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Am Rand der Welt

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Bonuspunkte, für jeden, der errät, was es mit Evan auf sich hat. ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Mein liebstes Kapitel in der Geschichte, da Märchenstunde <3
Ixtli schrieb, dass sie Märchen so gerne mag und ich wollte isländische Märchen unbedingt reinbringen, weil sie cool sind! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich konnte aus gesundheitlichen Gründen gestern das Kapitel leider nicht hochladen ^^" Komplett anzeigen

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Im Hafen von Seyðisfjörður

Die Wolken hingen tief an den Bergen auf der Ostseite der Insel und ließen es wirken, als würden sie in eine Nebelwand hineinfahren.

Sie waren beinahe da. Vielleicht noch fünf Minuten, dann würden sie in den Fjord fahren und in weiteren zwanzig, dreißig Minuten sollten sie da sein – in ihrer Heimat.

Dagny stand an der Reling der Fähre und konnte ihre Begeisterung nicht gänzlich unterdrücken. Sie wippte auf den Füßen etwas vor und zurück. Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen und nun, da sie wieder hier war, schien eine unbeschreibliche Freude sie zu erfüllen. Es würde so schön sein, die Insel Abby zu zeigen.

„Wir brauchen noch etwa eine halbe Stunde, sagen sie“, meinte Tristan und sah tatsächlich für einen Moment auch einmal von seinem Handy auf.

„Ich weiß“, erwiderte Dagny und bemühte sich, nicht wie ein begeistertes Kind zu klingen. Sie strahlte den Jungen an. „Du weißt nicht, wie lang ich nicht mehr hier war.“

„Sechs Jahre“, antwortete Tristan faktisch. „Das letzte Mal war ich dabei, wenn du dich erinnerst.“

Dagny sah ihn an und ließ ein langes Seufzen hören. „Ach, jetzt verdirb' mir nicht die Freude.“

Er zuckte mit den Schultern. „Nicht mein Plan.“ Damit sah er wieder auf sein Handy und gab mit unglaublicher Geschwindigkeit eine Nachricht ein. Wahrscheinlich auf WhatsApp.

„Du könntest das Handy auch einmal weg legen“, meinte nun Casey, die mit Abby an der Hand sich über das Deck zu ihr durch drängelte, da auch die anderen Passagiere nun an der Reling standen und die halb von Nebel verdeckte Landschaft bewunderten, die sich nun vor ihnen zeigte. Für diejenigen, die das erste Mal herkamen, musste die Aussicht beinahe erschlagend wirken.

Die Berge der Küste waren am Fuße von Gräsern und Moosen bewachsen, während das vulkanische Gestein der Spitze schwarz und ungewöhnlich Rund aus den Wolken hervorragte. Sie hatten auf Menschen eine mystische Wirkung, hatte man Dagny gesagt. Sie selbst war davon nicht betroffen und doch schlug ihr Herz schneller.

Heimat.

„Auf der Insel werde ich Ja kaum Data Roaming haben“, meinte Tristan. „Und wenn wir …“ Er senkte die Stimme. „Wenn wir dahin gehen erst recht nicht.“

„Dafür werden wir ein gemeinsames Abenteuer haben“, erwiderte Casey und zog ihren vierzehnjährigen Sohn übertrieben energisch an sich heran. „Als Familie.“

„Toll.“ Der Sarkasmus tropfte nahezu aus seiner Stimme.

„Möwe!“, rief Abby derweil aus und zeigte zu einem der Vögel, der – wie diese Tiere es taten – parallel zu der großen Fähre, die eigentlich eher einen Kreuzfahrtschiff glich, flog. Die Augen des Vogels waren dabei fest auf die Menschen gerichtet, offenbar nur darauf wartend, dass etwas zu essen für ihn anfallen würde.

Casey hob das kleine, blonde Mädchen hoch, damit sie besser sehen konnte. „Da sind ganz viele Möwen, Liebling. Schaust du?“

Tatsächlich umflogen sicher mindestens zwanzig der weißen und weißgrauen Vögel das Schiff, alle laut schreiend und krächzend und alle auf Nahrungssuche.

„Die wollen etwas zu essen“, beobachtete auch Abby.

„Genau“, meinte Dagny. „Aber wir dürfen ihnen nichts zu essen geben.“ Jedenfalls wusste sie, dass die Menschen diese Auffassung vertraten.

„Warum nicht?“, fragte Abby und sah sie an. „Die haben doch Hunger.“

„Weil es ganz viele Fische für sie zu fangen gibt“, erwiderte Casey. „Und wenn wir sie Füttern, wollen die nur noch mehr.“

Darüber schien die Vierjährige für einen Moment nachzudenken. „Aber das ist doch nicht schlimm. Ich mag Möwen. Es können mehr Möwen kommen.“

Tristan warf seiner Adoptivschwester einen Seitenblick zu, sah dafür sogar für einen Moment von seinem Handy auf „Und wenn du nicht aufpasst, dann fressen die dir die Haare vom Kopf.“

Die Kleine sah ihn unbeeindruckt an. „Tun sie nicht. Haare schmecken nicht und Mama hat gesagt, dass man das nur so sagt.“ Sie klang dabei stolz.

Daraufhin verdrehte Tristan die Augen. „Du wirst schon sehen, wenn du sie fütterst … Möwen können ganz gemein sein.“

Als wolle das Tier seine Worte beweisen, löste sich eine Möwe aus dem Schwarm und schoss in einem Sturzflug auf die Menschen hinab. Jemand schrie im Protest und einen Moment später, gewann die Möwe wieder an Höhe, dabei einen Salzkeks verschlingend.

„Siehst du?“, meinte Tristan.

„Ich würde mit den Möwen teilen“, erwiderte Abby nur und Casey lachte.

Das Schiff erreichte die Einfahrt des Fjords und fuhr durch die Öffnung, beinahe wie durch ein Tor. Ein Tor in eine andere Welt, kam es Dagny in den Sinn. Denn für sie war die Insel eine andere Welt – beinahe im wortwörtlichen Sinn. Die Landschaft, geprägt von Feuer und Eis, war anders, als irgendwo sonst in der Welt der Menschen. Und dabei waren hier die physische Welt und die Anderswelt einander so nah, wie an nur wenigen Orten.

Die Menschen hier ehrten die Elfen noch immer, bauten ihnen sogar Häuser. Selbst wenn in diese nie ein Elf zog, so wusste man die Geste doch zu schätzen.

Doch am Ende blieb die größte Anziehung der Insel auf sie bei der einfachen Tatsache, dass es ihre Heimat war. Es war der Ort von dem sie kam und sie war endlich, das erste Mal seit sechs Jahren zurück.

Das Schiffshorn erklang schallend und sorgte dafür, dass Abby sich erschrocken die Ohren zuhielt.

„Das ist laut“, stellte sie fest, als der Lärm verklang.

Dagny lächelte und strich der kleinen eine Strähne des blonden Haares aus dem Gesicht. „Die sagen Bescheid, dass wir ankommen.“

„Im Hafen?“, fragte das Mädchen.

„Genau.“ Damit wandte sie sich wieder nach vorn, auch wenn man den Hafen nicht sehen konnte. Er war von Wolken und Nebel verdeckt.

Zu beiden Seiten des Fjords wuchsen die Berge in die Höhe. Nun flogen auch andere Vögel um das Schiff, wenngleich nicht alle auf Futter aus waren. Vielmehr schien es, als würden einige nur sicher gehen wollen, dass das große, laute Ding auch dieses Mal keine Gefahr darstellen würde.

Dann endlich erhoben sich die Umrisse von Seyðisfjörður aus dem Nebel, der „Stadt“, in der sämtliche der vom europäischen Festland kommenden Fähren anlegten. In Großbritannien hätte man den Ort allerdings gerade so als Dorf betitelt, lebten doch nur knapp sechshundert Menschen hier. Doch hier, auf Island, dessen gesamte Einwohnerzahl bei gerade einmal 340 000 lag, galt es als Stadt.

Und so lag die kleine Fischereistadt, die mittlerweile von Touristen mit getragen wurde, vor ihnen: Eine Ansammlung kleiner, oftmals weiß gestrichener Häuser, die am Ufer des Fjord gereiht standen. Die meisten hatten rote, blaue oder weiße Dächer. Dazwischen zwei, drei einzelne Häuser deren Außenwände rot bemalt waren. Keine Hochhäuser. Die meisten Gebäude klassisch gebaut und mit Holzfassade versehen. Es wirkte beinahe, wie aus einer anderen Zeit, wie aus einem Märchenbuch.

Dagny lächelte. Ihr Herz pochte. Sie spürte wie Casey neben sie trat und einen Arm um sie legte. Dann gab sie wortlos Abby zu ihr hinüber und lächelte.

„Das sind süße Häuser!“, stellte auch Abby nun fest.

„Ja, sind sie“, erwiderte Dagny und griff das Mädchen so, dass sie ihre Schultern nicht zu sehr belastete. Dann küsste sie die Kleine auf die Wange. „Willkommen auf Island.“

Ein breites, freudiges Grinsen breitete sich auf Abbys Wangen aus. „Hier kommst du her, nicht?“

„Ja“, erwiderte Dagny. „Das ist meine Heimat.“

Mývatn

Mývatn hatte seinen Namen mit Recht. Dichte Schwärme aus schwirrenden Mücken hingen über dem Wasser und ein einzelner Schwarm schien auch nahezu magisch von ihnen angezogen zu sein, als sie den Weg, ein Stück vom Ufer des Sees entfernt folgten.

„Iih Bäh!“, machte Abby und schlug nach den lästigen Tieren, die dankbarer Weise jedoch nicht stachen.

„Deswegen hasse ich Natur“, merkte Tristan an und zog sich den Kragen seines Pullovers über den Mund. Er blinzelte, offenbar aus Angst, dass ihm eins der Tiere in die Augen fliegen könnte, und sprintete dann los, um dem Schwarm zu entkommen.

Casey hob Abby hoch und tat es ihm gleich, sodass einzig Dagny ruhig folgte.

Die Insekten ignorierten sie, vielleicht, da sie weniger nach Schweiß roch, als die anderen drei es taten.

„Iih!“, wiederholte Abby, als Casey sie wieder absetzte. „Zu viele Krabbelviecher.“

„Aber ohne die Krabbelviecher gäbe es hier weniger Fische und weniger bunte Vögel“, gab Dagny etwas amüsiert zu bedenken. „Die ernähren sich nämlich alle von ihnen.“

„Das macht sie aber nicht weniger ekelhaft“, merkte Tristan an. Er schlug ein Tier, das offenbar auf seiner Kleidung gesessen war, weg.

„Ach, jetzt mach nicht so eine Miene, Tris“, meinte Casey und knuffte ihn in die Seite. „Du musst doch zugeben, dass die Landschaft wirklich schön ist.“ Immerhin waren sie von der aktuell in der relativen Sommerwärme erblühenden Vulkanlandschaft umgeben. Tiefgrüne Gräser bedeckten den Rand des ehemaligen Vulkankraters zusammen mit einigen zähen Büschen und gelb blühenden Blumen.

