Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 2: Hürdenlauf --------------------- Dank Ikkis Unterstützung entspannt sich die Situation allmählich. Er hat sofort bemerkt, dass ich mit meiner Arbeit nicht mehr hinterhergekommen bin, und hat angeboten, dass er die Kunden vorübergehend allein übernimmt. Dafür bin ich dankbar, denn ich muss mich wirklich dringend um den liegengebliebenen Abwasch kümmern, sonst bekommen wir sehr bald Schwierigkeiten. Zumal ich mir nicht ausmalen mag, wie Waka reagieren würde, wenn er das Chaos hinter dem Tresen vorfindet. Sofort kümmere ich mich um das dreckige Geschirr. Teller und Besteck bringe ich nach hinten in die Küche und hole zugleich Nachschub an selbigem. Vorne am Tresen habe ich mir zuvor heißes Spülwasser eingelassen, um mich eigenhändig um Gläser, Tassen und Becher zu kümmern. Ich muss leise mit meiner Arbeit sein, um die Kunden nicht zu stören. Aber egal wie, ich muss sie erledigen. Während ich mich um den Abwasch kümmere, kommen mir wieder die ganzen Fragen auf, die ich bisher verdrängt hatte. Oder vielmehr hatte ich keine Zeit, mich ihnen zu widmen. Doch jetzt genieße ich zum ersten Mal einen kurzen Moment der Entspannung und kann meine Gedanken schweifen lassen. Was mache ich hier eigentlich? Wie ist das möglich? Das alles erscheint mir so surreal. Gleichzeitig schwinden die Zweifel, dass das hier wirklich passiert. Ich stehe tatsächlich hier im Café, tauche meine nackten Hände in das heiße Wasser und spüle Gläser mit geröteten Fingern. Mir steigt der Duft des Spülmittels in die Nase. Es riecht blumig. Das ist kein Traum. So krank wäre ich auch nicht, ausgerechnet von solch einer Arbeit zu träumen, oder doch? Dass es sich um eine Verwechslung handeln könnte, kann ich ebenfalls ausschließen. Am Spind war mein Name angebracht gewesen. Ich bin hier offenbar angestellt. Aber wie? Lebe ich nicht eigentlich in Deutschland? Ich hatte dort ebenfalls eine berufliche Tätigkeit, und die hatte beileibe nichts mit Kellnern zu tun. Oder war's das jetzt und ich bin komplett meschugge? Ich stoße ein schweres Seufzen aus. Wie ich es auch drehe und wende, es ergibt keinen Sinn für mich. Ich komme auf keinen Nenner. Und ich weiß schon gar nicht mehr, was mich am meisten beunruhigen sollte. Dass ich mich hier in einer Welt sehe, in der es mir unmöglich sein dürfte zu sein, oder dass ich keine Möglichkeit erkenne, aus dieser abstrusen Situation herauszukommen? „Kommst du zurecht?“, werde ich aus meinen kreisenden Gedanken gerissen. Dieses Mal ist es mir möglich, einigermaßen nüchtern auf diese glockenhelle Männerstimme zu reagieren, die mir das Gefühl gibt, in Watte gepackt zu sein. Vielleicht bin ich auch einfach nur zu ausgelaugt von den ganzen Wirrungen, die in meinem Kopf vorherrschen. Ich blicke von meiner Arbeit auf. Ikki hat sich zu mir gesellt und platziert das Tablett, welches er geübt auf seiner Hand balanciert hatte, mit etwas Abstand auf dem Arbeitsbereich des Tresens. „Mhm, alles okay“, fasse ich mich und nicke zur Unterstreichung. „Shin hat mir vorhin erzählt, dass du heute ein wenig von der Rolle bist“, erzählt Ikki, wobei er zwei weitere Tassen und einen leeren Eisbecher zu meiner restlichen Arbeit stellt. Bitte? Wann hat Shin ihm diesen Bockmist erzählt? Wie kommt er dazu? Boah, dieser kleine …! Schnell wende ich mich wieder dem Abwasch zu. Ich konzentriere mich auf meine Hände, um meine Arbeit schneller voranzubringen. Wut brodelt in mir auf, die sich mit der mir aufkeimenden Scham ungesund vermischt. Was fällt diesem Knirps ein? Wieso erzählt er Ikki das? Ich habe mich doch die letzten Stunden wacker geschlagen. Kann er es nicht einfach darauf beruhen lassen? Echt, das macht mich so unsagbar wütend! „Er hat mich gebeten, ein Auge auf dich zu haben. Wenn du also Hilfe oder meine Unterstützung bei etwas benötigst, scheu dich nicht, mich zu fragen.“ Na klar, sicher. Boah, Shin, du kleiner …! Wieso musst du mich so blamieren? Was habe ich dir getan? Als ob das Ganze nicht schon schlimm genug für mich wäre. Aber vermutlich weiß er das gar nicht. Klar, woher auch? Aber das gibt ihm noch lange keinen Freifahrtschein, mich so vor Ikki bloßzustellen! „Ne, muss ich mir Sorgen machen?“, höre ich Ikkis gedämpfte Stimme plötzlich sehr nah an meinem Ohr raunen. Ich zucke vor Schreck zusammen. Zum Glück haben sich meine Hände unter Wasser befunden, anderenfalls hätte es einen unschicklichen Lärm ergeben, wenn ich die Tasse, die ich gerade abwaschen will, aus meinen Fingern verloren hätte. Mir steigt augenblicklich die Hitze in die Wangen. Mein Herz gerät in einen aufgebrachten Rhythmus. Nicht nur, dass ich mich erschrocken habe, Ikkis leise Stimme versetzt mir den Rest. Verdammt, er ist so nah! „A-alles okay“, wiederhole ich, als sei es das Einzige, was ich drauf habe. Verdammt, und stammeln tu ich auch noch! „Sicher?