Café Speciale von Ixtli ================================================================================ Tage, die nach Himbeeren schmecken ---------------------------------- Ben... Wenn ich an Ben zurückdenke, dann rieche ich selbst nach all der vergangenen Zeit wieder das frischgemähte Gras der nahen Felder, höre das träge Quaken der Frösche am Bachlauf, spüre den warmen Sommerregen auf meinen sonnenverbrannten Wangen und schmecke die süßesten Himbeeren der Welt, um derentwillen wir sogar durch Brennnesseln krochen. Aber vor allem sehe ich einen sommersprossigen Blondschopf vor mir, der immer irgendwo ein Pflaster kleben hatte, da er es sich anscheinend fest vorgenommen hatte, von jedem Baum herunterzufallen, der in unserer Gegend wuchs. Am schönsten waren die Sommer, wenn wir den ganzen Tag draußen spielen konnten. Ben und ich wateten durch knietiefen Schlamm, verloren unsere Schuhe darin, fingen Kaulquappen oder bauten ein Floß, um wie Huckleberry Finn und Tom Sawyer den Mississippi hinab zu schippern. Nur war unser 'Mississippi' ein kleiner schmutziger Bach und unser Floß lediglich ein paar lose zusammengebundene Äste, die zu schwach waren, um uns beide gleichzeitig zu tragen. Das Floß kenterte natürlich kurz nach dem Zuwasserlassen und Ben und ich gingen baden. Unsere Kinderträume aber waren unsinkbar und so wurden die Äste wieder festgezurrt und das Floß ging seinem zweiten Stapellauf entgegen. Was ebenso untrennbar zu Ben gehörte, wie die Pflaster auf seinen Knien, war Balu, Bens kleiner grauer Mischlingshund, den er fast überall mit hinschleppte. Vergaß Ben ihn einmal, dann kam Balu die zwei Stockwerke, die sie über uns im Haus wohnten, hinunter gelaufen und bellte so lange vor unserer Tür, bis wir ihn herein ließen. Balus Anhänglichkeit ging sogar so weit, dass er so manches Mal zur Schule gerannt kam, die Ben und ich damals besuchten. Balu saß dann am Rande des Schulhofes und wartete geduldig auf Ben, der ihn nach Hause bringen musste, weil der Hund nach der Pause unbedingt mit ins Klassenzimmer wollte und partout nicht von alleine verschwand, egal, mit welchen Drohungen ihn Ben zu vertreiben versuchte. Die Kinder fanden den hartnäckigen Balu süß und niedlich, beneideten Ben darum, dass er während der Schulzeit nach Hause gehen durfte, aber sie kannten auch den Hintergrund nicht, weshalb Balu zur Schule gelaufen kam. Bens Mutter war zu betrunken und hatte die Haustür nicht richtig zuschließen können, als sie von ihrem fast tagtäglichen 'Frühschoppen' aus der Kneipe nach Hause kam. Aber darüber sprach Ben nicht - wie über so viele Dinge nicht. Bens Eltern bekam man ohnehin nur sehr selten zu Gesicht. Ihnen gehörte ein kleiner Zeitungsladen und sie hatten dementsprechend viel zu tun. In den ganzen Jahren, in denen Ben und ich befreundet waren, hatte ich höchstens dreimal mit einem der beiden mehr als nur das obligatorische "Ist Ben da?" gesprochen. Gingen Bens Eltern aus, hatten sie die befremdliche Angewohnheit, Ben zu Hause einzusperren. Ob sie die Haustür abschlossen, damit niemand herein konnte oder damit Ben nicht heraus kam, fragte ich mich damals nicht. Es wurde irgendwann einfach zu normal, obwohl es das wahrscheinlich nicht hätte sein dürfen. Das Angebot meines Vaters, Ben könne so lange zu uns kommen, bis sie wieder da waren, hatten seine Eltern kommentarlos abgelehnt und so musste Ben weiterhin alleine in ihrer verriegelten Wohnung ausharren. Um den einsamen Ben wenigstens ein bisschen abzulenken, wenn er mal wieder eingeschlossen zu Hause hocken musste, setzte ich mich kurzerhand ins Treppenhaus vor ihre Tür. Dann unterhielten wir uns, spielten Henkermännchen oder Karten, die man prima unter dem Türschlitz hindurch schieben konnte. An solchen langen Abenden begannen wir auch damit, uns Spiele auszudenken, die durch die Tür hindurch funktionierten. Welche das genau waren, weiß ich heute nicht mehr, es wurden mit der Zeit einfach viel zu viele. Was ich noch sehr gut weiß, ist, dass Ben, wenn er eines der Spiele verlor, richtig giftig werden konnte. "Affengesicht!", klang es dann beleidigt von Ben. Und "Benny-Bunny!" kam die Retourkutsche von mir, was Ben wiederum maßlos ärgerte. Wer wollte auch schon wie ein kleiner weißer Hase aus einem Kinderbuch heißen? Ben jedenfalls nicht. Ich kannte den Punkt genau, an dem es für mich eigentlich an der Zeit war, die Klappe zu halten oder mich zu verziehen. Ich hielt mich weder an das eine, noch an das andere und