Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 11: Hanna ----------------- Mit Sawa im Gespann gestaltet sich die Arbeit gleich sehr viel angenehmer. Es tut gut, jemanden zu haben, mit dem ich hin und wieder reden kann, wenn gerade nichts zu tun ist. Sawa ist ein wirklich sehr aufgewecktes Mädchen mit einem freundlichen Gemüt. Ihre ausgelassen-lockere Art ist ansteckend, weswegen ich gar keine Gelegenheit habe, ein weiteres Mal in ein Tief zu rutschen. Selbst die Momente, in denen Ikki bei uns steht und etwas zu mir sagt, nehme ich gar nicht mehr als so dramatisch wahr. Ich fühle mich wohl, rundum, und das ist wohl einzig Sawa zu verdanken. Ukyo hat das Café verlassen. Er war schon nicht mehr dagewesen, als ich aus meiner kurzen Pause zurückgekehrt bin. Seinen Freund hat er mitgenommen. Es betrübt mich, dass er gegangen ist, ohne Bescheid zu sagen. Die paar Minuten hätte er auch noch auf mich warten können, sodass ich ihn hätte verabschieden können. Es stimmt mich traurig, dass er allem Anschein nach nicht einmal eine Nachricht für mich hinterlassen hat. Ja, doch, ich bin ziemlich enttäuscht davon und kann es nicht einmal leugnen. Mit Sawas Hilfe lenke ich mich, so gut ich kann, von all den Dingen ab, die mich im Moment schwer belasten: meinem Defizit gegenüber Ikki und Kento, dem seltsamen Gespräch zwischen Ukyo und dem Fremden und auch von dem seltsamen Mädchen, das mir einfach nicht aus dem Kopf will. Wegen ihr stand ich dumm vor Sawa da. Ich glaube, wäre sie nicht so eine nachsichtige Natur, wäre das ganze Szenario nur umso peinlicher für mich geworden. Schlimm genug, dass sie nun von mir denken muss, ich würde irgendwelchen Hirngespinsten nachjagen. Und das, obwohl ich mich so schon genug von der Gruppe abhebe. Noch mehr Macken brauche ich wirklich nicht, um unter ihnen aufzufallen. Mann, wieso muss mir das nur alles passieren? „Du siehst ganz schön oft zu ihm“, werde ich von Sawa aus meinen ziellosen Gedanken geholt, gerade als sie hinter mir aus der Küche zurückgekehrt ist. Fragend sehe ich sie an. „Hm? Was meinst du?“ „Na, Ikki-san.“ „Was ist mit ihm?“ „Fällt dir das selbst nicht mehr auf?“, will sie wissen. Ihre Augenbrauen verziehen sich in Skepsis. „Du siehst immer wieder zu ihm rüber. Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?“ „Was? Nein, eigentlich nicht.“ Ich stehe vollkommen neben der Spur. Dabei ist es weniger das, was sie angesprochen hat, als vielmehr die Art, wie sie es tut. Irgendetwas erscheint mir daran eigenartig. „Was ist mit dir?“, frage ich sie. „Du scheinst ja auch dauernd zu ihm zu sehen, wenn dir auffällt, dass ich das tue.“ „Was? Nein! Ich schaue zu dir, Dummkopf. Da bleibt mir ja zwangsweise keine andere Wahl, als auch zu ihm sehen zu müssen.“ Holla? Was ist denn nun auf einmal los? Wo ist die Sawa, die ich bis eben noch glaubte zu kennen? Wieso habe ich das Gefühl, als schwinge Abneigung aus ihren Worten mit? „Hast du irgendwie Streit mit ihm?“, möchte ich wissen. Sie verfällt in ein kurzes Schweigen. Ihre Aufmerksamkeit liegt auf unserem Kollegen, der gerade die Bestellungen zweier Mädchen aufnimmt. „Nicht direkt“, sagt sie vorsichtig. Aber sie ist nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen, das kann ich ihren Worten entnehmen. Schweigend folge ich ihrem Blick. Eine Zeit lang beobachte ich Ikki bei seinem Tun, wobei ich meine grauen Zellen bemühe. Wenn ich so darüber nachdenke, hätte es mir gleich auffallen müssen. Ikki war oft bei uns gewesen, wenn auch nie für lang, da die Kundschaft nach wie vor viel von ihm abverlangt. Aber wann immer unsere Gruppe kurz beisammen war, war Sawa auffallend ruhig neben mir gewesen. Ich erinnere mich nicht, dass sie groß zu ihm gesprochen hätte. Auf Fragen hatte sie nur knapp geantwortet und die meiste Zeit mir das Reden überlassen. Wahrscheinlich war ich so geblendet von meiner eigenen guten Laune gewesen, dass mir gar nicht aufgefallen ist, wie anders ihr Verhalten gegenüber Ikki im Vergleich zu Toma war. Von ausgelassener Plauderlaune keine Spur. Ich krame in meiner Erinnerung. In der Serie war Sawa immer misstrauisch gegenüber Ikki gewesen. Sofern man das so nennen kann. Und im Spiel … im Spiel war es ähnlich, oder? Aber sie hatte nie böses Blut gegen ihn gehegt. Nicht dass ich wüsste zumindest. Sie hat nur immer versucht, die Heroine vor einer falschen Entscheidung zu bewahren, damit sie nicht verletzt wird. Aber müsste das nicht längst in der Vergangenheit liegen? Vorsichtig sehe ich zu Sawa. Ich versuche, etwas aus ihrem Gesicht abzulesen, doch keine Chance. Ihre Miene ist unbewegt und gleichermaßen undurchlässig. Gerade, als wollte sie nicht, dass ich etwas aus ihr lese. Und dann, als sie bemerkt, dass ich ihren Zustand verdächtige, lenkt sie auf ein anderes Thema um und lässt mir mit ihrem fröhlichen Geplauder keine Gelegenheit, irgendwelche Fragen zu stellen.   