“, prüft er nach. Seine Tonlage ist so ruhig und sanft, dass ich am liebsten Reißaus vor ihm nehmen möchte. Was ist nur los mit mir? Ich bin doch sonst nicht so feige … Ich verhalte mich ausgesprochen albern. „Wenn du eine Pause brauchst, sag Bescheid“, fährt er leise fort. Ich habe die Vermutung, dass er deswegen so gedämpft spricht, damit unser Gespräch die Kundschaft nicht stört. Zumindest hoffe ich das. „Ich kann gern einige Zeit allein übernehmen. Es ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem ich dich so lange mit der Arbeit allein gelassen habe. Ach, da fällt mir ein“, ergänzt er noch, gerade als ich die Hoffnung hatte, erleichtert aufatmen zu können. Fragend sehe ich zu ihm auf. Inzwischen hat er sich wieder von mir entfernt und steht nun am anderen Ende des Tresens, von wo aus er sich zurück in die Bedienung begeben wollte. Erneut kommt er auf mich zu, hält aber dieses Mal einen höflichen Abstand von einem Meter zu mir. „Ich soll dir vom Boss ausrichten, dass du eine Pause einlegen darfst. Aber mach besser erst die Arbeit fertig, ehe er noch das Feuer auf uns alle eröffnet.“ Sein schelmisches Zwinkern bewegt mein Herz zu einem weiteren Purzelbaum. So unauffällig ich kann, wende ich den Blick von ihm ab. Im Stillen erinnere ich mich daran, ihm nicht zu lange in die Augen zu schauen. Ich weiß genau, was sonst passiert. Höchstwahrscheinlich. Auch wenn es auf dieser Distanz weniger wirksam sein dürfte. „Danke“, sage ich leise. „Wenn es dann für dich okay ist, würde ich eben noch den Abwasch beenden und mir dann eine kurze Pause gönnen.“ Aus dem Seitenblickwinkel erkenne ich, dass er nickt. Dann wendet er sich ab und dem nächsten Tisch zu, an dem eine Kundin in der kleineren Frauenrunde mit der Tischglocke geläutet hat.   Kurz darauf bin ich mit dem Abwasch fertig. Das saubere Geschirr habe ich zurück an seinen Platz gestellt, was nicht schwer herauszufinden war. Spülbecken habe ich bereits gereinigt und gerade übernehme ich noch das Wischen der Tresenplatte. Als ich mit allem fertig bin, zögere ich kurz. Ich sehne mich tatsächlich einer Pause entgegen, aber ich halte es für höflich, Ikki zuvor Bescheid zu sagen, ehe ich im hinteren Bereich verschwinde. Also täusche ich vor, die Schränke abzuwischen, um nicht wie nutzlos dazustehen. „Bist du fertig?“, höre ich wenig später Ikki sagen, nachdem er von seinem letzten Serviergang zurückgekehrt ist. Ich nicke, ehe ich meinen Blick von dem Wandkalender löse, den ich prüfend studiert hatte. „Ja, alles fertig. Ich würde dann jetzt gern Pause machen“, erkläre ich. Er erwidert mein Nicken mit einem milden Lächeln auf den Zügen. „Na klar, tu dir keinen Zwang an. Ich übernehme solange. Gönn dir deine wohlverdiente Auszeit.“ Erneut nicke ich, rühre mich jedoch nicht vom Fleck. „Stimmt etwas nicht?“, hakt Ikki besorgt nach, als er mein Zögern bemerkt. Derweil habe ich die Hände vor meinem Schoß verschränkt. Mein Blick haftet unsicher auf dem Dielenfußboden. Mir liegt tatsächlich etwas auf der Seele, aber ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll. „Vorhin“, spreche ich zögerlich, ehe ich kurz stocke. „Also vorhin, als du mit Shin über mich gesprochen hast … Was hatte Shin da genau gesagt?“ Ich wage nicht aufzusehen, glaube aber zu wissen, welcher Ausdruck sich auf Ikkis schönem Gesicht abspielt. Er muss zu Recht verwundert sein, dass ich erst jetzt verspätet auf diese Sache zurückkomme. Zumal man diese Frage auch missverstehen könnte, wenn man in die falsche Richtung denkt. Ich hoffe wirklich inständig, dass Ikki meine Frage nicht falsch interpretiert. „Als er mich gebeten hat, ein Auge auf dich zu behalten?“, will er sichergehen, dass er mich richtig verstanden hat, woraufhin ich kurz nicke. „Naja“, setzt er eine Antwort an und hebt den Arm, um sich in einer Geste eine Strähne hinter das Ohr zu streichen. Aus irgendeinem Grund tut er es nicht, sondern legt sich galant die Finger um das Kinn. „Er hat mir lediglich gesagt, dass du heute ein wenig unkonzentriert zu sein scheinst. Du sollst Fehler gemacht haben, die dir sonst nicht unterlaufen, und er musste dich darauf hinweisen.“ Ich schlucke bei diesen Worten, lasse mir den aufkommenden Unmut jedoch nicht anmerken. Erst einmal zuhören, ermahne ich mich ruhig. „Ich sollte daher heute etwas mehr darauf schauen, was du tust. Und wenn mir etwas auffällt, das mir unüblich an dir erscheint, dich darauf ansprechen. Nicht, dass ich das als Anlass benötigen würde“, bemerkt er unnötig, was mich unter anderen Umständen durchaus hätte schmunzeln lassen. Doch das hier war nicht witzig, nicht im Geringsten. „Auf jeden Fall“, setzt er fort, als er merkt, dass sein Einschub keine Reaktion in mir hervorgerufen hat, „ich denke, dass er damit wohl vermeiden wollte, dass du weiteren Ärger bekommst. Zumindest ließe sich das schlussfolgern, wenn ich bedenke, dass er Waka-sans Abwesenheit abgewartet hat, um mit mir darüber zu sprechen.