Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 5: Auf zur zweiten Runde -------------------------------- Die angenehme Stille in meinem Zimmer wird von lauter, rockiger Musik gestört. Ich höre es, realisiere aber erst bei dem geträllerten „Jiri, Jiri, Hijiri-kun“, dass es sich dabei um den Klingelton meines Handys handelt. Nur widerwillig drehe ich mich im Bett herum und angle blind nach dem Mobiltelefon. Meine Hand geht ein paarmal ins Leere, dann gegen das kühle Holz, bis ich endlich die Ablage ertastet habe. Kurz bevor der kurze Abspann des SRX-Liedes endet, gelingt es mir, den Schieber zu bedienen und das Gespräch entgegenzunehmen. „Ja?“ „Liegst du etwa noch?“ Ich erkenne den kühlen Klang dieser Stimme, kann sie aber nicht sofort der richtigen Person zuordnen. „Jeder guter Kämpfer benötigt ausreichend Schlaf, aber merke dir: Der Feind schläft nie.“ Oh, fuck! Waka! Augenblicklich bin ich wach und sitze aufrecht in meinem Bett. Eilig suche ich nach einer Uhr, doch muss erkennen, dass mein Zimmer so etwas nicht beherbergt. Oh mein Gott, wie spät ist es? „Mist! Habe ich verschlafen? Tut mir leid, ich werde mich sofort anziehen und so schnell ich kann –“ „Nicht nötig.“ Ich erstarre im aufrechten Stand inmitten der Bewegung. Das Adrenalin pumpt durch meine Venen, bringt meine Schläfen zum Pulsieren und setzt mein Hirn gänzlich außer Kraft. Ich bin weder zu einer Antwort noch einer Bewegung imstande. „Dein Einsatz beginnt erst zur zweiten Runde. Sei um dreizehn dreißig auf Gefechtsstation. Wir beginnen pünktlich mit den Kampfvorbereitungen.“ „Jawohl.“ „Gut. Das war’s fürs Erste. Ich verlasse mich auf dich.“ Klack. Langsam lasse ich meinen Arm sinken. Mein Kopf fühlt sich vollkommen leer an. Ich stehe komplett neben der Spur. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht wirklich verstanden, worum es gerade ging. Nur so viel, dass ich heute wohl um halb zwei zum Dienst antreten soll. Was mit anderen Worten bedeutet, dass ich heute eine weitere Schicht im »Meido no Hitsuji« habe. Kraftlos lasse ich mich zurück aufs Bett sinken. Meine Knie fühlen sich weich an, jetzt, da das Adrenalin langsam aber sicher wieder abnimmt. Der Schock sitzt mir noch immer in den Gliedern, mein Herz rast wie verrückt, und ich bin definitiv wach. Mir ist kalt. Ich spüre, wie sich eine Gänsehaut über meine Arme zieht. Mein Körper ist noch auf Schlaf ausgelegt, mein Blutkreislauf längst nicht richtig in Schwung. Das war wirklich nicht die beste Methode, um in den Tag zu starten. Von null auf hundert kann nicht gesund sein, ganz sicher nicht. Kurz werfe ich einen Blick auf meine Handyuhr: 7:31 Uhr. Viel zu früh. Ich habe nicht einmal annähernd genug Schlaf bekommen, um jetzt schon mit dem neuen Tag zu beginnen. Zumal ich noch so viel Zeit hätte, bis meine Schicht beginnt. Aber nach Wakas Weckrufaktion wird an Schlaf nicht mehr zu denken sein. Ganz gleich, wie schlapp und unausgeruht ich mich fühle. Die Nacht war schrecklich gewesen. Nachdem ich die erste Zeit gar nicht recht einschlafen wollte und bis um vier einen sehr leichten, äußerst unruhigen Schlaf gehabt hatte, waren die letzten Stunden die schlimmsten gewesen. Da hat man es endlich geschafft, zur Ruhe zu kommen, und dann muss einen natürlich ein Albtraum heimsuchen. Natürlich, was auch sonst. Mir schaudert bei dem Gedanken daran. Ein Tornado hatte mein Zuhause dem Erdboden gleichgemacht. Mein richtiges Zuhause. Er hat mein Wohnhaus wörtlich in Fetzen und die Straßen wie ein Pflaster unter sich herausgerissen. Binnen Minuten wurde mir alles genommen: mein Zuhause, meine Familie, sogar meine Arbeit und mein vertrautes Umfeld. Ich habe versucht, Freunde und Kollegen zu warnen, aber bekam kein Netz. Ich bin gerannt, von A nach B, aber die Wirbelwinde waren mir stets auf den Fersen. Von überall hörte ich Schreie, Sirenen, einen unglaublichen Lärm. Ich habe versucht, zu helfen, wem ich konnte, doch es war zwecklos. Das Chaos war von jetzt auf gleich ausgebrochen, ohne eine Chance, ihm zu entkommen. Doch das war noch nichts im Vergleich zu dem, was uns noch bevorstand. In Schaufenstern, die ich passiert hatte, berichteten die Medien von einer Art Apokalypse. Einer unausweichlichen Katastrophe, dem sicheren Ende der Welt. Ein Schwarzes Loch hatte sich der Erde genähert und war im Begriff, sie zu verschlingen. Ich verstehe nicht viel von Science Fiction, Astronomie und dem Universum und weiß daher nicht, ob das rein logisch betrachtet überhaupt möglich ist, dass sich ein Schwarzes Loch bewegen kann, aber in meinem Traum war es so. Es hat alles in sich verschlungen, was ich einst mein friedvolles Zuhause genannt hatte. Binnen kürzester Zeit. Bei der Erinnerung will ich weinen. Ich spüre, wie ein dicker Kloß in meinem Hals anschwillt, doch ich kämpfe dagegen an. Es war nur ein Traum, versuche ich mir einzureden. Ein Albtraum, mehr nicht. Einer von vielen, die ich schon hatte, nur mit dem Unterschied, dass dieser auf einem wahren Gefühl von mir beruht. Ich will nicht darüber nachdenken. Schon allein aus diesem Grund will ich mich nicht noch einmal