Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 12: Backe, backe Kuchen ------------------------------- Der Weckton meines Handyweckers holt mich aus dem Schlaf. Ich überlege, ihn einfach zu ignorieren und weiterzuschlafen, aber irgendwo in meinem Unterbewusstsein weiß ich, dass das keine gute Idee wäre. Heute habe ich noch einmal Schicht im »Meido no Hitsuji« und ehe ich anfange, gibt es noch eine Menge, was ich erledigen muss. Murrend drehe ich mich also auf die Seite, angle blind nach dem Smartphone und schalte die Weckmusik ab. Kurz bleibe ich noch liegen, bis ich genug Lebensgeister beisammen habe, um mich schlussendlich unter meiner warmen Bettdecke hervorzuquälen. Genussvoll strecke ich mich. Es war die erste erholsame Nacht seit Langem. Keine unangenehmen Träume, kein unwillentliches Aufwachen. Jedenfalls nicht, dass ich mich erinnern würde. Es war ruhig und friedvoll, was auch mein Körper begrüßt. Sieben Uhr, moah. Viel zu früh, wenn ich bedenke, wann heute meine Schicht beginnt. Ich hätte getrost noch etwas länger schlafen können, wenn Waka nicht mit seiner genialen Idee aufgewartet wäre. Kuchen backen, hm? Das kann ich nur heute vor der Arbeit machen, alles andere wäre zu knapp und hektisch. Nachdem ich mir etwas übergezogen und das Fenster angeklappt habe, verlasse ich mein Zimmer. Erst einmal einen Cappuccino, um auch geistig in die Gänge zu kommen. Und dann schön langsam, Schritt für Schritt. Schlaftrunken wie ich noch bin, hätte ich auf meinem Weg zur Küche fast nicht bemerkt, dass ich nicht allein bin. Ich weiß nicht, wann er zurückgekehrt ist, aber im Wohnzimmer erkenne ich auf der Couch Ukyo sitzen. Es hätte mir beinah einen Schrecken eingejagt. Er sitzt einfach nur da, ist ganz still und gibt keinen Mucks von sich. Anhand seiner vornübergebeugten Haltung kann ich erkennen, dass er mit irgendetwas beschäftigt sein muss, aber mit was, das kann ich von hier nicht ausmachen. Ich zögere, ihn anzusprechen. Was, wenn ich ihn damit bei etwas Wichtigem störe, aus der Arbeit hole oder gar erschrecke? Er wirkt ziemlich konzentriert auf mich. Bemüht leise gehe ich also zu ihm, schleiche regelrecht, um unbemerkt hinter die Couch zu gelangen. Mir scheint, dass meine Bemühungen eigentlich unnötig sind, denn Ukyo regt sich kein einziges Mal. Er sitzt weiterhin nur da, das Kinn auf die verschränkten Finger gesenkt, und hält den Blick auf etwas gerichtet, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Hinter der Couch werfe ich einen vorsichtigen Blick über seine Schulter. Auf dem Tisch erkenne ich sein Equipment: die Kamera, Reinigungsutensilien, ein kleines, schlicht-schwarzes Fotomäppchen und eine einzelne Fotografie, die meine Aufmerksamkeit erregt. Ich beuge mich etwas näher nach vorn, um das Motiv besser erkennen zu können. Es lockt mir ein kleines Lächeln auf die Lippen. „Ein schönes Foto“, bemerke ich, was Ukyo erschrocken auffahren lässt. Obwohl ich nur leise gesprochen habe, muss meine Stimme ihn wohl aus seinen Gedanken gerissen haben. Irgendwie süß. „Ganz ruhig, ich bin’s nur“, sage ich beschwichtigend, kann mir ein Schmunzeln jedoch nicht verkneifen. „Guten Morgen.“ „Hast du mich erschreckt!“, stößt er ein schweres Seufzen aus, eine Hand an seine Brust gepresst. Im nächsten Moment spielt er sein freundliches Lächeln auf, welches ich allmählich an ihm gewohnt bin. „Guten Morgen. Du bist schon wach?“ „Mhm, zwangsweise“, antworte ich knapp, woraufhin ich meine Aufmerksamkeit zurück auf die Fotografie lenke. „Hanna, hm?“ Seine Haltung entspannt sich, gleichzeitig zeigt sie seine Unsicherheit. Er erwidert ein leises „Mh“ zur Bestätigung, bevor er die Hand nach dem Bild ausstreckt, als wolle er nicht, dass ich es sehe. „Darf ich?“ Ich warte, bis er mir die Erlaubnis erteilt, wenn dies auch nur zögerlich geschieht. Erst dann strecke ich mich ein Stück weiter über die Couchlehne, um den kleinen Farbausdruck an mich zu nehmen. Respektvoll halte ich es zwischen den Fingern und betrachte es ausgiebig von allen Seiten. Das Foto erscheint mir schon etwas älter. Es weist einige schmale Knitter an der geschundenen Rückseite auf. Die farbliche Frontseite scheint mir unbeschädigt, nur die Ecken sind schon ein wenig abgegriffen. Es zeigt eine Hanna, die vor einem bunten Blumenbeet steht und schüchtern in die Kamera lächelt. Ein wirklich sehr schönes Motiv voller Farbe und Freiheitsgefühl. „Wie alt ist dieses Foto?“, will ich wissen, ohne mich von Hannas lächelndem Gesicht lösen zu können. „Es ist im Juli aufgenommen worden“, spricht er so leise, dass der Kummer, der diese Worte begleitet, nur umso deutlicher wird. Ich verstehe, was das bedeutet. Das Foto ist zu einer Zeit entstanden, in der die beiden noch glücklich zusammen gewesen waren. Zu einer Zeit, in der sie sich noch an ihn erinnern konnte, bevor all das Unglück passierte, das sie ab dem 1. August stets und von Welt zu Welt verfolgt hatte. Eine Zeit, in der diese Hanna noch seine Hanna gewesen war. „Ein halbes Jahr schon, hm?“, flüstere ich leise, andächtig. Das ist eine ganz schön lange Zeit. Kaum zu glauben. „Wo wart ihr da?“ „Wir hatten einen Ausflug gemacht, einfach mal raus aus der Stadt. Unterwegs haben wir diese Blumenwiese gesehen und sie war so begeistert davon gewesen … und die anderen.“ »Und die anderen«, hm? Ach wirklich? „Weiß sie von diesem Foto?“ Ukyo wird verdächtig ruhig. Erst nach einer längeren Pause flüstert er ein vorsichtiges: „Ich glaube nicht, dass sie sich noch daran erinnert.“ Hm. Vermutlich ist die Hanna auf diesem Foto jene, die Ukyo ursprünglich in seiner Welt verloren hat. Es ist wirklich sehr unwahrscheinlich, dass die Hanna in dieser Welt sich an diese Aufnahme erinnern würde. Wie könnte sie auch? Sie hat diesen Ausflug ja nie mit ihm erlebt. „Sie ist dir sehr wichtig.