Um achtzehn Uhr verkündet Waka uns und den Kunden die »Happy Hour«, die die nächsten drei Stunden andauern soll. Ich erfahre, dass es eine Kombination aus dem, was wir in Deutschland als »Doppeldecker« kennen, und einem Extraservice mit spielerischer Kundeninteraktion ist. Die Kunden erhalten zu jedem Drink, den sie bestellen, einen zweiten für gerade einmal achtzig Yen mehr. Zudem dürfen sie Maid und Butler zu kleinen Spielen herausfordern, bei denen sie, sofern sie gewinnen, ein Zufallslos bekommen können, das sie bei ihrem nächsten Besuch einlösen können. – Das also meinte Waka mit seiner Aussage, dass die Kunden heute am Freitag »eine Extrawurst gebraten bekommen«. Meine anfängliche Skepsis schwenkt bald in Spaß um. Ich kenne nicht viele der Spiele, die hier in Japan üblich zu sein scheinen, weswegen ich die ersten schnell verliere. Doch ich bin ein guter Lerner und habe bald einige Kniffe heraus, um das Café vor einem Freitagsbankrott zu bewahren. Zu meinem Glück ist Sawa geübter als ich und Ikki dürfte es, meines Wissens nach, generell nicht möglich sein, in einem Spiel zu verlieren. Ich bin mir sicher, dass er nur deswegen hin und wieder eine Niederlage hinnimmt, um die Damen und Herren nicht gänzlich zu verärgern und an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Wie dem auch sei, ich muss zugeben, dass es mich erheitert. Da die Küche in dieser Zeit weniger in Anspruch genommen wird, sieht man auch Kento öfter vorne. Er hält sich aus den meisten Spielen heraus, lässt es sich aber nicht nehmen, vereinzelte Herausforderungen im Go oder Sudoku anzunehmen. Ich werde sogar Zeuge einer spannenden Partie gegen Ikki, die über mehrere Runden geht. Jede Einzelne dauert zwar nicht sehr lange, dafür sind ihre aufbauschenden Wortgefechte umso unterhaltsamer. Fast fühle ich mich nicht mehr wie auf Arbeit, sondern wie in einer großen Runde, in der eine ausgelassene Zeit in der Gemeinschaft im Vordergrund steht. Doch diese schöne Zeit endet nahezu abrupt, als Waka pünktlich eine viertel Stunde vor planmäßiger Schließung im Café auftaucht. Er sagt nichts und hält sich im Hintergrund, doch sein wacher Blick streift jeden einzelnen Kunden. Ich weiß nicht, was und wieso, aber mir scheint, als würden die Kunden irgendetwas aus seinen Augen ablesen, denn sie machen sich eilig aufbruchbereit, kaum dass sie ihnen begegnet sind. Bis halb zehn sind nahezu alle Gäste verschwunden und jene, die sich noch tapfer an Ikki festklammern, werden von eben diesem höflich und mit Dank für ihren heutigen Besuch verabschiedet. „Männer, gut gekämpft“, belobigt Waka unsere heutige Arbeit. Naja, sofern man es als ein Lob abtun mag. „Räumt das Schlachtfeld, im Anschluss habe ich eine Ankündigung zu machen. Konferenz in einer viertel Stunde. Das ist alles, rühren!“ Zweifelnd lege ich den Kopf schief. Waka ist wirklich ein komischer Kauz. Seine pseudomilitärische Art ist in der Tat äußerst gewöhnungsbedürftig. Ich frage mich, ob es mir je gelingen wird, so richtig warm mit ihr zu werden. „Du hast den Boss gehört“, höre ich Sawa neben mir sagen, bevor sie in mein Sichtfeld tritt. „Na dann, an die Arbeit! Je mehr wir uns ranhalten, desto eher sind wir fertig und können nach Hause gehen“, lächelt sie mir hochmotiviert entgegen. Ich nicke, wobei ich ihr Lächeln erwidere. Eigentlich ist Waka gar nicht so übel. Welchen Beweis braucht es mehr, dass er gar kein so schlechter Kerl sein kann, wenn er so tolle Leute hat, die ihn unterstützen? Sawa und ich machen uns also daran, die Tische aufzuräumen und zu wischen, während Ikki die Arbeiten am Tresen vornimmt. Zusammen sind wir ein gutes Team und die Aufräumarbeiten gehen schnell voran. Ich hätte es anfangs nicht gedacht, aber uns reichen tatsächlich die vorgeschriebenen fünfzehn Minuten, um alles Nötige erledigt zu haben, bis auf das Hochstellen der Stühle und das Bodenwischen. Exakt nach Ablauf unserer Frist taucht Waka auch schon wieder im Cafébereich auf. „Männer, die Waffen nieder! Es ist Zeit für unsere abschließende Konferenz. Setzen!“ Mir entweicht ein leises Seufzen. Nein, daran werde ich mich definitiv nicht gewöhnen. Aber ich nehme mir vor, Wakas Eigenart einfach hinzunehmen und zu akzeptieren. Er meint es ja schließlich nicht böse, rede ich mir ein. Als ich mich herumdrehe und auf die Bänke zubewegen will, gefriere ich inmitten der Bewegung. Ich erkenne Waka beim Tresen, und hinter ihm … „Eh? Hanna-chan?“ Ja, das hätte wohl ich sein können, aber nein: Das war Sawa, die gerade noch bei mir gestanden hat und soeben nach vorn geprescht ist. Direkt auf das mir nicht unbekannte Mädchen zu, das mit etwas Abstand neben Waka zum Stehen gekommen ist. „Was machst du denn hier? Solltest du nicht zu Hause sein und das Bett hüten? Du Dummkopf, sei doch nicht so übermütig! Und das so spät im Dunkeln. Bist du ganz allein hergekommen? Geht es dir auch gut?“ Wie versteinert beobachte ich, wie Sawa dem Mädchen um den Hals fällt. Sie, Hanna, erwidert die Umarmung etwas zögerlich, aber mit einem weichen Lächeln. Es ist dasselbe Lächeln, welches ich schon so oft gesehen habe. Auf Bildern, bewegt wie unbewegt. Ich bin wie paralysiert, jedoch in meinem Inneren ist alles in Bewegung. Mein Kopf läuft Amok, in meiner Brust wummert es und meinen Körper überkommen allerlei Temperaturen von heiß bis kalt. Emotionen von gegensätzlicher Natur werfen sich fröhlich Bälle hin und her, sodass ich nicht recht weiß, ob ich euphorisch oder panisch bin beim Anblick unseres unerwarteten Besuches. »Hanna«, sie ist die Heroine. Wie ich es mir gedacht habe. Wie ich es gehofft habe. Sie sieht genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Fast schockiert es mich. Sie ist genau so, wie ich sie erwartet habe. Und genau aus diesem Grund frage ich mich plötzlich, ob es wirklich so eine gute Idee war, ihr begegnen zu wollen. „Erdrück sie nicht. Ich bin froh, dass sie wieder geradeaus laufen kann, ohne dass ich sie stützen muss.