Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 7: Blick nach vorn -------------------------- Die letzten Minuten vergehen wie im Flug. Der Feierabend rückt unausweichlich näher, was mich traurig stimmt, denn ich hätte sehr gern mehr Zeit mit Toma und Sawa verbracht. Zu meinem Trost werde ich sie bald wiedersehen, und wenn es soweit ist, möchte ich sehr gern nützlicher für sie sein. Ich fasse mir dies als einen felsenfesten Entschluss, während ich mich umziehe. Fertig umgezogen mache ich mich auf die Suche nach Sawa, um mich von ihr zu verabschieden. Es ist mir ungemein wichtig, noch kurz mit ihr zu reden, ehe ich gehe. Ich habe ihr heute wirklich viel zu verdanken, und ich will, dass sie das weiß. Geduldig warte ich, bis sie von ihren Kunden zurückkommt. Schon auf dem Weg zu mir trägt sie ein Lächeln, das mich auffängt. Mich befällt ein Gefühl von Schwermut, obwohl ich mich wiederholt daran erinnere, dass ich sie schon morgen wiedersehen werde. Dennoch, ich wäre wirklich gern noch länger bei ihr geblieben. „Du gehst also schon?“, stellt sie sicher, kaum dass sie bei mir angekommen ist. Ich nicke vorsichtig. „Unfreiwillig“, lächle ich. „Lässt sich nichts machen“, erwidert sie, wobei sie gespielt vorwurfsvoll die Hände in die Hüften stemmt und den Kopf schief legt. „Du solltest dich beeilen, Luka-san wartet schon auf dich.“ „Ach echt?“ Sie nickt. „Ja, er steht draußen vorm Café.“ „Woher weißt du das?“ „Er kam kurz rein und hat nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, dass du sicher bald da sein würdest“, erklärt sie. „Hm, okay.“ Wirklich wohl ist mir nicht dabei. Gerade jetzt, da ich frisch in Erfahrung gebracht habe, dass ich ihm nur etwas vormache, möchte ich ihm eigentlich nicht unter die Augen treten. Aber mir scheint, als hätte ich keine andere Wahl. Ich kann ihn schlecht einfach wegschicken, oder? „Überleg’s dir“, holt mich Sawa aus meinen Gedanken. Aus ihren rehbraunen Augen lese ich einen stummen Zuspruch. „Wegen vorhin, meine ich.“ »Was wir besprochen haben«, will sie sagen, da bin ich mir sicher. Natürlich sagt sie es nicht offenkundig. Aber ich weiß, was sie meint. „Mh“, nicke ich. Indem ich zu ihr trete, lege ich dem Mädchen die Arme um und drücke mich an sie. „Danke, Sawa“, spreche ich leise. „Du ahnst gar nicht, wie sehr du mir heute geholfen hast. Einfach danke für alles.“ „Hey, schon gut“, sagt sie zögerlich und erwidert die Umarmung. „Ich weiß nicht ganz, was ich getan habe, aber ich freue mich, dass ich helfen konnte.“ „Definitiv. Mehr als du denkst.“ „Na, na. Da könnte Mann ja fast neidisch werden“, werden wir in unserer Zweisamkeit gestört, als sich Toma zu uns gesellt und uns Mädels lächelnd betrachtet. Ich löse mich von Sawa, um mich Toma zuzuwenden. „Also wenn du eine Umarmung so sehr nötig hast, musst du nur etwas sagen. Ich denke, weder Sawa noch ich würden uns scheuen, dir diesen Gefallen zu erweisen“, sage ich zu Späßen aufgelegt. Sawa neben mir nickt entschieden, wenn ihr Grinsen auch eher verlegen wirkt. „Das ließe sich einrichten, schätze ich.“ „Jetzt macht ihr mich aber verlegen“, lacht er leise, wobei seine Hand kurz in den Nacken fährt. „Aber vielen Dank für das Angebot. Ich werde es mir merken.“ „Mach das mal“, gestatte ich mir ein kurzes Kichern. Der Gedanke, wie Toma eines Tages auf dieses Angebot zurückkommen könnte, erheitert mich in der Tat. „Und du machst jetzt Feierabend?“, richtet sich seine Frage wieder an mich, woraufhin ich zum Ernst zurückkehre. Ich nicke. „Ja, zu meinem Bedauern. Aber ich schätze, man sieht sich ja bald wieder?“ „Zum Wochenende dann, wie gehabt.“ „Mh, ich freue mich schon darauf. Gute Arbeit heute, Toma.“ „Jepp, gute Arbeit.“ „Meinst du, du packst das allein?“, wende ich mich noch einmal an Sawa, welche ich sorgevoll betrachte. „Ist dein Muskelkater noch schlimm?“ „Ach was, das geht schon“, weist sie zurück und beteuert ihre Worte mit einem taffen Lächeln. „So schlimm ist es nicht und außerdem ist ja Toma-san noch hier. Mach dir keine Sorgen.“ Sie hat wohl recht. Ich war selbst die ersten Stunden mit Toma allein gewesen und kann daher bezeugen, dass die Teamarbeit mit ihm äußerst angenehm ist. Er wird ein Auge auf sie haben, da bin ich mir sicher. Außerdem sind sie die Arbeit schon wesentlich länger gewöhnt als ich, da werden sie das Kind schon schaukeln. „Ich verlass‘ mich darauf. Also dann.“ Ich richte mich an beide. „Tut mir wirklich leid, dass ich euch heute keine große Hilfe war. Beim nächsten Mal wird’s besser, versprochen.“ „Ach was“, winkt Sawa meine Entschuldigung zur Seite ab. „So schlimm war’s nicht und zu einem gewissen Teil konntest du auch gar nichts dafür. Wir beide wissen, dass du beim nächsten Mal wieder Vollgas geben wirst. Also belaste dich nicht damit und mach dich jetzt erst mal nach Hause.“ „Dem kann ich nichts mehr hinzufügen“, bestätigt auch Toma mit einem einfachen Kopfnicken. „Mach dich jetzt erst mal los und denk nicht mehr an die Arbeit. Mach dir einen schönen Abend.“ „Ich werd’s versuchen. Also dann, bis morgen, Sawa. Toma, bis zum Wochenende. Gute Schicht noch.