“ Hastig dreht sich Ukyo nach mir um und besieht mich mit einem erschrockenen Blick. Etwa diese Reaktion habe ich auch von ihm erwartet. Sie bestätigt meine Vermutung. „Diese Erinnerung“, sage ich, wobei ich abmildernd zu ihm herunterlächle. „So, wie der Zustand des Fotos ist, trägst du es immer bei dir und siehst es dir oft an. Habe ich recht?“ Er sagt nichts darauf. Sein Schweigen ist nur eine weitere Bestätigung. Es ist unnötig, auf eine Antwort zu beharren. Ich kenne sie auch so. Meine Worte waren bewusst so gewählt, wie ich sie gesagt habe. Auch ohne mein Hintergrundwissen ist es kein Akt, die Wahrheit zu erkennen. „Sie war übrigens gestern da“, erzähle ich, was mir einen kleinen Stich versetzt. Damit er nicht bemerkt, was dieses Thema in mir auslöst, drehe ich mich herum und lehne mich lässig gegen das hellgraue Polster. „Ihr scheint es wieder besser zu gehen“, erkläre ich. „Sie wird ab heute wieder auf Arbeit sein.“ „Ach so? Das ist schön. Das freut mich sehr zu hören.“ Ich überlege. Wäre es sinnvoll, ihm auch von Hannas gescheiterter Beziehung zu Ikki zu erzählen? Ob er darüber wohl schon im Bilde ist? Sicher wird er wissen, dass die beiden in dieser Welt ein Paar waren. Aber dass sie sich getrennt haben? Es scheint schließlich schon eine Weile her zu sein, dass sie sich zu diesem Schritt entschieden haben, wenn ich mir Hannas Worte von gestern bedenke. Über die Schulter sehe ich prüfend zu Ukyo. Er hat das Gesicht von mir abgewandt, sodass ich nicht daraus lesen kann. Doch ich versuche, mir vorzustellen, wie es in ihm aussehen mag. Es muss hart für ihn sein, in dieser Welt neben seiner Geliebten zu leben, die ihn nicht erkennt. Es muss hart sein, so viele Erinnerungen an sie zu tragen, die er nicht mit ihr teilen kann. Ihr auf der einen Art nah sein zu können, und auf der anderen doch so unsagbar weit entfernt von ihr zu sein. Still frage ich mich, was wohl schwerer zu ertragen sein muss: Sie neben jemand anderem glücklich zu sehen, oder zu erfahren, dass dieses Glück nicht seine Bestimmung gefunden hat? So, wie ich Ukyo kenne und einschätze, dürfte es das Zweite sein. Aber würde er die Chance wohl nutzen, die sich ihm daraus ergibt? Ich stoße ein leises Seufzen aus. Wohl eher nicht. Ich beschließe, dass es das Beste ist, fürs Erste nichts zu sagen. Zumindest für solange, bis ich Näheres weiß, auf welchem Stand Ukyo hinsichtlich der beiden ist. Ich möchte nicht die Schuldtragende sein, dass es ihm schlechter geht, als es notwendig wäre. Früher oder später werde ich die Hints bemerken und sie auffangen, um dann für Ukyo da zu sein, wenn er einen Freund an seiner Seite benötigt. Was immer das dann auch bedeuten möge. „Magst du einen Kaffee haben?“, frage ich, wobei ich mich von der Couch wegstoße. „Wenn du willst, brühe ich uns etwas auf. Außerdem hoffe ich, dass du ein wenig Zeit hast. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.“ „W-warte! Hey!“ Ich bin noch keine drei Schritte gegangen, als er mir hinterherruft. Irritiert bleibe ich stehen und drehe mich fragend nach Ukyo um. Dieser hat sich von seinem Platz erhoben, steht vor der Couch und scheint selbst über sich erschrocken, als sich unsere Blicke begegnen. „Würdest du … Gib sie mir bitte zurück“, stammelt er, wobei er ein vorsichtiges Lächeln zeigt. Seine Worte versetzen mir einen tiefen Stich. Ich weiß, dass er die Fotografie meint, welche ich noch immer in den Hände halte. Mein Kopf allerdings impliziert noch etwas ganz anderes in sie hinein. „Das würde ich nur zu gern“, flüstere ich leise, nur zu mir selbst. Ich atme einmal tief durch, bevor ich mir einen Ruck gebe und ruhigen Schrittes zu ihm zurückkehre. „Hier“, sage ich, wobei ich das Foto mit einem milden Lächeln an ihn zurückreiche. „Aber im Gegenzug versprichst du mir, mit mir zu frühstücken. Einverstanden?“   In der Schnelle habe ich uns ein paar Toaste zubereitet. Ich bin immer noch erstaunt, dass die Küche überwiegend Dinge enthält, die mich sehr an zu Hause erinnern. Ukyo hat mir allerdings versichert, dass das schon okay wäre, und tatsächlich verputzt er die noch warmen, gerösteten Brote, ohne zu mosern. Während ich an meinem Nougatcremebrot kaue, beobachte ich Ukyo, wie er die bereits zweite Scheibe mit flüssigem Honig bestreicht. Es ist ein Anblick, mit dem ich noch immer nicht richtig umzugehen weiß. Von zu Hause bin ich es nicht gewohnt, Gesellschaft beim Frühstück zu haben. Generell bin ich es nicht gewohnt, schon so früh am Morgen am Tisch zu sitzen und brav der angeblich wichtigsten Mahlzeit des Tages nachzukommen. Und nun erlebe ich diese Veränderung ausgerechnet mit jemandem, der bis vor wenigen Tagen noch eine fiktive Figur für mich gewesen war. Was für ein grotesker Gedanke. Niemand würde mir das glauben. Doch inzwischen weiß ich nur zu gut, dass es Realität ist. Wenn ich auch noch immer nicht weiß, wie das möglich ist. „Sag mal, weißt du zufällig, wo ich etwas von IsyBake herbekomme?“ „IsyBake?“, sieht Ukyo fragend zu mir auf. Ich nicke. „Ja. Sawa hat da was empfohlen.“ „Ah, für eure Kuchen, die ihr backen müsst?