forderte es regelrecht heraus, dass Ben austickte. Er war einfach ein Erlebnis, wenn er wütend war, denn Ben konnte herrlich explodieren, wenn man das Richtige zu ihm sagte. Er ging dann wie eine Feuerwerksrakete in die Luft. Nur dass er nicht in glitzernde Farbpunkte zerplatzte, die zur Erde rieselten und verglühten, sondern - sofern er Gelegenheit dazu hatte - sich rasend vor Wut auf mich stürzte und mir öfter als einmal eine blutige Nase schlug. Aber Bens Wut war zum Glück genau so schnell verraucht, wie sie entflammt war, anders hätte unsere Freundschaft sicher niemals so lange halten können. Am Ende solcher Streitereien mussten wir jedenfalls immer über uns selbst lachen und alles war vorerst wieder gut. Meistens blieben unsere Raufereien allerdings harmlos und wir taten uns dabei nur selten ernsthaft weh. Bloß das ein oder andere Kleidungsstück nahm Schaden, wenn wir es allzu übertrieben. Was für mich kein Thema war, war für Ben eine Katastrophe. Er hatte aus Angst, dass seine Eltern die zerrissenen Kleider sahen, lieber die Nacht im Wald geschlafen, statt hoch zu seiner Familie zu gehen und das Missgeschick zu beichten. Da ich weder Lust hatte im Wald zu schlafen, noch Ben alleine dort gelassen hätte, endeten solche Aktionen dann damit, dass wir zu meiner Mutter gingen, die Bens kaputte Hosen oder Hemden nähte, während Ben und ich einen warmen Kakao bekamen und Fernsehen durften. Das erste mal, dass mir bewusst wurde, wie wenig ich meinen besten Freund eigentlich kannte, war an einem Abend, als wir wieder einmal durch die verriegelte Wohnungstür hindurch miteinander spielten. Das heißt, wir hatten es vor, doch Ben schien ausnahmsweise keine Lust dazu zu haben und hockte stattdessen ungewohnt wortkarg auf der anderen Seite der Tür. Als auch auf meine extra blumig ausgeschmückten Plaudereien keine Reaktion von Ben kam, legte ich mich flach auf den Boden und versuchte einen Blick unter der Tür hindurch in seine Wohnung zu erhaschen. Bens Gesicht konnte ich zwar nicht sehen, nur ein schmales Stück seiner mit Schrammen übersäten Beine, aber das Schluchzen, das aus dem düsteren Flur zu mir ins Treppenhaus drang, war nicht zu überhören. "Weinst du?", wollte ich verblüfft von Ben wissen. Die einzige Antwort, die ich bekam, war ein weiteres unterdrücktes Schluchzen, gerade noch so laut, um das Hindernis der Tür überwinden zu können. Also doch. Ich biss mir auf die Lippen. Ben hatte noch nie zuvor geweint; na ja, fast nie. Er tat es eigentlich nur dann, wenn er sich etwas angeschlagen hatte oder richtig wütend war und sich nicht mehr mit Worten alleine zu wehren wusste. Aber Ben weinte nie so verhalten wie in diesem Augenblick. Mir fiel nur eines ein, wie er wohl wieder aufhören würde: "Heulsuse!", rief ich Ben von draußen zu. Es klappte tatsächlich. Ben verstummte augenblicklich. Etwa zwanzig Sekunden lang geschah nichts. Ben war einfach still. Er war von der Wirkung meiner Worte anscheinend genau so überrascht, wie ich selbst. Ich musste unwillkürlich lachen, als ich mir Bens Gesicht vorstellte, wie er mit offenem Mund hinter der Tür hockte und sich fragte, was mir einfiel. Dann fing Ben plötzlich an zu schreien und mich zu beschimpfen. Er trat mit voller Wucht gegen die Tür, dass es durch das ganze Treppenhaus schallte und ich mir sicher war, dass sie nun aus den Angeln sprang. Ben brach sogar seinen eigenen Rekord im siebzehn Mal hintereinander 'Affengesicht' zu mir zu sagen, worüber ich nur noch lauter lachen musste. So leid mir Ben in solchen Momenten, die sich mit der Zeit zu häufen begannen, auch tat, aber ich konnte es einfach nicht ausstehen, wenn er weinte. Es war keine böse Absicht von mir, ich wusste nur nie, was ich dann zu ihm sagen sollte. War man wütend fluchte man und regte sich bald wieder ab. Doch was tat man, wenn jemand weinte, den man wirklich mochte und man wusste, dass man ihm nicht helfen konnte, weil die Gründe viel zu kompliziert für Kinder wie uns waren? Ich hatte keine Ahnung was richtig war und ärgerte Ben deswegen wohl auch lieber, bis er ausrastete. Dann musste ich nicht einfach nur hilflos zusehen, wie er weinte. Unsere Art den anderen zu trösten war sicher nicht die sensibelste, aber eine Nase hörte irgendwann zu bluten und zu schmerzen auf, Tränen jedoch taten viel tiefer drinnen weh, dort, wo man nicht hinkam, um einen Eisbeutel aufzulegen. Doch das alles war noch steigerbar. Es sollte noch schlimmer kommen; schlimmer, als ich es mir in meinem