“ „Bis dann“, verabschieden mich beide, woraufhin ich mich umdrehe und zum Gehen bewege. Im Gang überlege ich, ob es nicht besser wäre, mich auch noch von Kento zu verabschieden. Der Gedanke ist mir unangenehm, aber es wäre höflich. Er ist immerhin ebenso ein Arbeitskollege von mir wie Sawa und Toma. Wenn ich so darüber nachdenke, ist es eigentlich Ironie. Kento war immer einer meiner liebsten Charaktere gewesen, als »Amnesia« nur ein Fandom für mich gewesen war. Es wäre für mich immer ein Traum gewesen, ihm in Wirklichkeit zu begegnen. Und nun ist es soweit und ich laufe lieber vor ihm davon. Wie dämlich ist das, bitte? Zu allem Überfluss wird mir in diesem Moment bewusst, wie wenig Zeit ich mit ihm verbracht habe. Wir haben gerade erst ein Mal miteinander geredet, und dieses Gespräch habe ich gänzlich in den Sand gesetzt. Alles, was danach erfolgt war, hatte mit Bestellungsab- und -übergabe zu tun. Sonst nichts. Das ist noch weniger, als ich mit Shin oder Ikki gesprochen hatte. Wie konnte das nur passieren? Und das, obwohl wir den ganzen Nachmittag zusammen waren. Ich gelobe mir Besserung. So einfach lasse ich ihn nicht davonkommen! Ich werde diese Gelegenheit nicht aus dummer Vorsicht heraus einfach so verstreichen lassen! Vorsichtig strecke ich meinen Kopf in die Küche. Kento ist gerade dabei, irgendwelches Gemüse anzuschwenken. Er tut es mit einer solch gewohnten Leichtigkeit und schafft es doch, dabei höchst konzentriert auszusehen. Es fasziniert mich irgendwie und ich gestatte mir, ihn eine Weile bei seiner Arbeit zu beobachten. „Ich gehe dann jetzt“, sage ich schließlich, um mich bemerkbar zu machen. „Wir sehen uns dann morgen wieder?“ In einer halben Drehung wendet er sich mir zu. „Plangemäß“, bestätigt er, sachlich wie nicht anders zu erwarten. „Okay“, zwinge ich meinen Unmut hinunter. In Gedanken appelliere ich gegen meine Enttäuschung an, dass sie hier fehl am Platz ist. „Dann bis morgen. Gute Arbeit und schönen Feierabend später.“ Seine Augen verschmälern sich anzweifelnd. „Ja, schönen Feierabend.“ Irgendwie klingt es seltsam, wie er es sagt. Ich denke mir nichts weiter dabei und wende mich zum Gehen. Kento hätte ich also auch überlebt, bleibt als Nächstes Luka. Wobei … wenn ich schon einmal dabei bin, kann ich auch eben noch ein paar Minuten an Waka verschenken. Dann kann mir zumindest keiner vorwerfen, ich hätte mich irgendwem gegenüber unhöflich verhalten. Schaden kann’s ja nicht. „Waka-san?“, mache ich mich durch ein Klopfen an der Tür zu seinem Büro bemerkbar. „Ich gehe dann jetzt.“ Kurz darauf wird die Tür vor mir geöffnet und ich muss den Kopf anheben, um einen Blick auf das Gesicht meines Bosses erhaschen zu können. „Gut gekämpft, Shizana. Rika-dono war außerordentlich zufrieden mit deinem Dienst.“ Ich schlucke. Muss er das unbedingt nochmal zur Sprache bringen? „Das freut mich“, zwänge ich aus mir hervor. „Bestell doch bitte Ukyo einen Gruß von mir. Sag ihm, dass wir seine Anwesenheit im Café schmerzlich vermissen.“ Erleichtert nicke ich. „Ja, das mache ich sehr gern.“ „Gut. Du kannst abtreten.“ Schon verschwindet er aus meinem Sichtfeld und die Tür wird vor mir zugeschlagen. Nachdenklich lege ich den Kopf zur Seite. Ich frage mich, ob Waka meinen zweifellos engen Kontakt zu Ukyo gar nicht in Frage stellt. Sicher, es ist einige Zeit in dieser Welt vergangen seit dem offiziellen Spiel, welches ich kenne, und mich »gibt« es hier schon seit zwei Monaten, wovon ich einen bereits im »Meido no Hitsuji« angestellt bin. Mir ist klar, dass ich nicht alles an der Vorlage des Spiels richten kann und dass sich durchaus einige Dinge geändert haben können, aber ich komme nicht umhin, diese Leichtfertigkeit meines Bosses anzuzweifeln. Vielleicht weiß er ja Bescheid. Und wenn nicht? Zumindest wusste er, wo ich wohne. Ob meine Wohngemeinschaft mit Ukyo allgemeinhin unter den Mitarbeitern bekannt ist? Irgendwie kaum vorstellbar. Ich sollte mich lieber bedeckt dazu halten, bis ich Genaueres dahingehend weiß.   Draußen wartet bereits Luka auf mich. Allein. Vielleicht hat es etwas von früher Paranoia, diese Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben, aber ich bin wirklich zutiefst erleichtert, dass Rika nicht länger bei ihm ist. Noch einmal hätte ich das nicht ertragen, nicht heute. „Endlich, da bist du ja“, werde ich von Luka begrüßt, der mich freudestrahlend in Empfang nimmt, kaum dass ich das Café verlassen habe. „Ich hatte schon die Befürchtung, dass sie dir doch noch mehr Arbeit aufgedrückt haben oder dass du mich versetzen würdest.“ „Wie kommst du denn darauf?“, entgegne ich in aller Mühe, mich für meine Verhältnisse normal zu verhalten. Ich ringe mir sogar ein besänftigendes Lächeln ab. „Allerdings muss ich dir im Vorfeld sagen, dass ich heute leider nicht so viel Zeit haben werde. Ich muss heute Abend noch etwas Dringendes erledigen“, bin ich zumindest zur Hälfte ehrlich zu ihm. „Oh? Das ist natürlich schade, aber nicht schlimm. Ich hatte zwar gehofft, das bei einem Getränk tun zu können, aber im Grunde wollte ich dich nur sehen und etwas mit dir bereden.“ Oh, oh. Mir hatte diese Floskel »Ich muss mit dir reden« noch nie gefallen. Auch jetzt habe ich kein gutes Gefühl dabei. „Wenn du magst, kannst du mich nach Hause begleiten“, schlage ich vor. „Wir könnten zu Fuß gehen, dann haben wir mehr Zeit. Außerdem lässt es sich beim Gehen auch ganz gut miteinander reden.“ „Ja klar, warum nicht? Das würde mir voll und ganz genügen“, geht er zufrieden lächelnd auf mein Angebot ein. Puh, noch einmal Glück gehabt. Fürs Erste. Gut, ich gestehe: Mein Vorschlag ist nicht ganz frei von Eigennutz. Ich hatte ohnehin vor, mich in der nächsten Zeit mit meinem Fußweg zur Arbeit auseinanderzusetzen. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wäre es hell dabei gewesen, aber dafür bin ich nicht mit meiner Orientierungslosigkeit allein. Und bei Luka habe ich die Hoffnung, dass er den Weg bereits kennt, nachdem er mich schon gestern nach Hause gebracht hatte, ohne zuvor nach der Adresse gefragt zu haben. Da er ohnehin etwas bereden will, profitieren wir beide aus meinem Vorschlag. Es ist also eine Win-Win-Situation für beide Seiten. Dafür brauche ich kein schlechtes Gewissen zu haben, oder? Zu meinem Erstaunen stellen sich meine Befürchtungen schnell als unbegründet heraus. Mich erwarten weder eine Stellungnahme noch ein Geständnis seitens Luka, das mich nur noch tiefer in die Bredouille hineingeritten hätte. Auch hat das fiese Stimmchen von schlechtem Gewissen keine Chance, lange in meinem Kopf zu wüten. Für die ersten Minuten noch schlägt es sich wacker, mich mit anklagenden Zweifeln zu martern, bis Lukas sorglose Art auf mich übergeht und von jeglicher Anspannung befreit. „Weißt du, dieser Gedanke lässt mich einfach nicht los“, unterbreitet er mir inmitten seiner Begeisterung, die schon seit zehn Minuten auf dieser Art anhält. „Stell es dir nur vor: Ein großer Garten, der all die schönsten, prachtvollsten und exotischsten Pflanzen in sich vereint. Frei, voll reinster und vollkommener Schönheit seiner vollendeten Blüte. Und zwischen all den bunten Prachten diese kleinen, zierlichen Wesen, die sie mit ihren zarten Händen hegen und pflegen und über sie wachen.