“ „Oder er wollte mich nur ein wenig vor dir aufziehen“, entgegne ich, was weniger böse gemeint ist, als ich gern den Anschein erwecken würde. Im Gegenteil, ein Lächeln hat sich auf meine Lippen geschlichen. „Ihr beide könnt es einfach nicht lassen, was?", amüsiert er sich hörbar. „Ihr müsst einander immer wieder necken, du und Shin.“ „Naja, was muss, das muss“, erkläre ich schmunzelnd, als würde ich voll und ganz mit seiner Vorstellung mitgehen, dass das ganz normal zwischen uns ist. „So? Nun, wenn dem so ist …“ Er senkt die Stimme herab zu einem Raunen, das meine Wangen augenblicklich kribbeln lässt. „Vielleicht sollte ich mir dann ein Beispiel daran nehmen und dich ebenfalls hin und wieder ein wenig necken? Das wäre doch okay, nicht wahr?“ Wawawas? Sollte diese Frage vielleicht ein schlechter Scherz sein? Er tut es doch bereits! Und das ausgesprochen erfolgreich. In diesem Moment will ich ihn hassen. Dafür, dass er solche Dinge vom Stapel lassen kann mit einem unverhohlenen Unschuldslächeln, als hätte er beiläufig angemerkt, dass wir herrliches Wetter haben. Und dafür, dass es ihm selbst damit noch möglich ist, mich aus dem Konzept zu bringen. Scheinbar mühelos. Dämliches Spiel, in dem Frau nicht gewinnen kann! „Sei besser lieb zu mir“, wispere ich in dem verzweifelten Versuch, wenigstens etwas Widerstand zu leisten. Es genügt jedoch nicht, um ihm länger ins Gesicht sehen zu können. Ich wende meinen Blick von ihm ab. Auf der Suche nach etwas, womit ich mich aus diesem Gespräch flüchten kann, fällt mir wieder der Kalender ins Auge. Während ich ihn betrachte, kommt mir ein Gedanke.  „Also hat er keine seltsame Bemerkung gebracht?“, frage ich, ohne Ikki anzusehen. „Hm? Welche Art von Bemerkung?“ „Weißt du, was er zu mir gesagt hat?“, greife ich diese einmalige Gelegenheit auf. Ich muss entweder ein Genie sein oder Ikki doch ein klein wenig naiv, dass er so leicht auf mein Ablenkungsmanöver angesprungen ist. „Er hat gemeint, dass ich mich anstelle, als sei ich den ersten Tag hier. Fies, nicht?“ Ich höre Ikki leise auflachen. „Wohl wahr, aber den Eindruck hatte ich bisher nicht.“ „Wir haben schon Dezember.“ Kurz lasse ich diese Tatsache auf mich wirken, während ich weiter auf das Kalenderblatt starre. Und dessen Monatsüberschrift. „Erstaunlich, wie die Zeit vergeht. Ich habe manchmal das Gefühl, schon ewig hier zu arbeiten.“ „Es ist jetzt bald ein Monat“, verkündet er mir, womit dieser Sieg endgültig an mich geht. Allerdings trifft mich diese Information wie ein Schlag. Mitten in die Magengrube. Oder ins Genick oder auf den Kopf, ich bin mir da nicht ganz sicher. Mir wird übel. Ich muss mich extrem zusammenreißen, nicht wie ein Fisch nach Luft zu schnappen. „Die Zeit ist wirklich schnell vergangen“, spricht Ikki derweil weiter, was ich nur noch am Rande vernehme. „Du hast dich erstaunlich schnell an alles gewöhnt. Der Boss war immer zufrieden mit deiner Leistung. Umso besorgniserregender ist es, dass du heute so neben dir gestanden haben sollst. Und das ausgerechnet an einem Tag, an dem ich erst später anfangen konnte.“ Was auch immer. Mir egal. Alles egal. Seit einem Monat? „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“, höre ich Ikki fragen. Es sind weniger seine Worte, als dass ich bemerke, wie er auf mich zukommt, weshalb ich zu ihm aufsehe. „Du siehst ein wenig blass aus. Wie wäre es, wenn du jetzt erst einmal in die Pause gehst? Ich kümmere mich solange um alles.“ „Mh.“ Ich nicke. Langsam wieder Herr meiner Sinne, ringe ich mir außerdem ein bemühtes Lächeln ab. „Danke, werde ich machen.“   Draußen ist es deutlich abgekühlt. Nicht so sehr, wie ich es in Erinnerung habe, aber doch spürbar. Es ist bereits dunkel, obwohl es gerade einmal gegen sechs Uhr abends ist. Aber das hat der Winter nun einmal so an sich. Ich ziehe mir den Reißverschluss meines Mantels hoch bis zum Kinn. Auf die Knöpfe verzichte ich. Aus meiner einen Jackentasche ziehe ich eine rote Schachtel heraus, aus der anderen ein Feuerzeug. Binnen zweier Anläufe habe ich mir die Zigarette angesteckt und genieße meinen ersten, tiefen Zug. Beruhigend. Meine schlechte Angewohnheit des Rauchens habe ich also auch hier inne. Oder ist es nur, weil ich mich daran erinnere, es zu tun? Ganz gleich. Auf jeden Fall tut es gut, sich die Entspannung einzureden, während man durch das Inhalieren des Nikotins angeblich die Nerven