damaligen kindlich unbeschwerten Universum vorstellen konnte. Jedenfalls empfand ich es damals so. An einem Spätsommertag - es war das Jahr, in dem Ben und ich die Schule wechseln würden - kam ich aus den Ferien nach Hause, ohne auch nur die kleinste Ahnung davon zu haben, was sich eben dort in den Wochen meiner Abwesenheit alles verändert hatte. Meine Eltern waren schweigsamer als sonst, als sie mich bei meinen Großeltern abholten, doch daran, dass dieses Schweigen an Ben und seiner Familie liegen konnte, dachte ich nicht. Warum auch? Die ganze Fahrt über konnte ich kaum ruhig sitzen bleiben. Ich wollte unbedingt zu Ben und ihm die Sachen geben, die ich ihm vor meiner Abreise an die See versprochen hatte. Behutsam hielt ich die beiden Marmeladengläser auf dem Schoß. Eines der gut verschlossenen Gefäße hatte ich bis zum Rand mit Sand und Muscheln gefüllt und in dem anderen schwappte klares Meerwasser leise gluckernd gegen die Glaswände. Ben würde ausflippen, wenn er die Gläser sah. Er hatte schon vor unserer Abreise einen Platz auf seinem Regal dafür frei gemacht und mir mindestens fünfzig Mal das Versprechen abgenommen, den Sand und das Wasser ja nicht zu vergessen. Ich hatte es nicht vergessen und das wollte ich Ben nun auch schnellstmöglich zeigen. Kaum hielt unser Auto vor unserem Haus an, riss ich auch schon in Vorfreude auf das Wiedersehen mit Ben die Tür auf und sprang hinaus. Mein Vater rief noch etwas hinter mir her, und was es auch war, ich hörte es nicht, denn ich war schon längst durch die Haustür gestürmt und rannte wie ein geölter Blitz die ausgetretenen Holzstufen bis in den fünften Stock hinauf, wo Ben wohnte. Dort stoppte ich erst einmal überrascht. Die Tür zu Bens Wohnung stand sperrangelweit offen, was bei seinen übervorsichtigen Eltern sonst nie vorkam. Lauter fremde Menschen kamen mir aus der Haustür entgegen oder gingen gerade hinein. Hatten sie etwa so viel Besuch bekommen? Ich drückte mich an den Fremden vorbei und schlüpfte in die Wohnung, um mich dort auf die Suche nach Ben zu machen. Die Zimmer waren zum größten Teil ausgeräumt und mit braunen Kartons zugestellt, in anderen wurde währenddessen fleißig tapeziert oder gestrichen. Besucher waren die ganzen Leute also nicht. Bens Eltern renovierten wohl, dachte ich mir und steuerte auf das Kinderzimmer zu. Wie auch die anderen Räume in der Wohnung, war Bens Zimmer vollkommen leergeräumt. Ein älterer Mann riss gerade den letzten Rest von Bens hellblauer Kindertapete von der Wand. Es konnte also noch gar nicht lange her sein, dass sie mit dem Renovieren angefangen hatten. Ich stellte mich neben den Mann und schaute ihm eine Weile interessiert dabei zu, wie er eine lange Bahn der zurechtgeschnittenen neuen Tapete auf der Rückseite einkleisterte und sie dann zur Wand trug. Ob Ben diese hässliche Blumentapete wirklich besser gefallen würde, als die kleinen Segelschiffe? Ich kam zu dem Schluss, dass Ben sicher nicht froh über einen solchen Tausch war und beschloss, es dem Mann zu sagen, ehe er mit Tapezieren fertig war und wieder neu anfangen musste. "Ben wird garantiert wütend, wenn er das sieht. Er mochte die Schiffe viel lieber." Selbst heute noch habe ich das Lachen des alten Mannes im Ohr und sehe sein amüsiertes Gesicht vor mir, als er mir antwortete, ihm hätten sie ja auch gefallen, aber seine Frau wollte leider keine bunten Schiffe im Esszimmer haben. Der Alte strich mir noch einmal wohlwollend über den Kopf und ließ mich dann unbeachtet stehen. Völlig verwirrt ging ich nach unten zu meinen Eltern, die schon in unserer Wohnung auf mich warteten. Unzählige Fragen überschwemmten in diesem Moment meine Gedanken. Der mitleidige Blick, mit dem mich meine Eltern empfingen, aber reichte aus, sie alle zu beantworten. "Tut uns leid", begann meine Mutter leise. "Wir wollten es dir noch sagen, bevor du hoch gehst." Mein Hals war wie zugeschnürt und auf meiner Brust lag ein zentnerschwerer Felsbrocken. Nur mein Kopf schien noch darunter hervorzuschauen, und so war alles was ich tun konnte, nur stumm zu nicken. Der Rest von dem, was meine Eltern noch erzählten, ging in meinen eigenen Überlegungen unter. Ben war ausgezogen, ohne mir vorher etwas zu sagen oder die neue Adresse dazulassen. Jetzt konnte ich ihm noch nicht einmal die Gläser mit Meerwasser und Sand geben, die ich ihm aus den Ferien mitgebracht hatte. Ich lernte in diesen Minuten etwas, das ich so vielleicht erst Jahre später erfahren hätte: alleine