“ „Klingt für mich sehr nach einer Utopie“, erkläre ich mit einem leisen Schmunzeln. Mir ist unklar, wie das möglich ist nach all den Informationen, die ich bisher zu »uns« gesammelt habe, aber es fällt mir leicht, auf sein Gespräch einzusteigen. Luka macht es mir leicht. Es stört mich nicht einmal mehr, dicht neben ihm herzulaufen, obgleich es bereits dunkel ist; wie eben im Winter üblich. „Auf Bildern macht sich das sicherlich wunderbar, aber für eine Geschichte wäre es zu eintönig. Niemand liest gern Geschichten über eine Welt, in der alles rund und perfekt läuft“, ergänze ich weiterhin. „Da magst du recht haben“, stimmt er bei. „Wörter streben nach Bewegung, Farben hingegen laden zum Verweilen ein. Ihr zeigt einen Verlauf, wir einen Moment. Faszinierend, wie ergänzend diese Unterschiede aufeinander wirken.“ „Beides kann aber auch das Gegenstück bedienen“, werfe ich ein. „Eine Geschichte kann sich genauso gut mit einem Moment befassen, wie ein einziges Bild eine ganz eigene Geschichte erzählen kann.“ „Fantastisch, nicht wahr?“, jauchzt er euphorisch. „Einfach fantastisch! Wie man es auch dreht und wendet, die Kombination von Farbe und Wort wiegt im Einklang miteinander. Sie sind einander ebenbürtig. Kein Wunder, dass zwischen uns auf Anhieb eine besondere Harmonie bestanden hat. Es ist, als haben unsere Seelen einander gefunden.“ Mir wird unwohl bei seinen Worten. „Naja, um ehrlich zu sein“, sage ich leise, „ich hatte bisher nie groß etwas mit der Malerei am Hut. Ich kenne zwar einige Zeichner und habe mich sehr gern mit ihnen unterhalten, ich bewundere auch einige Maler und Bilder können mich durchaus faszinieren, aber es war nie groß mein Gebiet. Ich habe mich immer mehr in Autorenkreisen bewegt. Dort war ich zuhause. Lustigerweise gerate ich aber sehr häufig an Fotografen und Grafiker.“ Bei dem Gedanken wird mir für einen Moment das Herz schwer, während ich an meinen Freund und besten Freund denke – in meiner Welt. „Oh, wirklich? Dann bin ich also etwas Besonderes“, schmunzelt er entzückt. Ich belächle seine Schlussfolgerung mit Schwermut. „Tja, sieht ganz so aus.“ „Also, was denkst du?“, schwenkt er um, um auf sein Eröffnungsthema zurückzukommen. „Mir schwebt ein großes Panoramagemälde vor, zusammengesetzt aus verschiedenen Motiven im fließenden Übergang. Ölfarben erscheinen mir angemessen. Hm, oder doch Leinwand im Hochformat? Mit einem zentralen Leitmotiv und umspielenden Sidecatches. Es wäre zwangloser, verspielter. Was meinst du?“ „Du bist der Künstler, diese Entscheidung solltest du treffen“, entgegne ich. Kurz überdenke ich seine Ideenvorschläge und versuche, mir ein eigenes Bild dazu zu machen. „Aber wenn du mich fragst, solltest du bei dem bleiben, was dir als Erstes in den Sinn gekommen ist. Mir hat mal jemand wiederholt gesagt, dass der erste Gedanke oder das erste Gefühl in der Regel stets das Richtige ist. Und wenn dir eine Idee länger nicht aus dem Sinn geht, wird das seinen Grund haben, den dein Unterbewusstsein längst vor dir kennt. Aber letztendlich musst du das wissen, was dir lieber ist, womit du dich wohler fühlst und was du lieber umsetzen magst, damit das Ergebnis so wird, wie du es dir vorgestellt hast. An den Feinheiten feilen und sie um Details erweitern kannst du immer noch.“ „Weise Worte.“ „Sie stammen nicht von mir.“ Ein weiterer Stich zieht sich durch mein Herz. „Ganz gleich, von wem sie stammen mögen, derjenige hat klug gesprochen.“ „Mhm, es handelt sich um eine tolle Person“, spreche ich leise. „Nun gut, damit ist es entschieden. Ich verspreche, das großartigste Meisterwerk zu erschaffen, das die Welt je gesehen hat! Es wird jeden, der es besieht, im wahren Wert von vollkommener Schönheit überzeugen! Interpretiert in natürlich-fantastischer Weise, die ewig währt.“ Skeptisch blicke ich zu ihm hoch. „Dir ist schon klar, dass »Schönheit« jeder anders interpretiert?“, gebe ich zu bedenken. „Und gerade, was Fantasiewesen betrifft … Ich meine, es gibt keine-Ahnung-wie-viele Interpretationsausgaben von Feen. Zumindest habe ich schon etliche gesehen, die stark voneinander abgewichen sind. Und deine Version ist schon ziemlich … Mainstream. Sorry.“ „So?“, wendet er sich interessiert an mich. „Und wie interpretierst du sie?“ „Naja, um ehrlich zu sein … Die Version von kleinen Menschenvertretern mit Flügeln ist zwar sehr niedlich, hat aber in meinen Augen wenig mit Fantasie zu tun. Man muss vielleicht auch unterscheiden, in welcher Rolle die Feen stehen sollen. Ich persönlich mag sie gern als Naturgeister. Kleine Flügelwesen vielleicht, ja, aber sie müssen nicht zwangsweise hübsch sein. Vielleicht sind sie auch mehr koboldartig, ich weiß nicht. Oder eher fahl bis naturfarben im Erscheinungsbild. Aber auf jeden Fall weisen sie keine menschlichen Merkmale auf, bis auf eine aufrechte Haltung vielleicht, die sie einnehmen können, wenn sie das wollen. Muss aber nicht sein.“ „Das weicht aber sehr von ihrem Ursprung ab“, bezweifelt er meine Theorie. Ich erahne, wie sich seine Stirn unter dem blonden Haar in Falten legt. „Zudem vermischt es sich sehr mit dem Bild anderer Fabelwesen. Geister tragen eine andere Bedeutung, als Feen es im Volksmund tun.