu Luka gegangen wäre … Oh, das weißt du ja gar nicht. Wir waren verabredet, wir beide.“ „Doch, ich weiß.“ „Wie, du weißt?“ Irritiert sehe ich zu ihm hin. „Du hattest ein Date mit ihm. Wart ihr bis eben zusammen?“ „Ja. Wir waren in der Stadt, in Nikuni. Wir haben nett gegessen und geredet.“ Er schließt die Augen und seufzt, lang und schwer. Als er sie wieder öffnet, liegt noch immer ein Rest Besorgnis in ihnen. Doch er wirkt ruhig, kontrolliert auf mich. Ukyo setzt sich in Bewegung, bis er vor mir steht. Seine Hände kommen auf meinen Schultern zum Liegen, was mich nicht minder irritiert wie das Lächeln, welches er zeigt. Es ist nur vorsichtig und leicht, wie seine Berührung, aber lässt mich unmissverständlich wissen, dass er mich willkommen heißt. „Gehen wir rein“, spricht er leise und sanft. Es ist eine Einladung ohne jeglichen Zwang. „Drinnen ist es schöner, oder? Lass uns nur noch einen ruhigen Abend haben, den können wir beide gebrauchen. In Ordnung?“ Ich widerspreche nicht. Zwar verstehe ich nicht, wie Ukyo so ruhig sein kann, doch ich stelle keine Fragen. Wie kommt es, dass er mir keine stellt? Er muss aufgewühlt sein. Er muss besorgt sein. Dass ich mit Luka aus war, kann ihn unmöglich kaltlassen. Woher weiß er davon? Ich verstehe es nicht. Ich lasse mich von Ukyo ins Wohnzimmer führen. Seine Hand ruht in meinem Rücken, ohne mich voranzudrängen. Es ist beruhigend, ihn unmittelbar bei mir zu wissen. Doch was mich im Wohnzimmer erwartet, bereitet mir gleich die nächste Überraschung. „Endlich, da bist du ja! Genau zur rechten Zeit.“ „Orion?“ Irritiert von der bekannten Jungenstimme sehe ich zur Küche. Und dort ist er: Orion mit einem Tablett in den Händen, auf welchem drei Tassen stehen. Ich sehe Dampf aus ihnen aufsteigen. Breit lächelnd kommt er in unsere Richtung und begrüßt mich mit einem fröhlichen „Willkommen zu Hause“. „Ich … verstehe nicht. Orion, was machst du hier? Wie bist du …?“ „Ukyo hat mich reingelassen“, erklärt er prompt, ohne in seinem Frohsinn einzubüßen. Fragend sehe ich zu Ukyo hinter. Er begegnet mir mit einem vorsichtigen Lächeln. „Wir sind uns begegnet, als er zurückkam. Er hat mir erzählt, dass du … mit Luka aus bist.“ Ich fasse es nicht. Wie konnte es dazu kommen? Und irgendwie … beantwortet das gar nichts. Überhaupt gar nichts. „Ich verstehe noch immer nicht.“ „Setzen wir uns“, schlägt Ukyo vor. Indem er sich vorbeugt, nimmt er Orion das Tablett ab und trägt es für ihn zum Wohnzimmertisch. Ich bleibe fassungslos zurück. „Komm“, höre ich Orion neben mir sagen. Seine Hand umfasst meine, was mich veranlasst, zu ihm runter zu sehen. Er sieht mich nicht an. Seine Hand zittert in meiner. „Orion? Was ist los?“ „Wir haben uns Sorgen gemacht“, spricht er gedämpft. Sein Halt um meine Hand wird fester. „Ich hatte Angst um dich, große Angst.“ Ich beuge mich vor und schließe ihn in meine Arme. Ich fühle mich schrecklich für diese Worte. Schuldig für das, was ich ihm angetan habe. „Es tut mir leid, Orion. Das wollte ich nicht, wirklich. Bitte verzeih mir.“ Erst zögerlich, dann fester legen sich seine Arme um meinen Nacken. Obwohl er nichts sagt, hoffe ich, dass das seine Antwort an mich ist.   Kurz darauf sitzen wir im Wohnzimmer beisammen. Der Fernseher läuft im Hintergrund auf einem Musikkanal, der für leise Stimmung sorgt. In meinen Händen halte ich die Tasse Cappuccino, den Orion für mich gemacht hat. Er ist angenehm warm und beschert mir ein Gefühl, zu Hause zu sein. Mit dem Unterschied, dass ich nicht allein bin. Auf dem Tisch liegt mein Handy. Ich habe meine Schuldigkeit getan und Luka über meine Ankunft informiert. Eine Antwort habe ich nicht erhalten. Es bekümmert mich ein wenig. Der Unfall von heute Morgen kommt nicht weiter zur Sprache. Stattdessen befragen mich die beiden zu meinem Date mit Luka und ich erzähle ihnen von unserem Besuch im Restaurant. Ich halte mich knapp, muss jedoch erklären, was Kartoffelbrei und Sauerkraut sind. Dass Luka mich am Ende zu sich nach Hause eingeladen hat, spare ich aus. Es erscheint mir nicht relevant, jetzt, da ich zu Hause bin. Ich möchte nicht, dass sie sich deswegen weitere Sorgen machen. „Hast du die Informationen bekommen, die du wolltest?