hinlegen. Aus Angst, in diesen Traum zurückzukehren. Nun bin ich wach, es ist vorbei und ich habe wahrlich genug andere Sorgen, um die ich mich kümmern muss. Wenig motiviert richte ich mich auf. Als allererstes sollte ich dafür sorgen, dass mein Start in den Tag besser wird. Mir ist noch immer kalt, daher gehe ich zu meinem Kleiderschrank und suche mir dort einen Alltagspullover heraus. Nachdem ich hineingeschlüpft bin, ziehe ich die Rollläden meines Fensters hoch und kippe es zum Lüften an. Ich will mein Zimmer verlassen, dabei fällt mein Blick auf die Tür, die meinen Raum von dem benachbarten trennt. Ukyo. Bei dem Gedanken an ihn wird mir schwer ums Herz. Unser gestriges Gespräch war nicht sehr schön verlaufen. Er hatte so angespannt gewirkt, unbestreitbar verstimmt. Ich weiß nicht, was ihm durch den Kopf gegangen sein mag und was der Auslöser für seinen Unmut war. Ich weiß nur, dass es nicht schön gewesen war, ihn so zu sehen, und dass ich mich irgendwie schuldig dafür fühle. Er ist eine liebe Person, das weiß ich jetzt noch besser, als ich bisher den Eindruck von ihm hatte. Er ist jetzt real, so wie all die anderen, und ich habe das Gefühl, dass er mir ein guter Freund ist. Einen Freund lässt man nicht in seinem Unmut allein. Ich sollte mit ihm reden. Was immer da gestern zwischen uns gewesen ist, es sollte geklärt werden. Ich weiß noch immer nicht viel, nicht einmal, wie es wirklich zwischen uns steht neben unserer Wohnsituation. Umso mehr sollte ich versuchen, einen guten Draht zu ihm zu haben. Nicht nur meinetwegen, auch für ihn, damit er mich nicht als Last empfindet. Das wäre das Letzte, was ich will. Ich bin sehr dankbar dafür, ihn in meiner Nähe zu haben. Ich fühle mich gleich sicherer und geborgener mit ihm an meiner Seite. Sicher erwarte ich nicht, dass er immer da ist, wenn ich etwas brauche, aber allein, dass er da ist, macht schon vieles erträglicher für mich. Es wird nicht leicht werden, aber es ist notwendig. Diese Aussprache ist wichtig und ich hoffe, dadurch noch ein wenig mehr zu erfahren. Hoffentlich hat mein bisheriges Ich genug Vertrauen zu ihm aufbauen können, dass er offen und ehrlich mit mir reden wird. Das würde alles so viel leichter machen. Ich muss wissen, was in ihm vorgeht, damit ich richtig auf ihn eingehen kann. Ich seufze tief. Mein Entschluss steht. Entschieden gehe ich zur Tür und verlasse mein Zimmer. Die Wohnung ist still, unheimlich still. Vielleicht schläft Ukyo ja noch, geht mir durch den Kopf. Es ist gerade kurz nach halb acht. Kann ich ihn mir als Langschläfer vorstellen? Hm, naja, meine Interpretation muss ja nicht mit den realen Personen übereinstimmen, richtig? Da ich Ukyo auf Anhieb nirgends ausmachen kann und auf keinen Fall sein Zimmer betreten werde, wenn die Möglichkeit besteht, dass er noch schläft, entscheide ich mich kurzerhand um. Ich steuere das Badezimmer an, um mich frischzumachen. Morgendliche Schönheit ist nicht jedem vergönnt, mir schon mal gar nicht. Mein Spiegelbild zeigt genau das, was ich erwartet habe. Ich sehe aus, wie ich mich fühle. Die Nacht ist meinem Gesicht abzulesen, meine Augen blicken mir müde entgegen. Katastrophe. Wie gut, dass ich Ukyo so nicht über den Weg gelaufen bin. Wenn ich ihn nur ansatzweise richtig einschätze, hätte er sofort gewusst, was los ist. Auf diese Art von Fürsorge kann ich gut verzichten. Das macht es nicht besser, nicht wirklich. Ich drehe das Wasser auf und beginne, mich zu waschen. Alles Übrige folgt, ohne dass ich hetze, bis ich Minuten später das Badezimmer wieder verlasse und die Küche als Nächstes in Angriff nehme. Auf meinem Weg dahin wende ich mich der Stereoanlage zu. Ich bin erleichtert, als ich entdecke, dass sie eine Radiofunktion hat. Ich schalte auf den Sender, der bereits eingestellt ist, und lasse die mir fremde Musik in gemäßigter Lautstärke etwas Leben in die Bude bringen. Es tut gut, nicht länger mit Stille vorlieb nehmen zu müssen, und ich setze meinen Weg fort, um mir alles für einen morgendlichen Cappuccino zurechtzusuchen. Während ich Pulver in die Katzentasse gebe, fällt mir ein Zettel ins Auge, der neben dem Wasserkocher auf der Theke liegt. Sofort lege ich alles zur Seite und nehme ihn zur Hand, um die Schriftzeichen zu lesen, die in schmaler, leicht seitlich geneigter Handschrift geschrieben stehen. »Guten Morgen. Bitte entschuldige, dass ich dich schon wieder allein lasse. Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen. Etwas Kleines zum Frühstück steht im Kühlschrank. Als kleine Entschuldigung. Heute hast du wieder Schicht im Meido, richtig? Kannst du Shin vielleicht seine CD zurückbringen? Sag ihm bitte, dass sie mir gefallen hat. Und liebe Grüße an Waka-san. Pass auf dich auf. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Ukyo« Hm, er ist also nicht da. Und wie es klingt, werde ich ihn wohl vor dem Abend nicht zu Gesicht bekommen. Schade … nein, eigentlich finde ich das richtig scheiße. So richtig, richtig beschissen. Ich stoße ein schweres Seufzen aus. Ukyo ist ein wirklich vielbeschäftigter Mann, wie es scheint. Ob das wohl zur Gewohnheit wird? Oder ist es nur im Moment so? Irgendwie ist es jetzt doch fast, als würde ich allein leben. Normalerweise bin ich das gewohnt, aber hier, in dieser Welt und Situation, hätte ich es schön gefunden, nicht so viel allein zu sein. Einsamkeit führt nur zum Nachdenken und das wiederum hat mir noch nie gut getan. Jetzt am allerwenigsten. Egal, ich kann es nicht ändern. Es ist wie es ist, ich sollte nicht so egoistisch sein. Das steht mir gar nicht zu. Ich werde schon irgendwie zurechtkommen. Bin ich immer, egal wie. Entschieden, wenn auch mit schwerem Herzen, lege ich den Zettel zurück auf die Theke. Daneben erkenne ich die CD, von der Ukyo wohl gesprochen hat. Ich werde sie später einpacken und mit auf Arbeit nehmen. Wenigstens das kann ich für Ukyo tun. Noch einmal lasse ich meinen Blick über die Zeilen schweifen. Frühstück, hm? Irgendwie ist das süß. Es bringt mich zum Schmunzeln. Das ist wirklich sehr aufmerksam von ihm, richtig fürsorglich. Ich bin das gar nicht gewohnt. Aber es ist tröstend, dass er an mich gedacht hat. Und beruhigend, dass er sich trotz seiner vielen Abwesenheit so um mich kümmert. Es gibt mir ein Gefühl, dass er auf die Art nicht ganz weg ist. Das reicht mir voll und ganz, fürs Erste. Etwas besser gelaunt gieße ich mir meinen Cappuccino auf. Anschließend prüfe ich, was er mir im Kühlschrank hinterlassen hat. Ein Sandwich. Nichts Aufwendiges, aber ein kurzes Prüfen lässt mich feststellen, dass es handgemacht sein muss. Ich finde alle Zutaten, die ich auf den ersten Blick erkennen kann, ebenfalls im Kühlschrank. Ach, Ukyo, du Nuss. Eine Packung Cornflakes und Milch hätten es auch für mich getan. Dankbar nehme ich es an und stelle mein Frühstück auf den kleinen Tisch. Im Radio kündigen sie schönes Wetter für den heutigen Tag an. Na, wenn das nicht ein Grund ist, positiv nach vorn zu blicken. Es kann nur aufwärts gehen.   Ich habe noch etwas Zeit, bis ich zur Arbeit muss. Das trifft sich gut, denn ich sollte ganz dringend etwas tun, um nicht wie ein Pferd auf dem Flur zu stehen: recherchieren. Auf der Unterablage des Wohnzimmertisches habe ich einen Laptop entdeckt. Das ist praktisch, denn den kann ich gut gebrauchen. Vielleicht wird er mir auch in Zukunft noch sehr dienlich sein, wenn sich mein Kopf denn eines Tages genug beruhigt haben sollte, dass ich zum Schreiben in der Lage bin. Ich hoffe nur, das ist auch für Ukyo okay, wenn ich ihn verwende. Die Festplatte ist nicht passwortgeschützt. Auch stelle ich zu meiner Erleichterung fest, dass wir Internetzugang haben. Den habe ich am Handy zwar auch, zumindest sollte ich das, aber ich bin doch eher ein Computermensch. Gewohnheitstier eben. Zu meinem Erstaunen kann ich Google aufrufen. Kurzerhand gebe ich »Meido no Hitsuji Adresse« in der Suche ein. Und Tatsache, mir werden verschiedene Einträge als Ergebnisse geliefert. Puh, und ich hatte beim Absenden schon Angst gehabt, ich würde auf Fanwikis stoßen oder so etwas. Ich hole mein Handy herüber und speichere mir die Anschrift in den Memos. In einer Map sehe ich mir die Wegbeschreibung an und mache mir auch dazu Notizen. Der Weg ist in gut einer halben Stunde zu schaffen, bei meiner Orientierung vielleicht in fünfzig Minuten. Aber es hält auch eine U-Bahn in der Nähe. Mit der richtigen Linie fahre ich nur zwei Stationen in unter zehn Minuten. Dann ist es nur noch eine Straßenüberbrückung und ich komme direkt hinunter auf die richtige Straße. Laut empfohlener Wegbeschreibung etwa fünf bis zehn Minuten Fußmarsch, je nach Schritttempo. Das klingt nach etwas, was auch ich hinbekommen sollte. Zumindest für die Zeit, in der ich den Weg noch nicht in Ruhe abgelaufen bin. Später kann ich immer noch auf Fußweg umsteigen, ist geldsparender und gut für die Bewegung. Zufrieden speichere ich meine Notizen ab und sperre mein Handy. Meine Recherchen waren zweckdienlich und sind damit abgeschlossen. Gerade will ich den Laptop wieder herunterfahren, da kommt mir ein Gedanke. Er ist etwas gewagt und vielleicht ist er auch sinnfrei, aber … Abermals bediene ich das Internet. In der Adresszeile gebe ich eine mir sehr vertraute Seitenadresse ein: »www.animexx.de«. Mein Herz schlägt wie verrückt in meiner Brust, als ich Enter betätige und gespannt beobachte, wie sich das Laderädchen dreht. »Die angeforderte Internetadresse ‘www.animexx.de‘ existiert nicht.« BAMM, in die Fresse. Ich seufze. Dann versuche ich es erneut: »www.animexx.jp«. »Die angeforderte Internetadresse ‘www.animexx.jp‘ existiert nicht.