“ Erneut nicke ich. Während wir in der Küche gestanden und ich ein schnelles Frühstück zubereitet hatte, hatte ich Ukyo von dem gestrigen Tag berichtet. Ich erzählte ihm, wie mich Kento zur Arbeit abgeholt hatte und wie die Schicht mit Ikki verlaufen war. Meine Ausführungen waren sehr allgemein gehalten, so erwähnte ich zum Beispiel nichts von meiner Mentalität, die an diesem Tag stetig auf und ab gesprungen war. Auch hielt ich damit zurück, wie sich Sawa gegenüber Ikki verhalten und was ich zwischen ihm und Hanna beobachtet hatte. Nur am Rande erwähnte ich das kleine Mädchen, welches mir noch immer Rätsel aufgab, und ich verwarf den Gedanken, Ukyo nach seiner Meinung zu fragen. Möglich, dass er eine Idee hätte, was diese Begegnung zu bedeuten hatte, aber mir ist es fürs Erste lieber, dieses unheimliche Erlebnis in eine hinterste Ecke zu verdrängen. Zumindest solange, bis sich mir ein neuer Sinn daraus erschließen konnte. Ausschweifender berichtete ich von Wakas Idee für den Nikolaustag. Ich ließ es mir auch nicht nehmen, Ukyo mit dem kleinen Wettstreit zu erheitern, welchen die Jungs miteinander ausgehandelt hatten. Dass ich noch kurz mit Hanna gesprochen hatte, erwähnte ich hingegen wieder nur am Rande. „Sawa meint, da gäbe es gute Backmischungen. Und die Herstellung soll einfach sein“, kehre ich zu unserem Gespräch zurück. „Gut und schön, ich weiß nur nicht, wo ich so etwas herbekomme.“ „Ah, das ist kein Problem. Du bekommst diese Backmischungen in nahezu jedem Supermarkt. Sie sind wirklich superbeliebt, soweit ich es höre“, erklärt er mit einem Lächeln. „Wenn du magst, kann ich dich nachher beim Einkaufen begleiten und sie dir zeigen.“ „Das wäre wirklich super.“ Diese Idee löst tatsächlich Entzücken in mir aus. Einkaufen mit Ukyo … In meinem Bauch macht sich ein angenehmes Kribbeln breit. „Hast du denn so viel Zeit?“, will ich wissen. „Noch habe ich für den Vormittag nichts vor.“ „Sehr gut, dann kannst du mir ja gleich beim Backen helfen“, schmunzle ich. Heute muss mein Glückstag sein. Shoppen und backen mit Ukyo … Es würde das erste Mal sein, dass wir so viel Zeit miteinander verbringen und etwas zusammen unternehmen. Bisher hatten wir ja immer nur geredet, wenn er denn einmal zu Hause war. Aber dieses Mal würden wir einer gemeinsamen Aktivität nachgehen. Ich kann die Vorfreude auf diese Aussicht kaum zügeln. Um zu verschleiern, dass sich ein breites Grinsen meines Gesichts bemächtigen will, setze ich meine Tasse zum Trinken an. Das wird toll werden!   Keine halbe Stunde später haben wir unser Frühstück beendet und ich bin mit allem fertig, um mich vor die Tür trauen zu können. Der Blick in den Spiegel hat mich wieder daran erinnert, dass ich auf gar keinen Fall mein Halstuch vergessen darf. Meine Befürchtung hat sich bewahrheitet: blaue Flecken schimmern unverkennbar durch meine Haut und sind Zeuge meiner kleinen Auseinandersetzung mit Ukyos anderem Ich. Ich muss höllisch aufpassen, dass niemand sie zu sehen bekommt, sonst stecken sowohl Ukyo als auch ich in noch ungeahnte Schwierigkeiten. Ukyo führt mich zu einem Konsum, der zu meiner Überraschung nur zwanzig Minuten Fußmarsch von zu Hause entfernt liegt. Das richtige Regal mit dem Backzubehör ist schnell gefunden, sodass wir davorstehen und überlegen, was sich wohl am besten für meinen morgigen Feldzug eignen würde. IsyBake ist, wie ich schnell feststelle, ein großer Hersteller für Heimbäckerei. Neben Küchlein gibt es auch eine Auswahl an Cookies, Waffeln und sogar Broten, Croissants sowie anderen Neckereien. Ich staune nicht schlecht. Ein Blick auf die Verpackungsrückseite zeigt mir auch, dass Sawa nicht übertrieben hat. Die Herstellung ist in wenigen Schritten erklärt und sieht selbst für mich als Backmuffel sehr einfach aus. Auch sind die Backzeiten nicht sehr lang und Ukyo versichert mir, dass der Preis mit 160 Yen sehr günstig liegt. Besonders wenn man wohl bedenkt, wie viel Inhalt man damit erwirbt. „Hm, wie viel benötigen wir?“ Unschlüssig wiege ich den Kopf hin und her, während ich angestrengt überlege. Wir sind vier Maids und zwei Butler. Das Meido hat einen relativ guten Kundenzuspruch. Aber wie viele Stammkunden machen diese Zahl aus? Wenn jeder von uns fünf Kuchen bäckt, kämen wir auf eine Summe von dreißig. Würde das genügen? Vielleicht wäre es klug gewesen, sich zuvor abzusprechen, was genau wir benötigen und wer wie viele Kuchen übernimmt. Auf die Art kann ich weder kalkulieren noch planen. Mir bleibt nur, ins Blaue hineinzuraten. Ich seufze müde. Kurzerhand beschließe ich, dass fünf Kuchen reichen müssen. Vielleicht genügt das, wenn die anderen ähnlich wie ich gerechnet haben. Und wenn nicht, tja, dann ist das zumindest nicht meine Schuld. Es ist nicht mein Bier, wenn Waka nicht von Anfang an klare Anweisungen machen kann, was genau er von uns erwartet. Und dass der Rest von uns sich nicht abgesprochen hat … nun ja, daran habe ich vermutlich gleichermaßen ein Päckchen zu tragen wie der Rest, aber es ist zumindest nicht meine alleinige Schuld! „Meinst du, das reicht?“, höre ich Ukyo neben mir fragen. „Ich denke es“, erwidere ich. Meine Augen gehen skeptisch durch die Reihen, während ich aus den verschiedenen Sorten zu wählen versuche. „Oder vielmehr hoffe ich es.“ „Habt ihr euch nicht zuvor abgesprochen?“ Bing-bong! Mitten ins Schwarze getroffen. „Nope.“ „Im Ernst?!“ „Magst du lieber Schoko oder Erdbeere?“ „Äh … wie?“ Unentschlossen halte ich zwei der IsyBake-Päckchen in den Händen. Ich möchte unbedingt eines der Küchlein für uns privat haben, kann mich aber nicht zwischen den beiden Sorten entscheiden. Normalerweise würde ich ohne Frage Schoko bevorzugen, aber eine Fertigkuchenbackmischung mit Erbeergeschmack klingt für mich so absurd, dass ich es probieren muss. „Für uns zu Hause“, erkläre ich. „Hättest du etwas gegen Erdbeere einzuwenden? Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie das schmecken soll.“ „Also von mir aus.“ Skeptisch schaue ich neben mich. „Also du kannst ruhig sagen, wenn dir Schoko lieber wäre. Es muss hier nicht nur nach mir gehen.“ „Nein, nein, das ist schon okay“, lächelt er versichernd. „Wenn du Erdbeere gern probieren magst, gehe ich mit. Es wird schon nicht schaden.