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Am Rand der Welt

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Bonuspunkte, für jeden, der errät, was es mit Evan auf sich hat. ^^ Komplett anzeigen

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Goðafoss

Das Rauschen des Wassers war ohrenbetäubend, als sie am Rand des Wasserfalls standen.

Noch immer hatten sie Glück mit dem Wetter. Sie Sonne schien und es war – für isländische Verhältnisse – mit knapp vierzehn Grad Celsius relativ warm. Nicht, dass Dagny es anders gestört hätte.

„Und alle einmal Lächeln!“, rief Casey gegen das Rauschen an.

Abby strahlte. Tristan grinste mit einer Spur Sarkasmus. Dagny bemühte sich um ein Lächeln, während sie Abby auf dem Arm hielt.

Dann kam Casey mit der Kamera zu ihnen zurück, um die Bilder zu zeigen.

„Jetzt du“, meinte Dagny, wobei auch sie gegen das Rauschen anschreien musste, um sich Gehör zu verschaffen.

Sie standen auf der festbetonierten Plattform am Rand des Wasserfalls, da es ihnen zu gefährlich erschienen war, mit Abby auf die Felsen direkt am Wasserfall zu gehen. Doch auch wenn sie so etwas Abstand zu den stürzenden Wassermassen hatten, so schlug die Gischt doch noch immer zu ihnen hoch und hatte sich bereits in ihre Kleidung gesogen.

„Kann ich gleich zum Felsen?“, fragte Tristan nicht zum ersten Mal und warf dem hervorstehenden Felsen, der sich direkt über dem Wasserfall erhob, einen sehnsüchtigen Blick zu.

„Wenn du vorsichtig bist“, erwiderte Casey, wirkte aber nicht überzeugt. „Aber erst Fotos.“

„Ja ja“, murmelte Tristan.

Viel anders sahen die Bilder, die Dagny mit Casey und den beiden machte, nicht aus. Tristan grinste sarkastisch, Abby strahlte – und sah nicht in die Kamera – und Casey lächelte, während der Wind, der vom Wasser aufstieg, ihr die Haare ins Gesicht fegte.

Als Dagny zu ihnen zurückkehrte, löste sich Tristan von ihnen. „Kann ich jetzt gehen …?“, fragte er.

„Jetzt warte doch einmal kurz“, meinte Dagny und hielt ihn am Ärmel fest. „Komm.“

Tristan verdrehte die Augen und sah noch einmal mit auf die Bilder, während Casey zu Dagny schaute. „Wir sollten jemanden fragen, ob er ein Foto von uns zusammen macht.“

„Lass erst mal deinen Junior seinen Abenteuerdrang folgen“, meinte Dagny mit einem milden Lächeln und legte eine Hand auf Caseys Schulter.

Casey schürzte die Lippen, nickte schließlich aber. „Gehst du mit?“

Dagny konnte sich ein kurzes, verständnisvolles Lachen nicht verkneifen. Sie spürte dieselbe Sorge, wenn es um Abby ging, auch wenn sie Tristan mittlerweile etwas mehr zutraute. „Mache ich.“ Sie küsste ihre Frau kurz auf die Wange, ehe sie sich Tristan schnappte. „Dann wollen wir mal.“

„Du kommst mit?“, meinte er und klang dabei deutlich entgeistert.

„Jetzt tu' deiner Mutter den Gefallen“, erwiderte sie süffisant.

Ein weiteres Augenverdrehen folgte, dann zuckte er aber mit den Schultern. „Okay.“ Er marschierte los zu der Stelle, von der aus man auf den schmalen Pfad kam, von dem aus der Felsen zugänglich war.

„Was könnte man tun, um dich etwas mehr zu begeistern?“, fragte Dagny.

„Entweder wohin, wo ich WiFi habe oder was cooles.“

„Was cooles, hmm?“ Diese haargenaue Ausdrucksweise.

„Weiß nicht. Zu einem Vulkan oder so. Oder …“ Der Blick des Jungen wanderte zu den rauschenden Wassern. „Kanu fahren vielleicht. Also wo, wo es gefährlich ist.“

„Na, das wird Casey nicht gerne hören“, meinte Dagny, als sie ihn vorsichtigen Schrittes auf die Felsnase folgte.

Hier war die Luft vollkommen von den kleinen Tröpfchen, die durch die Macht des Wasserfalls empor geschleudert wurden, erfüllt. Gleichzeitig bot sich allerdings auch eine der besten Aussichten auf den Wasserfall, der eigentlich aus drei zusammengehörigen Wasserfällen bestand: Zwei weiten Vorhängen aus stürzendem Nass, getrennt durch einen weiteren hervorstehenden Felsen, aus dem jedoch ein weiterer, dünner Wasserfall hervorschoss.