« War ja klar. Ich gehe zurück auf Google und suche dort nach der größten deutschen Anime/Manga-Internetcommunity. Meine Suchanfrage erzielt auch hier keine gewünschten Ergebnisse. Mir dämmert, dass es keinen Sinn macht. Spaßeshalber ändere ich meine Suchanfrage und erbitte Ergebnisse zu »Amnesia PSP«. Weitere Varianten folgen, in der ich das »PSP« in alternative Verbindungswörter wie »Anime« und Namen wie »Ukyo« und »Ikki« umändere. Doch was ich auch versuche, das Ergebnis bleibt immer nahezu dasselbe. Die meisten Ergebnisse spucken mir alles Mögliche zu Amnesie aus. Seitenweise. Ein paar andere versuchen mir etwas zu verkaufen. Einzelne Seitenangebote lassen mich zweifeln, ob Google tatsächlich verstanden hat, was ich von ihm möchte. Aber nichts zu dem »Amnesia«, was ich meine. Weder Spiel noch Anime. Nichts, gar nichts. Nicht einmal im Entferntesten. Die Ergebnisse sind eindeutig: »Amnesia«, wie ich es meine, existiert nicht. Die Zeit lässt es zu, also spiele ich noch ein wenig mit anderen Suchen herum. Wesentlich besseren Erfolg habe ich mit »Coca Cola«, »Pirates of the Carribean« und »Deutschland«. Anfragen wie »Uta no Prince-sama« und »Granrodeo« hingegen führen erneut zu einer fragwürdigen Schnitzeljagd im Fegefeuer. Lustig irgendwie. Die Ironie bringt mich fast zum Lachen. Ich beginne zu verstehen. Alles, was auch nur im Entferntesten einen Hinweis darauf geben könnte, dass es sich bei »Amnesia« um etwas Nichtreelles handelt, existiert hier nicht. Egal, was mir dazu einfällt. Jeder Versuch, diese Welt als nicht real zu identifizieren, lässt mich gegen Wände rennen. »Amnesia« existiert nicht. Es ist dasselbe, wie wenn ich in meiner Welt versuchen würde, sie als ein fiktives »Sophia Malz« zu enttarnen. Für mich ist »meine Welt« auch real, aber im Augenblick ist es die »Amnesia«-Welt, die für mich die Realität darstellt. Natürlich trägt sie keinen Namen, das ist nur logisch. So irgendwie.   Bepackt mit ein paar beschmierten Toast und Shins CD befinde ich mich wenig später auf dem Weg zu meiner neuen Arbeitsstelle. Ich bin froh, mir idiotensichere Notizen gemacht zu haben, so habe ich keine Probleme, den Anweisungen zu folgen. Es ist wirklich einfacher, das »Meido no Hitsuji« auf dem U-Bahn-Weg zu finden, als ich angenommen hatte. Ich bin überpünktlich. Dieses Mal muss mich kein angepisster Waka abpassen und in einen Raum zerren, ich finde ihn ganz von allein. Unverwandt gehe ich an meinen Spind, lege meine Tasche hinein und greife den Bügel mit meiner Uniform. Direkt im Anschluss verschwinde ich im Nebenraum, um mich für meine Schicht herzurichten. Die Uhr im Pausenraum zeigt zehn nach eins, als ich den letzten Schliff an mir vollendet habe. Noch immer viel zu pünktlich. Und es sieht nicht so aus, als sei schon jemand neben mir hier. Zumindest habe ich bisher noch niemanden gesehen. Seltsam. Ich will mich gerade auf einen der Stühle setzen, um die übrige Zeit im stillen Warten totzuschlagen, als ich Geräusche vernehme. Sie scheinen aus der Küche zu kommen. Es klingt stark nach Geschirrklappern. Also bin ich doch nicht die einzige Anwesende hier! Das trifft sich gut. Ukyo hat mich gebeten, Shin seine CD zurückzugeben und ich habe noch genug Zeit, das direkt zu tun. Besser so, auf die Art kann ich es später nicht vergessen. Also gehe ich abermals an meinen Spind, um besagte CD aus meiner Tasche zu holen. Den Weg zur Küche kenne ich bereits, ich mache mich sofort dahin auf, immer dem Geklapper nach. „Hallo, Shin. Ukyo hat mich gebeten, dir deine CD –“ Ich bringe den Satz nicht zu Ende, als ich die Person erkenne, die für den Lärm in der Küche verantwortlich ist. Mit einem Mal bin ich erstarrt, stehe einen Schritt weit in der Küche und bin nicht fähig, mich zu rühren. Es ist nur für einen Moment, dass ich in die grünen Augen hinter der schmalen Brille blicke. Ein Moment, der sich für mich anfühlt, als hätte jemand die Pausetaste betätigt. Ein Moment, der mein Hirn einem Schleudergang unterzieht und meinem Herzen viel zu viel an Mehrbetrieb abverlangt. Oh. Mein. Gott. „Dir auch einen guten Tag, Shizana.“ Oh. Mein. Gott! Nicht Shin, sondern Kento steht in der Küche. Der Kento. Hier, direkt vor mir. Und er ist so groß und stoisch und … Halt, hör auf damit! Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für dieses Fangirl-Gehabe. Das hier ist die Wirklichkeit, kapier das endlich und komm wieder runter! Ich straffe die Schultern. In Gedanken mahne ich mich, mich zusammenzureißen. Am Rad drehen und wie ein Meerschweinchen quiekend im Dreieck springen kann ich später immer noch. „Bitte entschuldige“, richte ich mein Wort an Kento, bemüht, es unbeirrt klingen zu lassen. „Ich hatte eigentlich Shin in der Küche erwartet.“ „Shin hat heute keine Schicht. Ich bin für die Küche am Donnerstag eingeteilt“, klärt er mich auf, wobei er sich wieder seinen Arbeitsvorbereitungen zuwendet und mich keines einzigen Blickes mehr würdigt. Der trockene Tonfall, den er dabei an den Tag legt, schüchtert mich mehr ein, als ich je für möglich gehalten hätte. „Diese Routine besteht schon immer und wird immer Bestand haben, solange wir uns die Aufgaben in der Küche teilen.“ „Oh“, mache ich. Äußerst geistreich, ich weiß. „Das … muss ich wohl vergessen haben. Ich bin noch bei Mittwoch.“ „Ausgeschlossen. Die Routine legt fest, dass du den ersten und dritten Mittwoch diesen Monat frei hast. Wärst du noch beim Mittwoch dieser Woche, wärst du nicht hier auf Schicht.