“ Durch meinen Körper geht ein Ruck. Ich erkenne Toma, der gerade aus dem hinteren Bereich nach vorn gekommen ist und sich direkt zu den beiden Freundinnen gesellt. Lässig liegen seine Hände in den Taschen seiner schwarzen Jacke und er besieht die Mädchen mit einem offenen Lächeln. „Toma-san? Du hier? Warte, hast du sie etwa herbegleitet?“ „Sehe ich etwa so aus, als würde ich sie im Dunkeln allein durch die Gegend ziehen lassen? Besonders in ihrem Zustand?“ „Mir geht es gut …“ „Das reicht!“, braust Waka dazwischen und bringt ihre Unterredung zu einem raschen Ende. „Ruhe, alle miteinander! Das ist kein Kaffee-und-Kuchen-Treff, was wir hier veranstalten. Ich erwarte mir Disziplin von jedem Mann! Jedem Einzelnen! Setzen, sofort!“ Unter leisem Getuschel, aber immerhin gehorsam, setzt sich das Dreiergespann in Bewegung. Auch ich ermahne mich im Stillen, nicht länger wie festgewachsen dazustehen, und gehe hinüber zu den Bänken. Neben mir findet Hanna ihren Platz, ihr gegenüber Sawa und Toma wiederum daneben auf je einem der Stühle. Ikki hat sich nicht zu uns gesetzt, er bevorzugt offensichtlich die andere Seite des Cafés und sitzt dort mit vornehm überschlagenen Beinen auf der rotgepolsterten Bank. „Chef“, tritt Kento aus der Küche und wendet sich direkt an Waka. In seiner Hand hält er einen Teller, auf dem ich ein paar der Windbeutel erkenne, die ich den Tag über den Kunden aktiv angeboten hatte. „Was mache ich mit denen? Wenn ich sie über Nacht in die Kühlung lege, ist die Sahne morgen eingefallen. Wir sollten sie den Kunden dann nicht mehr unter dem vollen Preis anbieten“, erklärt er. „Zeig her.“ Die beiden stellen sich zusammen und ich beobachte interessiert, wie Waka die Gebäckstücke genauestens inspiziert. Er scheint zu überlegen, wobei er sich eine Hand an das Kinn legt. „Verteile sie. Morgen will ich sie nicht mehr im Altbacksortiment haben. Macht damit, was ihr wollt.“ Ich zucke mit den Ohren. Hoffnung flimmert in mir auf. Heißt das, wir verteilen sie unter den Anwesenden zum Verzehr? Oh, ich will, ich will! Mag haben, mag haben! Windbeutel! Windbeutel von Kento, yay! Kento sieht erst auf den Teller, dann in die Runde. „Also gut, wir haben hier drei Windbeutel übrig. Wie teilen wir sie auf?“ Erwartungsvoll sehe ich in die Runde, aber irgendwie scheint keiner etwas sagen zu wollen. Ich möchte unbedingt einen der Windbeutel probieren, traue mich aber nicht, als Erste wie ein hungriger Aasgeier aufzuspringen und den Egoisten heraushängen zu lassen. „Naja … wir sind sechs Leute“, sage ich daher und wage einen vorsichtigen Anfang. „Gut, mit Waka-san eigentlich sieben. Wir könnten die Windbeutel in der Mitte teilen, sodass jeder etwas abbekommt?“ „Für mich nicht“, sagt Toma gleich, wobei er lächelnd abwinkt. „Ich bin nur zu Besuch und auch nur zur Begleitung hier. Ich habe gar kein Anrecht darauf, euch eure Belohnung für die harte Arbeit wegzunehmen.“ „Eh? Seit wann bist du denn so selbstlos?“, neckt Sawa ihn von der Seite. „Bin ich das nicht immer?“ „Für mich bitte auch nicht“, spricht Hanna leise neben mir und zeigt ein vorsichtiges Lächeln. „Wie Toma schon gesagt hat, sind wir nur zu Besuch. Außerdem haben wir schon gegessen.“ „Ihr wisst schon, dass es wenig sinnvoll ist, wenn alle nur ablehnen?“, gibt Sawa zu bedenken, wobei sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnt und betont die Arme verschränkt. Ich wittere meine Chance. „Also ich würde sehr gern einen probieren“, melde ich mich zu Wort und strecke die Hand nach oben. „Für mich bitte keinen“, verkündet Ikki von der anderen Seite. Die beiden Freunde werfen sich einen Blick zu, was Ikki ein Schmunzeln auf die Lippen lockt. „Nicht, dass ich Kens Fähigkeiten in der Küche nicht vertrauen würde. Du weißt, ich liebe deine handgemachten Schinkenröschen sehr. Aber geben wir doch lieber den anderen den Vorzug.“ Kentos Augen verschmälern sich. „Wenn du meinen Fähigkeiten so sehr vertraust, wozu dann dieser Kommentar?“ Dann richtet er sich erneut an uns: „Ich lehne ebenfalls ab. Süßes zum späten Abend spricht entgegen meiner Gewohnheit. Macht also bitte unter euch aus, wer sie nimmt.“ „Dann gib doch Hanna einen“, schlägt Sawa vor. Breit lächelnd sieht sie zu der Freundin hinüber. „Besuch hin oder her, du arbeitest schließlich auch hier. Dir muss doch der Gaumen kitzeln nach etwas so Leckerem, nach all dem Verzicht der letzten Tage.“ „Aber ich habe nichts dafür getan“, entgegnet sie zögerlich. „Ihr habt heute alle hart gearbeitet, nicht? Du solltest einen nehmen, Sawa-chan. Du magst doch Gebäcke mit Sahne, richtig?“ Ich bemerke, wie sich Sawas Wangen rötlich verfärben. Sie scheint widersprechen zu wollen, findet aber wohl keine Argumente, weswegen sie schließlich die Schultern hebt und mit einem leisen „Na gut, überredet“ nachgibt. „Na schön, dann gib mir eben den Letzten, damit das hier ein Ende hat“, erklärt sich Toma bereit. „Natürlich nur, wenn Waka-san nicht möchte“, richtet er sich rückversichernd an unseren Boss. „Kein Bedarf“, lehnt dieser ab. „Seht nur zu, dass es zu einem Ende kommt. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich würde gern irgendwann einmal nach Hause kommen.