Dunkles Vulkangestein, das mit der Zeit die seltsamsten Formen gebildet hatte, ragte etwas weiter entfernt am Rand des Sees aus dem Wasser.

Einige Enten schwammen über den See, während an anderer Stelle – etwa weiter das Ufer hinab – eine kleine Kolonie siedelte und sich um ihre Jungtiere kümmerte.

Im Stillen musste Casey allerdings auch zugeben, dass sie die Landschaft ohne die Insekten eher hätte genießen können. Doch was erwartete man von einem Ort der Mývatn, Mückensee, hieß?

„Nenn mich nicht Tris“, grummelte ihr Sohn noch immer missgelaunt.

Casey seufzte. Als sie das letzte Mal hier waren, hatte er bei weitem mehr Begeisterung für Natur und Landschaft gezeigt. Jetzt schaffte er kaum zwei Stunden ohne sich nicht mindestens zwei Mal über den Mangel eines guten Internetempfangs zu beschweren – und darüber, dass man ihn, wie er es ausdrückte, auf diesen Trip „entführt“ hätte, wo er doch viel lieber mit seinen Freunden und speziell seiner neuen Freundin in Oxford geblieben wäre.

Hach ja. Pubertät. Manchmal fragte sie sich, wie schlimm ihre Eltern sie empfunden hatten?

„Ach, ich finde Tris ist ein wunderbarer Name“, zog Dagny ihn auf.

„Jetzt hör doch auf“, grummelte er. „Tris ist ein Mädchenname. Tristan ist ja schon schlimm genug.“

„Ja ja, wenn man dich nur hätte fragen können“, meinte Dagny. „Wie hättest du dich dann genannt?“

Tristan zuckte mit den Schultern. „Irgendwas normales. Thomas oder Tim oder so.“

Lachend klopfte Dagny ihm auf die Schulter. „Dann sollst du von nun an 'Thomas oder Tim oder so' heißen.“

Er verdrehte die Augen. „Ha ha“, kommentierte er wenig amüsiert.

„Ach komm schon, Tristan“, meinte Casey. „Willst du jetzt den ganzen Trip lang schmollen?“

„Ich kann's versuchen“, murmelte er. Missmutig die Hände in die Taschen gesteckt, trottete er neben ihnen her, während sie weiter gingen.

Casey verkniff sich ein Seufzen und wechselte einen Blick mit Dagny, die ihr aufmunternd zunickte, woraufhin Casey die Augen verdrehte. Natürlich wussten sie beide, dass all dieses Verhalten wohl oder übel dazu gehörte, dass es auch besser werden würde und dass es sich nicht lohnen würde, sich davon den Urlaub verderben zu lassen.

Dagny lief dichter bei ihr, legte ihre Hand in die ihre und drückte sie – eine Geste die Casey mit einem Lächeln beantwortete.

Wahrscheinlich würde Tristan sich nach ein paar Tagen einkriegen. Sie waren ja gerade erst einmal einen Tag hier und die kurze Nacht, wenn man sie überhaupt Nacht nennen konnte, war für sie alle nach sechs Jahren in den UK ungewohnt. Wie auch die Betten im Wohnwagen. Entsprechend waren sie allesamt etwas unausgeschlafen.

Zumindest hoffte sie das.

„Guck mal, Mama, der Vogel da hat eine Krone!“, rief Abby auf einmal aus, die die ganze Zeit die Vögel auf dem See beobachtete.

Dagny bückte sich zu ihr, um besser sehen zu können, wohin sie zeigte. „Das ist ein Ohrentaucher.“

„Die sehen hübsch aus“, erwiderte Abby. „Die Krone ist ganz flauschig.“

„Du darfst sie aber nicht anfassen“, ermahnte Casey sie noch einmal. Zwar hatten sie es Abby schon mehrfach eingebläut, aber sie wollte kein Risiko eingehen.

Das Mädchen sah sie an. „Ich weiß.“

Sie lächelte. „Gut.“

Sie hatten noch gar nicht beschlossen, was sie für den Rest des Tages machen sollten. Vielleicht sollten sie noch eine der Vulkangrotten aufsuchen, in der Hoffnung, dass die Wasser kühl genug zum Schwimmen waren. Auch wenn Casey definitiv für eine Mahlzeit bei ihrer Rückkehr zum Wohnwagen wäre.

Sie beobachtete die Vögel.

Hier draußen wirkte alles zu unberührt. Wie hatte sie es damals genossen, als sie vor zehn Jahren das erste Mal hierher gekommen war und auch jetzt wirkte es teilweise unwirklich.

Da jagte eine Ente gerade eine andere, ehe beide nur einen Moment später nebeneinander schwammen, als wäre nichts gewesen. An einer anderen Stelle führte ein Haubentaucher drei Küken zum Wasser hinab.

Vielleicht konnten sie die Tage auch ein paar Papageientaucher an der Küste sehen.

Ein spitzer, überraschter Aufschrei gefolgt von einem Weinen. Casey wusste schon, bevor ihr Blick zu ihrer Tochter wanderte, dass sie gestürzt war.

Schon war Dagny bei ihr. „Ist ja gut, ist ja gut.“ Sie besah sich die Hände und Knie Abbys und noch während sie ebenfalls in die Hocke ging, tat Casey es ihr gleich.

„Ist ja nichts passiert“, sagte Dagny und nahm die Hände der kleinen in die eigenen. Sie pustete. „Siehst du, alles okay?“

Tatsächlich war da nichts, außer ein wenig gerötete Haut – nicht mal genug Verletzung, um den Einsatz von Dagnys besonderen Kräften zu rechtfertigen.

Abby schluchzte. Wahrscheinlich mehr vom Schock. „Aua. Aua. Mama.“ Mit tränenüberströmten Wangen versuchte sie die Arme auszustrecken. Sie wollte auf den Arm genommen werden.

Dagny lächelte sanft und hob sie hoch. „Ist ja gut“, flüsterte sie und tätschelte den Kopf des Mädchens. „Alles gut.“

„Aua“, jammerte Abby weiter und entlockte damit Tristan ein genervtes Seufzen.

Casey warf ihm einen warnenden Blick zu, doch er ging zu Dagny hinüber und strich, wenngleich etwas zurückhaltend, über Abbys Hinterkopf. „Hey, Abbylein“, meinte er und wiederholte sich, als sie nicht reagierte. „Abby.“

Sie sah ihn vorwurfsvoll an, so als wäre er persönlich für ihr Elend verantwortlich. „Aua“, schniefte sie dabei.

„Ich mache dir einen Vorschlag“, meinte Tristan und war bemüht sanft zu sprechen, auch wenn Casey durchaus erkennen konnte, dass er etwas genervt war. „Ich nehme dich für den Rest des Weges Huckepack und du hörst dafür auf zu weinen.“

„Aber es macht aua“, erwiderte Abby kleinlaut, aber zumindest etwas weniger schniefig.

Tristan streckte die Arme aus, um sie, wenn sie denn wollte, anzunehmen.

Wieder schniefte Abby, ließ sich dann aber auf seinen Arm gleiten und schmiegte sich für einen Moment an ihn.

Casey tauschte einen kurzen Blick mit Dagny, lächelte und klopfte, als er aufstand, ihrem Sohn auf die Schulter, um auch ihm ein Lächeln zu schenken. Missmutiger Teenager hin oder her: Er konnte ja doch ein guter großer Bruder sein.

Er verdrehte die Augen, als er ihren Blick bemerkte, setzte dann aber Abby ab, damit sie vom Boden auf seinen Rücken klettern konnte.

„Da kann ich mir einen Zauber ja sparen“, meinte Dagny zu Casey, als Abby ihren Bruder kurze Zeit darauf antrieb, voran zu laufen, den Sturz schon lange vergessen.

Casey sah sie an und lächelte. „Das wollten wir ja sowieso.“

Dagny deutete ein Schulterzucken an, während ihr Blick den beiden Kindern folgte. „Ja, ich weiß“, gab sie schließlich zu und wandte sich dann wieder Casey zu. Sie griff nach ihrer Hand, lächelte und seufzte dennoch. „Ich bin ein wenig übervorsichtig, fürchte ich.“

„Ich merke es“, scherzte Casey und drückte ihre Hand. Sie wusste, dass es seltsam sein musste, wenn man, wie Dagny, aus einer Welt kam, in der Schmerz für die meisten sehr schnell vergänglich war. Auch nach acht Jahren und zwei Besuchen in jener Welt konnte sie es sich nicht vollkommen vorstellen, wie es war, so aufgewachsen zu sein. Dennoch konnte sie es Dagny kaum entgegen halten.

Kurz blieb sie stehen und küsste ihre Frau auf die Wange. „Nicht schlimm“, versicherte sie ihr mit neckendem Ton in der Stimme, ehe sie Hand in Hand Tristan folgten.

Goðafoss

Das Rauschen des Wassers war ohrenbetäubend, als sie am Rand des Wasserfalls standen.

Noch immer hatten sie Glück mit dem Wetter. Sie Sonne schien und es war – für isländische Verhältnisse – mit knapp vierzehn Grad Celsius relativ warm. Nicht, dass Dagny es anders gestört hätte.

„Und alle einmal Lächeln!“, rief Casey gegen das Rauschen an.

Abby strahlte. Tristan grinste mit einer Spur Sarkasmus. Dagny bemühte sich um ein Lächeln, während sie Abby auf dem Arm hielt.

Dann kam Casey mit der Kamera zu ihnen zurück, um die Bilder zu zeigen.

„Jetzt du“, meinte Dagny, wobei auch sie gegen das Rauschen anschreien musste, um sich Gehör zu verschaffen.

Sie standen auf der festbetonierten Plattform am Rand des Wasserfalls, da es ihnen zu gefährlich erschienen war, mit Abby auf die Felsen direkt am Wasserfall zu gehen. Doch auch wenn sie so etwas Abstand zu den stürzenden Wassermassen hatten, so schlug die Gischt doch noch immer zu ihnen hoch und hatte sich bereits in ihre Kleidung gesogen.

„Kann ich gleich zum Felsen?“, fragte Tristan nicht zum ersten Mal und warf dem hervorstehenden Felsen, der sich direkt über dem Wasserfall erhob, einen sehnsüchtigen Blick zu.

„Wenn du vorsichtig bist“, erwiderte Casey, wirkte aber nicht überzeugt. „Aber erst Fotos.“

„Ja ja“, murmelte Tristan.

Viel anders sahen die Bilder, die Dagny mit Casey und den beiden machte, nicht aus. Tristan grinste sarkastisch, Abby strahlte – und sah nicht in die Kamera – und Casey lächelte, während der Wind, der vom Wasser aufstieg, ihr die Haare ins Gesicht fegte.

Als Dagny zu ihnen zurückkehrte, löste sich Tristan von ihnen. „Kann ich jetzt gehen …?“, fragte er.