“ Oh Mann, dieser Kerl legt einem ja wirklich jedes Wort auf die Goldwaage. Meine erste Begegnung mit ihm und ich muss direkt diese Seite an ihm kennenlernen. Ich sollte wirklich aufpassen, dass ich ihn nicht unabsichtlich unterschätze. „Ganz davon abgesehen …“ Er unterbricht seine Tätigkeit, um sich mir zuzuwenden. Sein direkter, alles durchleuchtender Blick bereitet mir Unbehagen. „Gemessen an mehrerlei optischer Unterschiede, die zwischen Shin und meiner Person bestehen, ist es ebenfalls ausgeschlossen, dass du mich mit ihm verwechseln könntest. Selbst für eine landfremde Person wie dir als Europäerin dürften sie nicht zu verfehlen sein.“ Moment mal, disst er mich gerade? Was soll diese differenzierende Anspielung? „Ich habe euch ja nicht verwechselt“, verteidige ich mich vor ihm. Sein Vorwurf stimmt mich beleidigt. „Das ist schlichtweg nicht möglich. Ich könnte euch selbst noch mit verbundenen Augen auseinanderhalten, das könnte jeder. Ich war lediglich in Gedanken und daher etwas überstürzt.“ „So?“ „Ja.“ Ich nicke bekräftigend. „Hm.“ Er schiebt vielsagend die Brille nach oben. Oh Mann, das fängt ja gut an. In welches Fettnäpfchen bin ich da nur wieder hineingetreten? Wieso ausgerechnet bei ihm? Das ist doch zum Heulen. Kento wendet sich von mir ab und einer der Küchenschubladen zu. Aus einer von ihnen holt er einen schwarzen Hefter heraus, aus welchem er ein Blatt löst. Auffordernd hält er es mir entgegen. „Hier.“ „Was ist das?“, möchte ich wissen und gehe weiter in die Küche, um den Zettel in Empfang zu nehmen. „Das heutige Tagesmenü“, erklärt er knapp. „Aha.“ Grob überfliege ich das Angebot. Es steht nicht viel darauf: zwei verschiedene Warmspeisen und drei Desserts. Ich kann davon ausgehen, dass sie das übliche Sortiment ergänzen sollen, von dem ich mir bereits einen Teil gemerkt habe. Klingt nach keiner allzu großen Herausforderung. „Tatsache.“ Ich blicke aus meinen Gedanken auf und schaue auf Kento. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und sieht mich prüfend an. Er muss mich schon die ganze Zeit auf diese Art beobachtet haben, während ich mit dem Zettel beschäftigt gewesen war. „Es stimmt also. Ikkyu hatte recht.“ Hm? Was meint er damit? Womit hatte Ikki recht? Ich will ihn schon fragen, da höre ich, wie die Tür unseres Personaleingangs ins Schloss fällt. Die unerwartete Störung jagt mir einen Schrecken ein, der zum Glück nicht von langer Dauer ist. Als ich mich herumdrehe, sehe ich auch schon, dass wir just in dem Moment Gesellschaft bekommen. „Yo, Kento-san“, grüßt der Neuankömmling zu meinem Gesprächspartner herüber. Das kurze, blonde Haar, welches von einem schwarzen Haarreif mit gelbem Karomuster im Zaum gehalten wird, ist das Erste, was mir ins Auge sticht. Dann die gelborange Farbe seiner Augen, die wirklich äußerst ungewöhnlich ist. „Hallo“, erwidert Kento hinter mir, völlig emotionsfrei. Gern hätte ich mich zu ihm herumgedreht und sein Gesicht geprüft, aber der Blick der Person, die ich als Toma identifiziert habe, haftet bereits an mir. Beiläufig  stellt er die kleine Einkaufstüte, die er in der Hand getragen hatte, neben der Tür auf einem Hocker ab, ehe er in die Küche tritt und direkt auf mich zusteuert. Auf sein Gesicht zaubert sich ein scherzhaftes Grinsen, als er sich ein Stück zu mir vorbeugt und mir die Hand auf den Kopf legt. „Hey, Kleines.“ Verdutzt blinzle ich. Meine Augenbrauen gehen fragend in die Höhe. »Kleines«? Sein Grinsen wird noch breiter, als er in einem Wort meine unausgesprochene Frage beantwortet: „Chii-sa-na*.“ Kento stößt hinter mir ein leises Seufzen aus. Ich bin perplex. „Mein Name ist Shi-za-na“, lege ich ihm ans Herz. In meinen Wangen beginnt es unangenehm zu kribbeln. Toma entlässt ein kurzes Lachen. „Ja, ich weiß. Inzwischen weiß ich das.“ „Du wirst diesem müden Wortspiel wohl niemals überdrüssig, was?“ Er richtet sich auf, um sich Kento zuzuwenden. „Wie könnte ich das auch? Eine solch erste Begegnung muss in Erinnerung behalten werden. Zudem, du musst zugeben, es passt doch ganz gut.“ Schmunzelnd sieht er mich an. „Unsere kleine Shizana.“ „Ich bin nicht klein“, schmolle ich zurück. „Ich bin normalgroß.“ Toma schenkt mir ein herzliches Lachen. Gott, wie peinlich! „Ich höre, unser Trupp ist vollständig.“ Hinter Toma taucht Waka in der Tür auf, in seinem Arm eine weitere Einkaufstüte. Meine Haltung versteift sich unwillkürlich. „Kento. Shizana.“ „Jawohl“, antworten wir beide im Akkord. Unsere Stimmlagen könnten kaum unterschiedlicher sein. Unser Chef schenkt uns ein Nicken, ehe er sich an Toma richtet. „Toma, danke für deine Hilfe. Jetzt geh dich umziehen. Meeting in zehn Minuten.