“ „Dann sage ich nicht Nein.“   Kurz darauf sind die übrigen Windbeutel unter mir, Sawa und Toma aufgeteilt und auch Kento hat seinen Platz gegenüber von Ikki eingenommen. Ich bin voller vorfreudiger Erwartung, das Gebäck zu probieren. Es ist ewig her, dass ich zuletzt einen richtigen Windbeutel genießen durfte. „Beginnen wir nun die Konferenz.“ Vorsichtig hebe ich den oberen Deckel von der Sahne, der mit Puderzucker bestreut ist. Mit der Kuchengabel probiere ich von der Füllung. Hm, nicht schlecht. Die Sahne ist sehr leicht, locker geschlagen, schmeckt aber ziemlich süß. Etwas zu süß für meinen Geschmack, aber ich erinnere mich, dass in Japan etwas mehr Süße wohl nicht so unbeliebt ist. Von den Kunden hatte sich auch niemand beschwert, also wird es nur mein persönliches Ermessen sein. Egal, es stört mich nicht sonderlich. „Zum Ersten: Wie ihr inzwischen mitbekommen habt, ist unsere Armee wieder vollständig. Hanna hat mir verkündet, dass sie rehabilitiert ist. Sie wird ab morgen wieder mit uns in die Schlacht ziehen.“ Ich wage nicht, zu Hanna hinüberzusehen. Reglos und ruhig sitzt sie neben mir, dass ich mir fast einbilden könnte, sie wäre gar nicht da. Leider sagt mir mein unruhiges Gefühl, dass dem nicht so ist. Egal, ich will nicht zu sehr darüber nachdenken. „Zum Zweiten: Es ist entschieden. Der 6. Dezember wird unter dem Kodex »Nikolaus und Knecht Ruprecht« stehen. Ihr werdet von eurer üblichen Dienstuniform absehen und stattdessen den Feind unter einer themengeführten Tarnung in die Irre führen. Spielt eure Rolle gut, täuscht ihn und haltet ihn somit unter Beschuss. Vergesst nicht: Der Kunde ist der Feind!“ Zweifelnd blicke ich zu meinem Boss auf. Es ist wirklich bedenklich, welche Ansichten er zu seiner Kundschaft vertritt. Erwartet er, dass wir sie mit der Rute verdreschen und schreiend aus dem Café verjagen? Was ist das bitte für ein Geschäftskonzept und wie um alles in der Welt schafft es Waka, dass sein Café trotzdessen läuft? Und das gar nicht einmal so schlecht, wie ich anmerken möchte. „Wir werden ihm unsere Kooperation vortäuschen. Es werden Naschereien auf den Tischen bereitstehen, an denen er sich laben kann. Maids reichen ihm als Nikolausvertreter die Hand, Butler schlagen sie als Knecht Ruprecht zurück. Ist das Konzept jedem klar? Verwirrt ihn, und dann überrennt ihn! Wir werden siegreich aus dieser Schlacht hervorgehen!“ Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. Heißt das, die Maids spielen den freundlichen Nikolaus und die Butler den bösen Knecht Ruprecht? Ich kann mir schwerlich vorstellen, wie er das genau beabsichtigt. Vor allem das mit dem Zurückschlagen der Hand. – Yay, Kirschfüllung unter der Sahne! „Des Weiteren erhaltet ihr folgenden Auftrag: Angesichts der Tradition und um das Manöver perfekt zu gestalten, schieben wir den Stammkunden einen Extrastock in den Arsch. Also, Männer, backt Kuchen! Ich erwarte, dass ihr dem Feind Glauben macht, es handle sich um ein Friedensangebot. Aber da hat er sich geschnitten! Niemals geben wir unsere Stellung auf! Niemals weichen wir vor dem Feind zurück! Niemals!“ Huh, Kuchen? Hat er sich das auch wohlüberlegt? „Entschuldige bitte, Chef“, meldet sich Sawa zu Wort und hebt die Hand. „Heißt das, dass wir Kuchen für die Kunden backen sollen?“ „Für den Feind!“, korrigiert er. „So ist es.“ „Wären dann nicht kleine Küchlein angemessen? Alles andere wäre zu viel Aufwand und könnten die Kun… der Feind ohnehin nicht allein essen.“ „Das übergebe ich ganz in eure Hand“, erklärt er. „Die Beschaffung wie Herstellung dieser Waffe ist euer Kampf, den ihr allein ausfechten müsst. Aber seid gewiss, dass er uns zu unserem gemeinsamen Sieg verhelfen wird.“ „Dann schlage ich die Küchlein von IsyBake vor“, erklärt sie und sieht freudestrahlend in die Runde. „Die haben wirklich ganz tolle Backmischungen von Vanille über Schoko bis Stracciatella und hast-du-nicht-gesehen! Es gibt auch noch welche, die man füllen oder dekorieren kann und jedes Päckchen hat noch weitere Serviervorschläge dabei. Außerdem ist direkt eine Kuchenform enthalten und die Anwendung ist supereinfach. Sie kosten auch nicht sehr viel, der Aufwand ist minimal und das Ergebnis echt lecker. Mit denen kann man einfach nichts falschmachen!“ Oh, da kennst du mich aber schlecht. Ich habe seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gebacken. Jedenfalls nichts, wo ich zuvor noch etwas hätte selbst anrühren müssen. „Kuchen für die Kunden, hm?“, gibt Toma laut zu bedenken. „Da werden wir aber einiges aufwarten müssen, um Shin zu überzeugen“, wendet er sich grinsend an Hanna. „Für den Feind!“ „Wie lautet der Plan, Ken?“ „Hm.“ Ich beobachte, wie Kento in einer nachdenklichen Geste die Arme vor der Brust verschränkt. „Du hast gehört, was der Boss gesagt hat. Das ist eine Schlacht, die jeder für sich selbst zu schlagen hat. Allerdings sehe ich in diesem Zusammenhang Anlass zu bedenken, ob es nicht sinnvoller wäre, in diesem Fall eine Ausnahme zu machen und für diese Aufgabe in Teams zu arbeiten.“ Ikki zeigt ein erfreutes Lächeln. „Nicht wahr?“ „Ikki-san, Kento-san. Denkt ihr, dass ihr allein zurechtkommen werdet?“, wirft Toma ihnen neckend zu. „Hegst du etwa Zweifel in meine Backfertigkeiten?“, fängt Ikki seine Bemerkung mit einem amüsierten Schmunzeln auf. „Kannst du denn backen?