Dank der Sonne, die hoch am Himmel stand, hatten sich gleich mehrere Regenbögen über dem Wasser gebildet, die aus dieser Perspektive noch besser zur Geltung kamen.

„Cool“, meinte Tristan und hatte prompt sein Handy in der Hand, um ein paar Bilder zu machen.

„Ja, cool ist es definitiv“, erwiderte Dagny leicht amüsiert und immer darauf achtend, dass er nicht zuweit vortrat.

Wer hätte schon gedacht, dass sie einmal auf Menschenkinder aufpassen würde?

„Machst du ein Bild von mir?“, fragte er schließlich und reichte ihr das Handy.

Sie lachte. „Ja, junger Herr. Das mache ich.“ Sie nahm ihm das Smartphone ab und machte ein Bild, dass er – sobald er wieder WiFi hatte – fraglos auf irgendwelchen sozialen Netzwerken hochladen würde.

Dieses Mal wirkte sein Lächeln weitaus begeisterter.

„Danke!“ Er klang aufrichtig, als er das Handy wieder in seiner Tasche verschwinden ließ.

„Können wir zurück?“, fragte sie und wandte sich der befestigten Aussichtsplattform zu. Überrascht musste sie feststellen, dass Casey dort in ein Gespräch vertieft war. Sie konnte nicht erkennen mit wem, doch war es Sommer und sie waren bei weitem nicht die einzigen Touristen hier.

Vorsichtig machte sie sich auf den Rückweg.

Wieder auf befestigtem Boden fand sie Casey, die noch immer Abby auf dem Arm hatte und sich gerade mit einem jungen Mann unterhielt, vom Erscheinungsbild nicht älter als dreißig.

„Versuch es noch einmal“, hörte sie den Mann sagen, als sie nahe genug war, um das halb gerufene Gespräch zu verstehen.

„Gu-da-foos“, machte Abby langsam und schüttelte den Kopf. Sie vergrub beschämt das Gesicht an Caseys Hals. „Gudafoss“, kam es von da leiser und praktisch nicht hörbar.

„Das war beinahe richtig“, erwiderte der Mann amüsiert.

„Hallo?“, meinte Dagny vorsichtig, als sie zu ihnen trat.

Der Mann drehte sich zu ihr um. Er strahlte sie an. „Ah, das muss die Frau sein.“ Ganz offenbar hatte man von ihr erzählt.

„Ja“, erwiderte Dagny und sah ihn an. Ein sechster Sinn sagte ihr, dass er – wie sie – nicht ganz normal war. Auch war da etwas in seinen Augen. Dennoch streckte sie ihm die Hand entgegen. „Dagny.“

„Habe ich schon gehört.“ Er grinste sie an, als er ihre Hand mit festen Griff drückte. „Sie sind von hier, eh?“ Sein Englisch war akzentfrei.

„Allerdings“, antwortete sie.

„Nun, wir sollten vielleicht etwas von hier weg“, meinte Casey laut. „Meine Ohren halten das nicht mehr lange aus.“

Dagny nickte und zeigte mit dem Daumen nach oben. „Klingt gut!“

„Soll ich sie noch eben alle zusammen fotografieren, Ladys?“, bot der Mann an. Vielleicht war das der Grund, warum Casey ihn ursprünglich angesprochen hatte.

„Okay“, antwortete Dagny, auch wenn sie ihn noch immer misstrauisch musterte. Wenn er wie sie war, sollte er sich eigentlich zu erkennen geben.

„Wer sind Sie überhaupt?“, fragte Tristan.

Der Mann lächelte ihn an. „Mein Name ist Evan“, antwortete er. Damit streckte er Tristan seine Hand entgegen.

„Tristan“, murmelte Tristan, als er die Hand fahrig ergriff.

Kurz darauf hatte Evan ein paar Bilder von ihnen allen Vieren vor dem Wasserfall aufgenommen und gab ihnen die Kamera zurück.

„Wir werden zum Rastplatz zurück“, meinte Casey, nachdem sie sich bedankt hatte.

„Ach, ich will auch noch weiter“, erwiderte Evan.

Seltsam.

„Leiser“, kam es erleichtert von Abby, die sich die Ohren rieb. Sie strampelte mit den Beinen, um wieder herunter gelassen zu werden. Dann, wieder auf den Boden drehte sie sich um. Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Gu-da-foss.“ Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein. Nein. „Go-da-foss?“

„Fast richtig“, meinte Evan. „Goðafoss. Mit so einem beinahe L dazwischen.“

„Gol-da-foss?“, kam es von Abby.

Evan lachte. Er hatte ein melodisches, gewinnendes Lachen. Ein nicht besonders menschliches Lachen. „Ja, genau. So in etwa.“

Wieder runzelte Abby die Stirn.