“   Waka unterredet uns kurz darauf in einer routinemäßigen Kriegsbesprechung. Kurz und präzise erinnert er uns daran, den Feind niemals zu unterschätzen und mit allen verfügbaren Waffen auf ihn zu zielen, ehe er gegen uns feuern kann. Ich bin nicht ganz sicher, ob er damit wirklich etwas Dienstliches erklären oder nur seine kleine Fantasiewelt ausleben möchte. Kento und Toma ertragen seinen Monolog mit respektvoller Nachsicht, also nehme ich mir ein Beispiel daran und tue es ihnen gleich. Ich glaube, es ist eben Wakas typische Art, uns zu unterstützen und eine gute Schicht wünschen zu wollen. Zumindest nehme ich heraus, dass wir jederzeit zu ihm kommen sollen, wenn die Lage zu kippen droht. Ich hoffe inständig, dass ich niemals in solch eine Situation kommen werde. Weniger wegen mir als der Kunden. Mir will einfach nicht das Bild aus dem Kopf, wie Waka mit gezogenem Katana auf einen wehrlosen Menschen losgeht, nur weil dieser vielleicht nicht ausreichend Wechselgeld mit sich trägt. Ich mag zum Feierabend kein Blutbad aufwischen müssen. Nach Beendigung seiner Rede teilt sich unsere Gruppe auf, um die Schicht vorzubereiten. Während Kento in der Küche verschwindet, kümmern sich Toma und ich um das Herrichten der Tische. Er ist mit seiner Seite schneller als ich, weswegen er bereits in der Küche verschwindet, während ich noch mit den letzten Plätzen beschäftigt bin. Als ich diesen Teil der Arbeit endlich erledigt habe und mich dem Tresen zuwende, kehrt auch Toma bereits mit einigem Geschirr auf dem Arm zurück. „Geht es dir heute besser?“, spricht er mich von der Seite an, gerade als ich ihm einen Teil seiner Last abnehme, um das Geschirr in den Schränken einzuräumen. Fragend sehe ich ihn an. „Wieso »heute«?“, will ich wissen. „Wir haben uns die letzten Tage doch gar nicht gesehen.“ Wenigstens das kann ich mit Gewissheit sagen. „Naja … nur so?“ Ich ahne: Da ist etwas im Busch. „Toma …“ „Es ist nur …“ Unsicher legt er die freie Hand in den Nacken und weicht meinem Blick zur Seite aus. „Mann, er bringt mich um, wenn ich dir das erzähle.“ Okay, alles klar. Ich stoße ein entnervtes Seufzen aus. „Was hat Shin dir erzählt?“ „Eh? Woher weißt du –“ Mitten in seiner Frage bricht er ab. Eine kurze Pause folgt, in der er wohl selbst begreift. Ein vorsichtiges Lächeln ist das Ergebnis. „Es ist wohl ziemlich offensichtlich, oder? So oft wie wir uns sehen.“ „Wann habt ihr gesprochen?“ „Gestern. Er hat mich nach der Uni abgeholt. Wir waren noch verabredet.“ „Und da hat er nichts Besseres zu tun, als über mich zu reden?“, schnippe ich. Shin ist ja eine schlimmere Quasselstrippe, als ich ihm je zugemutet hätte. „Hat der Kerl denn keine anderen Themen?“ „Du weißt doch, wie er ist. Er redet viel über dich.“ „Und gewiss kommt nie was Gutes bei rum.“ Er lacht auf. „Wer weiß.“ Ja, schon klar. „Und?“, hake ich nach. Meine erste Frage steht noch immer offen im Raum. Er zögert. „Versprichst du, ihm nichts zu sagen, dass ich es dir erzählt habe?“ „Wieso sollte ich? Einen Vorteil könnte es mir kaum verschaffen.“ „Du wirst es dir eh denken können.“ Er stößt ein leises Seufzen aus. Anschließend besieht er mich mit einem zaghaften Lächeln. „An sich hat er mir nur erzählt, dass du vorgestern etwas neben der Spur gestanden haben sollst. Du sollst dich in einigen Punkten seltsam verhalten haben. Zumindest anders, als er es von dir gewohnt ist. Er glaubt, dass du etwas ausbrütest.“ Ablehnend schüttle ich den Kopf. „Nein, da kann ich euch beruhigen. Ich brüte nichts aus. Mir geht es gut. Ich stand an dem Tag nur etwas neben mir, das ist alles. Hatte an dem Tag verschlafen, das hat meinen gesamten Tagesplan durcheinandergeworfen.“ „Ach, so ist das. Ich verstehe.“ Ich seufze innerlich. Dieses ständige Lügen ist wirklich anstrengend. Werde ich wohl jemals ehrlich zu ihnen sein können? So hatte ich mir das wahrlich nicht vorgestellt. Oder sagen wir besser: hätte. Am Rande nehme ich wahr, wie sich Toma neben mir rücklings gegen die Theke lehnt. Die Veränderung an seiner Haltung veranlasst mich dazu, meinen Blick, den ich nachdenklich von ihm abgewandt hatte, wieder auf ihn zu richten. „Sicher, dass es dir gut geht?“, versichert er sich abermals meines Zustandes. Dabei mustert er mich eingehend, den Kopf etwas zur Seite gelegt. „Du siehst etwas müde aus, kann das sein?“ Oh, sieht man mir die Nacht etwa an? Dabei habe ich extra vorsorglich Makeup aufgetragen. Mist, das ist jetzt echt ärgerlich. „Ich habe die Nacht nicht so gut geschlafen“, gestehe ich aufrichtig. „Aber du musst dir keine Sorgen machen. Mir geht es gut. Ich werde schon nicht zusammenklappen.“ „Wenn du eine Pause brauchst, sag Bescheid. Ich kläre das dann im Zweifelsfall mit Waka-san.“ Ich lächle. Seine Fürsorge rührt mich zu Herzen. „Danke, das ist wirklich lieb von dir. Aber mach dir meinetwegen keine Umstände. Die regulären Pausen werden genügen, da bin ich mir sicher. Und selbst wenn nicht, dann kläre ich das selbst mit ihm und hole mir den Anranzer persönlich ab. Damit musst du dich wirklich nicht belasten.“ „Ich möchte es nur angeboten haben.“ Er erwidert mein Lächeln, ehe er sich von der Theke wegstößt. „Na gut, wir haben noch ein bisschen was zu erledigen. Ich verlass‘ mich auf dich.