“ Oh, darauf bin ich jetzt aber gespannt! „Wie wäre es, wenn du es für dich selbst herausfindest?“, gibt Ikki herausfordernd zurück. Langsam schlägt er das überschlagene Bein zurück und hebt den Zeigefinger empor, um Aufmerksamkeit zu erfordern. „Wie steht es darum: Ich schlage einen Wettbewerb vor. Wer die besseren Kuchen bäckt, gewinnt. Teams sind gestattet, Schiedsrichter sind die Kunden. Das Verliererteam trägt die entstandenen Kosten des Gewinnerteams und übernimmt für eine Woche die Bodenreinigung. Es gewinnt, wessen Kuchen besser bei der Kundschaft angekommen sind. Was sagst du?“ Toma verfällt in ein andächtiges Schweigen. Ich kann seinem ernsten Gesicht ablesen, dass er mit Zweifeln ringt. „Und die Teamaufstellung?“, will er wissen. „Shin und ich gegen Kento-san und dich?“ „So sieht es aus“, lächelt Ikki zurück. Er scheint zuversichtlich. „Und was ist mit den Mädchen?“ „Ich glaube, wir halten uns da besser raus“, sagt Sawa und schenkt Hanna und mir ein breites Grinsen. „Wenn die Jungs ihre Spiele spielen, müssen ja noch ein paar Leute vernünftig bleiben, nicht?“ Hanna bestätigt diese Aussage mit einem zaghaften Kopfnicken. Ich selbst halte mich gänzlich aus dieser Angelegenheit heraus. Um ehrlich zu sein, amüsiert mich das kleine Schauspiel, welches die Jungs uns bieten, und ich wäre sehr gespannt auf ihren Wettstreit. Auch wenn ich jetzt schon glaube zu wissen, wie er ausgehen wird. Meine Aufmerksamkeit bleibt an Hanna haften. Nur für diesen kurzen Moment, in welchem ich bemerke, wie sie einen zögerlichen Blick zu Ikki herüberwirft. Ich folge ihm und erkenne Ikkis vorsichtiges Lächeln, das ihr zu gelten scheint. Irgendeine Botschaft scheint darin zu liegen, und als ich wieder zu Hanna sehe, hat sie ihren Blick auch schon wieder gesenkt. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber ich habe das unweigerliche Gefühl, dass hier etwas in der Luft liegt. Und fühle mich unbehaglich dadurch. „Also gut“, höre ich wieder Toma sagen, was mich zu ihm sehen lässt. „Einverstanden. Aber denke nicht, dass wir gegen euch verlieren werden. Sowohl Shin als auch ich sind sehr gut in der Küche“, grinst er siegessicher. „Gebt euer Bestes“, besieht Ikki seine Worte mit einem Lächeln. Es bewirkt, dass Toma um ein Weiteres die Mundwinkel geradezieht. Ich schüttle den Kopf, während ich mich dem Rest meines leckeren Windbeutels zuwende. Oh, Toma. Lass dich doch nicht so sehr von ihm einschüchtern. Es ist wirklich nicht fair, aber ich werde mich hüten, etwas zu sagen.   Nach Beendigung unseres Teammeetings habe ich mich bereiterklärt, das Wischen des Bodens im Café zu übernehmen. Sawa hat verkündet, dass sie früh aufbrechen will, um Mine noch über die Pläne für den 6. Dezember zu informieren. Auch Toma und Hanna wollen so langsam los, damit sie sich noch ein wenig ausruhen und Toma sich mit Shin beraten kann, sofern dieser noch wach ist. Ikki und Kento dürften derweil schon in der Umkleide sein, aber so genau weiß ich das nicht. Lange brauche ich nicht für diese Aufgabe. Als ich endlich fertig bin und das Wasser wegbringen will, bemerke ich Hanna und Ikki nahe der Tür zum Personalbereich. Beide scheinen in ein Gespräch verwickelt zu sein, was mich ärgert, denn ich muss wohl oder übel an ihnen vorbei. „Und dir geht es wirklich besser?“, höre ich Ikki zu ihr sagen, was mir einen kleinen Stich versetzt. „Bist du sicher, dass du morgen wieder auf Arbeit kommen kannst?“ „Ja. Das Fieber ist verschwunden, also …“ „Überanstreng dich nicht. Wenn du noch Zeit brauchst, nimm sie dir ruhig. Der Boss wird sicherlich Nachsicht haben.“ Ich seufze innerlich. Dieses Süßholzgeraspel will ich wirklich nicht mitanhören. So schnell ich kann versuche ich, an den beiden vorbeizukommen. „Wie wirst du nach Hause kommen?“ „Toma begleitet mich.“ „Hm, verstehe.“ „Ikkyu, ich bin fertig. Können wir dann los?“ Auf meinem Weg zum Pausenraum kommen mir Kento und Toma entgegen. Alle sind aufbruchbereit, bis auf mir. „Sekunde noch“, erwidert Ikki. Ich sehe es nicht, höre aber, dass er sich darauf noch einmal an Hanna wendet: „Also dann, ich muss los. Pass bitte gut auf dich auf.“ „Ja, du auch auf dich.“ „Können wir dann ebenfalls los? Ich muss unterwegs noch Shin anrufen.“ „Ähm, wäre es okay für dich, noch einen kleinen Moment zu warten? Es gibt da etwas, das ich noch erledigen möchte.“ „Hm? Mich stört’s nicht … Dann gehe ich derweil schon einmal mit raus und rufe ihn direkt an.“ „In Ordnung.“ Ich mache meiner Schwermut in einem langen Seufzer Luft, während ich das benutzte Wasser entsorge. Aus dem Flur rufen mir die Jungs noch einen schönen Feierabend zu, ehe ich höre, wie sie das Café im Geplauder verlassen. Mir ist wirklich nicht wohl. Alles, woran ich jetzt noch denken kann, ist, dass ich ebenfalls so schnell es geht nach Hause will. Ich will eine rauchen, mich verkriechen und mich selbst einen Idioten schimpfen. Es ärgert mich, dass ich so viele Dinge nicht bedacht und falsch kalkuliert habe. Jetzt ist Hanna endlich da und sie ist die, die ich gehofft hatte, aber ich kann mich nicht so darüber freuen, wie ich es gern getan hätte. Dabei kommt diese Gelegenheit nie wieder. Verdammt! Ich hätte es früher bedenken müssen. Wenn Hanna hier ist, bedeutet das, dass Ikki ihr Lover ist. Sie ist außerdem eine wichtige Person für Shin, Toma, Sawa und Ukyo. Und was bin ich dagegen? Ein Nichts. Nur ein Fremdling, der nicht einmal weiß, warum er hier ist und wozu. Neben Hanna bin ich bedeutungslos, überflüssig. Ich habe mich die ganze Zeit überschätzt und war drauf und dran, mir etwas einzureden. Das trübt das Bild schon sehr. Wie dumm von mir! Ich bin ja so naiv! „Entschuldige bitte, Shizana-san?