“ Hm, na wenn er meint. „Ich möchte es nur gesagt haben“, erwidere ich, womit das Thema für mich beendet ist. Ich entscheide mich für je zwei Exemplare aus den Geschmacksrichtungen Schoko, Schoko-Banane und Erdbeere und lege sie in den kleinen Einkaufskorb hinein. „Okay, was brauchen wir noch? Da fällt mir ein, wir könnten bei der Gelegenheit auch gleich schauen, was wir noch für zu Hause brauchen.“ Offen wende ich mich Ukyo zu. „Weißt du, mir ist nämlich aufgefallen, dass wir derzeit eigentlich nur Dinge im Haus haben, die ich gern mag. Aber gibt es überhaupt irgendetwas darunter, das für dich ist?“ „Ach, das ist schon in Ordnung“, winkt er ab. Ich will gerade etwas sagen, als er sich zu dem Korb an meiner Armbeuge lehnt und zwei der Verpackungen herausnimmt. „Hm, wenn ich das richtig sehe, brauchst du gar nicht mehr groß etwas dazukaufen. Schau, dieses hier enthält bereits Schokoraspeln und hier ist eine Art Soße oder Guss mit dabei. Und in diesem hast du bereits Zuckerstreusel enthalten. Also wenn, dann wären das freiwillige Extras, die du hinzuholst. Hattest du vor, sie speziell zu dekorieren oder so?“ „Ukyo, ich mein’s ernst“, mahne ich ihn. „Es muss doch etwas geben, das du magst? Ich möchte nicht, dass hier alles nur nach mir geht.“ „Aber wenn ich es doch sage“, beteuert er, womit er mir ein zaghaftes Lächeln schenkt. „Ich bin doch ohnehin kaum zu Hause und esse meist schon außerhalb. Du hingegen solltest immer gestärkt für die Arbeit sein. Und wenn du essen kannst, was du gewohnt bist und dir schmeckt, ist das doch etwas Gutes?“ Das ist nicht wirklich das, was ich von ihm hören wollte. „Außerdem mag ich die europäische Küche. Es gibt so vieles, was ich noch nicht versucht habe. Man sagt doch, dass man immer ein wenig weltoffen sein soll, oder nicht? Und durch dich lerne ich viel Neues kennen“, versucht er mich wohl zu überzeugen. Ich seufze gequält. „Ukyo …“ „Ganz ehrlich! Ich bin, was Essen anbelangt, nicht sehr zimperlich.“ Hm? Moment! War da nicht …? Prüfend sehe ich zu ihm auf. „Etwa wegen deiner vielen Auslandsreisen?“ „Oh, ich habe dir davon erzählt?“ Keine Ahnung, aber jetzt fällt es mir wieder ein. Stimmt, da war ja etwas gewesen. Im Spiel hatte er sich einmal einem Fragebogen vom Fanclub unterziehen müssen. Unter dem Punkt »Lieblingsessen« hatte er dort ebenfalls angegeben, dass er nicht wählerisch sei. Argh, wie konnte ich das nur vergessen? Aber, eine Sekunde! Gab es da nicht noch etwas? Oh, verdammt! Was war es noch gleich? Was stand da noch? Ich fahre aus meinen Gedanken hoch, als mein Handy in meiner Handtasche losgeht. Für gewöhnlich mag ich meinen SMS-Klingelton wirklich sehr, aber hier im Konsum erscheint mir das fröhliche „Wowowowo~“ doch recht laut. Eilig hole ich es heraus und unterbreche die Melodie, indem ich mich in die jüngst empfangene Nachricht einklinke. „Wer ist es?“, möchte Ukyo wissen, woraufhin ich mit den Schultern zucke. „Keine Ahnung, die Nummer ist anonym.“ Seltsam. Wie kommt jemand dazu, mir mit einer unterdrückten Nummer eine Nachricht zu senden? Ich würde es ja noch verstehen, wenn sie unbekannt wäre, dann könnte ich es als Spam, Werbung oder ein Versehen abtun. Aber beim Absender steht unverkennbar »Anonymer Teilnehmer«. Irritiert lese ich den Inhalt der Nachricht: »Ich freue mich schon darauf, dich heute zu sehen und deinen Kuchen zu probieren.« Das ist alles. „Kapier‘ ich nicht“, sage ich leise zu mir selbst. „Ne, Ukyo. Sag mal, weißt du, wer das sein könnte?“, wende ich mich an ihn und zeige ihm die SMS. „Woher soll ich wissen, wem du alles deine Nummer gegeben hast?“, gibt er zweifelnd zurück. Tja, wenn ich das einmal selbst wüsste. In Gedanken gehe ich alle Möglichkeiten durch. Ich weiß, dass bis auf Hanna und Kento jeder vom »Meido no Hitsuji« meine Nummer hat. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass einer von ihnen mir anonym schreiben würde. Wozu auch? Des Weiteren hat Luka meine Nummer, aber beim letzten Mal hatte er seine ebenfalls nicht unterdrückt. Es muss auf jeden Fall jemand sein, der vom Event weiß. Dass wir dafür Kuchen backen, wissen wir selbst erst seit gestern. Dementsprechend ist der Raum an Verdächtigen doch ziemlich klein. Hm … Rika? Nein, ausgeschlossen. Vielleicht ein Stalker? Ich weise diesen Gedanken mit einem entschiedenen Kopfschütteln zurück. Entschlossen, mich davon nicht weiter beirren zu lassen, klicke ich die Nachricht weg, ohne sie zu löschen, und stecke das Handy zurück in meine Tasche. Mysteriös, äußerst mysteriös. Aber nichts weiter. „Wie dem auch sei“, stoße ich ein kapitulierendes Seufzen aus, um mich wieder unserem eigentlichen Vorhaben zuzuwenden. „Also schön, was brauchen wir noch?“   Kaum zu Hause angekommen, treffen Ukyo und ich alle Vorbereitungen für unsere anstehende Backstunde. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt mir, dass uns dafür nicht mehr allzu viel Zeit bleibt. Es sollte aber noch genügen, um die Küchlein vorzubereiten. Wenn sie erst einmal fertig gebacken sind, kann ich die Kleinigkeiten immer noch später vornehmen. Sie müssen ohnehin erst abkühlen, damit ich sie gescheit aus ihrer Form schneiden, dekorieren und fertig verpacken kann. Das können sie getrost tun, während ich auf Arbeit bin. So viel Restaufwand wird es dann nicht mehr werden. „Bist du sicher, dass das gut werden soll?“, frage ich skeptisch in Ukyos Richtung, während ich die Rückseite einer der Verpackungen studiere. Die Zubereitung ist laut Beschreibung wirklich sehr simpel: das erste Tütchen mit etwas Wasser anrühren, das zweite Tütchen hinzugeben und alles gut zu einer glatten Masse vermischen, die beigelegte Form einfetten, Masse eingeben, unter Vorgabe von Temperatur und Zeit backen, fertig. „Sie sollen jedenfalls sehr lecker sein“, höre ich Ukyo sagen. Gerade stellt er den Herdofen in der Temperatur ein, wie es auf der Verpackung vorgegeben ist. „Ich muss allerdings zugeben, dass ich bisher selbst noch keinen probiert habe.