“, will Orion wissen. Ich schüttle den Kopf und verneine. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich tatsächlich nichts in Erfahrung bringen können. Bis auf das, was ich von Orion und Niel weiß, habe ich nichts Neues erreicht. Und selbst das genügt nicht, dass ich irgendwelche neuen Erkenntnisse errungen hätte, die mir weiterhelfen. „Das heißt, du wirst dich wieder mit ihm treffen?“ „Wahrscheinlich“, bestätige ich. Ein stummes Seufzen dringt aus mir hervor. „Aber das steht noch in den Sternen.“ „Wir müssen da etwas besprechen“, ergreift Ukyo das Wort. Ich sehe zu ihm in der Erwartung, dass es um Luka geht, doch es kommt anders. „Niel hat mich um einen Gefallen gebeten. Aufgrund der Umstände wird er die nächste Zeit viel zu tun haben. Er weiß noch nicht, wann sich alles geregelt haben wird. Bis dahin fragt er, ob wir Orion bei uns aufnehmen können. Er wird ihn holen, wenn es soweit ist.“ „Meinetwegen, mich soll’s nicht stören“, sage ich, ohne groß zu überlegen. Mein Blick geht zu Orion, der neben mir auf der Couch sitzt und erwartungsvoll zwischen uns hersieht. „Mir wäre es sogar ganz recht so. Wenn es denn für Orion okay ist?“ „Natürlich! Ich würde mich freuen, bei euch bleiben zu dürfen.“ Ich erwidere sein breites Strahlen mit einem Lächeln. Anschließend wende ich mich wieder Ukyo zu. „Was sind das für Umstände? Hat Niel dir irgendetwas gesagt?“ „Nein.“ Er schüttelt den Kopf. „Leider nicht. Ich weiß nichts Genaueres. Aber es ist schon seltsam.“ Nachdenklich nehme ich einen Schluck von meinem viel zu süßen Getränk. Vielleicht meint er die Veränderung, die Niel und Orion durchgemacht haben. Das ist bestimmt nicht einfach für ihn, das kann ich mir gut vorstellen. Vielleicht muss er sich erst organisieren, könnte sein. Oder er will allein nach Antworten suchen. Hm, eher nicht. „Weißt du, für wie lange?“ „Leider nein.“ „Hm, das ist problematisch. Wo bringen wir Orion solange unter? Er muss irgendwo schlafen, oder nicht?“ „Macht euch meinetwegen keine Umstände“, wirft Orion ein. „Ich kann auf der Couch schlafen, die ist groß genug für mich.“ „Das kommt gar nicht infrage. Das ist doch keine Lösung für die Dauer“, widerspreche ich kopfschüttelnd. „Ich fühle mich nicht wohl damit.“ „Hm …“ Ukyo gegenüber gibt einen nachdenklichen Laut von sich. Er grübelt sichtlich, bis er seinen Blick in meine Richtung hebt. „Ich könnte … nein. Ich habe noch eine Schlafmatte, die könnte ich ihm geben. Zumindest fürs Erste. Wenn das nicht gut ist, überlegen wir uns etwas anderes. Eine Decke müssten wir noch haben, die wir ihm geben können.“ Hm, das ist eine Lösung. Ich nicke einverstanden. „Okay. Und wo soll sie hin?“ „Würde es dich stören, wenn ich bei dir bleibe?“ Fragend sehe ich Orion an. „Bei mir?“ Er nickt vorsichtig. „Das ist doch gut, oder?“, unterstützt Ukyo diese Idee. Als ich zu ihm sehe, schenkt er mir ein beklommenes Lächeln. „Natürlich nur, wenn es für dich in Ordnung ist. Ihr könntet aufeinander aufpassen und Orion ist nicht allein. Vorerst wenigstens.“ „Naja, es stört mich nicht“, sage ich zögernd. Ich sehe zu Orion und gehe in Gedanken durch, was diese Umsetzung für mich bedeuten würde. „Es wäre eine Umstellung, aber ich denke, ich komme damit klar. Es kann aber sein, dass ich unruhig schlafe.“ „Das stört mich nicht. Ich weiß noch nicht, wie ich schlafen werde“, lacht er verlegen. Es lässt mich zumindest schmunzeln.   