beruhigt. Glaube das, wer will. Ist mir egal. Ich blicke auf in den dunklen Nachthimmel. Erste Sterne lassen sich blicken. Ebenfalls eine beruhigende Tatsache. Ich könnte mir fast einreden, gar nicht weit weg von zu Hause zu sein. Fast. Ein Monat. Der Gedanke verdient einen weiteren, hingebungsvollen Zug. Ich arbeite also schon seit einem Monat hier. Zumindest laut Ansicht der anderen. Seltsam. Ein wirklich seltsamer Gedanke. Grotesk. Ich weiß gar nicht, was ich dahingehend empfinden soll. Wie ist das zu erklären? Habe ich irgendetwas verpasst? Fehlt irgendein Teil in meiner Erinnerung? … Nein, selbst dann würde das alles noch keinen Sinn ergeben. Gemessen an dem Faktum, wo ich bin. Aber ich bin hier, richtig? Ich stehe hier, vor dem Seiteneingang des »Meido no Hitsuji« und ziehe genüsslich eine Kippe durch. Müsste ich nicht selbst dieser Realität ins Auge blicken, würde ich frei darüber lachen. Aber ist es denn überhaupt witzig? Das alles erscheint mir unerheblich. Es ist die Realität. So hart es auch ist, diese Tatsache anzunehmen. Anstatt sie anzuzweifeln, sollte ich mir lieber Gedanken darum machen, wie ich ihr entgegentrete. Alles andere führt doch nur im Kreis. Und ob mich das voranbringen wird, bezweifle ich stark. Ich nehme einen weiteren Zug von meiner Zigarette. Während ich einziehe, versuche ich all meine Gedanken und Zweifel zu ersticken. Nur für einen kurzen Moment, für jetzt. Indem ich ausatme, den Rauch aus meiner Lunge stoße, fasse ich meinen Entschluss. Entschieden drücke ich den Stummel in dem bereitstehenden Aschenbecher aus. Ich werde nicht klein beigeben! Ich bin immer noch ich. Ganz gleich, wo ich bin. Damit beende ich meine Pause und kehre ins Innere zurück.   Erholt und gestärkt kehre ich wenig später ins Café zurück. Ich hatte Gelegenheit, meine Gedanken zu ordnen, und nachdem ich auch etwas gegessen habe, fühle ich mich schon sehr viel besser. Shin hatte mir netterweise verraten, dass ich als Mitarbeiterin nicht zu bezahlen brauche, was ich verzehre. Solange es sich in einem Grenzwert hält. Ich habe vorsichtshalber dennoch versprochen, mir das nächste Mal ‚wieder‘ etwas mitzubringen, um niemandem zur Last zu fallen. Ich gehe erneut meiner Arbeit nach. Zu meinem Erstaunen ist das Café auch zum Abend noch gut besucht. Wobei nicht zu verachten ist, dass die Kundschaft im überwiegend weiblichen Anteil dominiert. Man muss wirklich kein Verhaltensexperte sein, um zu wissen, dass der Grund dafür Ikki ist. Ich komme nicht umhin, zu bemerken, wie er öfter als nötig an einen Tisch gerufen wird, nur damit die Damen von jung und alt etwas mehr von seiner zuvorkommenden Aufmerksamkeit erhaschen können. Ich versuche es so gut ich kann zu ignorieren. Wichtiger ist, dass ich meine Arbeit gut mache und mir keinen weiteren Patzer erlaube. Der Tag war aufregend genug für mich gewesen, um weitere Überraschungen zu meiden. Dabei kommt es mir sehr gelegen, dass Waka immer seltener außerhalb der Notwendigkeit im Cafébereich vorbeischaut. Ein Aufpasser scheint also für mich zu genügen. Gut zu wissen. Eine weitere Kundenbestellung muss an die Küche weitergereicht werden. Ich gehe dieser Aufgabe sofort nach und staune nicht schlecht, als mir Shin im Flur begegnet. In seinen Alltagsklamotten. „Shin?“, spreche ich ihn zögerlich an. „Gehst du?“ Er beendet sein kurzes Gespräch mit Waka, erst dann wendet er sich mir zu. Auf seinem Rücken liegt eine Tasche, die er sich eher halbherzig über die Schulter geworfen hat. „Ich mache Schluss für heute“, erklärt er knapp. „Ich habe noch etwas zu erledigen.“ „Mh, verstehe“, entgegne ich, auch wenn es nur die halbe Wahrheit ist. „Dann … komm gut heim. Gute Arbeit heute.“ Ich erkenne, wie er daraufhin die Augenbrauen nach unten verzieht. Auf sein Gesicht spielt sich ein fragender Ausdruck, den ich nicht richtig zu deuten weiß. „Was ist?“, will ich vorsichtig wissen. Habe ich irgendetwas falsch gemacht? „Geht es dir inzwischen wieder besser?“, erkundigt er sich, nachdem er noch kurz gezögert hatte, und sieht mich unverwandt an. Ich wage den Gedanken kaum zu formulieren, aber kann es sein, dass er sich tatsächlich Sorgen um mich gemacht hat? Ich lächle, nur ganz leicht. „Ja.“ Das scheint ihn nicht recht zu überzeugen, also füge ich hinzu: „Ja, es geht mir wieder besser. Verzeih, dass ich dir solchen Ärger bereitet habe. Und Waka-san. Ich stand wohl etwas neben mir.“ Seine Brauen rutschen noch ein Stück tiefer. Ich kann es nur vermuten, aber ich glaube, dass er gern etwas dazu sagen oder fragen würde. Warum er es nicht tut, ist mir selbst schleierhaft. Betrachtet, wie er sich sonst den ganzen Tag mir gegenüber verhalten hatte. „Ich hatte die letzte Zeit viel Stress, privat“, gebe ich ihm eine Erklärung, die nicht gänzlich gelogen ist. „Vielleicht war ich etwas überanstrengt und müde.