„Jetzt warte doch einmal kurz“, meinte Dagny und hielt ihn am Ärmel fest. „Komm.“

Tristan verdrehte die Augen und sah noch einmal mit auf die Bilder, während Casey zu Dagny schaute. „Wir sollten jemanden fragen, ob er ein Foto von uns zusammen macht.“

„Lass erst mal deinen Junior seinen Abenteuerdrang folgen“, meinte Dagny mit einem milden Lächeln und legte eine Hand auf Caseys Schulter.

Casey schürzte die Lippen, nickte schließlich aber. „Gehst du mit?“

Dagny konnte sich ein kurzes, verständnisvolles Lachen nicht verkneifen. Sie spürte dieselbe Sorge, wenn es um Abby ging, auch wenn sie Tristan mittlerweile etwas mehr zutraute. „Mache ich.“ Sie küsste ihre Frau kurz auf die Wange, ehe sie sich Tristan schnappte. „Dann wollen wir mal.“

„Du kommst mit?“, meinte er und klang dabei deutlich entgeistert.

„Jetzt tu' deiner Mutter den Gefallen“, erwiderte sie süffisant.

Ein weiteres Augenverdrehen folgte, dann zuckte er aber mit den Schultern. „Okay.“ Er marschierte los zu der Stelle, von der aus man auf den schmalen Pfad kam, von dem aus der Felsen zugänglich war.

„Was könnte man tun, um dich etwas mehr zu begeistern?“, fragte Dagny.

„Entweder wohin, wo ich WiFi habe oder was cooles.“

„Was cooles, hmm?“ Diese haargenaue Ausdrucksweise.

„Weiß nicht. Zu einem Vulkan oder so. Oder …“ Der Blick des Jungen wanderte zu den rauschenden Wassern. „Kanu fahren vielleicht. Also wo, wo es gefährlich ist.“

„Na, das wird Casey nicht gerne hören“, meinte Dagny, als sie ihn vorsichtigen Schrittes auf die Felsnase folgte.

Hier war die Luft vollkommen von den kleinen Tröpfchen, die durch die Macht des Wasserfalls empor geschleudert wurden, erfüllt. Gleichzeitig bot sich allerdings auch eine der besten Aussichten auf den Wasserfall, der eigentlich aus drei zusammengehörigen Wasserfällen bestand: Zwei weiten Vorhängen aus stürzendem Nass, getrennt durch einen weiteren hervorstehenden Felsen, aus dem jedoch ein weiterer, dünner Wasserfall hervorschoss.

Dank der Sonne, die hoch am Himmel stand, hatten sich gleich mehrere Regenbögen über dem Wasser gebildet, die aus dieser Perspektive noch besser zur Geltung kamen.

„Cool“, meinte Tristan und hatte prompt sein Handy in der Hand, um ein paar Bilder zu machen.

„Ja, cool ist es definitiv“, erwiderte Dagny leicht amüsiert und immer darauf achtend, dass er nicht zuweit vortrat.

Wer hätte schon gedacht, dass sie einmal auf Menschenkinder aufpassen würde?

„Machst du ein Bild von mir?“, fragte er schließlich und reichte ihr das Handy.

Sie lachte. „Ja, junger Herr. Das mache ich.“ Sie nahm ihm das Smartphone ab und machte ein Bild, dass er – sobald er wieder WiFi hatte – fraglos auf irgendwelchen sozialen Netzwerken hochladen würde.

Dieses Mal wirkte sein Lächeln weitaus begeisterter.

„Danke!“ Er klang aufrichtig, als er das Handy wieder in seiner Tasche verschwinden ließ.

„Können wir zurück?“, fragte sie und wandte sich der befestigten Aussichtsplattform zu. Überrascht musste sie feststellen, dass Casey dort in ein Gespräch vertieft war. Sie konnte nicht erkennen mit wem, doch war es Sommer und sie waren bei weitem nicht die einzigen Touristen hier.

Vorsichtig machte sie sich auf den Rückweg.

Wieder auf befestigtem Boden fand sie Casey, die noch immer Abby auf dem Arm hatte und sich gerade mit einem jungen Mann unterhielt, vom Erscheinungsbild nicht älter als dreißig.

„Versuch es noch einmal“, hörte sie den Mann sagen, als sie nahe genug war, um das halb gerufene Gespräch zu verstehen.

„Gu-da-foos“, machte Abby langsam und schüttelte den Kopf. Sie vergrub beschämt das Gesicht an Caseys Hals. „Gudafoss“, kam es von da leiser und praktisch nicht hörbar.

„Das war beinahe richtig“, erwiderte der Mann amüsiert.

„Hallo?“, meinte Dagny vorsichtig, als sie zu ihnen trat.

Der Mann drehte sich zu ihr um. Er strahlte sie an. „Ah, das muss die Frau sein.“ Ganz offenbar hatte man von ihr erzählt.

„Ja“, erwiderte Dagny und sah ihn an. Ein sechster Sinn sagte ihr, dass er – wie sie – nicht ganz normal war. Auch war da etwas in seinen Augen. Dennoch streckte sie ihm die Hand entgegen. „Dagny.“

„Habe ich schon gehört.“ Er grinste sie an, als er ihre Hand mit festen Griff drückte. „Sie sind von hier, eh?“ Sein Englisch war akzentfrei.

„Allerdings“, antwortete sie.

„Nun, wir sollten vielleicht etwas von hier weg“, meinte Casey laut. „Meine Ohren halten das nicht mehr lange aus.“

Dagny nickte und zeigte mit dem Daumen nach oben. „Klingt gut!“

„Soll ich sie noch eben alle zusammen fotografieren, Ladys?“, bot der Mann an. Vielleicht war das der Grund, warum Casey ihn ursprünglich angesprochen hatte.

„Okay“, antwortete Dagny, auch wenn sie ihn noch immer misstrauisch musterte. Wenn er wie sie war, sollte er sich eigentlich zu erkennen geben.

„Wer sind Sie überhaupt?“, fragte Tristan.

Der Mann lächelte ihn an. „Mein Name ist Evan“, antwortete er. Damit streckte er Tristan seine Hand entgegen.

„Tristan“, murmelte Tristan, als er die Hand fahrig ergriff.

Kurz darauf hatte Evan ein paar Bilder von ihnen allen Vieren vor dem Wasserfall aufgenommen und gab ihnen die Kamera zurück.

„Wir werden zum Rastplatz zurück“, meinte Casey, nachdem sie sich bedankt hatte.

„Ach, ich will auch noch weiter“, erwiderte Evan.

Seltsam.

„Leiser“, kam es erleichtert von Abby, die sich die Ohren rieb. Sie strampelte mit den Beinen, um wieder herunter gelassen zu werden. Dann, wieder auf den Boden drehte sie sich um. Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Gu-da-foss.“ Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein. Nein. „Go-da-foss?“

„Fast richtig“, meinte Evan. „Goðafoss. Mit so einem beinahe L dazwischen.“

„Gol-da-foss?“, kam es von Abby.

Evan lachte. Er hatte ein melodisches, gewinnendes Lachen. Ein nicht besonders menschliches Lachen. „Ja, genau. So in etwa.“

Wieder runzelte Abby die Stirn.

„Sollen wir dir isländisch beibringen?“, meinte Dagny, die es gerne versucht hätte.

Abby sah sie an. „Die Sprache ist komisch“, erwiderte sie dann und entlockte damit Dagny ein Lachen.

„Ja, das kann man so auch sagen“, gab sie dann zu.

„Also wenn du mich fragst, solltest du es nicht versuchen, Ab“, meinte er. „Die Sprache ist furchtbar.“

„Nicht furchtbar“, erwiderte sie. „Nur komisch.“

Dagny musste lachen und hätte ihre Tochter gerne hochgehoben, war sich allerdings beinahe sicher, dass sie das gerade nicht wollte.

Wieder runzelte Abby die Stirn, dieses Mal offenbar nicht sicher, ob sie sauer sein sollte, weil man über sie lachte. Dann aber fiel ihr etwas ein. „Warum heißt das eigentlich Götterfall?“

Nun kicherte auch Casey. „Eigentlich Wasserfall der Götter.“

„Sag ich doch“, erwiderte Abby. „Aber warum?“

„Weil irgendsoein Bürgermeister, als man ihn zum Christentum bekehrt hat, irgendwelche Götterrelikte von Odin und so reingeworfen hat“, antwortete Tristan, der die Geschichte schon kannte. Immerhin hatte er früher diese Geschichten gerne gehört. „Also er hat Statuen genommen und sie ins Wasser geworfen, um zu zeigen, dass er nicht mehr an die Götter glaubt.“

Noch immer hatte Abby die Stirn in Falten gelegt, was ernst, aber gleichzeitig auch niedlich auf ihrem Gesicht aussah. „Waren die dann nicht sauer, die Götter?“

Nun war es wieder Evan der leise lachte. „Wären sie gewesen, wäre das passiert“, meinte er. „Ich kann dir garantieren, Abby, dass vor allem der Allvater das Land verflucht hätte, wäre so etwas passiert.“

„Dann ist das nicht passiert?“, fragte sie.

„Nein, ist es nicht“, versicherte er.

„Und woher wissen Sie das?“, kam es leicht aufgebracht von Tristan.

Der Mann grinste ihn an. „Ach, so etwas weiß ich“, meinte er. „Wäre so etwas geschehen, dann hätte ich davon gehört.“

„Ja, sicher“, kam es von Tristan und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als Dagny ihn anstupste und mit dem Kopf schüttelte.

Sie war sich beinahe sicher, zu wissen, mit wem sie es hier zu tun hatte, und war sich auch beinahe sicher, zu wissen, was er von ihnen wollte. Und die Genugtuung wollte sie ihm nicht bieten. Entsprechend war sie erleichtert, als Tristan, leicht schmollend, den Mund schloss und die Hände in den Hosentaschen versenkte.

Evans Blick traf den ihren und sein Lächeln war wissend. „Nun, wir haben heute also gelernt: Man soll nicht allen alten Mythen glauben“, meinte er und klopfte Tristan auf die Schulter.

Tristan erwiderte nichts.

Sie hatten beinahe den Parkplatz erreicht, auf dem außer dem Wohnmobil mehrere SUVs und zwei Busse standen.

„Danke für das Foto“, meinte Dagny und betonte den Satz, um deutlich zu machen, dass sie das Thema wechselte.

Evan lächelte sie an. „Keine Ursache“, erwiderte er. „Es war äußerst erfrischend, sie kennen zu lernen.“

„Ja“, murmelte Dagny angespannt. „Sehr nett.“ Sie warf Casey einen Blick zu, um zumindest ihr mitzuteilen, dass ihr gerade nicht wohl war.

Beinahe automatisch schien Casey zu ihr zu treten und griff nach ihrer Hand, ehe sie sich Evan zuwendete. „Danke noch einmal.“

Wieder blitzte ihnen das gewinnende Lächeln entgegen. „Kein Problem. Vielleicht sehen wir uns ja noch.“ Damit wandte er sich zum gehen, wobei sein Gang beschwingt wirkte.

Für einen Moment herrschte Stille, wenn man vom noch immer deutlich hörbaren Rauschen des Wasserfalls absah.