“ Na, das sind ja tolle Aussichten. „Ich will gar nicht wissen, was da alles an Zusatzstoffen drin ist“, merke ich an, wobei ich das kleinere der beiden silbernen Aluminiumtütchen von allen Seiten inspiziere. „Wenn du so viele Zweifel hast, wäre es dann nicht besser gewesen, direkt einen Kuchen aus ganz eigener Hand zu machen?“ „Bei meinen überaus überragenden Backfertigkeiten? Nein, glaube mir: Dagegen ist das hier reine Schadensbegrenzung. Ich bin schon froh, wenn ich so’n Fertigzeug einigermaßen so hinbekomme, dass es am Ende auch wirklich essbar ist.“ „Ach, so schlimm kann das doch gar nicht sein“, lächelt er mir aus der Hocke zu. „Oh doch“, widerspreche ich entschieden. „Das letzte Mal, als ich vor einigen Jahren Zimtsterne zu Weihnachten backen wollte, konnte ich am Ende Leute damit erschlagen. Gut, der Teig war auch echt furchtbar gewesen … auch so’n Fertigzeug. Die waren ungenießbar gewesen. Davor hatte ich mich einmal an Plätzchen versucht, die waren zu lasch und mehlig gewesen. Lustigerweise bekomme ich Brötchen ganz gut hin und Brot würde ich zu gern einmal versuchen, aber bei so leckeren und eigentlich stinkeinfachen Sachen versage ich total.“ Ich seufze. „Weißt du, ich kann dir wirklich jeden Kuchen und jede Backware erklären und fachkundig verkaufen, aber vom Selberbacken lasse ich besser die Finger. Ich habe zwar in diesem Bereich gelernt, aber eben nur in Verkaufsrichtung. Das ist nicht dasselbe, wie wenn man Bäcker oder Konditor erlernt hat. Trotzdem setzen das viele Leute irrtümlicherweise gleich. Dabei sind Theorie und Praxis nun einmal zwei grundverschiedene Dinge, auch wenn ich ein wenig Praxis dabeihatte“, erkläre ich. „Hm … ja, das stimmt schon.“ „Davon ganz abgesehen“, fahre ich fort, „einen Kuchen ganz von selbst zu machen, kostet viel zu viel Zeit und Aufwand. Von dem Geld einmal ganz zu schweigen, wovon ich auch nicht so viel zu verschenken habe. Wenn es nicht nur fürs Event wäre und nicht so auf den letzten Drücker, würde ich es ja noch verstehen und auch mehr Mühe darin investieren. Aber so sehe ich das einfach nicht ein, Waka hin oder her.“ „Die Kuchen sollen für die Stammkunden sein, richtig?“, richtet er sich zurück auf die Beine. Neben mir findet Ukyo Platz an der freigeräumten Küchenzeile, löst die Knöpfe seiner Hemdärmel und krempelt sie zurück, um sie während unserer Mission nicht zu beschmutzen. Ich glaube, so etwas wie Vorfreude in seinen Gesichtszügen zu erkennen, als er mir ein offenes Lächeln schenkt. „Weißt du, ich halte es für besser, wenn du in ihrer Gegenwart nicht auf die Art argumentierst, wenn du sie ihnen überreichst. Das nimmt der ganzen Sache ein wenig die Botschaft“, amüsiert er sich sichtlich über meine Worte. Ich runzle die Stirn. „Na was denn? Es ist doch wahr“, rechtfertige ich mich. Aus irgendeinem Grund stimmt mich die Situation verlegen, weswegen ich mich unserem Vorhaben zuwende, eine der kleinen Plastikschüsseln greife und den Boden mit minimal Wasser abdecke. „Die Kuchen sind immerhin gratis“, sage ich, wobei ich zu der größeren der beiden Alutütchen greife, es vorsichtig aufschneide und das vorportionierte Mehl langsam hinzugebe. „Sie müssen am Ende nur gut aussehen, das ist alles. Ich will ja auch nicht, dass sie sofort gegen die Wand gepfeffert werden, kaum dass man sie in der Hand hält. Für alles andere übernehme ich allerdings keinerlei Haftung. Den Wettkampf würde ich mit solchem Billigzeug ohnehin nicht gewinnen, aber zum Glück nehmen wir Mädels auch nicht daran teil.“ Ukyos losgelöstes Lachen und sein „Ich kann nicht glauben, dass du das jetzt wirklich gesagt hast“, lassen mein Herz kurz höher schlagen. Es tut so gut, ihn so lachen zu hören. Es tut so ausgesprochen gut, zu erleben, dass er neben mir so ausgelassen sein kann. Zu erfahren, dass meine Anwesenheit und natürliches Selbst dafür sorgen können, dass er sich gut fühlt, löst ein unglaubliches Glücksgefühl in mir aus. Ein Lächeln erobert mein Gesicht. Ich möchte Ukyo noch ganz oft so erleben. Ich möchte noch ganz viele solcher Momente mit ihm teilen. Und ich möchte ihn noch sehr viel besser kennenlernen. Als die Person, die er ist. „Bei der Gelegenheit“, schwenke ich im Thema um, gerade als mir wieder etwas eingefallen ist. Vorsichtig sehe zu Ukyo herüber. „Wegen gestern … Also erst einmal war ich sehr überrascht, dass du uns im Café besucht hast. Ich habe mich wirklich sehr darüber gefreut.“ „Ach ja?“, gibt er erstaunt zurück. Ich kann nicht glauben, dass er diese Möglichkeit tatsächlich in Frage stellt. Zum Glück weicht sein überraschter Gesichtsausdruck schnell wieder einem schüchternen Lächeln. „Naja, also … ich habe mich auch sehr darüber gefreut. Du hattest recht, ich war wirklich lange nicht mehr dort gewesen. Ich habe erst dann gemerkt, wie sehr ich es doch vermisst habe. Das Meido ist wirklich ein schöner Ort und jeder war so nett zu mir“, erzählt er, wovon ich ihm jedes einzelne Wort glaube. „Na klar, wieso sollten sie auch nicht? Du bist schließlich ein geschätzter Kunde, soweit ich das beurteilen kann. Und ein Freund, soweit ich weiß.