“   Und so begann ein neuer Arbeitstag. Nachdem wir das Café geöffnet hatten, blieb es noch einige Zeit still. Die ersten Kunden nahmen Toma und ich abwechselnd in Empfang, um sie auf bestem Servicelevel zu bedienen. Ich muss sagen, es ist ein sehr angenehmes Arbeiten mit ihm. Unsere Absprachen gestalten sich sehr unkompliziert und einfach. Zudem muss ich gestehen, dass nicht zu verkennen ist, welche Ruhe und Kontrolle er ausstrahlt. Es fällt mir erstaunlich leicht, mich seinem Rhythmus anzupassen. Es ist, als würde er mich dazu einladen, ihm zu folgen, was ich frei jeglichem Bedenken tue. Seltsam, aber irgendwie entspannend. Hinter dem Tresen nehme ich mir die Zeit, ihn ein wenig zu beobachten, während ich den Abwasch bediene. Es macht Spaß, ihm dabei zuzusehen, wie er die Kunden berät. Er hat ein so warmes Lächeln auf seinen Gesichtszügen, dass mir klar ist, wieso mein Misstrauen keine Chance gegen ihn hat. Zu meiner Erleichterung scheint es den Kunden ebenso zu ergehen wie mir. Man könnte meinen, dass es ein Leichtes für ihn ist, Behaglichkeit in seinem Umfeld zu schaffen. Beneidenswert, und gefährlich zugleich. Hoffentlich fälle ich mein Urteil nicht zu früh über ihn. Ich will es nicht bereuen müssen. Gegen sechszehn Uhr füllt sich das Café zusehends. Nicht so schlimm wie an meinem ersten Tag, aber doch genug, dass Toma und ich durchgehend zu tun haben. Langsam aber sicher geht die Routine auf mich über und es fällt mir schon leichter, meinen Aufgaben von Bedienung bis Aufräumen systematisch nachzukommen. Tomas System zur produktiven Arbeitsteilung, in das man sich superschnell hineinfinden kann, ist dabei eine enorme Hilfe. Generell muss ich zugeben, dass es mit ihm ein ganz anderes  Arbeitsempfinden ist als mit Ikki.  Vielleicht liegt es mit daran, dass Toma wesentlich weniger von der Kundschaft vereinnahmt und aufgehalten wird. Ganz gleich, was der Grund ist, in puncto Zusammenarbeit kann man sie jedenfalls nicht miteinander vergleichen. Nicht im Geringsten.  „Hey, Shizana“, werde ich von unserer nächsten Verstärkung begrüßt, als ich ein weiteres Tablett abgeräumten Geschirrs in die Küche bringen will. Ich erkenne das brünette Mädchen mit den freundlichen rehbraunen Augen auf Anhieb: Sawa, fertig hergerichtet in ihrem Maidkostüm, hat ihren Dienst angetreten. „Tut mir ehrlich leid, dass ihr warten musstet. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“ „Sawa!“ Im Ernst, ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich mich je so sehr über eine weitere weibliche Person neben mir freuen könnte. Mir ist, als könnte ich sie sofort umarmen und herzlich drücken, einfach dafür, dass sie da ist. Und dafür, dass sie die erste weibliche Person ist, mit der ich etwas anfangen kann und die mit mir spricht, seit ich in dieser Welt bin. Sehr niedere Beweggründe, ich weiß. Aber ganz ehrlich? Es ist mir egal. Ich begrüße sie mit einem ehrlichen Lächeln. „Wie schön, dass du da bist.“ „Na, was auch sonst? Ich kann dich ja schlecht allein lassen“, zwinkert sie mir vielheißend zu. Was immer das auch bedeuten mag. Sie ist mir auf Anhieb sympathisch. Sawa scheint ein lockeres Mädchen zu sein, das gefällt mir ausgesprochen gut. Vielleicht wird es mir bei ihr möglich sein, mich etwas zwangloser zu geben. Das würde ich wirklich sehr, sehr begrüßen. „Das hast du schon viel zu lang“, entgegne ich, um sie ein wenig zu necken. Aber ja, das hat sie wirklich. „Jetzt bin ich ja da. Mit Sawa-chan wird alles gut. Oh, hallo, Toma-san.“ Auf ihren Wink hin drehe ich mich herum. Toma ist mit seiner letzten Bestellungsaufnahme fertig und gesellt sich zu unserer kleinen Runde. Er empfängt unsere Verstärkung mit einem freundlichen Lächeln. „Sieh an, Sawa. Auch wieder da? Wie war der Ausflug?“ „Er hat Spaß gemacht. Wir waren zwar viel unterwegs und es war manchmal echt anstrengend, aber wir haben viel gesehen. Drei Tage gehen so schnell vorbei … ich hätte gern noch den Rest der Woche drangehangen.“ „Das glaube ich gern. Man kommt so selten aus der Stadt raus.“ „Mh.“ Sie nickt. „Wohl wahr, wohl wahr.“ „Aber es ist schön, dich wieder bei uns zu haben. Und solange du Spaß hattest, hat es sich ja gelohnt.“ „Um ehrlich zu sein, habe ich ein wenig Muskelkater in den Beinen. Aber nur keine Sorge, ich werde euch so gut ich kann unterstützen.“ „Überanstreng dich nicht. Wenn du eine Pause brauchst oder lieber am Tresen arbeiten magst, sag Bescheid.“ „Es geht schon, so schlimm ist es nicht. Und wenn etwas ist, mache ich mich schon bemerkbar.“ Mhm, interessant. Aufmerksam verfolge ich ihr Gespräch. Sawa war also für ein paar Tage weg. Wie ärgerlich, dass ich nichts über ihren Ausflug weiß. Das wäre die Gelegenheit, mich zu integrieren, aber ich weiß nicht, worum es geht. Ich würde wirklich zu gern etwas beitragen und Sawa ebenfalls Fragen stellen, aber wie soll ich das anstellen? Diese ständige Unwissenheit ist so dermaßen frustrierend. Echt ärgerlich! „Apropos.“ Sawa wendet sich beiderseits an Toma und mich. „Ihr beiden seid seit Anfang der zweiten Schicht hier, nicht? Wenn ihr wollt, kann einer von euch Pause machen. Ich kann solange mit der anderen Person übernehmen. Zwei Leute sollten für die paar Kunden ausreichen.“ „Ich brauche noch nicht zwangsweise eine Pause“, erkläre ich und sehe zu Toma. „Meinetwegen kann Toma zuerst gehen, wenn er möchte.“ „Geht mir ähnlich“, stimmt er bei. „Mir persönlich wäre es aber lieber, wenn du zuerst gehst. Ich habe noch Kundschaft zu bedienen. Bis du zurück bist, bin ich fertig und kann im Anschluss gehen.“ Macht Sinn. „Hm, na okay. Dann mache ich eben Pause und löse dich dann ab.“ Er nickt zustimmend. „Ist okay. Ruh dich gut aus.