Schließlich fragte Tristan, was sich wahrscheinlich auch Casey fragte: „Wer genau war das?“

Dagny zögerte. Sie war sich sicher, dass Tristan das Treffen als „cool“ bewerten würde, wenn sie ihre Vermutung aussprach. Daher zuckte sie mit den Schultern. „Jemand aus der Anderswelt“, erwiderte sie und log bei diesen Worten nicht. Letzten Endes lag auch der Ort, den die Menschen in ihren Mythen Asengard getauft hatten in derselben Welt, in der auch sie geboren war.

Auf der Straße nach Blönduós

„Wann sind wir da?“, fragte Abby, die auf ihrem Kindersitz angeschnallt auf der Sitzbank des Wohnmobils saß.

„Noch knapp eine Stunde“, meinte Casey mit einem kurzen Blick über ihre Schulter, ehe sie sich auf die verlassene Straße vor ihnen konzentrierte.

Es regnete. Sie hatten auch nicht die ganze Zeit perfektes Wetter haben können, weshalb es sie wenig störte. Dennoch hatte sie lang genug auf der Insel gelebt, um zu wissen, dass die Straßen bei Regenwetter oft tückisch sein konnten. Selbst die Hauptstraße, die um die gesamte Insel herum führte, überflutete schnell mal, gerade wenn die Temperaturen dabei warm genug waren, dass sich etwas Schmelzwasser dazu gesellte.

Gerade hier, zwischen Varmahlid und Blönduós, wo sich zu beiden Seiten der Straße die Berge in die Höhe erhoben, hatte sie selbst schon einmal erlebt, dass die Straßen nicht immer perfekt waren. Doch was konnte man bei einem so wilden Land erwarten?

Zumindest sah die Straße vor ihr dramatisch aus: Die grauen Wolken wirkten stürmisch, das Gras am Rand der Straße wehte leicht im Wind und das dunkle Gestein bildete einen starken Kontrast dazu. Eigentlich wäre es ein perfektes Setting für einen Fantasy-Film.

„Sind wir bald da?“, kam es keine zwei Minuten später wieder von Abby.

„Wir sind da, wenn wir da sind“, meinte Tristan seufzend und sah aus dem Fenster.

„Mir ist langweilig“, meinte seine kleine Schwester.

„Warum spielen wir nicht ein Spiel zusammen?“, schlug Dagny, die neben Abby saß, vor.

Von Tristan war die einzige Antwort ein genervtes Stöhnen.

„Kein Spiel.“ Abby schien ihm diesbezüglich also zuzustimmen. „Ich will was malen.“

„Das geht nicht während der Fahrt“, sagte Casey, drehte sich aber nicht um.

„Warum nicht?“, fragte Abby, als hätten sie dieses Gespräch nicht schon zwei Mal gehabt.

„Weil es zu gefährlich ist“, antwortete Dagny sanft.

Der grummelnde Ton, der als nächstes erklang, war Antwort genug.

Tristan seufzte, laut genug, als dass auch Casey es über das Prasseln des Regens hinweg hören konnte. „Ich habe eine Idee, Ab. Ich könnte dir ein Märchen erzählen.“

Als Abby das nächste Mal antwortete, hatte ihre Stimme einen schnüffelnden Unterton. „Okay“, meinte sie im Tonfall einer Dame, die einem Freier eine letzte Chance gewährte.

„Ähm“, Tristan zögerte. Auch wenn Casey ihn nicht sehen konnte, war sie sicher, dass er die Stirn runzelte. „Es war einmal ein junger Prinz namens Ring.“

„Warum hieß der Ring?“, fragte Abby sofort.

„Weil er halt so hieß“, erwiderte Tristan.

„Das ist aber ein komischer Name!“

„In dem Land, in dem der Prinz lebte, war der Name nicht komisch“, meinte Tristan.

„Okay.“ Abbys Stimme klang schmollend.

Tristan schien für einen Moment zu überlegen. „Jedenfalls ging der Prinz Ring eines Tages ein gefährliches Biest mit seinen Freunden jagen …“

„Was für ein Biest?“, fragte Abby und entlockte Tristan damit ein leicht genervtes Stöhnen.

„Was weiß ich“, erwiderte er. „Irgendeins.“ Er schien unschlüssig zu sein. „Ein großer Bär. Und jetzt lass mich die Geschichte weiter erzählen.“

„Aber ich finde die Geschichte langweilig“, erwiderte Abby.

„Ich habe ja nicht einmal richtig angefangen.“

„Ich will aber eine Geschichte mit einer Prinzessin!“, entgegnete Abby mit Nachdruck.

Tristan seufzte genervt. „Hier kommt ja auch eine Prinzessin vor, wenn du mich soweit kommen lassen würdest, Ab.“

„Ich finde die Geschichte aber blöd!“

Casey kam nicht umher leise zu kichern, auch wenn sie die Frustration ihres Sohns gut verstehen konnte. Immerhin hatte er versucht ein guter großer Bruder zu sein – etwas, wofür sie ihn später loben würde. Doch hatte sie Abby und früher auch einmal ihm oft genug Geschichten erzählt, um dergleichen Verhalten zu kennen.

„Findest du nicht, du bist ein bisschen gemein zu ihm?“, fragte Dagny sanft.

Abby antwortete nicht sofort, sah sie wahrscheinlich erst einmal schmollend an. Auch wenn Casey sie gerade nicht sehen konnte, so konnte sie es sich doch vorstellen, wie ihre Tochter die Ärmchen verschränkte, ehe sie antwortete: „Die Geschichte ist halt doof und hat einen doofen Prinzen.“

„Vielleicht würde sie aber besser, wenn du ihn erzählen lässt“, meinte Dagny.

„Nein“, beharrte Abby stur.

„Ich habe eh keinen Bock mehr“, grummelte Tristan.

Nun war es Dagny die Seufzte und Casey war sich sicher, ein wenig Ratlosigkeit aus dem Seufzen zu hören. „Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“, bot sie schließlich an.

„Geht die um einen Prinzen?“, fragte Abby.

„Nein, das ist die Geschichte einer Prinzessin“, antwortete Dagny. „Einer Prinzessin, die Magie beherrscht hat.“

„Hmm.“ Abby schien über das Angebot nachzudenken. „Kannst du mir nicht eine richtige Feengeschichte erzählen, Mama?“, fragte sie dann.

Jetzt seufzte auch Casey. Sie hatte die Kindergeschichten der Feen gehört – und sie waren nicht unbedingt für Kinder geeignet. „Hör dir doch erst einmal die Prinzessinnengeschichte an, Liebling“, meinte sie und sah kurz zu ihnen zurück, ehe sie sich wieder auf die verlassene Straße vor ihnen konzentrierte, die noch immer so dramatisch aussah wie vorher. Der Regen kam nun in dünneren Tropfen, dafür aber heftiger vom Himmel und machte es schwer weit zu sehen.

„Ooooookay“, gab Abby langgezogen nach und ein dumpfes Geräusch sagte Casey, dass sie sich wahrscheinlich zurückgelehnt hatte.

Dagny räusperte sich. „Okay.“ Sie überlegte für einen Moment. „Es war einmal eine Prinzessin namens Geirlug, die zusammen mit ihrem Eltern in einem fernen Königreich lebte.“ Dagny erzählte die Geschichte stark betont, wie man es von Geschichtenerzählern kannte. „Als Geirlug noch ein ganz kleines Mädchen war, so wie du, kam ein Drache und hat versucht sie zu stehlen.“

„Warum?“, fragte Abby.

„Weil er damit den König erpressen wollte“, antwortete Dagny, als hätte sie sich auf eine solche Frage vorbereitet. „Jedenfalls hat er versucht Geirlug zu entführen, doch Geirlugs Vater hat es geschafft, den Drachen zu vertreiben. Und als der Drache geflohen ist, ist ihm ein anderes kleines Kind, ein kleiner Junge aus den Klauen gefallen.“

„Wieso?“, kam es wieder von Abby.

„Weil er den Jungen vorher geklaut hat.“

Casey lächelte. Sie kannte die Geschichte und wusste, dass sie normal aus der Sicht des Prinzen erzählt war, selbst wenn sie im Märchenbuch unter dem Titel „Geirlug, Tochter des Königs“ geschrieben stand. Doch viel musste man wohl nicht verändern, um die Perspektive an Geirlug anzupassen.

Vielleicht hätten sie Abby öfter einmal aus dem Märchenbuch vorlesen sollen.

Dagny fuhr mit der Geschichte fort: „Der Junge war Grethari aus dem benachbarten Königreich, aber weil Geirlugs Vater Gretharis Vater nicht leiden konnte, entschloss er sich, dem König Grethari davon nichts zu sagen und den Jungen selbst großzuziehen.“

„Das ist gemein“, kommentierte Abby. „Sein Papa und seine Mama haben sich sicher Sorgen gemacht.“

„Das haben sie bestimmt“, bestätigte Dagny. „Sie haben gedacht, der Drache hätte ihn entführt.“

„Dann mag ich Geirlis Vater aber nicht“, meinte Abby.

Casey musste grinsen, da sie wusste, wie die Geschichte weiter ging.

„Jedenfalls wuchsen Geirlug und Grethari als Bruder und Schwester auf, aber eines Tages starb Geirlugs Mutter“, fuhr Dagny fort.

„Nein!“, rief Abby aus.

„Doch. Und der König war sehr, sehr traurig“, erklärte Dagny.

Daraufhin schwieg Abby. Wahrscheinlich hatte sie wenig Mitleid mit ihm.

„Aber schließlich traf er eine andere Frau, die er heiraten wollte“, erzählte Dagny die Geschichte weiter. „Doch Geirlug war intelligent und hat erkannt, dass sie eine böse Hexe war, die einen Pakt mit einem Dämon gemacht hatte.“

Das war eine Ergänzung à la Dagny. Sie hatte immer schon „Hexen“ in Märchen um ähnliche Aspekte ergänzt, da, wie sie immer wieder gesagt hatte, Hexen nun einmal nicht per se böse waren und ein Kind, dass in einer magischen Welt aufwuchs das auch nie denken sollte. Wahrscheinlich hätten die Dämonen diese geänderte Geschichte allerdings ähnlich behandelt.

„Woher wusste sie das?“, fragte Abby natürlich wieder.

„Weil die neue Frau so hübsch war und jeder weiß, dass man keinen hübschen Frauen trauen soll“, kam es in schmollendem Tonfall von Tristan.

Dagny seufzte amüsiert. „Nein, natürlich nicht“, sagte sie mit Nachdruck. „Geirlug wusste es, da sie selbst magisch begabt war. Sie hatte keinen Mentor, aber sie hatte sich selbst etwas beigebracht und konnte so zum Beispiel Geister sehen und sah daher auch, wie der Dämon immer in der Nähe der neuen Frau blieb.“

„Also hat der König sie nicht geheiratet“, schloss Abby.

„So einfach ist das in Märchen nie“, kommentierte Tristan.