“ Verlegen wendet er sich wieder seinem Kuchen zu. Von der Seite erkenne ich, wie das Lächeln nicht von seinen Zügen weicht. Ich kann nicht anders, als ihn in dem Moment ausgiebiger zu betrachten. Ukyo ist wirklich ein sehr hübscher Mann. Das Lächeln steht ihm und lässt das Grün seiner Augen intensiver als sonst leuchten. Überhaupt fällt mir nicht zum ersten Mal auf, was für ein hübsches Gesicht er hat. Man kann ihn lange Zeit ansehen, ohne das Bedürfnis nach Abwechslung zu entwickeln. Auch bemerke ich, während ich ohne Absätze neben ihm stehe, wie groß er eigentlich ist. Vielleicht bin ich auch nur klein, so sicher bin ich mir da nicht. Wobei, eigentlich bezweifle ich es. Bedenke ich nur, in welchem Größenverhältnis ich neben Hanna gestanden hatte – ganz ohne Schuhe –  steht diese Vermutung ganz außer Frage. Und auch zu Hause, in meiner Welt, hat es mehr als genug Mädchen und Frauen gegeben, die neben mir klein gewirkt haben. Demzufolge ist es tatsächlich Ukyos Größe, die es zu bewundern gilt. Wie waren die Maße noch gleich? Um die eins fünfundachtzig? Verdammt, ich habe eine Schwäche für große Männer! Schnell wende ich meinen Blick von ihm ab. Es gibt noch genug zu tun, deswegen will ich keine weitere Zeit verlieren und nehme mich dem Rühren meines ersten Kuchens an. Ukyo ist attraktiv, ganz ohne Frage. Er ist zudem eine äußerst liebenswerte Person, die man gern um sich hat, und interessant obendrein. Jedoch habe ich mir geschworen, die Finger von ihm zu lassen. Er ist mein Freund und Mitbewohner, mehr aber auch nicht. Gut, und zudem noch der Einzige, dem ich im Moment weitestgehend vertrauen und bei dem ich mich einigermaßen gehen lassen kann. Aber, verdammt! Mir darüber bewusst zu werden, lässt mich nicht kalt. „Weißt du“, sage ich fließend, ohne mir meine letzten Gedanken anmerken zu lassen, „wenn ich so darüber nachdenke, wäre es eigentlich sinnvoll, wenn du morgen auch vorbeikommen würdest. Du bist schließlich auch ein Stammkunde. Ich wäre gespannt, wer dir einen Kuchen gibt.“ Natürlich denke ich dabei an eine ganz bestimmte Person. Erst das Schweigen, welches sich über längere Zeit zwischen Ukyo und mir erstreckt, macht mir deutlich, dass er wohl denselben Gedanken hegt. Ups, nicht mein geschicktester Schachzug, so viel wird mir klar. „Vielleicht reißen sie sich ja um dich“, spreche ich weiter, ruhig und mit einem kleinen Lächeln versehen. „Das wäre doch mal was? Du ganz im Mittelpunkt als Objekt der Begierde.“ „Sh-Shizana!“ Ich kann mir ein Auflachen nicht verkneifen. „Ach komm, das wird sicher lustig! Schon allein für den Wettbewerb der Jungs müsstest du vorbeikommen. Das wird bestimmt ein Schauspiel für sich. Ich bin echt gespannt, wer das Rennen machen wird und wie sie das entscheiden wollen, haha.“ Ukyo neben mir sagt nichts. Ein heimlicher Blick zu ihm gibt mir Gewissheit, dass es nur aufgrund der Verlegenheit ist, dass er den Stummen mimt. Mein Spruch von gerade eben muss ihn komplett aus der Bahn geworfen haben – wieder einmal. Vielleicht ist es auf gewisse Art fies, aber ich kann nicht leugnen, dass ich ihn in der Weise wahnsinnig gern ein wenig aufziehe. Ich bin mir sicher, dass ich auch in Zukunft nicht widerstehen können werde, es hin und wieder zu tun. Er lässt sich einfach zu leicht aus dem Konzept bringen. „Überleg’s dir einfach“, unterbreite ich ihm, womit ich das Thema beende. Mein erster Teig ist inklusive der Backmischung fertig gerührt, so stelle ich die Schüssel zur Seite und nehme mich dem nächsten Kuchen an. Ich bin von meinem Ursprung abgekommen, wie mir auffällt. Indem ich weiterhin meiner Tätigkeit nachgehe, lenke ich auf jenes Thema zurück. „Auf jeden Fall, wegen gestern … Wie gesagt, ich habe mich wirklich sehr über deinen Besuch gefreut. Aber ich war doch ein wenig irritiert, dass du in Begleitung warst“, sage ich unter Bedacht. „So?“ Fragend sieht er mich an. „Wer war das? Ein Freund von dir?“ „Ah …“ Er wirkt auf einmal unsicher. Ich weiß nicht, was ihn dazu bewegt, aber er wendet seinen Blick von mir zur Seite ab. „Ah, mh … ja, nur ein Freund“, spricht er leise. Das dünne Lächeln, was er dabei trägt, wirkt irgendwie falsch auf mich. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Lügt er oder möchte er nur vermeiden, dass ich weiter auf dieses Thema eingehe? Aber wenn dieser seltsame Fremde doch ein Freund ist, so wie er sagt, wieso sollte es ihm dann unangenehm sein, darüber zu reden? Soll ich wirklich weiter nachbohren oder wäre es besser, auf Ukyos abweisende Haltung einzugehen und das Thema fallen zu lassen? „Sicher?“, hake ich mit einer einfachen Frage nach. Ukyo zeigt ein Nicken. „Ja.“ „Hm.“ Ich wende mich wieder meinem Teig zu. Mir gehen zig Fragen durch den Kopf, während ich mich dem kontinuierlichen Rühren hingebe. Wieso habe ich nur dieses beklemmende Gefühl, keine einzige davon stellen zu dürfen? Und das, obwohl wir doch Freunde sind, wie ich dachte? Das ist doch absurd! „Du möchtest nicht darüber reden, habe ich recht?“ Ukyo schweigt auf hin meiner Frage. „Tut mir leid“, sagt er schließlich, was mehr geflüstert ist. Ich höre aus diesen einfachen Worten und seiner leisen Stimme so viele Emotionen heraus, dass es mir einen Ruck versetzt. „Später vielleicht, okay?“ Ich seufze lang. Mein zweiter Teig ist fertig und ich stelle ihn zu dem anderen. Es ist Zeit, die Formen vorzubereiten. Doch bevor ich mich ums Einfetten kümmere, gibt es noch etwas anderes, das ich erledigen muss. „Au!“ – Er übertreibt, so fest war es gar nicht. Erschrocken sieht Ukyo zu mir. Man könnte wirklich meinen, ich hätte hart zugeboxt, so wie er sich schmerzlindernd über den rechten Oberarm streicht. „Wofür war –“ „Der für gerade eben“, erkläre ich. Während er noch seine Gedanken ordnet, was ich gemeint haben könnte, versetze ich ihm bereits einen zweiten Angriff in die Seite. „Dieser hier für gestern, bevor du aus dem Haus gegangen bist. Und dieser“, ein Dritter landet knapp über dem Ersten, „dafür, dass du das Café verlassen hast, ohne dich zu verabschieden.