“ „Na und“, schmolle ich zurück. „Dafür sind es Fantasiewesen. Ihr Raum für Auslegungen ist groß, wenn auch nicht grenzenlos. Und ich als Autor darf gelegentlich vom Allgemeindenken abweichen.“ Darauf ernte ich ein beherztes Lachen. Na toll, wenigstens einer amüsiert sich an meinem Sturkopf. Vielleicht liegt es genau daran. An dem Fakt, dass ich keinerlei Gefahr von Luka ausgehend verspüre. Im Gegenteil, ich fühle mich in seinem Geleit sicher. So seltsam der Gedanke auch für mich klingt. Vielleicht habe ich ihn von Anfang an falsch eingeschätzt und mich an der Vorgabe festgekrallt, die mir das Spiel gegeben hatte. Vielleicht habe ich ihm damit Unrecht getan. Nichtsdestotrotz gibt es da noch immer einen Punkt, der mich nicht loslässt. Nämlich der, dass mir Luka mehr wie »ein« Freund statt »der« Freund vorkommt. Wir reden ungezwungen miteinander und es scheint eine gemeinsame Basis zu bestehen, jedoch kann ich keine intime Bindung zwischen uns verspüren. Vielleicht liegt es nur an mir, meinen Zweifeln und der Tatsache, dass es mir schwer fällt, mich als »seine Freundin« zu sehen; ich weiß es nicht. Und ich beginne mich zu fragen, wie er darüber denkt. Wie sieht es wohl auf seiner Seite aus? Ahnt er etwas von meinen Beweggründen? Entsprechen seine, von denen ich weiß, tatsächlich der Wahrheit? Ich seufze leise. Wie lange kann ich dieses Spiel wohl mitspielen, dessen Regeln ich weder kenne noch selbst erstellt habe? Wie lange kann ich diesen Schein wohl aufrechterhalten?   „Danke fürs nach Hause Bringen“, leite ich unsere Verabschiedung ein, als wir an meinem Wohnhaus angekommen sind. Die Zeit ist durch unser fließendes Gespräch schnell vergangen, sodass ich die halbe Stunde, die wir laut Wegbeschreibung mindestens gebraucht haben sollen, kaum wahrgenommen habe. Vor der Einbiegung zum Grundstück stehe ich ihm zugewandt und warte darauf, dass auch er mich entlässt. „Keine Ursache, das habe ich gern gemacht“, antwortet er mit einem Nicken, von Abschiedsschmerz keine Spur. „Wann sehe ich dich wieder?“ „Die nächsten Tage werden etwas stressig“, erkläre ich in Erinnerung an das, was ich dem Schichtplan flüchtig entnommen hatte. „Ich rufe dich an, wenn das okay ist?“ „Das ist okay, solange du mich nicht zu lange warten lässt.“ „Ich werde es versuchen.“ Ein sanftes Lächeln spielt sich auf sein Gesicht. Wären die Umstände andere, hätte ich mich darin verlieben können. Vielleicht. „Also dann.“ Ich nicke. „Noch einmal danke. Hab noch einen schönen Abend.“ „Du auch. Bye.“ Ich beobachte noch, wie er sich zum Gehen umwendet und auf der Straße entfernt. Es ist genau wie gestern, nur ohne Taxi. Wiederholt frage ich mich, ob das, was wir führen, in der Tat eine Beziehung zwischen Liebenden ist. Abtuend zucke ich mit den Schultern, ehe auch ich mich abwende. Ich habe wohl kaum das Recht, so zu denken. Nach dem, was mir Sawa erzählt hat, bin ich die Letzte, auf die das Wort »Romantik« im Bezug auf diese Situation zutrifft. Es steht mir nicht zu, Lukas Ambitionen anzuzweifeln. Früher oder später werde ich mir ein eigenes Bild dazu machen können, da bin ich mir sicher. Aber fürs Erste ist es vorbei. Der Tag ist überstanden und ich bin froh, erneut irgendwie durchgekommen zu sein. Ich muss außerdem zugutehalten, dass ich einiges erreicht habe. Ganz gleich, wie klein die Schritte gewesen sein mögen. Es war holprig, aber der Anfang ist gemacht. Ab jetzt zählt nur noch, weiterhin auf diesem Pfad nach vorn zu blicken. Aus diesem Gedanken schöpfe ich neuen Mut. Mit einem überzeugten Lächeln auf dem Gesicht verschaffe ich mir Einlass ins Haus. Über die Treppe erreiche ich mein Apartment, auf das ich mich schon sehr freue. Jetzt einen Cappuccino und die Beine hochlegen, während ich meinen Schichtplan in aller Ruhe studiere und einen Schlachtplan für morgen entwickle. Ich bin wirklich bester Dinge, als ich die Tür öffne und in die Wohnung hineintrete. „Oh, du bist ja schon da!“, werde ich postwendend begrüßt, kaum dass ich die Tür hinter mir ins Schloss gedrückt habe. Etwas verdattert schaue ich nach vorn, trete einige Schritte aus dem Flur heraus, um einen Blick in das offene Wohnzimmer werfen zu können. „Ich durfte früher gehen“, erkläre ich, noch ehe ich Ukyo entdeckt habe, der sich gerade von der Couch erhebt, um mich in Empfang zu nehmen. Mit einer Mischung aus Erstaunen und Verwirrung beobachte ich, wie er eiligen Schrittes auf mich zukommt. Inzwischen ist mir natürlich klar, dass wir zusammenleben, aber dass er da sein würde, damit hatte ich nun ehrlich nicht gerechnet. „Ach echt? Das … ist doch schön?“ Ich fange sein beklommenes Lächeln auf. Ukyo ist höflich wie immer, doch aus seinem Gesicht lese ich, dass er genauso neben der Spur steht wie ich selbst. Vielleicht sogar noch ein Stück mehr. Ich bin in meinen Gefühlen uneinig. Auf der einen Seite freue ich mich wahnsinnig, Ukyo wiederzusehen, auf der anderen fühle ich mich befangen. Ukyo war seit dem Morgen weg gewesen, die letzten Stunden gänzlich aus meinen Gedanken verschoben. Ich habe ihn den ganzen Tag weder gesehen noch gehört. Doch jetzt, just in diesem Augenblick, kommt mir alles wieder hoch: unser gestriges Gespräch, mein morgendliches Vorhaben, die Enttäuschung auf beiden Seiten. Es ist nicht zu verkennen, dass da etwas Unausgesprochenes zwischen uns steht. Dass Klärungsbedarf besteht, wenn wir weiterhin normal miteinander umgehen können wollen. Mir drängt sich das Bedürfnis auf, darüber zu reden, doch so aus dem Stehgreif ist das gar nicht so einfach. „Ich soll dir liebe Grüße von Waka-san bestellen“, erzähle ich einfach drauf los, um das anstehende Schweigen zu überbrücken. Es ist das Erstbeste, was mir in den Sinn kommt. „Du wirst im Café schon schmerzlich vermisst.“ „Oh, tatsächlich?