“ „Aha.“ Mehr kommt nicht von ihm. Ich bin fast enttäuscht. Er dreht sich weg. Ich rechne schon damit, dass er jetzt ohne Weiteres gehen wird, da spricht er: „Dann solltest du heute vielleicht früher ins Bett gehen und dich etwas ausruhen. Zu viel Stress ist auf die Dauer ungesund. Außerdem verletzt du sonst noch jemanden.“ Ich bin nicht ganz sicher, ob er mich tadelt oder sich um mich sorgt. Laut der Art, wie er es sagt, ist es ein Tadel gepaart mit einem unterschwelligen Vorwurf. Laut dem, was er sagt, könnte es gutgemeinte Sorge sein. Mensch, Shin! Kannst du dich nicht wenigstens in solch einem Moment etwas verständlicher ausdrücken? „Mache ich“, verspreche ich dennoch, entgegen allen Unmuts. „Gut. Also dann.“ „Shin!“ Ich rufe ihm nach, gerade als er sich in Bewegung gesetzt hat. Dass er daraufhin ein entnervtes Stöhnen von sich gibt, kann ich ihm nicht einmal verübeln. „Was ist noch?“, entfährt es ihm, wobei er sich über die Schulter nach mir umdreht. Ich erkenne anhand seines Blickes, dass ich seine Nerven strapaziere, aber das muss jetzt sein! Tapfer schlucke ich all meinen Stolz hinunter. Erst dann falle ich in eine tiefe Verbeugung vor. Ganz so, wie es sich laut japanischer Sitte gehört, wie ich sehr wohl weiß. Ungeachtet dessen, wie ungewohnt es sich für mich auch anfühlt. „W-was wird das?“, verlangt er zu erfahren, da ich wohl zu lange brauche, um etwas zu sagen. Aber mir wollen einfach nicht so schnell die richtigen Worte in den Sinn kommen. „Danke für alles“, sage ich schließlich, klar und deutlich in der Stimme. Erst danach richte ich mich wieder in eine gerade Haltung auf und suche den direkten Blickkontakt zu ihm. „Du hast mir heute wirklich sehr geholfen. Vielleicht kommt das etwas spät, aber ich bin dir wirklich sehr dankbar für deine Hilfe. Hab vielen Dank für alles.“ Wir sehen einander an. So gut ich kann, versuche ich in seinen roten Augen zu forschen und er scheint dasselbe bei mir zu tun. Es ist nicht leicht, aber ich halte ihm stand, ohne mich verunsichern zu lassen. Er soll wissen, dass es mir ernst ist. Zu meiner Überraschung ist tatsächlich er es, der meinem Blick als Erster ausweicht. Mir bleibt nur ein kurzer Augenblick, um den Anflug von Schamesröte auf seinen Wangen zu erkennen, ehe er sich auch schon von mir wegdreht. „Sch-schon gut. Mach nicht gleich ein Drama draus. Das ist echt unheimlich … Ein kurzes »Danke« hätte es auch getan.“ Mir ist, als würde mir eine schwere Last von den Schultern fallen. Als ich Shins leises „Mann, das ist echt peinlich“ höre, kann ich mir ein stilles Schmunzeln nicht verkneifen. Ja, es war richtig, das noch loszuwerden. Zum ersten Mal an diesem Tag habe ich das Gefühl, etwas wahrlich richtig gemacht zu haben. „Ich geh‘ dann jetzt.“ „Mach das. Pass auf dich auf.“ „… Du auch.“ Ich kann mir mein Grinsen einfach nicht verkneifen. Wie gut, dass Shin es nicht mehr sieht.   Die nächsten Stunden vergehen wie im Flug. Seit Shin in den Feierabend gegangen ist, hat Waka allein die Küche übernommen. Ikki und meine Wenigkeit sind weiterhin damit beschäftigt, die Kundschaft zu bedienen. Ein faires Verhältnis ist das nicht, denn nach wie vor sind weit mehr weibliche Kunden anwesend als männliche. Und natürlich bevorzugen die Damen den charmanten und obendrein extrem gutaussehenden Butler, und nicht die Maid. Verständlich. Langsam nähern wir uns dem Feierabend. Da ich immer weniger zu tun habe, habe ich damit begonnen, die ersten Aufräumarbeiten vorzunehmen. Das kann ja nicht schaden, umso früher können wir Schluss machen. „Bitte verzeihen Sie, Herrin, aber wir schließen bald“, höre ich Ikki inzwischen zum wiederholten Male sagen. Seit zehn Minuten geht das schon so, und jedes Mal wird sein unmissverständlicher Wink mit wehleidigem Gebettel und albernem Gekichere quittiert. Ich bin wirklich zutiefst beeindruckt, wie es Ikki gelingt, trotzdessen weiterhin überaus höflich und zuvorkommend zu bleiben. Kurz werfe ich einen Blick auf die Uhr. Es ist längst nach halb zehn. Die Damen strapazieren die offizielle Öffnungszeit wirklich enorm mit ihrer ignoranten Beharrlichkeit. Ich bin verblüfft, dass Waka noch nicht eingeschritten ist, aber vermutlich wird er bereits mit dem Aufräumen der Küche beschäftigt sein. „Es war mir ein äußerst großes Vergnügen, von Diensten zu sein“, höre ich Ikki endlich sagen, was meinen Blick in seine Richtung lenkt. Tatsächlich ist es ihm irgendwie gelungen, die drei letzten Damen zum Gehen zu bewegen. In diesem Moment ist er gerade dabei, sie auf guter Butlermanier an der Tür zu verabschieden. Höchstpersönlich und etwas außerhalb der notwendigen Dienstleistungen. Er