“, höre ich eine zögerliche Stimme zu mir sagen, gerade als ich alles weggestellt habe und zu meinem Spind gehen will, um mich umzuziehen. In der Tür erkenne ich Hanna, die vorsichtig zu mir herübersieht und nicht sicher zu sein scheint, ob sie eintreten darf oder nicht. Oh nein, bitte nicht jetzt. Nicht, wenn ich gerade mit mir selbst zu kämpfen habe. Sie anzusehen, wie sie unschuldig und vollkommen ahnungslos zu meinen finsteren Gedanken dasteht, löst ein schweres Gefühl in meiner Brust aus. Aber ich bringe es nicht fertig, sie wegzuschicken und von mir zurückzuweisen. War es nicht das, was ich gewollt hatte? Ich bin ja so scheinheilig. Ich mahne mich, mich zusammenzureißen. Sie kann schließlich nichts dafür und wird kaum wissen können, was ihr Anblick in mir auslöst. Also halte ich mich an, sie freundlich zu empfangen. „Ist schon okay, du kannst ruhig reinkommen“, lade ich sie ein und schenke ihr ein tapferes Lächeln. „Wolltest du nicht mit Toma los?“ „Ich … wollte zuvor kurz mit dir reden“, spricht sie leise. Ich staune. Welchen Grund sollte sie haben, mit mir reden zu wollen und dafür später nach Hause zu können? Zumal Toma draußen auf sie wartet. „Hm, okay?“, bringe ich vorsichtig hervor. Schnell angle ich meine Sachen aus dem Spind hervor, lehne die Tür an und gehe hinüber zu den Stühlen, wo ich sie ablege. Offen wende ich mich Hanna zu: „Was gibt’s denn?“ Zögerlich, als könnte ich sie beißen, tritt sie an mich heran. „Toma hat mir erzählt, dass du für mich eingesprungen bist und meine Schichten übernommen hast“, erklärt sie leise. „Es tut mir leid, dass ich dir damit so viel Ärger bereitet habe. Und ich möchte mich bei dir bedanken. Vielen Dank, dass du mir ausgeholfen hast.“ Ich bin mit ihrer höflichen Geste überfordert. Für mich ist es ganz selbstverständlich, dass Kollegen einander aushelfen. Auf meiner Arbeit hätte sich auch niemand dafür bedankt. Davon abgesehen, habe ich bis vor Kurzem gar nicht gewusst, dass einige meiner Schichten nur ihren Ausfall gedeckt haben. Und trotzdem steht sie, die Heroine, jetzt vor mir und verneigt sich höflich, ohne dass ich weiß, warum eigentlich. „Das ist doch ganz selbstverständlich“, erkläre ich und überlege, wie ich sie dazu bewegen kann, keinen Hehl aus dieser Sache zu machen. „Du warst krank, richtig? Dafür kann doch keiner was. Das hätte jeden treffen können. Und ich bin mir sicher, jeder andere hier hätte genau das Gleiche getan, ganz gleich, wen es erwischt hätte. Wir sind schließlich Kollegen, richtig? Da ist das doch ganz normal. Kein Grund, sich zu entschuldigen und du musst dich dafür auch wirklich nicht bedanken.“ „Es ist nicht so selbstverständlich“, sagt sie, wobei sie sich wieder in eine aufrechte Haltung begibt. Sanftmütig lächelt sie zu mir herüber. „Es muss viel Stress für dich bedeutet haben. Shin hat mir erzählt, dass es dir auch nicht so gut ging.“ „Er übertreibt“, werfe ich zurück und stoße ein leises Schnauben aus. „Ich war an dem einen Tag etwas durch den Wind, das ist alles. Mir geht es bestens.“ „Geht es dir auch wirklich gut?“, will sie wissen. Ich erkenne, dass ihre Bemerkung meinem Halstuch gilt, welches sie bemerkt hat. „Nur ein wenig Halsschmerzen heute Morgen. Alles gut“, erkläre ich knapp und versuche, es fortzulächeln. „Wirklich?“ Gott, dieses Mädchen schafft mich. „Ja, wirklich“, versichere ich ihr. Schnell wechsle ich das Thema, um von mir abzulenken: „Und du? Du fühlst dich wirklich wieder besser?“ „Ja“, antwortet sie mit einem kleinen Lächeln. „Shin und Toma haben sich sehr um mich gekümmert. Ohne ihre Hilfe wäre ich vermutlich nicht so schnell zurück auf die Beine gekommen.“ „Das ist schön“, sage ich und versuche, es positiv klingen zu lassen. „Die beiden sind wirklich feine Kerle, nicht? Man kann über sie sagen, was man will, aber wenn man sie braucht, sind sie für einen da. Es ist schon toll, so gute Freunde zu haben, und ihr drei steht euch wirklich nahe, hm?“ „Ja.“ Sie besieht es mit einem Nicken. „Shin, Toma und ich, wir sind Freunde aus Kindertagen. Soweit ich mich zurückerinnern kann, sind sie immer an meiner Seite gewesen und waren für mich da. Sie sind mir sehr wichtig.“ „Beneidenswert“, sage ich und stoße ein leises Seufzen aus. „Na, dann solltest du dich umso mehr reinhängen und ab morgen wieder dein Bestes geben. Nicht, dass ihr Aufwand noch umsonst war, ne? Mach sie stolz!“ Sie zeigt ein breites Lächeln. „Ja.“ Es erwärmt mir das Herz. Ich weiß nicht, warum, aber es fällt mir leichter als gedacht, mit ihr zu reden. Sicher, da ist noch immer eine Restunsicherheit in mir, aber ich empfinde es als nicht so schlimm, wie ich erst befürchtet hatte. „Du scheinst selbst auch eine nette Person zu sein“, höre ich sie sagen, was mir einen kurzen Dämpfer versetzt. Hat sie mich gerade allen Ernstes »nett« genannt? The fuck? „Ich stelle es mir schwer vor, den langen Weg vom Festland bis nach Japan zurückzulegen und dabei alles zurückzulassen. Freunde, Familie … Ich weiß nicht, ob ich das könnte.