“ Sein Gesicht nimmt für kurz einen überraschten Ausdruck an, bevor sein Lächeln weicher wird. „Ich schätze, ich war wirklich lange nicht mehr dort. Ich sollte mich in der Tat mal wieder blicken lassen, was?“ Ich nicke. „Ja, das solltest du wohl wirklich. Und ach ja …“ Ich beginne, in meiner Umhängetasche zu kramen, um etwas Bestimmtes daraus hervorzuholen. „Shin war heute nicht da. Ich konnte ihm die CD leider nicht zurückgeben.“ „Ach so.“ In einer verlegenen Geste legt er sich eine Hand in den Nacken, während er mit der anderen die CD entgegennimmt, die ich ihm entgegenhalte. „Ach, stimmt ja. Heute ist ja Donnerstag, nicht wahr? Am Donnerstag ist immer Kento in der Küche. Wie konnte ich das nur vergessen?“ „Ich glaube nicht, dass du es vergessen hast“, will ich ihn beruhigen. „Du hast dich lediglich im Tag geirrt. Kann doch jedem mal passieren.“ Er lächelt verlegen. „Ja, mag sein.“ Thema beendet. Na toll. Und ich weiß noch immer nicht, wie ich am geschicktesten umlenken kann, ohne ihn zu überrumpeln. „Ähm … soll ich dir vielleicht etwas machen? Einen Cappuccino? Du bist bestimmt müde von der Arbeit.“ „Ich bin nicht müde“, sage ich leise. „Aber den Cappuccino nehme ich gern.“ „Dann brühe ich uns eben etwas auf. Magst du auch schon etwas essen? Ich habe noch nichts gemacht. Ich wusste ja nicht, dass du schon so früh –“ Indem ich Ukyo Zeige- und Mittelfinger gegen das Brustbein drücke, bringe ich ihn zum Schweigen. Sein fragender Blick begegnet mir, als ich zu ihm hochsehe. „Sag mal, Ukyo“, spreche ich ruhig, „hast du heute Abend noch etwas vor?“ „Uhm … eigentlich nicht“, entgegnet er zögernd. Ich schenke der Sache nur einen kurzen Gedanken, ehe ich mich ein Stück strecke, um Ukyo die schwarze Schirmmütze vom Kopf zu nehmen. Sein Blick spricht wahrlich Bände, in einer anderen Situation hätte ich wohl darüber gelacht, aber in dieser lasse ich mich nicht davon beirren. „Sehr gut“, sage ich und halte die Mütze in meinen Armen umschlungen. „Ich würde nämlich sehr gern mit dir reden, wenn das für dich okay ist.“ Er scheint erleichtert. Ein sanftes Lächeln schleicht auf seine Lippen. „Ist gut. Um ehrlich zu sein, wollte ich dich dasselbe fragen.“   Wenig später sitzen wir im Wohnbereich beieinander: ich auf der grauen Couch, er auf einem gleichfarbigen runden Stoffhocker mir gegenüber. In meinen Händen halte ich eine Tasse herrlich warmen Cappuccino, er eine mit Kaffee, die er für uns gebrüht hat. Im Hintergrund läuft leise der Fernseher, dessen Nachrichtensender uns im Augenblick wenig interessiert. „Also, wegen gestern“, beginne ich ruhig, um das Gespräch ins Rollen zu bringen. „Was war da los? Du hast irgendwie nicht sehr begeistert ausgesehen.“ Ukyo macht einen betroffenen Eindruck. Langsam lässt er die Hände mit seiner Tasse auf seinen Schoß sinken. „Das … tut mir leid. Es sollte nicht gegen dich gerichtet sein.“ „Ja, das dachte ich mir“, seufze ich leise. „Aber was war los? War es wegen mir? Wegen Luka? Weil ich erst so spät zu Hause war, ohne dir Bescheid zu geben?“ „Nein, also … Wie soll ich das nur am besten sagen?“ „Wie wäre es mit frei heraus?“, schlage ich vor und nehme einen Schluck von meinem Getränk. „Ich werde schon damit zurechtkommen und wenn nicht, sage ich es schon.“ „Mh.“ Es folgt ein kurzes Zögern seinerseits. „Naja, also … Du weißt, ich war schon immer dagegen gewesen. Oder zumindest war ich nie sehr begeistert davon, dass ihr beide ein Paar seid. Es ist … einfach nicht richtig.“ „Inwiefern?“, möchte ich wissen. „Kannst du ihn nicht leiden?“ „So kann man das nicht sagen“, presst er gezwungen aus sich heraus. Unruhig spielt er mit seiner Tasse herum, dreht sie zwischen seinen Händen. „Ich meine, ich kenne ihn ja kaum. Aber er macht auf mich einen verdächtigen Eindruck. Es erscheint mir seltsam, wie er sich verhält. Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.“ Ich senke meinen Blick auf die Tasse in meinen Händen. Die Ironie lässt mich schmunzeln. „Das hat Sawa heute auch gesagt“, sage ich leise. „So etwas in der Art zumindest.“ „Ich meine das wirklich nicht böse“, spricht er eilig, was ich zur Seite winke. „Schon gut, ich weiß“, entgegne ich gefasst und lasse das Gehörte einen Moment auf mich wirken. „Hey, hatte ich dir eigentlich schon erzählt, wie das zwischen uns angefangen hat?“, will ich wissen und sehe mit einem dünnen Lächeln zu ihm auf. Er nickt vorsichtig. „Ja, hast du.“ „Ah, gut“, sage ich und sehe abermals auf meine Tasse. „Es ist schon ziemlich seltsam, wenn man plötzlich aus heiterem Himmel eine Liebeserklärung bekommt, weißt du? Man weiß im ersten Moment gar nicht, wie man darauf reagieren soll.“ „Genau das ist es ja!“, erhebt Ukyo die Stimme. Die Versuchung ist groß, aber ich zwinge mich, meinen Blick gesenkt zu halten. „Ich meine, er taucht plötzlich wie aus dem Nichts auf, keiner kannte ihn, und auf einmal ist er da und offenbart dir seine Gefühle. Kein anständiger Mann mit ernsten Absichten würde das jemals auf die Art machen! Kannte er dich überhaupt?“ „Ich weiß nicht.“ „Wenn das nicht seltsam ist? Wie soll man das ernst nehmen? Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du seine Gefühle erwiderst.“ „Nicht?“ „Naja, also … zumindest dachte ich das bisher immer“, wird er leise. Er verfällt daraufhin in ein anhaltendes Schweigen, was mich dazu veranlasst, doch wieder zu ihm hinüberzusehen. „Nur fürs Protokoll“, werfe ich unter größter Vorsicht ein, um der leidigen Stille ein Ende zu bereiten, „du hegst keine besonderen Gefühle für mich, oder?“ „W-was? N-nein! Ich … also, nein! Wie könnte …? Wie kommst du …? A-also, wir sind Freunde! Ich bin dein … also ich meine, ich bin nur –“ „Wow, ganz ruhig“, versuche ich sein wüstes Satzgewirr zu unterbinden. Dass er gleich so abgehen würde, konnte ich ja nicht ahnen. „Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen, mehr nicht. Nicht, dass ich da noch etwas falsch interpretiere oder so.