müsste ihnen wirklich nicht noch extra charmant zulächeln und sich von ihnen umringen lassen, meiner bescheidenen Meinung nach. Ich hoffe wirklich inständig, dass er es sich verkneifen wird, sie noch mit Handkuss zu verabschieden. Das wäre wirklich zu viel des Guten, selbst für Maid-Café-Verhältnisse. Ich seufze leise auf. Jetzt, da der Tisch frei ist, kann ich auch diesen abräumen und anschließend wischen. Danach dürfte alles soweit erledigt sein. Ich hatte wirklich mehr als genug Zeit, um alles andere vorzubereiten. Fehlen dann nur noch der Fußboden und das Hochstellen der Stühle. Endlich verlassen die Frauen das Café und ich höre, wie Ikki die Tür hinter ihnen verschließt. Damit ist das Schlimmste überstanden. Ich merke, wie ein erster Anflug von leichter Müdigkeit mich heimsucht. „Entschuldige, dass es so lange gedauert hat. Wie weit bist du mit den Aufräumarbeiten?“ Ich unterbreche meine Reinigungsarbeiten und schaue zu Ikki auf. „So gut wie fertig. Den Tresen habe ich gereinigt, das Geschirr ist sauber und in den Schränken, die Tische gewischt“, berichte ich. „Wie steht es um das Protokoll?“ „Habe ich noch nicht gemacht“, gestehe ich ehrlich. Mir ist ein wenig unwohl dabei, denn ich hätte es zeitlich sicherlich geschafft, hätte ich gewusst, dass das mit zu meinen Aufgaben gehört. „Ich habe es nicht finden können“, ergänze ich leise. „Nicht schlimm, dann übernehme ich das heute.“ Er schenkt mir ein nachsichtiges Lächeln. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es etwas Tröstliches enthält, und tatsächlich vermag es mich zu beruhigen. „Danke. Sagst du mir dann bitte, wo du es hingelegt hast?“ „Ich werde es wie immer in die äußerste Schublade legen“, erklärt er, was ausgesprochen hilfreich ist. So weiß ich fürs nächste Mal, wo ich suchen muss. Ich nicke einen weiteren Dank. Daraufhin wird es ruhig im Café. Ikki geht der Schreibarbeit nach, während ich das Reinigen der Tür übernehme. Bald, bald ist es geschafft. „Ikki“, leistet uns Waka unverhofft Gesellschaft. Allein der Klang seiner Stimme jagt mir einen eisigen Schauer den Rücken hinunter. Nur vorsichtig wage ich, zu den beiden Männern hinterzuluken. „Wenn ihr hier soweit durch seid, kannst du nach Hause gehen. Ein Krieger, der nicht ausgeruht ist, kann keine zweite Schlacht schlagen.“ „Ich bin mit dem Protokoll gleich fertig“, erklärt Ikki, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. Er macht nicht den Eindruck auf mich, als würde ihn Wakas Präsenz auch nur im Geringsten bekümmern. „Danach steht nur noch der Fußboden an.“ „Darum wird Shizana sich kümmern.“ Mir wird etwas unwohl, als sich Wakas Blick gezielt auf mich richtet. „Ebenso wie um die übrigen Böden für ihre Strafrunden.“ Eh? Wie bitte? Auch Ikkis Blick richtet sich daraufhin auf unseren Boss. „Ist das nicht etwas zu streng? Alle Böden allein zu wischen? Ich werde helfen, sobald ich fertig bin.“ „Ein Krieger, der keine Disziplin kennt, kann im Kampf nicht siegreich sein!“, beharrt Waka mit erhobener Stimme. Sein Gesichtsausdruck verfestigt sich, wird streng. „Ein Heer ist so stark wie ihr schwächster Kämpfer. Wo Schwäche besteht, müssen wir mit strenger Hand durchgreifen. Kein Kamerad wird zurückgelassen!“ „Ist es nicht ein Zurücklassen, wenn wir ihr die gesamte Arbeit aufbürden?“, zweifelt Ikki an. Mutig, wie ich finde. Ich bewundere ihn insgeheim dafür, dass er keinerlei Einschüchterung gegenüber Wakas Gebrüll zeigt. „Beende deine Aufgabe, dann kannst du abtreten. Gut gekämpft.“ Damit wendet sich Waka ab und verschwindet in den hinteren Räumen. Das schwere Seufzen, das Ikki daraufhin ausstößt, kann ich bis zu mir vor hören. „Tut mir ehrlich leid, aber Waka-sans Wort leistet man besser Folge. Weißt du, wie du vorgehen musst?“ Nur zögerlich nicke ich. „Ich denke, das werde ich schon irgendwie hinbekommen.“ Hoffentlich.   Es ist weit nach zehn, als ich endlich mit meiner Strafarbeit fertig bin. Alle Böden, bis auf Ausnahme des Flurs, sind gewischt und die Stühle im Café hochgestellt. Ein letztes Mal entledige ich mich des dreckigen Wassers, ehe ich alles zusammenräume und an seinen zugewiesenen Platz stelle. Damit ist es geschafft. Endlich. Erschöpft und vollkommen fertig mit der Welt trotte ich zu meinem Spind hinüber und beginne, mich umzuziehen. Jetzt, da ich allmählich zur Ruhe komme, bemerke ich erst, wie die Müdigkeit mich überrollt. Ich will nur noch nach Hause, in mein kuscheliges Bett und … Ich stocke. Mitten in der Bewegung erstarre ich. Ich bin weder in der Lage, die entledigte Schürze abzulegen, noch meinen begonnenen Gedanken weiterzuspinnen. Nach Hause? Wo war das? Besaß ich hier überhaupt so etwas? Mit einem Mal ist alle Müdigkeit verflogen und macht einem gehörigen