“ Ich schlucke hart. Ihre Worte versetzen mir einen Stich mitten durchs Herz. „Du hast noch nicht viele Freundschaften hier geschlossen, nicht wahr?“ „Ähm …“ Keine Ahnung? Ihr Gesicht nimmt einen zögerlichen Ausdruck an. „Also, ich habe mich gefragt … Mine-chan, Sawa-chan und ich, wir verabreden uns einmal im Monat zu einem Mädchenabend. Es wäre eine gute Gelegenheit, sich besser kennenzulernen und ich … ich würde sehr gern mehr mit dir reden und mehr über dich erfahren. Ich müsste die beiden zwar erst noch fragen, aber vielleicht … hättest du ja Lust, uns einmal dabei Gesellschaft zu leisten?“ Mir würde bei dieser Frage glatt die Kinnlade bis zum Fußboden herunterklappen, wenn ich nicht ich wäre. Physikalisch wie anatomisch ist das natürlich unmöglich, aber ich habe dennoch das Gefühl, dass ich gerade ziemlich blöd aus der Wäsche gucken muss. „Oder wäre das zu aufdringlich?“, druckst sie, wobei sie unsicher den Blick senkt. „Nein“, sage ich schnell mit einem Kopfschütteln. „Ich würde schon sehr gern kommen und ich freue mich wirklich wahnsinnig über die Einladung. Aber denkst du, das wäre auch für die anderen beiden okay?“ „Ich werde sie fragen“, verspricht sie und lächelt zuversichtlich. Wirklich überzeugt bin ich nicht. Bei Sawa habe ich weniger Bedenken, dass sie etwas dagegen haben könnte. Aber Mine? Ich hatte bisher noch nicht die Gelegenheit, sie kennenzulernen, und kann daher nicht einschätzen, wie sie auf diesen Vorschlag reagieren würde. Was, wenn sie das gar nicht möchte? „Wir wollten das vermutlich nächsten Samstag nach der Arbeit machen. Meinst du, du hättest da Zeit?“  „Ich denke schon.“ Hoffe ich zumindest. Notfalls nehme ich sie mir einfach. Vorausgesetzt, ich bin noch so lange hier und es passiert nichts Schlimmes bis dahin, was ich nicht verhindern kann. Kann ich in dieser Welt überhaupt so weit im Voraus planen? „Das würde mich freuen“, sagt sie mit einem so aufrichtig strahlenden Gesichtsausdruck, dass ich es ihr sogar glaube. „Es wird bestimmt lustig. Dann können wir dich alle ein wenig besser kennenlernen und du uns.“ „Ja“, nicke ich und unterstreiche es mit einem vorsichtigen Lächeln. „Mich auch.“ „Also dann, ich muss los. Toma wartet auf mich.“ „Mhm“, bestätige ich mit einem weiteren Kopfnicken. „Ist okay, lass ihn nicht so lange warten. Vielen Dank für das Gespräch und kommt gut nach Hause. Bis morgen dann.“ „Ja, bis morgen. Gute Nacht.“ „Gute Nacht. … Ach so, Hanna?“ Sie bleibt stehen, kurz bevor sie die Tür erreicht hat. Fragend sieht sie zu mir zurück. „Ja?“ Ich zögere. Ich bin nicht sicher, ob ich diese Frage wirklich stellen soll. Es belastet mich, nicht zu wissen, wo genau ich stehe und damit immerzu zu riskieren, jemanden zu belügen oder falsch zu behandeln. Es gibt Dinge, zu denen muss ich einfach Klarheit haben, wenn ich weiterhin aufrichtig mit den Leuten umgehen will, die mich umgeben. Auch wenn das bedeutet, dass mir die eine oder andere Wahrheit wehtun wird. Ich senke meinen Blick. „Darf ich dich vielleicht noch etwas fragen?“ „Natürlich. Was ist denn?“ „Also … ich hoffe, dass ich dir damit nicht zu nahe trete oder etwas anspreche, das mich nichts angeht …“ Wieder zögere ich. Es fällt mir wirklich ungemein schwer, diese Sache anzusprechen. Aber ich muss, sonst wird es mir keine Ruhe mehr lassen, wann immer ich Hanna sehe oder nur an sie denke. Ich atme tief durch. Entschlossen recke ich das Kinn, um sie anzusehen. „Vorhin, im Café … Ich habe bemerkt, wie Ikki und du einander angesehen habt. Seid ihr …?“ Ich bekomme den Satz nicht fertig formuliert. Eine Reihe von Emotionen spielen sich auf Hannas Gesicht ab. Ich kann in ihr lesen wie in einem offenen Buch. Und was ich sehe, behagt mir überhaupt nicht. Meine Frage hat Verwunderung in ihr ausgelöst, welcher fast im selben Moment ein schmerzlicher Ausdruck gefolgt ist. Ihr muss das bewusst sein oder sie hält meinem Blick nur nicht lange stand. Was immer von beiden es ist, ich beobachte, wie sie ihre Augen von meinen senkt. Das allein wäre schon Antwort genug gewesen, aber ich will sie nicht wahrhaben. Die Sekunden ziehen sich wie Minuten. Ich befürchte fast, dass sie mir nicht antworten wird. Aber ich will es von ihr hören, ich muss! Leise, und nur unter Zögern, beginnt sie zu sprechen: „Ikki-san und ich …“ Ein Stich zieht durch meine Brust. Nur diese drei Wörter reichen aus, um bereits alles zu wissen. »Ikki-san und ich«? Was zum …? „Ikki-san und ich … wir waren zusammen.“ »Waren«? Vergangenheitsform? Bitte, sag mir nicht …? „Aber das liegt schon eine Weile zurück.“ Ich kann nicht glauben, was sie mir da erzählt. Es muss ein Fake sein, richtig? Irgendeine Ausrede für etwas, das ich nicht wissen soll. Sie hebt ihren Kopf. Ihr Lächeln, welches sie mir zeigt, erscheint mir so falsch und verlogen, dass ich es ihr aus dem Gesicht schlagen will. „Wir sind gute Freunde.“ … Sie meint es ernst.   