„Sollen wir dir isländisch beibringen?“, meinte Dagny, die es gerne versucht hätte.

Abby sah sie an. „Die Sprache ist komisch“, erwiderte sie dann und entlockte damit Dagny ein Lachen.

„Ja, das kann man so auch sagen“, gab sie dann zu.

„Also wenn du mich fragst, solltest du es nicht versuchen, Ab“, meinte er. „Die Sprache ist furchtbar.“

„Nicht furchtbar“, erwiderte sie. „Nur komisch.“

Dagny musste lachen und hätte ihre Tochter gerne hochgehoben, war sich allerdings beinahe sicher, dass sie das gerade nicht wollte.

Wieder runzelte Abby die Stirn, dieses Mal offenbar nicht sicher, ob sie sauer sein sollte, weil man über sie lachte. Dann aber fiel ihr etwas ein. „Warum heißt das eigentlich Götterfall?“

Nun kicherte auch Casey. „Eigentlich Wasserfall der Götter.“

„Sag ich doch“, erwiderte Abby. „Aber warum?“

„Weil irgendsoein Bürgermeister, als man ihn zum Christentum bekehrt hat, irgendwelche Götterrelikte von Odin und so reingeworfen hat“, antwortete Tristan, der die Geschichte schon kannte. Immerhin hatte er früher diese Geschichten gerne gehört. „Also er hat Statuen genommen und sie ins Wasser geworfen, um zu zeigen, dass er nicht mehr an die Götter glaubt.“

Noch immer hatte Abby die Stirn in Falten gelegt, was ernst, aber gleichzeitig auch niedlich auf ihrem Gesicht aussah. „Waren die dann nicht sauer, die Götter?“

Nun war es wieder Evan der leise lachte. „Wären sie gewesen, wäre das passiert“, meinte er. „Ich kann dir garantieren, Abby, dass vor allem der Allvater das Land verflucht hätte, wäre so etwas passiert.“

„Dann ist das nicht passiert?“, fragte sie.

„Nein, ist es nicht“, versicherte er.

„Und woher wissen Sie das?“, kam es leicht aufgebracht von Tristan.

Der Mann grinste ihn an. „Ach, so etwas weiß ich“, meinte er. „Wäre so etwas geschehen, dann hätte ich davon gehört.“

„Ja, sicher“, kam es von Tristan und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als Dagny ihn anstupste und mit dem Kopf schüttelte.

Sie war sich beinahe sicher, zu wissen, mit wem sie es hier zu tun hatte, und war sich auch beinahe sicher, zu wissen, was er von ihnen wollte. Und die Genugtuung wollte sie ihm nicht bieten. Entsprechend war sie erleichtert, als Tristan, leicht schmollend, den Mund schloss und die Hände in den Hosentaschen versenkte.

Evans Blick traf den ihren und sein Lächeln war wissend. „Nun, wir haben heute also gelernt: Man soll nicht allen alten Mythen glauben“, meinte er und klopfte Tristan auf die Schulter.

Tristan erwiderte nichts.

Sie hatten beinahe den Parkplatz erreicht, auf dem außer dem Wohnmobil mehrere SUVs und zwei Busse standen.

„Danke für das Foto“, meinte Dagny und betonte den Satz, um deutlich zu machen, dass sie das Thema wechselte.

Evan lächelte sie an. „Keine Ursache“, erwiderte er. „Es war äußerst erfrischend, sie kennen zu lernen.“

„Ja“, murmelte Dagny angespannt. „Sehr nett.“ Sie warf Casey einen Blick zu, um zumindest ihr mitzuteilen, dass ihr gerade nicht wohl war.

Beinahe automatisch schien Casey zu ihr zu treten und griff nach ihrer Hand, ehe sie sich Evan zuwendete. „Danke noch einmal.“

Wieder blitzte ihnen das gewinnende Lächeln entgegen. „Kein Problem. Vielleicht sehen wir uns ja noch.“ Damit wandte er sich zum gehen, wobei sein Gang beschwingt wirkte.

Für einen Moment herrschte Stille, wenn man vom noch immer deutlich hörbaren Rauschen des Wasserfalls absah.

Schließlich fragte Tristan, was sich wahrscheinlich auch Casey fragte: „Wer genau war das?“

Dagny zögerte. Sie war sich sicher, dass Tristan das Treffen als „cool“ bewerten würde, wenn sie ihre Vermutung aussprach. Daher zuckte sie mit den Schultern. „Jemand aus der Anderswelt“, erwiderte sie und log bei diesen Worten nicht. Letzten Endes lag auch der Ort, den die Menschen in ihren Mythen Asengard getauft hatten in derselben Welt, in der auch sie geboren war.



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