„Da hat er Recht“, gab Dagny zu. „Der König glaubte seiner Tochter nämlich nicht und heiratete die neue Frau trotzdem und sie war eine schlechte und gemeine Königin unter der das ganze Land litt. Und als der König ihr Einhalt gebieten wollte, vergiftete sie ihn.“

„Da hätte er auf Geirli hören sollen“, meinte Abby. „Und den Prinzen nicht entführen sollen.“

Dagny lachte. „Hätte er vielleicht.“

Casey sah auf ihr Navi. Es sollte nicht mehr weit sein, bis sie in Blönduós ankamen. Derweil lauschte sie Dagny, als diese fortfuhr.

„Die Königin wollte dann auch Geirlug und Grethari töten, aber Geirlug war darauf vorbereitet. Sie hatte nämlich weiter Magie gelernt. Und als die Königin sie angriff konnte Geirlug sich und Grethari verteidigen und hat gegen die Königin gekämpft. Sie hat erst nur versucht zusammen mit ihrem Bruder zu entkommen, indem sie sich und Grethari in Orcas verwandelt hat.“

„Cool!“, kommentierte Abby und entlockte ihren beiden Müttern damit ein Lachen.

„Aber die Königin konnte das auch. Also hat sie sich in einen großen, großen Haifisch verwandelt und hat die beiden verfolgt! Aber Geirlug hat gegen sie gekämpft. Die beiden haben lang gegeneinander gekämpft, doch am Ende hat der Orca, Geirlug, den Haifisch besiegt und getötet. Geirlug und Grethari sind an Land geschwommen und haben sich wieder in Menschen verwandelt. Aber wo sollten sie hin? Ihre Familie war ja tot.“

„Dann sollten sie halt zu Gretris Familie!“, sagte Abby.

Wieder lachte Dagny. „Dazu kommen wir gleich.“ Sie räusperte sich. „Die beiden sind so durch das Land geirrt, bis sie – ohne es zu wissen – zum Land von Gretharis Eltern kamen. Dort erkannte jemand den vermissten Prinzen. Die Leute haben die Geschichte verbreitet und irgendwann wurden die beiden vom König persönlich abgeholt. Und so fand Grethari heraus, dass er ein Prinz aus diesem Königreich war. Geirlug fühlte sich aber schlecht, weil ihre Eltern den Prinzen entführt hatten und wollte daher gehen, doch der König – Gretharis Vater – bat sie zu bleiben. Schließlich bat auch Grethari sie bei ihm zu bleiben und so blieb sie in diesem Königreich, wo sie fortan als Heldin gefeiert wurde.“

„Ende?“, fragte Abby.

„Ende“, bestätigte Dagny.

Casey lächelte. Dagny hatte das eigentliche Ende der Geschichte, die an dieser Stelle sich noch eine Weile um die sich entwickelnde Romanze zwischen Geirlug und Grethari drehte, ausgelassen. Immerhin brauchte nicht jedes Märchen eine Hochzeit zum Schluss. Und vielleicht, so dachte sie, als sie das nächste Straßenschild durch den Regenschleier hindurch sah, war das auch ganz gut.

„Wir sind gleich da“, verkündigte sie und erntete dafür Jubbeln und zwei erleichterte Seufzer.

Skógafoss

Von einigen Dingen gab es in Island mehr als genug und beeindruckende Wasserfälle gehörten auf jeden Fall dazu.

Die Skógafoss waren – im Vergleich zu den Goðafoss – relativ klein und weit weniger beeindruckend, dafür aber auch weit weniger laut. Und dankbarer Weise schien heute wieder die Sonne, nachdem es die letzten zwei Tage relativ bewölkt gewesen war, und so schien wieder ein bunter Regenbogen über dem schimmernden Wasser.

„Schön“, kommentierte Abby, die am Rand des am Fuße des Wasserfalls fließenden Flusses saß und ganz entzückt von dem Regenbogen schien.

„Ja, das finde ich auch“, erwiderte Dagny, die neben ihr kniete.

Tristan machte wieder Bilder auf seinem Handy, wandte sich dann aber ihr zu. „War das nicht der Wasserfall mit dem Piratenschatz oder so?“

Dagny lächelte. „Wikingerschatz.“

„Dann so“, murmelte Tristan.

Casey war im Moment nicht bei ihnen, sie war zum Wohnmobil zurückgegangen, um etwas zu trinken zu holen.

„Was für ein Schatz?“, fragte Abby interessiert.

„Nun, einmal hat ein Wikinger namens Þrasi Þórólfsson einen Schatz hinter dem Wasserfall versteckt“, erklärte sie. „Irgendwann haben zwei Menschenjungen den Schatz gefunden, aber damit auch Freyr darauf aufmerksam gemacht. Und als sie zurückkamen um den Schatz zu holen, hatte Freyr ihn in die Feenwelt hinübergeholt.“

Abby sah sie mit großen Augen an. „Schade.“

Beinahe hätte Dagny über den Blick ihrer Tochter bei diesem Wort gelacht, doch sie lächelte nur. „Ja, ein bisschen schon.“

„Wie hat er das eigentlich gemacht“, fragte Tristan.

Dagny sah auf. „Was?“

„Na, den Schatz in die Feenwelt geholt“, erwiderte er. „Ich meine, wenn wir dafür nach Mýrdalsjökull müssen, wie konnte er dann einfach so von dahinten einen Schatz holen?“

Auf diese Frage hin konnte Dagny sich ein verschmitztes Grinsen nun doch nicht verkneifen. „Die Portale verändern sich mit der Zeit. Das Portal das einmal hier war, führt jetzt in die Wylderländer“, erklärte sie. Immerhin war Tristan bisher nur einmal in der Feenwelt gewesen, die nicht so beständig und geregelt war, wie die physische Welt, in der die Menschen lebten. „Davon aber einmal abgesehen … Freyr ist ein Gott. Er ist der König der Alfen. Nur weil er hier ein Portal öffnen kann, ist es mir nicht möglich.“

Tristan sah auf sein Handy und steckte es dann weg. „Aber wie funktioniert das?“, fragte er. „Das mit den Portalen.“

Nun lachte Dagny. „Wie soll ich dir das erklären? Es gibt Stellen, da sind sich die Welten sehr nahe. Wenn man aus den Feenreichen kommt oder einfach nur das richtige Gefühl hat, kann man es spüre. Und wer magische Begabung hat, kann dort übertreten.“ Sie zögerte. „Natürlich gibt es mächtige Wesen und auch einige Magier, die es auch an anderen Stellen können.“ Dankbarer Weise waren im Moment außer ihnen wenige Leute hier, so dass sie relativ unbefangen über diese Dinge reden konnten. Nicht, dass die meisten Menschen sie ernst nahmen. Doch dann wiederum waren sie hier auf Island, wo so viele noch irgendwie an das versteckte Volk glaubten und nicht zuletzt auch damit den Übergang erleichterten.

„Wie ist es im Feenland?“, fragte Abby auf einmal.

Dagny seufzte. Sie sah hinüber zum Wohnmobil, das dank der Wiesen, die auf dieser Seite des Wasserfalls die Landschaft beherrschten, gut zu sehen war, und fragte sich, was ihre Frau machte. „Ein wenig wie hier, aber auch ein wenig anders“, erwiderte sie und setzte sich schließlich vorsichtig auf den vulkanischen Steinboden am Rand des kleinen Flusses, um so Abby auf ihren Schoss ziehen zu können. „Es ist halt ein wenig verrückter. Die Dinge sind weniger geordnet. Die Dinge sind langsamer, anders. Und das Licht ist bunter.“ Sie lächelte matt. „Und es gibt viele Leute, die in Rätseln sprechen.“

„Und in Reimen“, warf Tristan ein, als wäre ihm das besonders in Erinnerung geblieben.

„Ja, das tun manche auch“, erwiderte Dagny lachend. Wieder wanderte ihr Blick zum Wohnmobil, dessen Tür sich gerade öffnete. Casey kam zu ihnen hinüber gelaufen. Sie hatte offenbar einen anderen Pullover übergezogen. War ihr kalt gewesen?

„Mommy!“, rief Abby aus.

Caseys blondes, leicht gelocktes Haar hatte sich schon als sie bei ihnen ankam wieder aus ihrem Zopf befreit, wie es so oft passierte. Sie strich sich eine Strähne hinters Haar. „Sorry, mir ist ein Glas umgekippt. Dafür“ – sie hob eine Thermoskanne – „habe ich warmen Tee mitgebracht.“

Dagny lächelte und bedeutete ihr, sich neben sie zu setzen. „Du bist immer so ungeschickt“, flüsterte sie ihr dann zu.

„Was ist?“, fragte Abby.

Bald schon hatten sie den Tee in Becher gefüllt. Da der Boden trotz der Sommermonate recht kühl war, waren sie auf die Wiese am Rand der Felsfläche umgezogen, von der aus sie den tosenden Wasserfall noch immer im Blick hatten. Es war schon Abend, doch der Sonnenuntergang war natürlich noch weit entfernt. Die Sonne würde zwar untergehen, doch wirklich dunkel würde es nicht werden.

„Hinter dem Wasserfall war mal ein Schatz“, erklärte Abby Casey, während sie so da saßen.

Casey sah sie an. „Ach ja?“ Natürlich kannte sie die Geschichte schon, sie war immerhin nicht besonders unbekannt.

„Ja. Den hat ein Wikinger versteckt und ein Elf dann mitgenommen dahin wo Mama her ist.“

Casey zwinkerte Dagny zu. „Vielleicht finden wir ihn dann ja dort.“

„Wir können ihn ja suchen“, erwiderte Dagny, auch wenn sie vorsichtig sein sollten, nicht zu sehr danach zu suchen.

„Morgen fahren wir dann nach Reykjavik, nicht?“, fragte Tristan, offenbar um das Thema zu wechseln. Als ob er das nicht genau wüsste.

„Ja“, antwortete Casey. „Ich bin morgen Nachmittag mit Anton verabredet.“

„Kann ich dann in die Stadt?“, fragte Tristan. „Ich brauche dringend wieder ein wenig Zivilisation.“

„Kannst du“, erwiderte Casey. „Solange du keinen Blödsinn machst.“

„Ich doch nicht“, kam es beleidigt.

Auch wenn Dagny durchaus die Vorteile der „modernen Zivilisation“, wie die Menschen es nannten, verstehen konnte, so erschien ihr die Sehnsucht Tristan nach jenen leblosen Straßen doch wenig nachvollziehbar. Doch vielleicht war es auch, weil ihre Heimat so anders war.

„Ich muss mal“, meinte Abby auf einmal.

Casey sah zu ihr. „Dann müssen wir wohl mal zum Wohnwagen zurück, hmm?“

„Das kann ich machen“, bot Tristan auf einmal an. „Ich kann mit ihr hingehen. Muss eh mein Handy aufladen.“

Überrascht sahen Dagny und Casey ihn an. „Danke.“

Tristan zuckte mit den Schultern und bückte sich. „Kommst du mit mir mit, Abby?“ Er half seiner Schwester auf.