Waka ist der Letzte, der noch neben mir im Café ist. Nachdem ich mich von ihm verabschiedet habe, mache ich mich geradewegs auf den Heimweg. Es ist das erste Mal, dass ich allein nach Hause gehe, was sich irgendwie seltsam anfühlt. Aber ich bin froh, den Weg damals mit Luka abgegangen zu sein, sodass ich jetzt weiß, wie ich laufen muss. Es ist ausgesprochen kühl an diesem Abend und ich merke, dass es Winter ist. In Deutschland würden jetzt vermutlich schon weit niedrigere Grade herrschen, dagegen hält es sich in Japan in Grenzen. Ich bin dennoch froh, meinen Mantel zu haben. Es wird spürbar kühl an der Hand, während ich mir meine wohlverdiente Feierabendzigarette genehmige. Ich bin fix und alle, körperlich wie geistig. Dieses ständige Auf und Ab an Emotionen macht mir wirklich zu schaffen. Ich bin so am Ende mit allem, was ich zuletzt gehört und erlebt habe, dass ich gar nicht mehr weiß, was ich denken und wie ich fühlen soll. Hanna. Unser kurzes Gespräch will mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich kann nicht glauben, was sie mir erzählt hat. Sie und Ikki haben sich getrennt? Das muss ein schlechter Scherz sein, richtig? Diese kleine Tatsache überschattet alles, was ich heute Positives erlebt habe: meine Zeit allein mit Kento, Ikkis Fürsorge, mein Lachen mit Sawa, der wirklich äußerst leckere Windbeutel von Kento, Hannas Einladung. Nichts von alledem kann mich jetzt noch aus diesem Loch herausholen, in das ich vor weniger als zwanzig Minuten gestürzt bin. Selbst der Fakt, dass ich heute Morgen beinahe hopsgegangen wäre, erscheint mir eine Lappalie gegen diese Information. Warum nur, Hanna? Du warst dazu bestimmt, in dieser Welt glücklich mit ihm zu werden. Du warst dazu bestimmt, mit ihm zusammenzuziehen und nach und nach ihm gegenüber aufzutauen. Du hast so lange gebraucht, um keine Zweifel mehr gegenüber seiner Gefühle für dich zu empfinden, und jetzt das? „Warum?“ Ich verstehe es einfach nicht. „Wieso nur, Hanna, wieso? Bist du nicht die Protagonistin hier? Wieso … seid ihr nicht glücklich in dieser Welt?“ Ich fühle mich scheußlich. Zu denken, wie die beiden sich jetzt fühlen müssen, bereitet mir Herzschmerz. Und insbesondere Ikki … Er hat Hanna so sehr geliebt, nicht wahr? Zu denken, was diese Trennung für ihn bedeuten muss … es ist kaum zu ertragen. Ich weiß nicht, wie ich ihm jetzt noch gegenübertreten soll, ohne sein Unglück die ganze Zeit zu betrauern und ihn zu bemitleiden. Das würde er nicht wollen, richtig? Aber wie könnte ich anders? „Toll, jetzt haben wir hier zwei gebrochene Männerherzen, die mich nicht kaltlassen“, wispere ich leise zu mir selbst. Ukyo und Ikki sind mir gleichermaßen wichtig, wenn es mir auch noch vermessen erscheint, das so zu benennen. Aber es stimmt, beide sind mir sehr liebgewonnene Charaktere und zumindest Ukyo habe ich auch als Person bereits fest in mein Herz geschlossen. Ich will keinen von ihnen unglücklich sehen, das würde ich nicht ertragen. „Ich ahne Schlimmes auf mich zukommen“, seufze ich geschlagen und ergebe mich dem Gedanken, ein weiteres Mal die aufopfernde Mutter Theresa zu spielen, wie ich es immer getan habe und wohl nie anders können werde. Ich muss irgendeinen Tick haben, dass ich nie die Finger von den Problemen anderer lassen kann und immerzu helfen will, wenn ich das Gefühl habe, jemand könnte von meinem Wissen und meiner Erfahrung profitieren. Vorausgesetzt, derjenige will es auch und lässt es zu. Nur leider lernen die meisten nichts aus dem, was ich ihnen zu vermitteln versuche. Und ich selbst? Ich lerne auch nicht aus diesen belastenden Zeiten, die oft alles andere als rosig für mich waren. Wenn das nicht unter Dummheit fällt? Na super, große Klasse.   Das Apartment ist ruhig, als ich es betrete. Wie überraschend. Scheint, als wäre Ukyo wieder einmal nicht zu Hause. Wie so meist. Ohne weitere Umschweife durchquere ich die Wohnung. Vielleicht ist es ganz gut, dass er nicht da ist. Eigentlich hätte ich gern noch mit ihm über seinen Besuch im Café gesprochen, um in Erfahrung zu bringen, was er und der Fremde beredet haben. Ich erinnere mich dumpf, dass einige Begriffe gefallen sind, die mir Unbehagen bereiten. Aber nach meinem Gespräch mit Hanna sehe ich mich nicht mehr als sonderlich aufnahmefähig an. Es ist schon richtig, dass er gerade nicht da ist und ich so die Möglichkeit habe, mich einfach stillschweigend in mein Zimmer zu verziehen und zu verkrümeln. Es ist noch jung am Abend, für meine Verhältnisse gesprochen, trotzdem zieht es mich bereits ins Bett. Ich bin emotional ausgelaugt und will diesen Umstand nutzen, bevor mein Kopf wieder groß auf Touren kommen kann. Schlafen und somit den unnützen Gedanken aus dem Weg gehen, das erscheint mir eine gute Idee. Im Bett greife ich nach meinem Handy und gehe noch einmal die Kontaktliste durch. Mein Finger stoppt bei Ikkis Namen. Kurz streiche ich über die Schriftzeichen, ehe ich weiterscrolle. Bei Ukyos Eintrag stoppe ich als Nächstes und überlege, ob ich ihn anrufen soll. Aber wozu? Er wird seine Gründe haben, warum er nicht hier ist und ich will ihm nicht das Gefühl geben, ihn eingrenzen zu wollen. Leise seufzend scrolle ich weiter, bis ich mich schließlich aus der Liste ausklinke. Ich stelle mir noch schnell einen Wecker für morgen, dann setze ich das Handy in den Standby-Modus und lege es zur Seite. Wie ich es mir gedacht habe, meine Erinnerung war richtig: Hannas Eintrag fehlt. Wie es aussieht, habe ich ihre Nummer nicht. Daraus geschlussfolgert, kann mein anderes Ich ihr nicht sehr nahe gestanden haben, oder irre ich mich? Egal, das macht jetzt auch keinen Unterschied mehr. Müde drehe ich mich herum, ziehe die Decke über mich und hoffe, trotz der einschlagenden Neuigkeiten einen ruhigen Schlaf finden zu können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)