“ Eigentlich hätte er noch einen vierten Schlag verdient, dafür, dass er mir ohne jeden Zweifel etwas verheimlicht und vorzumachen versucht. Aber ich befinde, dass diese Schuld mit dem dritten Boxen getilgt ist. Ich muss ihm ja nicht verraten, dass es für mehrere Gründe steht. Wäre ich nicht diejenige, die Ukyo diese Schläge zugesetzt hat, würde ich ihn glatt bemitleiden. Er steht da mit einem wehleidigen Gesichtsausdruck und reibt sich über die getroffenen Stellen, als hätte ich ihn verdroschen. Dabei dürfte er nicht einmal wirkliche Schmerzen haben. Die Boxer waren fest gewesen, ja, aber nicht brutal. Er würde keinen einzigen blauen Fleck von ihnen davontragen. Dasselbe kann ich nun nicht gerade von seinem gestrigen Überfall behaupten. „Hör mal“, sage ich und mache mich daran, die Formen zu fetten, damit der Teig hinein und gebacken werden kann, „es ist okay, wenn es Dinge gibt, über die du nicht mit mir reden magst. Jeder Mensch hat seine kleinen Geheimnisse, da schließe ich mich nicht aus. Vielleicht habe ich sogar ein paar mehr, als gut für mich wäre … Aber es ist ganz normal, dass es diese Dinge gibt und ich halte es für wichtig, dass man die Privatsphäre des anderen respektiert. Freundschaft sowie jegliche andere Form der Beziehung baut auf gegenseitigem Vertrauen. Ich möchte nur nicht, dass wir einander anlügen, in Ordnung?“ Ich schlucke hart bei meinen Worten. Ich bin gerade die Richtige, so etwas zu sagen. Seit ich in diese Welt gekommen bin, habe ich doch nichts anderes getan, als jeden um mich herum anzulügen. Inklusive Ukyo. Selbst jetzt, in diesem Moment, lüge ich. Ja, sicher, ich möchte das nicht und gäbe es einen Weg, aufrichtig zu ihnen zu sein, ich wäre es sofort. Aber im Moment weiß ich nicht, wie ich das anstellen soll. Ich fühle mich wie eine Heuchlerin. Dennoch, ich möchte das ändern. Egal wie. Ich werde meine Beziehungen zu den Leuten in dieser Welt neu aufbauen und noch einmal komplett von vorn beginnen. In der Hoffnung, dass ich dann, eines Tages, vollkommen offen und ehrlich vor ihnen stehen kann.   Wenig später habe ich mich, gewappnet mit einer frischen Tasse Cappuccino, am Wohnzimmertisch eingefunden. Ukyo sitzt mir gegenüber auf einem der Hocker und fummelt irgendetwas an seiner Kamera herum. Was genau er macht, weiß ich nicht, aber es wird schon seine Richtigkeit haben. Die Küchlein sind im Ofen und brauchen noch eine Weile, bis sie gar sind. Eine Zigarette habe ich mir gegönnt, nun bleibt mir noch knapp eine Stunde, bis ich mich für die Arbeit rüsten muss. Hoffentlich genug Zeit, um aufzuholen, was ich noch als Versprechen einzulösen habe. Kurzerhand hebe ich den Laptop von seiner Ablage und baue ihn vor mir auf der Tischplatte auf. Vorhin beim Backen habe ich mich bei Ukyo rückversichert, ob es okay sei, wenn ich ihn verwende. Ein wirklich peinliches Unterfangen, denn wie ich erfahren habe, gehört der Laptop quasi mir. Wir haben ihn zusammen gekauft, hat mir Ukyo verraten, und hin und wieder nutzt er ihn auch für schnelle Onlinebestellungen oder um irgendetwas herauszufinden. In erster Linie aber hätte ich ihn in Verwendung, um darauf schreiben zu können. Ups, das hätte ich mir eigentlich auch denken können. Aber woher sollte ich das wissen? Ich weiß nicht, zum wievielten Male an diesem Tag, aber ich verliere ein weiteres, schweres Seufzen. Immerzu höre ich von allen Seiten, dass »ich« in der Vergangenheit viel geschrieben haben soll. Luka hat es erwähnt, Ukyo und sogar Kento. Natürlich habe ich daran keinen Zweifel, es klingt logisch und nach mir. Aber wie es ist, von sich selbst wie in der dritten Person zu hören, kann sich schlichtweg niemand vorstellen. Es ist befremdlich, bedrückend und in gewisser Weise auch beängstigend. Ich habe keine Ahnung, was »ich« vor meiner Ankunft in dieser Welt gemacht habe. Ich höre es nur und muss darauf vertrauen, dass es wahr ist, was man mir erzählt. Doch selbst der Wahrheit auf die Schliche kommen zu wollen, ist etwas, das mich mit einem wirklich kaum zu beschreibenden Gefühl erfüllt. Irgendwie unheimlich und aufregend zugleich. – Und genau das ist es, was ich in diesem Moment vorhabe. Ich klappe den metallschwarzen Deckel auf und fahre das Gerät hoch. Kurz muss ich warten, bis sich mir der bereits vertraute Desktop zeigt. Dieses Mal sitze ich nicht hier, um zu schreiben. Ich habe Kento etwas versprochen, doch um dieses Versprechen einzulösen, stehen mir einige Herausforderungen bevor. Er hat mir eine E-Mail geschrieben, hat er gesagt. Ich weiß, dass ich auf meinem Smartphone kein E-Mail-Programm installiert habe. Folglich muss mein anderes Ich vom PC aus auf die Nachrichten zugegriffen haben. Fragt sich nur, auf welchem Wege. Ich öffne das Startmenü und durchforste die Auswahl nach einem Programm, das mir für E-Mails kompatibel scheint. Es dauert einige Zeit, doch dann ist diese erste Hürde auch schon gemeistert. Ich finde ein Programm, das sich »insMitter« nennt und mich entfernt an Outlook erinnert. Ich kenne Outlook von der Arbeit, privat habe ich immer einen anderen Client für meine E-Mails verwendet. Dieses Programm scheint sich ähnlich wie Outlook bedienen zu lassen. Damit stehe ich auch schon vor dem zweiten Hindernis: Ein Login ist erforderlich. Zu meiner Erleichterung ist meine augenscheinliche E-Mail-Adresse bereits vorgemerkt. Ich habe zumindest keine Bedenken, dass es meine ist, da sie meinen Namen enthält. Der Provider scheint ein privater zu sein. Aber wie steht es um das Passwort? Ich lehne mich weit gegen die Couch zurück und gönne mir ein tiefes Durchatmen, um meine grauen Zellen in Bewegung zu setzen. Es gibt viele Passwörter, die ich daheim verwendet habe. Einige sind sicherer, andere weniger. Wie viele ich insgesamt in Verwendung hatte, kann ich gar nicht zählen und es ist fraglich, ob ich mich ohne meine Aufzeichnungen an jedes einzelne erinnern werde. Ich hatte ähnlich wiederkehrende Passwörter für vielerlei Nutzungen, Einmalpasswörter für weniger wichtige Dinge und solche, die mit einer deutlich höheren Sicherheit versehen waren, wenn