Adrenalinschub Platz. Verdammt, wieso hatte ich da nicht schon früher dran gedacht? Das hier, diese Welt, ist nicht mein Zuhause! Mein gewohntes Zuhause liegt weit außerhalb davon! Unerreichbar für mich. Oh nein, was mache ich denn jetzt? Bedeutet das, ich bin jetzt obdachlos? In einer hastigen Bewegung erhebe ich mich und reiße meinen Spind auf. Meine Tasche, wo ist sie? Vielleicht finde ich in ihr einen Hinweis, der mir eine Antwort auf dieses nicht mindere Problem geben kann. Schnell habe ich die kleine, schwarze Stofftasche mit dem eingenähten Pentagramm darauf gefunden und beginne als gleich darin zu kramen. Meine Hände sind zittrig, mein gesamter Körper gleicht einem Anflug heftiger Entzugserscheinung. Ich habe Angst, nicht zu finden, wonach ich suche, weswegen ich kurzentschlossen die Tasche packe und mit beiden Händen über dem Fußboden entleere. Allerlei Krams fallen heraus, darunter mein Portemonnaie und mein Handy, die mir vertraut sind. Aber kein Schlüsselbund mit Leder- und Pichu-Anhänger. Panik! Mein nächster Impuls konzentriert sich auf mein Handy. Kontakte checken! Vielleicht ist dort etwas. Doch mein Fünkchen Hoffnung erstickt noch im Keim. Kein Akku. Schwarzes Display. Große Klasse. Ich fühle mich wie in einem klischeebehafteten Horrorfilm. Wieso nur schockt es mich nicht einmal mehr? Es musste ja so kommen. Kraftlos lasse ich die Hände sinken. Starre gedankenverloren auf den Chaoshaufen vor mir. Ein Abbild meiner selbst: in seinen Grundfesten erschüttert und in sich zusammengebrochen. Mir ist zum Heulen zumute. Meine Kehle scheint sich mehr und mehr zuzuschnüren. Toll, und was jetzt? Ich habe keine wirkliche Hoffnung mehr, aber mir bleibt noch eine Chance: das Portemonnaie. Dort drin sollte sich zumindest mein Pass befinden, um mir wenigstens meine Existenz zu bestätigen. Vielleicht noch ein wenig Geld, hoffentlich in der richtigen Währung. Sofern es reicht, habe ich immer noch die Aussicht auf ein billiges Hotel. Vorausgesetzt, ich finde eines ohne die Hilfe meines Handys. Wie geistesabwesend ergreife ich die Geldbörse, deren Aufdruck ein Motiv von Victoria Frances‘ Bildern zeigt. Ich wollte das Portemonnaie längst ersetzen, da die Farben unsauber verblasst sind mit den Jahren. Nie dazu gekommen. Ich öffne den Reißverschluss. Ein paar meiner müden Lebensgeister kehren zu mir zurück, als ich den Inhalt erblicke. Sämtliche Dokumente und Karten sind mir egal. Unwichtig für den Moment. Was mich so erstaunt, ist ein kleines silbernes Glitzern zwischen den bunten Geldscheinen. Meine Finger zittern noch immer, als ich vorsichtig in das schmale Geldfach hineinlange. Das Metall fühlt sich kalt an, als es mit der empfindlichen Haut meiner Fingerseiten in Berührung kommt. Vorsichtig ziehe ich es hervor. Auf meiner offenen Handfläche schließlich betrachte ich meinen Fund: ein Schlüssel. Nur ein einziger. Ohne Band, ohne Schlüsselbund. Auf dem runden Kopf erkenne ich im rechten Lichtwinkel eine eingravierte Zahl: 20/6. Eine Hausnummer vielleicht? Es klopft. Ich höre es kaum. „Hey, bist du noch da?“ Erneutes Klopfen. Roboterhaft drehe ich den Kopf. „Ja?“ Die Tür wird geöffnet und ein Waka in Straßenkleidung blinzelt gegen das helle Licht. Er findet mich schnell. „Was machst du denn da? Beeile dich etwas, wir wollen auch nach Hause.“ »Wir«? Ich nicke geistesabwesend. Mein Boss wirft noch einen prüfenden Blick durch den Raum, sieht noch einmal auf mich, ehe er sich zurück- und die Tür hinter sich zuzieht.   Wenig später habe ich mich umgezogen und verlasse das »Meido no Hitsuji« durch den Seiteneingang. Erst jetzt wird mir auch klar, was Waka vorhin gemeint hatte. „Da bist du ja. Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht“, lässt mich Ikki sogleich wissen, kaum dass ich an die frische Luft getreten bin. „Damit sind wir vollzählig. Kameraden, wir haben auch heute wieder einen ehrenhaften Sieg errungen. Wir können stolz erhobenen Hauptes nach Hause zurückkehren.“ „Chef, bitte … Wir sind außerhalb der Arbeit.“ Ich kann der Unterhaltung nur halbherzig folgen. Wieso sind Waka und Ikki noch hier? Sie haben auf mich gewartet? „Hey, was ist los mit dir?“ Auch Wakas auffordernder Ton dringt lediglich wie durch Watte an mein Ohr. „Du siehst müde aus. Wirst du es bis nach Hause schaffen?“ »Nach Hause« … Wenn ich nur wüsste, wo das ist. Hilflos umklammere ich das kleine Metallstück in meiner Jackentasche. Unfähig, nur einen klaren Gedanken zu fassen. »Nach Hause«, wo ist das? Wie soll ich das nur herausfinden? „Shizana?“ Ich schrecke bei dem Klang von Ikkis sanfter Stimme auf. Es ist das erste Mal, dass ich bewusst wahrnehme, dass er mich bei meinem Namen genannt hat. Und dann ist er auch noch mit so viel Sorge behaftet … „Sorry, ich …“ Ich zögere. Was soll ich ihnen nur sagen? „Ich weiß nicht genau, wie ich nach Hause kommen soll.