gelassen zu werden tat verdammt weh - wahrscheinlich weher, als wenn man selbst gehen müsste. Ich habe Ben seit dem nie wieder gesehen. Wie er zu Ferienbeginn unserem Auto nachwinkte sollte lange Zeit die letzte Erinnerung bleiben, die ich an ihn hatte. Das 'Ehlers' zwei Klingelschilder über unserem 'Ziegler' wurde einfach durch einen anderen Namen ersetzt, der langsam so normal wurde, wie der andere zuvor. Zu Anfang dachte ich noch recht oft an Ben, wie es ihm wohl ging und was er tat, aber diese Gedanken wurden immer weniger, je mehr ich realisierte, dass Ben, dessen Anwesenheit immer so selbstverständlich für mich gewesen war, für immer von hier verschwunden war. Mein eigenes, immer aufregender werdendes Leben hielt mich auch zur Genüge auf Trab und irgendwann ging Ben in meinem Alltagstrott einfach unter. Doch man trifft sich immer zwei Mal im Leben - was sich auch ausgerechnet dann als wahr herausstellen sollte, als ich es am wenigsten gebrauchen konnte. Benny-Bunny & Affengesicht -------------------------- Das Copyright der Story liegt alleine bei mir. Sie darf nicht - auch nicht in Teilen - ohne mein Wissen und schriftliche Zusage anderweitig veröffentlicht oder auf sonstige Weise verarbeitet werden. ~ * ~ Ein weißer Elefant aus Kunstharz. Eine verbeulte Schreibtischlampe. Eine Kuckucksuhr ohne Pendel. Stumm sah Lukas zu, wie ein Gegenstand nach dem anderen in den geöffneten braunen Umzugskartons verschwand. Ab sofort würde also keine dieser Sachen mehr eine Rolle in Lukas' Alltag spielen. So einfach schien das. Sie gingen mit demjenigen, der gerade die Kisten packte mit und tauchten nicht mehr auf. Nicht hier in dieser Wohnung. Vermissen würde Lukas diese Dinge, jeden einzelnen dieser Staubfänger. Selbst den kitschigen Elefanten, der sonst immer auf der Fensterbank zwischen zwei vertrockneten Blumentöpfen mit Basilikum gestanden hatte. Die vertrockneten Kräuter blieben zwar hier, aber der Platz dazwischen war ab heute wohl leer. "Ich komme morgen wieder und nehme den Rest des Kleinkrams mit." Schon wieder dieser Satz, diese Androhung, die ganze gemeinsame Zeit endgültig in unzählige Fragmente zu zerschmettern, sie in dunkle Kartons einzupacken und wo anders ohne störende Kanten zusammenzufügen. Lukas nickte lahm. Es hatte keinen Sinn, noch einmal die schon beendeten Diskussionen aufzuwärmen; er wollte es auch gar nicht mehr. "Ruf an, bevor du kommst", bat Lukas den jungen Mann, der gerade einen Karton mit Klebeband verschloss und den nächsten einzuräumen begann. "Warum soll ich anrufen, ich habe ja noch den Schlüssel", kam es kaltschnäuzig zurück. "Du sollst anrufen, damit ich weg bin, wenn du auftauchst!", zischte Lukas seinen baldigen Ex-Mitbewohner an. Tino lächelte unschuldig. "Dann suchst du dir besser einen Ort, an dem du dich wohlfühlst, weil ich nämlich noch öfter vorbeikommen werde, um den ganzen Scheiß hier einzupacken!" Nicht einmal ein Kopfschütteln war Lukas dieser rücksichtslose Kommentar mehr wert. Warum sollte sich Tino am Ende ihrer Freundschaft auch viel anders geben, als zu Beginn...? Lukas klemmte sich eine dünne Mappe unter den Arm und verließ die Wohnung, möglichst ohne dabei noch zu viele Gedanken an die gestapelten Kisten im Flur zu verschwenden. Lukas zog ihre Wohnungstür hinter sich zu und verharrte einen Moment. Unentschlossen blickte er vor sich in den menschenleeren Flur. Als ob es so lustig wäre, der Person, mit der er zwei Jahre lang zusammen gewohnt hatte, beim Verlassen der Wohnung zuzusehen, die auf dem Papier noch immer ihnen gemeinsam gehörte. Sollte er etwa einen Freudentanz aufführen, womöglich noch eine Auszugsparty für Tino veranstalten? Nur schleppend langsam setzte sich Lukas in Bewegung und stieg die Treppe hinab. Gut, derjenige, der oben in ihrer Wohnung gerade so eifrig sein Zeug packte, war auch der Mensch, der ihn, Lukas, jetzt auf einem Haufen Schulden sitzen ließ, den er nicht alleine zu verantworten hatte. Warum trauerte er ihm nach? Die noch viel tiefer als der Ärger sitzende Enttäuschung über die Selbstverständlichkeit mit der Tino sich aus der Beziehung und den ganzen unerledigten Konsequenzen stahl, kehrte zurück und Lukas' Schritte wurden energischer. Immer eine Stufe überspringend eilte er das Treppenhaus hinab und flüchtete regelrecht aus dem tristen Mietshaus. Angenehm warme Luft und hektischer Straßenlärm begrüßten Lukas draußen. Menschen, Maschinen, Leben, alles lief hier weiter, wie in einem Uhrwerk. Unaufhaltsame