“ Ukyo sitzt zusammengekauert da. Meine simple Frage muss ihm echt zugesetzt haben. In seinem Gesicht steht der Schock geschrieben, gleichzeitig glaube ich, eine rötliche Verfärbung seiner Wangen zu erkennen. „Sorry, ich wollte dich nicht schocken oder in Verlegenheit bringen“, bringe ich eine aufrichtige Entschuldigung hervor und hoffe, dass er sie mir glauben wird. „Ich wollte nur, dass in diesem Punkt Klarheit zwischen uns besteht.“ „Sch-schon gut.“ „Aber du hättest es wirklich nicht so rüberbringen müssen, als wäre es der schlimmste Albtraum schlechthin, etwas von mir zu wollen“, necke ich ihn gespielt vorwurfsvoll, um die peinliche Atmosphäre zwischen uns ein wenig aufzulockern. Zum Glück geht er darauf ein. Ich höre ein kleines Lachen von ihm. „Tut mir leid, so war das nicht gemeint.“ Ich lächle zutiefst erleichtert. „Ich weiß.“ „Weißt du, wenn ich mit Gewissheit wüsste, dass er es ehrlich mit dir meint, würde ich mich ja für ihn freuen. Aufrichtig“, erklärt er, womit er auf den Punkt zurückkommt, bei dem wir zuletzt stehen geblieben waren. Meinetwegen hätte es gern unter den Tisch fallen können. „Aber so … ich kann nicht. Und du …“ Ukyos Blick richtet sich auf mich. Der Ernst in seinen grünen Augen macht es mir schwer, ihm nicht zur Seite auszuweichen. „Darf ich ehrlich zu dir sein?“ „Sicher“, mühe ich aus mir hervor. Aufmerksam sehe ich ihn an. „Seit das mit euch angefangen hat, habe ich nicht einmal erlebt, dass du glücklich damit wärst. Die erste Zeit hast du vermieden, mit mir darüber zu reden. Ich habe erst später erfahren, dass du neuerdings einen Freund hast. Seitdem hat es kein Mal gegeben, an dem du nicht unglücklich oder unzufrieden ausgesehen hättest, wenn du von einem Treffen mit ihm zurückgekommen bist und mir davon erzählt hast. Und auch gestern …“ Ich schaffe es nicht. Ich kann seinem Blick nicht länger standhalten und weiche ihm aus. „Ich weiß, du redest nicht gern darüber, deswegen habe ich auch nicht weiter nachgefragt. Aber gestern …“ ‚Gestern war etwas anderes‘, geht mir durch den Kopf. ‚Gestern war so gesehen mein erstes Date mit ihm. Das kann man doch gar nicht vergleichen.‘ „Tut mir leid.“ „Was tut dir leid?“, möchte ich wissen, ohne ihn anzusehen. „Naja, also …“ Mir wird just in seiner Pause bewusst, dass mein schweigsames Verhalten ihn so aus der Fassung bringen muss. „Dir muss nichts leidtun“, sage ich daher, wobei ich mich aufraffe, ihn anzusehen. Ich bemühe mich um ein besänftigendes Lächeln. „Du machst dir nur Sorgen, das ist mir schon klar und ich finde das wirklich sehr lieb von dir. Es ist auch vollkommen okay, dass du nachfragst. Wenn, dann müsste ich es sein, die sich bei dir entschuldigt. Dafür, dass ich dir so wenig erzähle und dafür, dass ich nicht schon gestern dieses Gespräch mit dir gesucht habe. Das war nicht sehr fair von mir.“ Dieses Mal ist er es, der mir mit einem leisen „Ach was“ ausweicht. „Nein, ich meine es ernst“, beharre ich. „Es tut mir wirklich sehr leid, Ukyo. Ehrlich. Ich verspreche, in Zukunft aufrichtiger zu dir zu sein, was das anbelangt. Und um das zu beweisen, möchte ich direkt damit anfangen.“ Ich warte, bis Ukyos Aufmerksamkeit wieder auf mir liegt. Erst dann beginne ich mit einem Lächeln zu erzählen: „Ich war vorhin erst wieder mit Luka zusammen. Er ist einfach im Café aufgetaucht, hat mich von der Arbeit abgeholt und mich nach Hause gebracht. Erst war es seltsam gewesen, aber es hat sich dann als sehr angenehm herausgestellt. Wir haben uns über seine neuen Ideen unterhalten. Es war recht lustig.“ Ukyos Augen weiten sich überrascht. „Vorhin erst? Er … hat dich hergebracht?“ „Mh“, nicke ich. „Zu Fuß. Es war harmlos. Ich glaube so langsam, er ist doch nicht so ein schlechter Kerl.“ „Hm …“ „Was ich damit eigentlich nur sagen will“, setze ich an, stelle meine Tasse auf den Tisch und erhebe mich von meinem Platz, „du brauchst dir wirklich keine Sorgen wegen ihm zu machen. Ich werde auch nicht von dir verlangen, dass du ihn jetzt besser leiden können sollst oder so. Aber wenn dich etwas bedrückt, möchte ich gern, dass du weiterhin offen mit mir darüber sprichst. Versprochen?“ Ungläubig sieht er mich an. Er bringt lediglich ein Nicken und gemurmeltes „Ja, schon“ zustande, aber das genügt mir fürs Erste voll und ganz. Ich gehe um den Wohnzimmertisch herum und bleibe schließlich neben ihm stehen. Aufmunternd strecke ich ihm meine Hand entgegen, auf meinen Lippen ein versöhnliches Lächeln. „Freunde?“ Er wirkt im ersten Moment unsicher, was ich mit der Geste bezwecken und wie er darauf reagieren soll. „Oh, ja, klar!“, macht es erst etwas später Klick bei ihm, woraufhin er sich eilig erhebt und meine Hand entgegennimmt. Er schenkt mir ein zerstreutes Lächeln. „Freunde, natürlich.“ Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Kurzerhand ziehe ich meine Hand zurück, nur um ihm stattdessen die Arme um den Rücken zu legen. „Danke, Ukyo“, spreche ich leise, gerade so, dass er es hören kann. „Danke für deine ehrlichen Worte.“ „Ah, nein, nicht dafür“, höre ich ihn aufgeregt sagen und spüre, wie er die Umarmung erwidert; wenn auch zögerlich. Es genügt mir. Ich nehme mir heraus, diesen Moment der Intimität voll auszukosten. Ukyo ist angenehm warm. Es fühlt sich unglaublich gut an, ihm so nahe zu sein. Von ihm geht derselbe Geruch aus, wie ich ihn schon damals an seiner Bettwäsche vernommen hatte: ein mild-grasiger Duft. Er wirkt beruhigend auf mich. Ukyo erscheint mir in diesem Moment so vertraut, als würde ich ihn in der Tat schon ewig kennen. Seltsam, höchst eigenartig. Aber egal. „Ukyo …“ „Hm? Was ist?