Mit einem matten Lächeln auf den Zügen sah Dagny ihnen hinterher, als Tristan mit Abby an der Hand den Weg entlang ging. „Er kann ja doch ein guter großer Bruder sein.“

Casey lachte und legte einen Arm um Dagny. „Natürlich kann er das.“ Sie seufzte und legte den Kopf gegen ihre Schulter. „Natürlich kann er das.“

Dagny spürte ein Kribbeln in der Magengegend und sah zu ihrer Frau, ehe sie ebenfalls den Arm um sie legte. „Und wir haben zumindest einen Moment für uns“, stellte sie dann fest.

Auch Casey lächelte. „Ja.“ Damit küsste sie sie. „Aber nur einen Moment.“

University of Iceland

Die Aufenthaltshalle der University of Iceland war hell und modern. Da die Universität nicht so überlaufen war, wie die Hochschulen in London oder Oxford, hatte man es sich hier erlauben können, weniger platzeffiziente runde Tische mit jeweils drei bis vier Tischen aufzustellen, was der Halle eine gemütliche Atmosphäre gab – zumindest wenn man Casey fragte.

Während sie sich mit Anton Saitov an einem dieser Tische unterhielt, saß Tristan mit seinem Laptop am Nebentisch und war allen Anscheins nach damit beschäftigt, eine Serie zu streamen oder herunterzuladen.

Sie wusste, dass ihr Sohn frustriert war. Das Datenroaming für Island war zu teuer gewesen und für ihn war der Laptop beinahe so unabdingbar wie Essen und Trinken. Auch wenn er sich in der letzten Woche wenig drüber beschwert hatte, so hatte er deutlich hervorgehoben, dass er seinen Laptop mit zur Universität mitnehmen würde.

Auch Anton schien dies zu bemerken und räusperte sich. „Er weiß, dass es nicht erlaubt ist, über das Netzwerk illegal Dateien zu laden?“ Auch wenn Anton russische Wurzeln hatte, war sein Englisch akzentfrei.

Anton war ein Kollege Caseys gewesen, als an in Island an ihrer Doktorarbeit gearbeitet hatte und der jetzt noch immer an der Universität als Forscher tätig war. Er war ein älterer, hagerer Mann mit wettergegerbter Haut und einem leicht eingesunkenen Gesicht. Seine Augen aber waren wach und wirkten aufgeschlossen. Auch jetzt umspielte ein leicht amüsiertes Lächeln seine Lippen.

Casey lächelte und sah zu Tristan, der Kopfhörer trug. „Ich denke, dass weiß er, ja.“ Sie wusste genau so gut wie Anton, dass es massig Studenten gab, die illegal Dateien über das Netzwerk der Universität herunterluden. Es gab kaum eine Möglichkeit das zu kontrollieren, geschweige denn dagegen vorzugehen. Sicher, die Informatiker hätten irgendwelche Möglichkeiten, nur wie Zielführend all das wäre, war eine andere Frage. Wer wollte, würde einen Weg um etwaige Filter oder Sperren herum finden.

Das Lächeln auf Antons Gesicht wurde süffisant. Er trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche. „Und sonst?“ Er schien beschlossen zu haben, auf das Thema nicht weiter einzugehen. „Was machen die britischen Studenten?“

„Dasselbe, was alle anderen Studenten auch machen“, erwiderte sie lachend. „Lernen, sich ab und an über Pläne, Hausaufgaben und Klausuren beschweren und ansonsten wohl das leben, was allgemein hin als das Studentenleben bezeichnet wird.“

Auch Anton lachte leise. „Und du hast vor, als Professor dort zu bleiben?“

Casey zuckte mit den Schultern. „Sicher. Es ist angenehmer, als die Arbeit für EGS.“ Als sie für die Firma gearbeitet hatte, war sie viel gereist, hatte Tristen bei Dagny lassen müssen. Die Adoption wäre damals auf keinen Fall in Frage gekommen.

„Sicher“, erwiderte er. „Du könntest dich auch wieder hier bewerben“, meinte er dann mit einem Zwinkern. „Nächstes Jahr wird für das neue Vulkanologie-Projekt mindestens eine neue Forschungsstelle ausgerufen.“

Lächelnd seufzte Casey, schüttelte aber den Kopf. „Ich kann Junior nicht schon wieder aus seine Umgebung rausreißen“, meinte sie und nickte zu Tristan. „Er würde es mir nie verzeihen.“ Natürlich scherzte sie, doch der Kern ihrer Aussage war wahr. Tristan wäre alles andere als Glücklich wieder hier im hohen Norden leben zu müssen. Seit sie ins vereinigte Königreich zurückgekehrt waren, hatte er sich doch schnell wieder ans Großstadtleben gewöhnt.

„Schade“, meinte Anton und schien es auch zu meinen.

„Was machen deine Kinder?“, fragte Casey, da ihr erst jetzt auffiel, dass sie darüber bisher wenig Fragen gestellt hatte.

Anton war sechs Jahre älter als sie. Seine beiden Töchter müssten, wenn sie nicht irrte, nun 19 und 15 sein.

Er trank einen Schluck, zuckte dann mit den Schultern und seufzte schwer. „Tatjana will nächstes Jahr nach Frankreich. Studium. Ich glaube, sie ist ganz froh, von hier weg zu kommen. Sie redet die ganze Zeit von den USA.“ Er zuckte mit den Schultern „Und von einem Jungen, da unten in Frankreich. So einen jungen Herrn, den sie über das Internet kennen gelernt hat.“ Dabei warf er Tristan mit seinem Laptop einen langen Blick zu.

„Verstehe.“ Casey sah ihn mitleidig an. Sie fragte sich, wie es sein würde, wenn Tristan aus dem Haus ziehen würde – selbst wenn es noch ein paar Jahre hin wäre, sofern David sich nicht drum bemühen würde, ihn zu nehmen. Doch sie bezweifelte. David reiste viel und hatte in den letzten zwölf Jahren nie Anstalten gemacht, viel Kontakt mit Tristan aufzunehmen, von einzelnen Besuchen an Geburtstagen einmal abgesehen. „Und Anja?“

Anton lachte wieder. „Ach, sie ist meine große Hoffnung“, meinte er und zwinkerte wieder. „Sie ist letztens im Forschungssommercamp gewesen und scheint sich für die Biologie zu interessieren. Wenn ich Glück habe, bleibt sie hier.“

„Na, zumindest etwas.“ Casey lächelte ihm zu und sah dann zum Fenster, von dem aus sie zum Park unterhalb der Sæmundargata sehen konnte.

Das Gras im Park war, wie überall auf der Insel, eher gelblich- statt sattgrün, war nun im Sommer aber ausgewachsen und wirkte gesund. Der Parkplatz, mitten im Gelände, war dank der Semesterferien relativ leer.

Es war Anton, der die Stille zwischen ihnen am Ende wieder brach. Er räusperte sich und sah ebenfalls zum Fenster. Ganz offenbar wollte er ihrem Blick ausweichen. „Du und“ – noch einmal räusperte er sich – „deine Frau, also, ich meine, wie läuft es so.“

Casey war durchaus aufgefallen, dass er das Thema bisher gemieden hatte. Sie ahnte wieso. Er tat sich schwer mit ihrer Homosexualität, auch wenn er sich bemühte, es zu akzeptieren. Manchmal war es wohl alles, was man erwarten konnte.

Zur Antwort zuckte sie mit den Schulter und lächelte. „Gut. Sie ist mit Abby in der Stadt, wollte ihr das Wikingermuseum zeigen.“

Anton erwiderte ihr Lächeln. Er schien unsicher. „Das ist doch gut.“ Ein weiteres Räuspern folgte, während er offenbar unbewusst ihrem Blick auswich. „Das ist gut, ja.“ Dann seufzte er. „Abby? Das ist eure …“

„Unsere Adoptivtochter, ja“, antwortete Casey und holte ihr Handy heraus. Sie suchte öffnete die Bildergalerie, die voller Bilder aus den letzten Tagen war. „Abigail heißt sie eigentlich. Hier.“ Sie zeigte ihm ein Bild, das sie vor wenigen Tagen vor dem Großen Geysir aufgenommen hatte. Dagny hielt Abby auf dem Arm, während die Kleine fasziniert auf die hochschießende Wassersäule zeigte.

„Süß“, meinte Anton und sein Lächeln sagte, dass er das auch wirklich meinte. „Wie alt ist sie?“

„Vier“, erwiderte Casey. Sie suchte ein anderes Bild heraus, um es ihm zu zeigen.

„Schade, dass du sie nicht mitgebracht hast“, sagte Anton mit einem leisen Seufzen. „Ich hätte sie gerne einmal kennen gelernt.“

Unschlüssig zuckte Casey erneut mit den Schultern. „Wenn du magst, könnten wir heute Abend gemeinsam Essen gehen“, schlug sie vor. „Deine Familie. Meine. Dann könntest du sie kennen lernen.“ Sie war sich nicht sicher, ob er es annehmen würde – denn auch wenn sie ihn für einen guten Freund und Kollegen hielt, war sie sich nicht sicher, ob sie ihn dabei haben wollte, wenn sie mit Dagny gemeinsam unterwegs war.

Anton zögerte kurz. „Ich muss meine Frau fragen. Aber ja, wieso eigentlich nicht. Wenn sie kann.“

Casey lächelte. „Gut.“ Sie musste sich beherrschen, nicht erleichtert aufzuatmen.

Wieder wurde die Stille etwas angespannt und Casey sah sich zu Tristan um, der sich ein Video anzuschauen schien. Er schien sie gar nicht zu bemerken, war offenbar ganz in der Welt der Serie abgetaucht.

Sie stupste ihn an und erntete einen leicht genervten Blick. „Was?“

„Noch da?“, fragte sie scherzhaft.

Er verdrehte die Augen. „Ja.“ Kurz wanderte sein Blick zu Anton hinüber. „Gehen wir schon?“, fragte er dann an seine Mutter gewandt.

„Nein, nein“, erwiderte Casey und lächelte ihn an. „Alles gut. Mach weiter.“

Daraufhin lehnte er sich wieder zurück. „Danke.“

Anton lächelte und wartete, bis Tristan die Kopfhörer wieder aufgesetzt hatte. „Kommt mir nur zu bekannt vor“, meinte er zwinkernd.

„Er kann auch ganz lieb sein“, versicherte Casey. Er war es ja auch – die meiste Zeit.

„Wann fahrt ihr eigentlich zurück?“

„Nach England? Ach, erst in zwei Wochen“, antwortete Casey. „Wir fahren übermorgen aber weiter. In einer Woche wollen wir zum Jokulsarlon Gletscher.“ Dieses Mal war es sie, die sich räusperte. „Wir treffen uns dort mit Dagnys Eltern.“ Das war zumindest eine Art es zu beschreiben.

Reynisdrangar

Dagny liebte die beiden Kinder, doch sie hatte über die vergangenen Jahre gelernt, die Momente, die sie mit Casey allein hatte zu schätzen – immerhin hatten sie oft nicht die Zeit.

Ja, sie spürte, wie ihr Herz auch nach den neun Jahren, die sie schon zusammen waren, etwas schneller schlug, während sie den Strand entlang liefen.