Rädchen, die sich dem äußeren Geschehen trotzend weiter drehten. Und das sollte zählen, nicht dieses verhakte, eingerostete Rädchen, der Ignorant oben in seiner Wohnung, der seine Gedanken lieber hinter verletzendem Spott verbarrikadierte! Wenn er sich doch nur nicht so an Tino gewöhnt hätte... Die anderen Passanten ignorierend, schlenderte Lukas die stark frequentierte Einkaufsstraße entlang. Er schob Tino samt seinen Kartons mental zur Seite und stellte noch ein paar oben drauf, damit er dessen ungerührtes Gesicht nicht mehr sehen musste. Nur etwas ließ ihn ungeachtet dieser Bemühungen nicht mehr los: Wie sehr sich alles, der Ort, die Beteiligten, die kleinen, in den Augen anderer trivialen Vorstadtdramen von damals unterschied. Und doch endete es auf fast die gleiche unangenehme Art und Weise wie vor Jahren bei Ben. Lukas' Gedanken schweiften ab. Zu einem Zeitpunkt hin, dem er längst entwachsen zu sein schien. Zu Tagen, die nach Himbeeren schmeckten. Beide Arme voller Zettel rannte Lukas die belebte Hauptstraße entlang. Ein Platzregen hatte ihn im Park beim Lernen überrascht und nun war der junge Mann auf der Flucht vor den vom Himmel hinabstürzenden Wassermassen, die seine Kleider in kürzester Zeit bis auf die Haut durchnässt hatten. Ein Café auf der anderen Straßenseite des Parks schien der perfekte Unterschlupf vor dem Regen zu sein und Lukas verwarf seine Pläne, direkt nach Hause zu laufen. Er nahm sich nicht erst die Zeit, zu warten, bis die Fußgängerampel auf Grün umsprang. Stattdessen rannte Lukas behende zwischen den dicht hintereinander stehenden Stoßstangen, der nur langsam vorwärts kriechenden Autokolonne hindurch, quer über die vierspurige Fahrbahn. Dann war er eben kein vorbildlicher Erwachsener, aber immerhin war er einer, der bald im Trockenen war. Und aus dem Café heraus würde er die verkniffenen Gesichter, der brav an der Ampel Wartenden ohnehin nicht sehen können. Zielsicher steuerte Lukas auf das kleine Eckcafé mit der beleuchteten Eishörnchenreklame über der Eingangstür zu. Das heiter klingelnde Windspiel über der Tür hieß den Neuankömmling Willkommen, lud ein zu bleiben, hier, wo schon so viele andere Gestrandete angeschwemmt worden waren, die den Raum mit ihrem Lachen füllten. Es schloss den Regen und die Pfützenübersäten Gehwege für einen Moment aus und versüßte den nass-kalten Wolkenbruch mit dem Duft nach Karamelleis, Schokosoße und heißen Himbeeren. Nur zu gerne nahm Lukas dieses Angebot an. Mit einem erleichterten Aufatmen ließ er sich auf den erstbesten freien Stuhl an der Fensterfront sinken, den er erreichen konnte. Vor Ende des Regens würde ihn hier niemand mehr wegbekommen! Lukas schüttelte seine Leidensgefährten, die durchnässten Blätter, ein bisschen, bevor er sie auf dem leeren Stuhl und der Tischplatte vor sich ausbreitete. Dort konnten sie erst einmal in Ruhe trocknen, bis er sich selbst auch wieder aufgewärmt hatte, beschloss Lukas und zupfte zwei Frage-und-Antwortbögen auseinander. Demnächst hatte er die theoretische Führerscheinprüfung vor sich und er musste dafür unbedingt noch lernen. Lukas versuchte etwas Ordnung in seine Prüfungsunterlagen zu bekommen. Zwecklos. Die völlig durchweichten Blätter klebten wie alter Kaugummi aneinander und statt sich trennen zu lassen, rissen die feuchten Zettel ein. Lukas ließ die Unterlagen sein und sah sich lieber nach der Bedienung um. Zwischen den knapp fünfzehn Tischen, die nahezu alle besetzt waren, wuselten ein paar schwarzgekleidete Kellner umher. Lukas hob die Hand und winkte einem weißgeschürzten Ober in seiner Nähe zu, doch der bedachte den Gast nur mit einem eilig gemurmelten: "Ist nicht mein Tisch", ehe er zu einem anderen Cafébesucher hetzte. "Meiner auch nicht", brummelte Lukas und sah sich nach einem anderen Kellner um. Welcher war denn nun sein Kellner? Unschlüssig betrachtete sich Lukas die verschiedenen Bedienungen, die an ihm vorüber hasteten. Woher sollte er wissen, welcher für seinen Tisch zuständig war? Gab es da irgendwelche geheimen Anzeichen? Lukas gab es auf. Die nächste Person, die eine weiße Schürze trug, würde er sich einfach krallen. Wer nicht will, der wird gewollt! Nach einer viertel Stunde, die Lukas dann doch lieber mit weiteren verzweifelten Trennungsbemühungen seiner Papiere statt mit dem Einfangen eines Obers überbrückt hatte, kam sein Kellner endlich auch von ganz alleine zu ihm. "Einen Milchkaffee, bitte", bestellte Lukas schnell, ehe der Kellner