“ Behutsam drücke ich mich von ihm weg. „»Ukyo«, das ist ein wirklich sehr schöner Name. Er hat einen sehr schönen Klang. Ich mag ihn“, erkläre ich und zeige ein ehrliches Lächeln. Zum zweiten Mal an diesem Abend bringe ich ihn mit meiner direkten Art aus der Fassung. Er bringt kein Wort zustande, seine Gesichtsfarbe wechselt ins Rötliche. Es ist so verdammt niedlich, dass ich mich von ihm wegdrehen muss, um nicht in ein prustendes Gelächter auszubrechen. „Nochmal danke für alles. Und, ach ja“, wende ich mich ihm noch einmal zu, nachdem ich meine Tasse gegriffen und mich bereits in Richtung Zimmer begeben hatte. „Eine Frage habe ich noch.“ „Welche denn?“ „Angenommen, du wüsstest von einer Person, die mit einer anderen nur aufgrund einer Lüge zusammen ist – also so generell zusammen ist – und auf einmal stehst du an deren Stelle … und du weißt nicht, wie es auf der anderen Seite aussieht und willst sie auch nicht unnötig gegen dich aufbringen … Was würdest du tun?“ Fragend sieht er mich an. Es vergeht einige Zeit, in der er meine Frage zu überdenken scheint. „Das heißt, ich bin auf einmal derjenige, der die andere Person belügt? Statt der eigentlichen Person?“ Ich nicke. „Ja.“ „Hm …“ Eine weitere Pause erstreckt sich, während er nachdenkt. „Das ist wirklich schwierig. Man sollte keine Beziehungen führen, die auf einer Lüge basieren. Aber wenn ich keine genaueren Details weiß, weder zu der einen noch der anderen Seite, ist das wirklich schwierig … Ich würde wohl einen geeigneten Zeitpunkt abwarten und versuchen, die Sache dann mit der anderen Person aufzuklären. Und bis es soweit ist, versuche ich, Abstand zu bewahren, um mich nicht noch weiter darin zu verstricken. Natürlich so, dass ich die andere Person nicht sofort verärgere und alles nur noch komplizierter wird.“ „Hm, verstehe.“ Kurz überdenke ich seinen Lösungsvorschlag. „Das dürfte nicht gerade einfach werden, aber ich verstehe, was du meinst. Danke, das finde ich gut.“ „Wieso hast du überhaupt gefragt?“ „Kam mir nur so in den Sinn“, sage ich und setze mein bestes Pokerface auf. „Du weißt schon, komisches Autorendenken und so. Manchmal kommen wir auf die seltsamsten Ideen für einen interessanten Plottwist.“ „Ah, aha.“ „Also dann, nochmal danke. Ich ziehe mich eben eine Weile zurück, umziehen und so. Ich muss außerdem nochmal meinen Schichtplan überfliegen.“ „In Ordnung. Ich habe ebenfalls für das Gespräch zu danken. Es hat sehr gut getan, mit dir zu reden.“ Ich lächle. Im Anschluss bin ich in meinem Zimmer verschwunden.   Bereits in meinen Schlafklamotten liege ich bäuchlings auf dem Bett, vor mir mein Schichtplan für den gesamten Dezember, den ich fein säuberlich abgeschrieben habe. In der Regel besteht eine Woche aus drei Schichten, wie ich ausgerechnet habe: zwei Spät und eine Früh. Ganz schön wenig, wie ich finde. Verdiene ich damit genug Geld, um mir diese Wohnung mit Ukyo plus Alltagsversorgung leisten zu können? Hm … Morgen: Sawa, Ikki, Kento und ich. Zum unzähligen Male quieke ich leise auf. Ich kann es kaum erwarten! In Gedanken verloren zeichne ich mit geschlossenem Stift das kleine Herzchen nach, das ich in diesen Tag gemalt habe. So wie bei jedem anderen Tag auch, an dem ich mit Ikki oder Kento Schicht habe. An Tagen, wo nur Kento da ist, ist das Herzchen ein wenig kleiner, dünner. An den Ikki-Tagen auffälliger. Argh, verdammtes Fangirl! Mein Blick heftet sich auf den einen Namen, der für gestern und morgen durchgestrichen ist und hinter dem ich für Samstag ein Fragezeichen gesetzt habe: »Hanna«. Handelt es sich bei »Hanna« wirklich um die Heroine? Dieser Gedanke will mir einfach nicht aus dem Kopf. Wenn »Hanna«, also die Heroine, wirklich hier ist, ist dann Ukyo …? Und Ikki? Das hier ist das Spadeverse, richtig? Müsste das nicht bedeuten …? „Argh!“ Ich stoße einen genervten Laut aus, raufe mir die Haare und werfe mich anschließend auf den Rücken. Das ist ja zum Verrücktwerden! Wie kann man nur so emotional zwiegespalten sein? Auf der einen Seite hoffe ich wirklich, dass sie es ist und ich sie kennenlernen kann, auf der anderen will ich nicht darüber nachdenken, welche Beziehung sie zu den anderen hat. Zumindest nicht zu Ikki. Nicht, wenn doch Ukyo da ist. Das wäre … das wäre einfach … zu traurig. Nicht fair. Armer Ukyo. Ich seufze aus voller Brust. Blind greife ich hinter mich, angle mein Kissen und drücke es mir aufs Gesicht. Nicht nachdenken, nicht nachdenken! Ich will mich darauf freuen! Auf morgen, auf all die anderen Tage, die ich noch mit den anderen haben werde. Jeder Zweifel, jeder negative Gedanke ist Verschwendung. Das würde mein »Reallife-Ich« auch nicht wollen, wenn das hier nur eine Fanfiction wäre. Unter meinen halbherzigen Selbsterstickungsversuchen vernehme ich das vom Stoff gedämpfte „Jiri, Jiri, Hijiri-kun“ meines Handyklingeltons. Alarmiert zerre ich das Kissen von meinem Gesicht, richte mich auf und blicke irritiert zu meinem Handy. Heute wollen wirklich viele Leute etwas von mir, und das noch zu solch später Stunde. Getrieben von Neugierde und lästigem Anstand beuge ich mich über den Rand meines Bettes hinaus und strecke mich meinem Smartphone entgegen. Mir bleibt nur ein flüchtiger Moment, um den Anrufernamen zu prüfen, ehe ich das Gespräch auch schon annehme, bevor mir die automatische Mailbox dazwischenfunkt. „Ja?“ „Hallo, ich bin’s. Ikki.“ Ikki! Mir springt fast das Herz aus der Brust. „Ich hoffe, ich störe nicht? Hast du schon geschlafen?“ „N-nein.“ Ich presse mir die Hand auf den Mund. Oh mein Gott! Ich habe mich also doch nicht verlesen. Ikki ruft mich an! Ikki ruft mich an! Aber wieso? Wieso um diese Uhrzeit? Ach, scheiß doch drauf! Warum ruft er mich überhaupt an? „Das ist gut“, höre ich ihn durchs Telefon sagen. Ich kann hören, dass er lächelt. Dass er dieses tolle, verdammte, befreite Lächeln trägt. Mann! „Ich wollte mich nur kurz persönlich nach deinem Wohl erkundigen. Hast du den Tag gut überstanden?“ „J-ja.