Es war bereits Nacht, selbst wenn es nicht ganz dunkel wurde. Abby schlief im Wohnmobil, dass etwas auf dem Campingplatz von Reynisdrangar stand. Einem der Campingplätze, denn hier gab es mehrere.

Dagny wusste, dass die Menschen es genossen in ihre Heimat zu kommen. Das Land fühlte sich magisch für diejenigen an, die hier nicht aufgewachsen waren, und selbst die Einheimischen konnten die Magie fühlen. Dennoch war ihr nie klar gewesen, wie viele Campingplätze es hier gab.

„Wie waren noch einmal ihre Namen?“, fragte Casey, um deren Schultern ein aus grober Wolle gestricktes Tuch lag. Der Küstenwind wirbelte ihre Haare permanent in scheinbar unvorhersehbaren Mustern um ihren Kopf.

Kurz war Dagny verwirrt, ehe ihr klar wurde, was ihre Frau meinte.

Sie zeigte auf die Felsen am Rand der Klippe, die sich vor dem im Westen zumindest in Ansätzen dunkelblauen Himmels abhoben. Die beiden Felsen, die aus dem Meer ragten und die einmal gelebt hatten.

Zumindest sagte man das. Es waren einmal zwei Trolle gewesen, nicht, dass Dagny sie kennen gelernt hatte. Sie hatte diese Geschichte auch in der Anderswelt gehört, es war also entweder ein Märchen, dass sich Fae und Menschen teilten, oder beruhte auf einer wahren Geschichte. Vielleicht war es wirklich zweiteres, da die Formen der Felsen zumindest mittlerweile nicht mehr an Trolle erinnerten.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie auf Caseys Frage.

Casey seufzte dramatisch. „Schade. Ich war mir sicher, du hättest es mir damals einmal gesagt“, murmelte sie.

Dagny lachte und drückte ihre Hand. „Vielleicht habe ich mir damals nur etwas ausgedacht, um dich zu beeindrucken“, erwiderte sie.

Auch Casey lachte und blieb stehen. „So etwas tust du?“

Lächelnd musterte Dagny sie. „Ich habe deine Aufmerksamkeit genossen, falls du es nicht bemerkt hast.“ Dann kicherte sie leise und beugte sich zu ihr hinüber, um sie kurz zu küssen. Sie legte die eigenen kalten Hände auf Caseys Wangen, die überraschend warm waren. „Wie ich es noch immer tue.“

Sie spürte, wie das Lächeln Caseys unter ihren Lippen noch breiter wurde. „Ich weiß“, flüsterte sie. „Es ist schön einmal …“ Sie endete den Satz nicht, aber Dagny wusste auch so, dass sie meinte, woran auch sie vorher gedacht hatte.

„Ja.“ Sie seufzte zufrieden und sah Casey an. Sie spürte ihr Herz schlagen.

Der Wind umwehte sie weiter, wirbelte ihre Haare durcheinander.

„Ich bin so gespannt, wie Abby reagieren wird“, flüsterte Casey. „Wenn wir drüben sind, meine ich.“

Dagnys Herz klopfte bei dem Gedanken. „Ja. Ich mich auch.“ Sie seufzte. „Ich frage mich auch, wie meine Eltern reagieren werden.“

„Nervös?“, fragte Casey.

Dagny zögerte. Die Wahrheit war kompliziert. „Ja. Und nein. Ich bin mir nicht sicher, was sie davon halten werden. Ich hörte schon Worte über umgekehrte Wechselbälger.“ Sie lächelte entschuldigend.

„Was ist mit Tristan?“, fragte Casey.

„Sie sehen ihn denke ich mehr als deinen Sohn, nicht als meinen“, erwiderte Dagny. Sie wollte ihn nicht anlügen und wusste, dass es in ihrer Familie – ja, wahrscheinlich in ganz (Sommerreich) so war. „Deswegen urteilen sie darüber anders. Ich habe dich gewählt und du hattest einen Sohn. Das ist akzeptabel. Ein für sie fremdes Kind … Ich bin mir nicht sicher.“ Der Gedanke hatte sich ihr in den vergangenen Tagen immer mehr aufgedrängt.

„Ich bin mir sicher, sie werden sie lieben“, meinte Casey und legte ihrerseits die Arme um Dagny. Beruhigend strich sie über ihre Schulter, wie sie es auch bei Abby oder Tristan machen würde. Doch es half.

Dagny erlaubte es sich, zu entspannen und sich mit einem Seufzen an sie zu lehnen. Sie schloss die Augen und genoss Caseys Wärme, das Rauschen der Wellen und das Gefühl des Windes auf ihrer Haut. „Danke“, flüsterte sie schließlich, als sie sich wieder von ihr löste.

Casey küsste sie auf die Wange. „Kein Problem.“

„Ich freue mich trotzdem darauf, zurückzukehren“, meinte Dagny schließlich. „Ich war so lange nicht mehr da. Ach, ich frage mich, was alle machen.“

„Das kann ich verstehen“, erwiderte Casey. Sie machte Anstalten, weiterzugehen, und griff nach Dagnys Hand. „Weißt du, als ich die sechs Jahre hier war … Ich habe es genossen, aber ich habe die UK verdammt noch mal auch vermisst.“ Sie lächelte Dagny an. „Und ich meine, für dich … Es ist eine andere Welt.“ Der Ton in ihrer Stimme sagte Dagny, dass es für sie auch jetzt etwas verrückt war.

„Ja, eine andere Welt“, murmelte Dagny. „Auch wenn ich es manchmal beinahe vergesse.“ Sie schenkte Casey ein weiteres Lächeln. „Ich habe auch hier ein Zuhause.“ Sie war sich nicht ganz sicher, warum sie es sagte. Sie hatte das Gefühl, es Casey versichern zu müssen, nachdem sie beinahe melancholisch geworden war.

„Ich weiß“, erwiderte Casey.

Es wurde still zwischen ihnen, während sie weiter den Strand entlang liefen. Sie mussten nicht reden. Es reichte, die Hand der anderen in der eigenen zu spüren.

Schließlich sah Dagny zu den Klippen zu ihrer linken. „Was meinst du. Wollen wir zurück?“

Casey nickte. „Schauen wir mal, ob Abby Tristan geärgert hat.“

„Ach“, meinte Dagny lächelnd. „Ich bin mir sicher, dass sie wie ein kleiner Engel schläft.“ Doch obwohl sie diese Worte ironisch meinte, mussten sie feststellen, dass sie Recht hatte.

Als sie knapp zehn Minuten später am Wohnmobil zurück waren, fanden sie Abby seelenruhig auf dem oberen der Beiden Betten am Ende des Wohnraums schlafen, ihren Plüschhasen im Arm.

Tristan saß derweil mit einem Buch in der Hand am Tisch, schien aber nicht wirklich zu lesen. Sein Handy lag vor ihm auf den Tisch.

„Na, alles okay?“, fragte Casey leise und setzte sich zu ihrem Sohn, während Dagny vorsichtig den Wasserkocher anstellte, um sich einen Tee zu machen.

„Alles okay“, erwiderte Tristan. Auch er hatte die Stimme gesenkt, um Abby nicht zu wecken. „Sie hat aber noch eine Gute-Nacht-Geschichte gebraucht.“

„Dieses Mal mit Prinzessin?“, fragte Dagny und drehte sich zu ihm um.

Er verdrehte die Augen, lächelte dann aber verlegen. „Ja, dieses Mal mit Prinzessin“, meinte er und drehte sich zu den Betten um.

Neugierig sah Dagny auf das Buch in seinen Händen, als er dieses zusammenklappte. „Märchen aus aller Welt.“ Hatte er es sich in Reykjavik gekauft.

Sie ging zu ihm hinüber und setzte sich neben ihn, um ihm auf die Schulter zu klopfen und dafür einen verwirrten Blick zu ernten.

„Wofür war das?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern und lächelte ihn an. „Nur so.“ Denn sie war sich sicher, dass er konkretes Lob ablehnen würde. Immerhin hatte er seinen Stolz.

Mýrdalsjökull

Der Gletscher war im Sommer für Touristen gesperrt. Es bestand die Gefahr, dass sich Eisstücke durch die Schmelze lösten und zu tödlichen Gefahren werden konnten.

Casey war früher bereits mehrfach hier gewesen – auch im Sommer, da die Universität eine Forschungsstation am Gletscher betrieb. Sie hätte sicher mithilfe von Anton oder einem ihrer anderen Kollegen Zugang bekommen können, doch das war nicht notwendig. Auch Dagny kannte Leute, die diese Art von Toren öffnen konnten und so betraten sie die Höhle am Abend des fünften Tages, seit sie Reykjavik verlassen hatten.

Dagny trug Abby auf dem Arm. Sie waren sich einig gewesen, dass es zu gefährlich war, wenn sie alleine lief. Selbst sie mussten aufpassen, so war der Boden unter ihren Füßen doch vom Schmelzwasser nass und rutschig.

Abby sah sich derweil immer wieder begeistert um. „Das ist so schön“, sagte sie und zeigte auf eine Stelle, an der das Eis besonders blau schimmerte.

„Ich weiß“, meinte Casey.

„Warum ist es blau?“, fragte Abby auf einmal und sah ihre Mutter an. „Eis ist doch weiß!“

„Weil Eis aus Wasser ist“, erklärte Tristan, bevor Casey antworten konnte. „Und Wasser im Schwimmbad ist ja auch blau.“

Abby sah ihn mit großen Augen an. „Lina im Kindergarten hat gesagt, die färben das.“

Casey konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. „Nein, Wasser ist blau. Das Blau ist nur so durchsichtig, dass man es bei dünnen Schichten nicht sieht.“

Für einen Moment war Abby ruhig und legte, wie so oft, wenn sie nachdachte, die Stirn in falten. „Dann hat Lina mich angelogen!“

Nun lachten sie alle und Dagny strich über Abbys Kopf. „Ich bin mir sicher, dass sie selbst geglaubt hat, dass es so ist.“

„Aber es ist ja dennoch falsch“, meinte Abby.

Dagny und Casey wechselten einen Blick.

Casey hatte nicht damit gerechnet, dieses Thema heute zu besprechen. Sie dachte nach, wie sie es ihrer Tochter erklären sollte, ohne dass sie es falsch verstand. Immerhin wollte sie nicht, dass Abby am Ende glaubte, dass Lügen okay sind. „Wenn du wirklich glaubst, dass was du sagst, die Wahrheit ist, dann ist es keine Lüge, wenn du es sagst.“ Sie lächelte Abby an. „Deswegen sollte man aber immer Fragen stellen, um nicht etwas zu glauben, was gar nicht stimmt.“ Etwas, das viel schwerer war, als sie es einmal gedacht hatte.

Denn bis sie Dagny getroffen hatte, hatte sie sich fest unter den Rationalisten gesehen. Natürlich konnte sie die Magie in der Natur sehen, hatte diese „Magie“ jedoch als ein einfaches Gefühl, als Sentimentalität abgetan. Nie im Leben hätte sie geglaubt, dass Feen oder Götter real sein konnten – und doch war genau das der Fall.