womöglich wieder verschwand. Eine Kleinigkeit zu essen wäre auch nicht schlecht, was sein Magen in diesem Moment leise knurrend bestätigte, aber Lukas verzichtete auf die Bestellung. Der gestresste Kellner war mit seinen Gedanken ohnehin schon beim nächsten vollbesetzten Tisch, von wo aus eifrig nach ihm verlangt wurde. Lukas ignorierte seinen spürbar grummelnden Magen und ließ den überlasteten Kellner abziehen. Er hätte auch gleich nach Hause laufen können, seine Wohnung lag in entgegengesetzter Richtung nicht weit vom Park entfernt. Aber Tino war noch in der Wohnung und so lange der dort am Einräumen seiner Habseligkeiten war, blieb Lukas ihm und den gepackten Umzugskartons lieber fern. Er würde schon früh genug wieder zu Hause sein und die hellen Flecken auf den staubigen Regalen anstarren können. Reine Zeitverschwendung. Apropos Zeit. Lukas reckte den Kopf und hielt Ausschau nach seinem Kellner. Scheinbar durfte man die nicht aus den Augen lassen, wenn sich erst einmal einer dazu hinabgelassen hatte, die Gäste zu bedienen, sonst sah man sie so schnell nicht mehr wieder. Dann musste er sich wohl oder übel doch noch etwas mit sich selbst beschäftigen, dachte Lukas. Er sah auf die vor ihm ausgebreiteten Prüfungsbögen, unter denen eine Zeitung mit aufgeschlagenem Immobilienteil hervor lugte. Das stand ihm ja auch noch bevor. Eine kleinere Wohnung, in die er nach Tinos Auszug ziehen konnte. Lukas seufzte in Gedanken auf und schob schnell einen Fragebogen über die Zeitung mit den rot unterstrichenen Mietanzeigen. Aus den Augen, aber immer noch im Sinn. Lukas resignierte. Das Problem war nur beiseite geschoben und nicht gelöst. Spätestens wenn die nächste Miete fällig war, würde er wieder daran erinnert werden, dass es so nicht mehr lange weiter gehen konnte. Er musste ausziehen, egal wie sehr er das auch hasste. Die jetzige Wohnung war für eine Person zu groß und vor allem zu teuer. Viel länger als zwei Wochen würde er den Vermieter mit seinen vertröstenden Ausreden nicht mehr abspeisen können. Schon wegen des Führerscheins hatte Lukas einen Zweitjob in einem Früchte-Großmarkt annehmen müssen, weil es nicht anders ging. Den Führerschein brauchte er unbedingt für seinen ersten Job, da nach der Trennung von Tino seine bequeme und billige Mitfahrgelegenheit wegfiel. Und um nicht mehr länger von den teuren und umständlichen öffentlichen Verkehrsmitteln abhängig sein zu müssen, stand Lukas nun dreimal in der Woche morgens um halb Fünf in der Früchtehalle und half beim Verladen der Waren - was wiederum ebenfalls einiges an Zeit und Fahrtkosten nach sich zog. Wenn das so weiter ging, würde er sich noch nach einem dritten Job umsehen müssen, um sich den zweiten leisten zu können... Am liebsten hätte Lukas die ganzen Papiere vor sich mit einer einzigen Armbewegung vom Tisch gefegt. Er nahm wohl besser doch den Vorschlag seiner Eltern, vorläufig zu ihnen zu ziehen, an. Wenigstens so lange, bis das Durcheinander wieder einigermaßen überschaubar war. Aber was dann kam, konnte er sich schon lebhaft ausmalen. Ja, er war in den Augen seiner Eltern zu früh ausgezogen. Ja, sie hatten das alles schon früher gewusst. Und das Ende vom Lied? Er saß auf einem nicht zu übersehenden Haufen Schulden, den Tino ihm ohne Skrupel als Andenken hinterließ. "Dreieinhalbtausend", stöhnte Lukas lauter als beabsichtigt auf. "So viel kostet der Kaffee jetzt auch wieder nicht." Lukas zuckte erschrocken zusammen, als die Stimme unverhofft neben ihm erklang. Aber es war nur der Kellner, der seinem Gast nun den langersehnten Kaffee servierte. Lukas schaute ratlos in die Tasse. Das Getränk hatte eine Krone aus aufgeschlagener Milch und einen Klecks Kakaopulver in der Mitte. Es war nicht das, was er bestellt hatte. "Hallo, Sie", rief Lukas dem verschwinden wollenden Kellner nach. "Entschuldigen Sie, aber ich hatte einen Milchkaffee bestellt und keinen Cappuccino." Lukas schob dem Kellner die Tasse mit dem falschen Getränk zu, der sie kommentarlos an sich nahm und von dannen zog. Ob er den heute wieder sehen würde? Lukas bereute zutiefst, den Cappuccino zurückgehen gelassen zu haben - sogar ein kleiner Keks hatte auf der Untertasse gelegen! -, doch jetzt war es ohnehin zu spät. Keks und Cappuccino waren weg und Lukas saß noch immer durstig und mit knurrendem Magen da und hoffte, wenigstens eines davon bald los zu sein. Gelangweilt sah Lukas aus dem Fenster des Cafés und berechnete stumm, wie wohl die Chancen standen, dass