“ Mensch, jetzt reiß dich aber mal wieder zusammen! „Es lief ganz gut. Toma und Sawa haben mich sehr unterstützt. Ich glaube, sie waren mir eine weit größere Hilfe als ich ihnen“, erkläre ich im bemüht kontrollierten Tonfall. „Das wird schon“, versucht er mich zu ermutigen. Sein leises Lachen ist dabei keine wirkliche Unterstützung. „Ich habe gehört, dass es dir heute besser ging. Wie schön. Und dass du einen guten Job gemacht hast.“ Ich stutze. „Von wem?“ „Ken“, verrät er mir. Durch meinen Körper geht ein Ruck. „Wir sind uns vorhin noch zufällig begegnet. Oh, und Rika hat auch sehr gut über dich gesprochen.“ Mir setzt der Atem aus. „Rika hat …?“ „Ja. Ich bin wirklich sehr froh, dass ihr beiden euch inzwischen so gut versteht. Zu Beginn hatte ich ja noch so meine Zweifel“, erklärt er unschuldig. Meine Finger verkrampfen sich um das Telefon, während ich mir auf die Unterlippe beiße. „Das freut mich“, quäle ich aus mir hervor. „Und morgen haben wir wieder zusammen Schicht? Bist du für den morgigen Tag gut vorbereitet?“ Ich weiß nicht ganz, was er damit meint. Aber was auch immer es ist, er hat mein vorfreudiges Herzklopfen schon wieder ganz auf seiner Seite. „Ähm, ja. Ich denke schon.“ „Sehr schön. Ich freue mich schon sehr darauf.“ – Und ich erst! Meine freie Hand zittert. Ich schiebe sie zwischen meinen Schneidersitz, um mich davon nicht kirre machen zu lassen. „Ja, ich mich auch.“ „Also dann, ich muss auflegen. Hab eine schöne Nacht.“ Ich schlucke. Im Stillen verfluche ich meinen Kopf für die Bilder, die er mir in diesem Moment einspielt. „Ja, danke. Du auch. Danke für den Anruf.“ „Gern. Bis dann.“ „Bis dann.“ Plopp. Was zum Henker war das?!   Ich hatte es eigentlich nicht vor, aber jetzt komme ich nicht mehr drum herum. Nach dieser seltsamen und äußerst peinlichen Telefonaktion brauche ich eine Zigarette, um wieder runterzukommen. Verdammt, dabei hatte ich vorgehabt, den Abend ruhig ausklingen zu lassen. Daran ist nun nicht mehr zu denken. Behutsam ziehe ich die Balkontür hinter mir zu. Eigentlich würde es nicht weiter stören, wenn Rauch ins Innere ziehen würde, da sich Ukyo ebenfalls in sein Zimmer begeben hat. Aber was nicht sein muss, muss schließlich nicht sein. Es ist kalt draußen. Vielleicht liegt es an der Uhrzeit und dem Fakt, dass ich eigentlich ins Bett wollte, aber es erscheint mir kühler als die Nächte zuvor. Egal, das hält einen echten Raucher nicht von seiner Missetat ab! Tief inhaliere ich den ersten Zug. Der Rauch kratzt ein wenig in meiner Lunge. Seltsam. Seit ich hier bin, rauche ich weniger. Wenn ich richtig zähle, ist das erst meine dritte Zigarette an diesem Tag. Schon wieder. Na, immerhin geldsparend. Auch nicht schlecht. Den nächsten Zug stoße ich mit einem Seufzen aus. Was für ein Tag. Es ist so viel passiert, dass ich kaum mehr alles zusammenbekomme. Inzwischen weiß ich nicht mehr zu sagen, was mich am meisten geschafft hat. Es war einfach nur anstrengend gewesen, ich fühle mich erschöpft. Müde lehne ich mich gegen die Balkonmauer und lasse meine Arme schlaff darüberbaumeln. Die kühle Luft ist irgendwie angenehm, obgleich sie mich frösteln lässt. Umso mehr freue ich mich gleich auf mein Bett. Ich will heute wirklich an nichts mehr denken. Mein Blick schweift hinunter zur Straße, den Laternen entlang. Zwischen ihnen erkenne ich eine Gestalt im Licht stehen. Einen Jungen, wie ich mich bald korrigiere. Sieht jung aus, ein Teenager vermutlich. Er trägt ziemlich seltsame Klamotten: eine ziemlich breite Ballonhose, ein bauchfreies schwarzes Top, ein komisches bodenlanges Zweiend-Cape-Dingens mit Sternzipfeln. Alberne Schuhe, dessen lange Spitzen sich nach oben zu biegen scheinen. Gelb-schwarze Ringelstrümpfe. Doppelreihige Ketten mit goldenem Münzschmuck über der Brust … Wirklich komisches Kostüm mit diesen seltsamen Horndingern auf dem Kopf. Ich mustere diesen Jungen eingehend. Irgendwie kommt mir sein Aufzug bekannt vor. Mein Kopf beginnt zu arbeiten, während ich an meiner Zigarette ziehe. Ich bemerke, wie der Junge zu mir hinaufsieht. Mich ansieht. Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Er sieht mich an! Ich werfe noch einen letzten Blick auf den Jungen, dann drehe ich mich herum und eile durch die Wohnung. Im Vorbeirennen schnappe ich mir meinen Schlüssel und nehme die Treppe mit zwei bis drei Stufen jeweils. Er hat mich angesehen! Ich schlage die Haustür auf und stürze ins Freie. Mein Herz und meine Lungen protestieren gegen meine unvorbereitete Hast. Ich ringe um Luft, als ich vor zur Straße gehe. Weg. Er ist weg. Dabei bin ich mir sicher, mich nicht geirrt zu haben. Ich weiß, was ich gesehen habe! Oder wen. Orion. Weit und breit keine Spur von ihm. Er ist einfach verschwunden. Hat der Knirps wirklich einen solchen Speed drauf oder hat er sich nur in Luft aufgelöst? Ich schaue nach links, ich schaue nach rechts. Ich gehe einige Schritte, suche Straße und Gebüsch nach dem Jungen ab. Nichts. Nach einigen Minuten gebe ich meine Suche auf. Es nützt nichts. Er ist nicht mehr hier. Oder halt … war er überhaupt je hier? Bei dem Gedanken halte ich inne. Stehe einfach nur da und blicke starr zu Boden. Suche nach einem Anhaltspunkt auf dem dunklen Asphalt. „Ha. Haha!“ Leises Gelächter überkommt mich. Ich schlage mir die Hand gegen die Stirn. „Du bist so dumm, ehrlich!“ Ja, das bin ich wohl wirklich. Orion ist ein Geist. Kein Mensch neben der Heroine kann ihn sehen. Davon abgesehen dürfte er in niemanden ein Interesse haben bis auf ihr. Und dass ich nicht die Heroine bin, haben wir bereits festgestellt. Es ist ausgeschlossen, dass ich ihn sehen könnte, sollte er sich aus irgendeinem irrealen Grund vor meinem Haus aufhalten. Das ist schlichtweg unmöglich, betrachte ich es logisch. „Schade“, flüstere ich leise und blicke auf zum dunklen Nachthimmel. „Wirklich schade, Orion. Jetzt sehe ich schon Geister und es bist nicht du.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)