Damit ist es beschlossen. Während Ukyo und Orion alles für die Nacht herrichten, stehe ich im Bad und mache mich bettfertig. Der Blick in den Spiegel ist ernüchternd. Mir blinzelt ein müdes Gesicht entgegen, dem die Strapazen des Tages anzusehen sind. Mein Hals ist geschunden, wenn die Blessuren auch langsam abheilen. Die dunklen Druckstellen sehen nicht schön aus, ich werde sie noch eine Weile verstecken müssen. Nachdem ich mich gewaschen und versorgt habe, gehe ich zu meinem Zimmer. Auf dem Weg begegne ich Ukyo und wir wechseln einige Worte. Er hat sich inzwischen beruhigt, was gut ist. Wir klären nur kurz einige Dinge ab und wünschen uns eine gute Nacht. Ich hoffe wirklich, dass wir die haben werden. In meinem Zimmer haben die Jungs eine Schlafmatte für Orion vor meinem Bett ausgelegt. Mich befallen Zweifel, ob es gut ist, dass er bei mir schläft. Naja, ich habe nicht minder dazu beigetragen. Es wird schon gehen. Ich warte, bis Orion aus dem Badezimmer zurück ist. Erst dann krabble ich ins Bett und Orion macht es sich auf der Matte gemütlich. Wir reden noch kurz, bevor wir uns eine gute Nacht wünschen und ich mich auf die Seite drehe. Im Zimmer wird es still. Nebenan höre ich Ukyo, wie er sich ebenfalls schlafen legt. Es ist beruhigend, zur Ruhe komme ich jedoch nicht. Hundert Dinge gehen mir durch den Kopf. Der Fakt, dass Orion mit mir in einem Raum ist, erscheint mir irreal. Dass ich heute knapp dem Tod entkommen bin, kann ich kaum glauben. Dass ich Niel begegnet bin … und was er gesagt hat. Was hat er nur gemeint, als er sagte, ich sei anders? Welchen Sinn hatten seine Fragen? Weiß er, was los ist? Was wirklich mit mir ist? Werde ich es je erfahren? Wieso will mir Orion nichts sagen? Er geht lieber Risiken ein, als mich aufzuklären. Wieso? Und was hat Luka mit der ganzen Sache zu tun? Wie viel weiß Ukyo von alledem? Sollte ich mit ihm reden? Ich seufze schwer. Fragen über Fragen und von einer Antwort so weit entfernt. Am liebsten wäre es mir egal, alles. Ich weiß allmählich nicht mehr, was ich will. „Machst du dir Sorgen?“, flüstert Orion in die dunkle Stille. Ich lausche einen Moment, ohne mich herumzudrehen. Schließlich nicke ich. „Mh.“ „Dachte ich mir“, seufzt er leise. Es wird kurz still zwischen uns. „Worüber denkst du nach?“ „Über alles“, flüstere ich. „Warum ich hier bin, was passiert ist, wie’s weitergehen soll … Ich weiß nicht, in welche Richtung ich soll. Wie ich weitermachen soll.“ „Mh, geht mir genauso.“ Wieder wird es still und ich lausche, ob Orion noch etwas sagen wird. Es vergeht einige Zeit, bis er erneut spricht: „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll. Ich will etwas tun, aber … Niel wird eine Lösung finden. Er wird dir helfen, vertrau ihm. Du wirst sehen, es wird alles gut.“ „Und das ist das Nächste. Was bedeutet dieses »es wird alles gut«?“ Ich denke über diese Frage nach, die eine immense Last auf mich ausübt. Meine Finger krallen sich in mein Kopfkissen. „Bedeutet es, ich komme nach Hause? Bedeutet es, ich kriege Antworten? Ihr redet alle davon, mir helfen zu wollen; du und Niel. Aber wie? Wobei? Ich verstehe es nicht und fragen darf ich offenbar auch nicht.“ „Es tut mir leid“, flüstert er gedrückt. In dem Moment bereue ich, ihn schon wieder mit meinem Gejammer bekümmert zu haben. „Ich kann dir nur so viel sagen. Aber glaub mir: Ich werde dich beschützen.“ „Ich weiß.“ Ich seufze lang und still. Auch wenn ich bezweifle, dass er es in seiner Verfassung kann, ich glaube ihm, dass er es versuchen wird. „Danke, Orion. Ich bin froh, dass du hier bist.“ „Und ich bin froh, dass es dir gut geht.“ Ich lächle. Diese Worte lösen ein warmes Gefühl in mir aus. Es war die richtige Entscheidung, nach Hause zu kommen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn ich jetzt bei Luka wäre. Luka. Meine Gedanken schweifen zu ihm ab, ohne dass ich es will. Irgendetwas war heute anders gewesen. Ich werde nicht schlau aus der Situation, in der ich mich mit ihm befinde. Was ist es, was da zwischen uns läuft? Wie sieht es auf seiner Seite aus? Und was hat Sawa gemeint, als sie sagte, ich sei nicht auf seinen Schutz angewiesen? Welchen Schutz? Wieso sind alle so besorgt, wenn es um mich und Luka geht? Was steht da im Raum, wovon ich nichts weiß? Aufgebend ziehe ich mir die Decke zum Kinn. So viele Fragen. Ich hoffe, dass ich irgendwann die Antworten darauf finden werde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)