“ Zwei fragende Augenpaare wiegen schwer auf mir. „Wieso nicht?“, fordert Ikki mit mildem Nachdruck eine Erklärung von mir, die ihnen wohl zusteht. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich kann ihnen schlecht die Wahrheit sagen, oder? Wie glaubhaft ist das? Auf der anderen Seite muss ich etwas sagen, denn ich brauche ihre Hilfe. „In letzter Zeit treiben sich seltsame Gestalten in der Nachbarschaft herum … heißt es“, ziehe ich mir die erstbeste Notlösung aus dem Hut, die mir in den Sinn kommt. Noch im selben Moment regt sich mein schlechtes Gewissen. Es tut mir augenblicklich leid, dass ich sie so dreist anlügen muss. Nach allem, was sie für mich getan haben. Aber was soll ich sonst tun? „Hast du Angst?“ „Wenn dem so ist, dann solltest du einen Begleitschutz bekommen.“ „Ich kann sie –“ „Man lässt keinen Wolf das Schaf hüten“, fällt Waka Ikki direkt ins Wort, noch ehe dieser sein Angebot richtig unterbreiten kann. Es bewirkt zumindest, dass ich zu meinem Boss aufsehe. Mit ein klein wenig Erstaunen. „Ich übernehme diese Verantwortung.“ Ikkis Schmollen ist kaum zu übersehen. Ich frage mich, ob es wegen Wakas unterschwelliger Bemerkung ist. Wobei ich ihm zugestehen muss, dass er den Nagel auf dem Kopf getroffen hat. Zumindest so, wie man Ikki eben kennt. „Tja, der Meister hat gesprochen.“ In einem leisen Seufzen gibt Ikki jeglichen Widerstand auf. Mild lächelnd wendet er sich mir zu. „Dagegen komme ich nicht an. Du bist bei Waka-san in sicheren Händen.“ Ich nicke nur, ohne etwas zu erwidern. „Nun, da das entschieden ist, treten wir den Abmarsch an.“ Sowohl Ikki als auch ich bestätigen diese Ansage unseres Bosses. Es folgt eine kurze Verabschiedung, schon folge ich Waka die wenigen Schritte zu seinem Auto. Irgendwie bin ich zutiefst erleichtert, dass es mir erspart bleiben wird, den mir noch unbekannten Heimweg zu Fuß oder gar mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen zu müssen. Ich bin nicht sicher, ob die mir vom Tag verbliebenen Nerven dafür gereicht hätten.   Es dauert nicht sehr lang, bis wir unser Ziel erreicht haben. Ich gestehe, ich habe nicht sehr viel von dem mitbekommen, was vor den Fenstern an mir vorübergezogen ist. Das erscheint mir auch fürs Erste irrelevant. Ich will den Tag nur noch irgendwie zu einem Abschluss bringen. Auf Wakas Verheiß hin verlasse ich den Wagen. Ich bedanke mich aufrichtig für seine Hilfe und dass er die Extrazeit und Mühe auf sich genommen hat, mich sicher nach Hause zu bringen. Er winkt es ab, sagt etwas von »ein Kamerad wird nie im Stich gelassen«, ehe er mir eine gute Nacht wünscht. Ich bin nicht sicher, ob ich die haben werde, wünsche ihm jedoch das gleiche und eine sichere Heimfahrt. Höflich warte ich noch, bis sein Wagen außer Sichtweite ist, erst dann wage ich einen ersten Blick auf mein neues Heim. Ein Wohnblock, wie er in Japan üblich ist. Nicht sehr hoch. Die Gegend wirkt unspektakulär, eine typische Straße eines Stadtwohnviertels. Ich scheine also ein ganz gewöhnliches Apartment zu bewohnen. Mit etwas Glück zu recht günstigen Mietkonditionen. Da mir ohnehin keine andere Wahl bleibt, gehe ich die wenigen Schritte zu dem dunklen Hauseingang hinüber. Mir ist alles recht, solange ich nur bald ein warmes Bett für die Nacht habe. Für alles Weitere habe ich später immer noch Zeit. Eine Beleuchtung springt an, kaum dass ich unter das kurze Vordach trete. Vermutlich ein Bewegungssensor. Clever gedacht. Ressourcensparend. Ich prüfe die Hausnummer: zwanzig. Das würde mit einer der beiden Zahlen übereinkommen, die ich auf dem kleinen Schlüssel entdeckt hatte. Ich probiere ihn direkt aus. Er passt einwandfrei. Mühelos gibt die Haustür mit einem leisen Klacken nach und ich darf eintreten. Bleibt nur noch, mein Apartment zu finden. Auch diese Suche gestaltet sich als nicht sehr schwierig. Ich finde bald heraus, dass ich auf der zweiten von fünf Etagen wohne. Angenehm. Nicht direkt auf dem Präsentierteller und nicht zu weit oben. Damit kann ich gut leben. Voller Erwartung stehe ich nun vor meiner Tür. Endlich, nach einer schier endlosen Zeit eines obskuren Tages, der mich alle Kraft und Nerven gekostet hat. Ich kann noch gar nicht glauben, dass ich es tatsächlich geschafft haben soll. Dass ich jetzt hier stehe, direkt vor meinem neuen Zuhause. Zittrig strecke ich die Hand aus und schiebe das kleine Metallwunder in das Schloss. Eine kleine Drehung, ein leises Klacken. Eine unbeschreibliche Last, die von mir abfällt. Ich stoße ein langes, zutiefst erleichtertes Seufzen aus. Gott sei Dank, ich habe es geschafft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)