“   Nachdem ich auch von Waka meine Pause habe absegnen lassen, sitze ich nach einem kurzen Nikotingenuss im Pausenraum des »Meido no Hitsuji«. Ich lasse mir mein Brot schmecken und genieße die Ruhe, die ich hier habe. Aus der Küche dringen gelegentlich die Stimmen der anderen an mich heran, wenn neue Bestellungen an Kento weitergereicht oder abgeholt werden. Es ist lebhaft im Personalbereich, in einem angenehmen Maße, und wie schon oft in meinem Leben bemerke ich, wie tröstlich es ist, mit Kollegen eine gemeinsame Arbeit zu verfolgen. Man fühlt sich nicht ganz so allein und für Ablenkung wird ganz automatisch gesorgt. Ein weiteres Mal in diesen Tagen spüre ich, wie mir das Herz schwer wird. Das alles erinnert mich an Zuhause, meinem richtigen Zuhause. An meine alte Arbeit, meine Kollegen und Freunde … Ich vermisse sie. Ich vermisse sie wirklich schrecklich. Ich verspüre den Drang, nach meinem Handy zu kramen für eine weitere sadistische Bestätigung trauriger Tatsachen. Es ist mein Glück, dass ich nicht dazu komme, diesen grausamen Gedanken umzusetzen, als sich die Tür öffnet und ich Gesellschaft bekomme. „Hey du“, dringt Sawas fröhliche Stimme an mich heran und vertreibt alle dunklen Wolken, die sich über mir zusammenzuziehen begonnen hatten. „Lass es dir schmecken. Ich will dich nicht stören, aber ich wollte dich unbedingt etwas fragen.“ „Klar, komm nur her. Du störst nicht“, lade ich sie herzlich dazu ein, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten. Nichts lieber als das. „Habt ihr gerade viel zu tun?“ „Nein, es geht. Es ist immer wieder erstaunlich. Man merkt sofort anhand der Kundschaft, ob Ikki-san Dienst hat oder nicht.“ Stimmt. Jetzt, da sie es sagt … der Andrang ist heute in der Tat wesentlich überschaubarer als an meinem ersten Tag. Wenn ich so darüber nachdenke, erscheint mir die Geschlechterwaage auch deutlich ausgewogener. Wir bedienen viele Paare und Gruppen heute, gelegentlich Alleinkunden. Ich wusste doch, dass etwas anders ist neben unserer Aufstellung. Aber egal. „Das ist gut“, sage ich und schenke ihr ein Lächeln. „Ich bin wirklich sehr froh, dass du da bist.“ „Das freut mich zu hören. Eine Woche kann ganz schön lang sein, was?“, erwidert sie mein Lächeln. Ich mag es wirklich sehr an ihr. Sie lehnt die Tür bis auf einen Spalt zurück ans Schloss, ehe sie zu mir herantritt. „Ich würde mich ja gern zu dir setzen, aber ich schätze, ich muss gleich wieder vor.“ „Das ist schon okay. Was wolltest du denn fragen?“ An meiner Seite geht sie in die Hocke. Ich drehe mich ein Stück, um mich ihr offen zuzuwenden und bin gespannt, was sie mir zu erzählen hat. „Ich hoffe, ich bin nicht aufdringlich damit“, beginnt sie, wobei mir ihr aufmerksamer Blick begegnet, „aber ich bin einfach zu neugierig.“ „Worum geht’s denn?“ „Es war gestern, oder? Wenn ich mich richtig erinnere, sagtest du Mittwoch zu mir.“ Ich stutze. Was? Sawa senkt die Stimme, als sie ernst wird. „Erzähl schon, wie war es?“ Sie meint doch nicht etwa …? „Was genau?“, mime ich die Unwissende, um mich zu vergewissern. Sie kann das unmöglich wissen, oder etwa doch? Sie blinzelt irritiert. „Na, euer Date. Du weißt schon, deins mit Luka-san. War es nicht gestern? Oder erst heute?“ Was zum …? Woher weiß sie das? „Ach, das. Doch, das war gestern“, gebe ich möglichst trocken zurück. Wirklich verarbeiten kann ich das Ganze aber nicht. „Eh? Willst du mir etwa sagen, dass es so unwichtig für dich war, dass du es schon verdrängt hast?“, will sie überrascht wissen. Wie es scheint, habe ich ihr Interesse damit erst recht geweckt. „War es etwa so schlimm? Langweilig? War er aufdringlich, unhöflich? Ich meine, du hattest ja wirklich etwas unschlüssig geklungen, als wir darüber gesprochen hatten, aber dass es so schlimm ist?“ „Nein, nichts von alledem“, sage ich vorsichtig. „Es war nicht wirklich schlimm, es war eher sehr harmlos. Wir waren in der Stadt bummeln, shoppen, Kaffee trinken, ein wenig spazieren … Ich glaube, was man eben ein »normales Date« nennt oder so was in der Art. Nichts wirklich Erwähnenswertes.“ „Mhm.“ Sie klingt skeptisch. Meinetwegen? Es folgt eine kurze Pause, bis sie einwirft: „Ich kann immer noch nicht fassen, dass du tatsächlich zugesagt hast.“ „Wieso?“ „Naja, du weißt schon. Das zwischen Luka-san und dir –“ Ich erfahre die Pointe nicht. Just in dem Moment, als mir die Antwort auf eine der unzähligen quälenden Fragen zum Greifen nahe scheint, hören wir Toma vom Flur nach Sawa rufen. Sie muss wieder an die Front, um ihn bei der Kundschaft zu unterstützen. Ich will sie jetzt nicht gehen lassen, habe jedoch keine andere Wahl. Sie entschuldigt sich noch schnell bei mir, wünscht mir eine schöne Restpause, schon ist sie aus dem Raum verschwunden.   Eines ist mir nach diesem kurzen Gespräch klar geworden: Sawa weiß etwas. Sie hat Antworten. Und egal wie, ich muss in Erfahrung bringen, was es ist.     *jp. »klein«; Es stellt folglich ein Wortspiel im Japanischen dar, das ab sofort für künftige Kapitel ins Deutsche übernommen wird. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)