Sie war in der Welt der Feen gewesen. Sie hatte Magie gesehen. Ja, sie hatte sogar Götter getroffen. Dinge, an die manche Menschen glaubten und die andere für reine Hirngespinste hielten, konnten real sein.

„Ist aber trotzdem blöd“, meinte Abby nach beinahe einer Minute.

„Du kannst ja, wenn wir wieder zurück sind, sagen, wie es richtig ist“, schlug Tristan, der die Taschenlampe hielt, vor.

„Okay.“ Abby seufzte schwer.

Das Licht der Taschenlampe reflektierte sich von den Wenden, während sie weiter in den Gletscher hinein liefen. Obwohl es nur eine einzelne Lampe war, so spendete sie dank dieser Reflektion und den teilweise dennoch hellen Wänden erstaunlich viel Licht. Es war beinahe, als würden die Eiswände von sich aus leuchten.

Sie alle trugen Winterkleidung. Auch wenn es draußen knappe fünfzehn Grad Celsius warm war, so herrschten war die Lufttemperatur im Innern der Eishöhle natürlich um den Nullpunkt. Ihr Atem formte dünne Wolken über ihren Mündern.

Casey wechselte einen Blick mit Dagny, die ihr ein Lächeln schenkte. Sie wusste, dass Dagny nach einem Ort suchte, an dem der Schleier zwischen den Welten besonders dünn war. Einem bestimmten Ort. Sie fragte sich aber auch, wie lange es noch dauern würde, denn sie begann zu frieren.

„Und in deiner Welt gibt es Einhörner, nicht?“, fragte Abby nach einer Weile. Es war das sicher zwanzigste Mal, dass sie diese Frage stellte.

„Ja, aber Einhörner sind nicht zahm“, antwortete Dangy lächelnd.

Tristan machte einen leisen, verächtlichen Laut. „Einhörner sind Arschlöcher“, murmelte er. Als er vor acht Jahren in der Anderswelt gewesen war, hatte er diese Erfahrung gemacht.

Seufzend stupste Casey ihn an und schenkte ihm einen vielsagenden Blick, woraufhin sie nur ein Schulterzucken erntete.

Etwas unsicher räusperte sich Dagny. „Aber es gibt geflügelte Pferde, die einst von den Sidhe gezähmt wurden.“

„Schie?“, fragte Abby und sprach das Wort nicht ganz richtig aus.

„Das sind unsere irischen Verwandten“, meinte sie grinsend.

Abby überlegte kurz, ehe ihre Augen leuchteten. „Ach, die mit Flügeln!“

„Nein, ohne Flügel“, sagte Dagny schnell. Sie blieb kurz stehen, um Abbys Gewicht anders zu verlagern und flüsterte der Kleinen ins Ohr: „Und ich würde dir raten ihnen gegenüber die Flügel nicht zu erwähnen.“

„Warum nicht?“, flüsterte Abby zurück.

„Sie mögen das Vorurteil nicht“, antwortete Dagny.

„Das haben mal Leute erfunden.“ Tristan ging zu ihnen hinüber. „Und du magst es ja auch nicht, wenn man Dinge über dich erzählt, die andere Leute erfunden haben.“

Abby seufzte. „Ich will aber Flügel haben.“

„Vielleicht findest du ja einen Magier, der das kann“, erwiderte Casey.

„Die gibt es?“

Sie lachte. „Vielleicht.“ Dabei schlang sie die Arme kurz um ihren Körper. Sie fror wirklich.

Dagny trat näher zu ihr. „Wir sind gleich da“, versicherte sie.

So gingen sie weiter durch die Höhle, die langsam schmaler wurde. Beinahe glaubte Casey schon, dass sie in eine Sackgasse laufen würden, doch dann öffnete sich vor ihnen auf einmal ein kleiner Saal – sicher sechs Meter im Durchmesser und beinahe komplett rund geformt.

Ein Strahl Sonnenlichts drang hier in die Kaverne. Ein schmales, keinen halben Meter breites Loch war in die Decke geschmolzen und ließ das Licht hierher vordringen. Doch das war nicht das eigentlich mystische in diesem Raum.

Die Wände hier waren nicht bloß und Mischtönen aus Weiß und Blau gehalten, sondern auch mit Grün- und Rottönen durchsetzt. Selbst einzelne, schwarze Schlieren fanden sich hier.

Früher einmal hatte Casey solche Orte mit seltenen Erden und Mineralen, die einst vom Eis eingeschlossen worden waren, erklärt. Jetzt aber, wusste sie, das nicht alle Antworten so wissenschaftlich waren.

„Woah“, machte Abby und schien ernsthaft beeindruckt. „Was ist das?“

Dagny setzte sie auf dem Boden ab. „Magie.“ Sie streckte sich, während Casey nach Abbys Hand griff.

„Wir sind da“, flüsterte Dagny dann und lächelte ihnen zu. „Seid ihr bereit?“

Tristan machte die Taschenlampe aus und holte tief Luft. „Ich hoffe, dieses Mal hetzt niemand irgendwelche Tiere auf mich.“

„Ich werde dich schon beschützen“, erwiderte Dagny.

Er schenkte ihr ein seltenes, trockenes Lächeln. „Nun, ich denke, ich komme damit klar.“ Dabei ließ er es klingen, als sei es ein enormes Zugeständnis, dass er mitkommen würde.

„Ich denke, dass du Spaß haben wirst.“ Dagny klopfte ihm auf die Schulter und trat dann vor. Sie ging in die Mitte des Raumes, wo sie noch einmal tief Luft holte und dann die Augen schloss. Sie verharrte für einige Sekunden, ehe sie, mit noch immer geschlossenen Augen, zu der Wand vor ihnen ging. Sie berührte das Eis, das matt – sehr matt – das innere des Saals reflektierte. Ein Zittern lief durch das Bild, es fing an sich aufzulösen. Dann schien etwas Licht durch das Eis zu fallen. Helles, warmes Licht.

Als wäre das Eis ein milchiges Fenster zeigte sich etwas dahinter. Es war schwer zu erkennen, erinnerte aber an eine saftige Wiese an einem See. Da waren Formen im Hintergrund.

„Woah!“, machte Abby noch einmal und Casey drückte ihre Hand.

„Komm“, sagte sie und spürte dabei doch, wie sich ihr Magen zusammenzog. Es sah so anders aus, so unnatürlich, und selbst jetzt wehrte sich ein kleiner Teil ihrer selbst noch dagegen. Doch sie machte einen Schritt vorwärts und ging, zusammen mit Tristan und Abby auf die verzauberte Eiswand zu.

Sie streckte eine Hand aus und diese glitt einfach durch das Eis, das wie ein Schleier aus kühlem Wasser wirkte, hindurch.

Noch einmal holte sie tief Luft und dann trat sie hindurch.

Ihre Füße berührten eine saftige Wiese. Wärme umgab sie.

Sie sah zu ihren Seiten, wo Abby und Tristan standen, ehe auch Dagny zu ihrer Linken erschien.

Sie waren da.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Ixtli
2017-11-05T12:48:59+00:00 05.11.2017 13:48
Aloha!

Erst mal entschuldige bitte, dass dein verdienter Kommentar so lange auf sich warten ließ. Heute ist es das erste Mal, dass ich wach und gleichzeitig ansprechbar und zurechnungsfähig bin, sozusagen. /:

Jetzt zum Wichtigsten:
Ich habe ja schon im Zirkel geschrieben, dass ich die Geschichte liebe. Sie ist exakt das, was ich mir erhofft hatte, als ich damals meine Wunschliste schrieb. Deine Story ist dieser feine Vorhang zwischen unserer Welt und einer magischen Welt, der im Wind weht und manchmal den Blick auf das Dahinter freigibt.

Die Charaktere passen in ihre Umgebung, ohne sich ihr anzupassen. Ich mag die Interaktionen zwischen allen, es ist einfach harmonisch, wie sie miteinander umgehen und vor allem glaubhaft. Man entdeckt mit ihnen Island, aber auf eine recht persönliche Art, wie ich finde; als wäre man selbst Teil der Familie.
Abby hat mich öfter zum Schmunzeln gebracht. Und ja, kleine Kinder sind meistens so. Immer Zwischenfragen stellen, so dass man für ein kurzes Märchen eine Stunde braucht um zum Ende zu kommen... xD

Dass Dagnys Wesen sich nicht zu sehr in den Vordergrund drängt, fand ich klasse. Alles, was man quasi über sie wissen muss, wird richtig dosiert beschrieben und in die Geschichte eingewoben. Es ist wieder dieser dünne Vorhang, den ich an deiner Geschichte so mag. Er ist da, aber lässt sich auch mal zur Seite schieben. Das passt sehr schön zum Ende, das perfekt so gewählt ist. Du lässt dem Leser Spielraum für eigene Gedanken, anstatt alles zu erklären. Das sich öffnende Tor in die andere Welt ist ein weiterer Anfang, statt ein Ende zu sein.

Ok, ich muss zugeben, gegen ein Spin-off über Tristans ersten Besuch in der Anderwelt hätte ich nichts einzuwenden. Ich wüsste schon ganz gerne, warum Einhörner Arschlöcher sind. Echt jetzt. xD Ich musst bei diesem Satz so dermaßen lachen, dass ich es einen winzigen Augenblick nicht mehr schade fand, dass die Story da schon fast am Ende war. ^^

Ich danke dir von ganzem Herzen für diese magische Reise, auf die du und deine Charaktere mich mitgenommen haben. Hut ab auch für all die Umstände, die du dir mit dieser Geschichte gemacht hast, der Reiseführer, die Dokus, die Bilder und am wichtigsten: dass du darüber geschrieben hast. Jetzt will ich erst recht nach Island. :D
Von:  Taroru
2017-10-13T11:58:25+00:00 13.10.2017 13:58
und weiter? :-p

(ich mag die kleine familie übrigens sehr, mit allen kleinen macken XD und ich finde du hast abby super als kleinkind rüber gebracht, auch tristan kommt sehr überzeugend rüber, gefällt mir gut :-) )
Antwort von:  Alaiya
13.10.2017 13:59
Gerade das Kleinkind hat das schreiben schwer gemacht, sag ich dir @.@ Ich habe doch so wenig mit kleinen Kindern zu tun
Antwort von:  Taroru
13.10.2017 14:10
ich kann dir ja meine nichte vorbei schicken, dann merkst du das ganz schnell XD
Von:  Taroru
2017-10-12T21:11:29+00:00 12.10.2017 23:11
und noch eine geschichte, wo ich warten werde, wie es weiter geht ^^°
sag mal... wie machst du das eigentlich? so viel tippseln? und dabei nicht den überblick zu verlieren?

auch wenn man hier noch nicht so wahnsinnig viel erfährt, worum es gehen wird, so finde ich es schön geschrieben und es kam keine langeweile beim lesen auf ;-)
also, hast mich hier auch an der backe, lass mich nicht so lange warten ;-)


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