der Zugang mir besonders schützenswert erschien. Nun ist die Frage, in welche dieser Kategorien mein E-Mail-Postfach fällt. Vielleicht wäre es das Einfachste, das Passwort zurückzusetzen. Hm, vermutlich. Aber irgendwie verspüre ich das Bedürfnis, zu testen, ob ich mich selbst durchschauen kann. Das klingt doch auf einer Art sehr spannend, oder etwa nicht? Ich versuche es. Entschieden beuge ich mich vor und probiere das erste Passwort, das mir spontan in den Sinn kommt. – Falsch. Es folgt ein Zweites und ein Drittes, doch auch diese geben mir den Zugang zu meinem Postfach nicht frei. Das Vierte gebe ich nur zögerlich ein, mit demselben Ergebnis. Ich beschließe, es auf einen letzten Versuch ankommen zu lassen, bevor ich doch eine Passwortänderung durchführe. Bisher stammten alle versuchten Passwörter aus dem Privaten. Doch was, wenn …? Ich gebe die vertraute Kombination ein und betätige Enter. Dieses Mal scheint sich etwas zu tun. Ein Rädchen arbeitet, dann endlich öffnet sich mir eine neue Benutzeroberfläche und ich habe freien Zugang zu meinen privaten E-Mails. Ich lächle, stolz auf mich und mein anderes Ich. Ohne weitere Zeit zu verlieren, suche ich nach der E-Mail, von der Kento gesprochen hat. Sie zu finden, ist nicht schwer. Schon die Begrüßung verkündet mir unter meiner Namensansprache, dass ich eine ungelesene Nachricht habe. Der Eingang gestaltet sich sehr übersichtlich. Es liegen nicht sehr viele Nachrichten aus der Vergangenheit vor. Mehr noch stelle ich zu meinem Erstaunen fest, dass nahezu alle E-Mails von ein- und demselben Absender stammen. Dass es sich bei diesem um Kento handelt, erkenne ich sofort. Die E-Mail-Adresse verrät es und ich bemerke, dass der Provider derselbe ist, wie ich ihn verwende. Ich öffne die einzige Nachricht, die fett hervorgehoben ist. Ein einfaches Anklicken genügt, schon wird der Inhalt in das weite Anzeigefenster linkerseits hineingeladen. Ein Bericht taucht vor mir auf, der mich im ersten Moment überrascht, da er mehr Lesestoff beinhaltet, als ich im Vorfeld erwartet hätte. Flüchtig überfliege ich die vielen Zeilen. Wie ich schnell feststelle, handelt es sich hierbei um eine umfassende Erörterung auf Grundlage eines vorliegenden Textes, ganz wie Kento es gesagt hat. Ich erkenne aber auch Ansätze einer versuchten Interpretation. Auf den ersten Blick bin ich beeindruckt. Es macht den Anschein, dass sich Kento tatsächlich Zeit genommen hat, den mir unbekannten Text zu lesen und ihn auszuwerten. Kurz frage ich mich, wie lange er wohl an dieser Mail gesessen haben muss. Ganz egal. Ich freue mich, dass er sich sichtlich so viel Mühe für etwas gegeben hat, worum »ich« ihn offenbar gebeten haben muss. Ich scrolle nach unten, während meine Augen weiterhin über die Zeilen streifen. Ganz am Ende der Mail bemerke ich etwas, das wie eine Verlinkung aussieht, aber lediglich einen Titel mit Dateiendung beinhaltet: »Rain Beat«. Ich stutze. Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Nur kurz wäge ich ab, ob ich den Link anklicken soll oder nicht. Eigentlich steht das ganz außer Frage, denn etwas in mir ahnt, dass es sich bei »Rain Beat« um die dazugehörige Geschichte handeln muss. Eine Geschichte, die »ich« geschrieben habe. Dieser Gedanke versetzt mein Herz in rege Aufruhr. Mein Zweifel besteht keine fünf Sekunden gegen meine Neugier. Ein simpler Klick leitet mich auf eine neue Seite, die anfangs weiß ist, dann eine Art kleines Verzeichnis offenbart. Ein Server zum Ablegen von Dateien, vermute ich. Die Adresszeile verrät mir, dass er zum E-Mail-Provider gehören muss. Das Verzeichnis enthält exakt drei Dateien. Allesamt Textdokumente, wie ich anhand der Endung schlussfolgern kann. Hier finde ich »Rain Beat« wieder. Anhand der Auflistung, die nicht alphabetisch ist, kann ich mir sicher sein, dass es »mein« jüngstes Schaffenswerk ist. Darüber finden sich zwei Dokumente mit den Titeln »Outsider« und »Canaria«. Hm, irgendwie klingen sie untypisch für mich. Mit einem Doppelklick auf »Rain Beat« versuche ich, das Dokument zu öffnen. Mir erscheint ein kleines Dialogfenster, dass ein Download durchgeführt wird. Im nächsten Moment öffnet sich das Schreibprogramm, welches ich bereits kenne, und »Rain Beat« ist mir frei verfügbar. Es ist das erste Mal, dass ich einen der Texte vor mir sehe, welche mein anderes Ich in dieser Welt verfasst hat. Mein aufgebrachter Herzschlag ist kaum zu toppen. Ich bin so nervös, dass ich in Tränen ausbrechen könnte. Das Gefühl, welches mich überkommt, ist kaum zu beschreiben. Kurz prüfe ich den Umfang des Dokuments. Die Geschichte ist nicht sehr lang. Sie scheint mir etwas Kleines zu sein, was ich locker binnen einiger Stunden schreiben würde. Ich beginne zu lesen …   In der Küche schrillt der Ofenwecker. Ich bin noch nicht ganz fertig mit dem Text, aber ich muss wohl oder übel unterbrechen, um die Kuchen herauszuholen, bevor sie schwarz werden. „Ich glaube, die Kuchen sind fertig.“ „Ich geh‘ schon.“ Nur widerwillig klappe ich den Laptop zu und erhebe mich. Ukyo muss irgendwann, ohne dass ich es bemerkt habe, in sein Zimmer gegangen sein. Nicht schlimm, die Tür steht immerhin offen. Mir soll’s recht sein, es kommt mir nur gelegen. Es wäre mir äußerst unlieb, wenn er mir jetzt ins Gesicht sehen und die Emotionen daraus ablesen könnte, die sich darauf spiegeln müssen. Noch nicht ganz bei mir, gehe ich die wenigen Schritte zur Küche hinüber. Flüchtig werfe ich einen Blick auf die Wanduhr. Sobald ich mit den Kuchen durch bin, muss ich mich auch schon für die Arbeit fertig machen. Ich sollte diesmal etwas mehr Zeit dafür einplanen, denn mit meinem aktuellen Gefühlschaos mag ich wahrlich nicht vor die anderen treten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)