er doch noch etwas zu trinken bekam. Schlechtes Wetter + vollbesetztes Café x gestressten Kellner² = Null. Prima, genau das, was er erwartet hatte. Das Wetter schien indessen Lukas' Rechnung bestätigen zu wollen. Der Wind trieb den Regen in Böen gegen das Glas und Lukas sah den durchsichtigen Rinnsalen nach. Einige der Regentropfen trafen sich auf ihrem Weg zur Erde, flossen ineinander und liefen dann als ein einziger großer Tropfen zusammen am Glas hinab. Es konnte so einfach sein, Gesellschaft zu finden - so lange man ein Regentropfen war. Der Kellner, mit dessen Auftauchen Lukas schon nicht mehr gerechnet hatte, stand nach sage und schreibe fünfzehn Minuten tatsächlich wieder an seinem Tisch. Sogar eine Tasse hatte er dabei, die er nun vor dem jungen Mann auf der Tischplatte abstellte. Allerdings tat er dies so ungeschickt, dass die Tasse umkippte und sich deren Inhalt über Lukas' linkes Bein und einen Teil seiner Unterlagen ergoss. Lukas sprang in Erwartung des Schmerzes durch den brühend heißen Kaffee schon auf, um wenigstens noch dem Hauptstrahl des Getränkes zu entgehen, sank aber sofort wieder zurück auf seinen Platz. Es war kein heißer Kaffee, der ihm gerade das Schienbein hinunterlief. Das zäh hinabfließende Gemisch war eiskalt... Das Gesicht des Kellners lief vor Scham leuchtend rot an. Hektisch riss er ein paar Servietten aus einem Spender auf dem Tisch und schmiss sie auf Lukas' Schoß. "'Tschuldigung", nuschelte der Kellner geknickt und rupfte dabei weiter ein Papiertuch nach dem anderen aus dem chromfarbenen Metallkasten. Lukas nahm sich ein paar Servietten von dem stetig anwachsenden Stapel auf seinem Schoß und säuberte damit seine durchtränkte Jeans. "Zum Glück war es Eiskaffee, den Sie mir übergeschüttet haben und nicht der heiße Milchkaffee, den ich eigentlich bestellt hatte...", entgegnete Lukas und konnte sich dabei den sarkastischen Unterton nicht verkneifen. Der Kellner, der die letzte Serviette aus dem Spender riss und auf Lukas' Bein beförderte, funkelte seinen Gast böse an. Dann nahm er die leere Tasse und verschwand wieder wortlos. Lukas' Mitleid mit dem zu beschäftigten Kellner hielt sich in Grenzen. Er raffte die zu Boden gefallenen Fahrschulpapiere auf, trocknete sie so gut es ging von Kaffee und Eis und breitete sie erneut auf der Tischplatte aus. Dann widmete er sich wieder seiner Kleidung. Die Hose war vorerst hin, ärgerte sich Lukas. Ein großer hellbrauner Kaffeefleck zierte seinen halben Oberschenkel und zog sich schlangenförmig über das Schienbein nach unten bis zum Saum. Die Wohnungsbesichtigung direkt nach dem Cafébesuch konnte er dann wohl vergessen. Lukas legte das Papiertuch beiseite. Er sah sich um und überlegte dabei, was er nun mit den ganzen überflüssigen Servietten tun sollte, die noch immer auf seinem Schoß lagen. Sollte er sie dezent unter den Tisch fallen lassen? Lieber nicht, es waren zu viele. Außerdem wollte er nicht mehr riskieren, dem ohnehin schon mies gelaunten Kellner noch weiter auf die Nerven zu gehen. Er könnte die sauberen Servietten ja wieder falten und in den leeren Spender zurück stecken. Zeit dafür hätte er, so lange wie der lahme Kellner mit seiner Bestellung ja brauchte. Sorgsam häufte Lukas die Servietten schließlich neben sich auf den freien Stuhl. Der Kellner wagte in der Zwischenzeit einen dritten Anlauf, seinen Gast zufrieden zu stellen, und brachte den nächsten Kaffee. Lukas bekam fast ein schlechtes Gewissen, als ihn die strafenden Blicke des Kellners trafen, nachdem dieser den Serviettenberg auf dem Stuhl neben Lukas entdeckt hatte. Die Lippen zu zwei dünnen Linien zusammengepresst, raffte der junge Kellner entnervt die Papiertücher auf, um sie zu entsorgen. Jetzt tat er Lukas doch ein wenig leid, dass er darüber sogar fast seinen eigenen Ärger mit der schmutzigen Hose vergaß. Lukas beschloss, dem Ober etwas Nettes zu sagen. Er hob die Tasse an den Mund und sagte so laut, dass der Kellner es verstehen konnte: "Langsam machen Sie ja Fortschritte. Der Kaffee ist sogar heiß und nicht einmal auf meinem Schoß gelandet. Jetzt müssten Sie nur noch an Ihrer Geschwindigkeit arbeiten..." Das stimmte zwar, war aber offenbar doch nicht nett genug, fiel es Lukas in der gleichen Sekunde ein. Und der Kellner fand das wohl auch. Er schnaubte verächtlich und sagte im Weggehen etwas, das Lukas verblüfft aufhorchen ließ: "Affengesicht!" Lukas, der gerade wieder einen Schluck aus der Tasse nehmen wollte, gefror kurzzeitig in dieser Bewegung ein. Langsam stellte er die Tasse wieder ab. Erst hatte dieser Kellner ihm nach einer dreiviertel Stunde Wartezeit zweimal das Falsche gebracht, hatte eines davon über Lukas' Unterlagen und die neue Jeans gekippt und nannte ihn nun auch noch Affengesicht?! Alles was Lukas dazu sagen konnte, war: "Benny-Bunny?" Der Kellner wirbelte herum. Er sah Lukas entgeistert an, während sein Mund wie bei einem Fisch auf dem Trockenen ein paar Mal stumm auf und zu klappte. Als dann auch noch die Gäste an den umstehenden Tischen mehr oder weniger leise zu lachen begannen, verfärbte sich sein Gesicht in dem schon vertrauten Rot. Noch einmal bedachte der Ober Lukas mit einem allessagenden Blick, der ganze Länder in Kriege stürzen oder wahlweise widerspenstige Gäste in Grund und Boden stampfen sollte, dann drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte schnurstracks zur Theke. Was hatte er sich da schon wieder geleistet?! Heimlich sah Lukas zur Theke. Im gleichen Moment schaute auch der Kellner zu ihm, wandte sich aber sofort wieder ab, als er Lukas' Interesse bemerkte. Mit einem Mal war sich Lukas doch nicht mehr so sicher, ob der junge Mann, den er gerade Benny-Bunny genannt hatte, auch wirklich derjenige war, den er sich erhoffte. Äußerlich sah er aus wie wohl tausend andere Leute auch. Gut, eine gewisse Ähnlichkeit könnte man schon hinein interpretieren. Die hellen Haare stimmten in etwa, die Sommersprossen auch. Natürlich war der Kellner größer als der Ben von früher. Das kindlich runde Gesicht war ebenfalls schmäler, kantiger, und ob er an den Knien Pflaster hatte, konnte Lukas ja leider so nicht sehen. Obwohl - nachfragen könnte er ja mal. Der Kellner hielt ihn doch sowieso schon für verrückt... Lukas musste grinsen, senkte aber gleich wieder schuldbewusst den Kopf, als ihn die Augen des Kellners fixierten. Die Pflasterfrage vergaß er dann wohl schnellstens wieder, dachte Lukas auf die missbilligenden Blicke des Kellners hin. Dabei hätte er zu gerne gewusst, ob seine erste Vermutung zutraf. Doch von Seiten des Kellners kam kein einziges Zeichen irgendeiner Reaktion, die dies bestätigt hätte. Schön, er hätte auch kaum erwartet, dass er ihm nach dem 'Benny-Bunny' gleich freudestrahlend um den Hals fiel, wenn er tatsächlich Ben war, aber etwas mehr als nur Rotwerden wäre doch sicher drin gewesen. Und wenn er nicht Ben war, hätte er das ja auch sagen können, fügte Lukas trotzig hinzu. Schlimmer als das 'Affengesicht' wäre das dann auch nicht mehr gewesen. Zeit, genügend über den Kellner herauszufinden, hatte Lukas jetzt jedenfalls keine mehr, wie er nach einem Blick auf seine Armbanduhr feststellte. Tino dürfte mittlerweile aus der Wohnung verschwunden sein und er selbst konnte wieder dorthin zurück und sich etwas anderes anziehen. Vielleicht konnte er sich die neue Wohnung ja doch noch ansehen. Lukas packte seine Fragebögen und die Tageszeitung zusammen und winkte dem Kellner an der Theke zu. Doch dieser übersah seinen zahlungswilligen Gast geflissentlich und tat so, als sei er unheimlich beschäftigt. Das tat der doch absichtlich, mutmaßte Lukas misstrauisch, womit er auch nicht allzu falsch liegen könnte. Der Kellner polierte gerade ein paar gespülte Gläser auf Hochglanz, dass selbst ein zigfach geschliffener Diamant ein Witz dagegen war, und räumte danach in aller Seelenruhe das Geschirr in die Regale ein. Als er zum sicher zehnten Mal innerhalb weniger Minuten über den Tresen wischte, reichte es Lukas. Und ob das Absicht war! "Der hat vielleicht Nerven." Lukas atmete hörbar aus. Kein Wunder, dass das Café so gut besucht war. Die Leute kamen ja gar nicht mehr von hier weg, wenn der Kellner ihre Bezahlung ignorierte. Oder war das hier etwa die Sonderbehandlung für aufsässige Gäste? Lukas' Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. Da das dem Kellner aber auch nicht sonderlich imponierte und vor allem nicht an Lukas' Tisch brachte, bemühte sich Lukas schließlich doch von selbst zur Theke, um zu bezahlen. Lukas legte das Geld auf den Tresen neben die Kasse. "Ich musste zwar lange warten, aber der Milchkaffee zum Schluss war immerhin besser als der Eiskaffee auf meiner Hose." Dem Kellner wich alle Farbe aus dem Gesicht und Lukas, der rätselte, ob diese Reaktion nicht doch zu übertrieben war, sah gleich darauf den Grund dafür. Ein etwas älterer, untersetzter Mann stand in der Tür, die vom Thekenbereich aus nach hinten in eine Art Küche führte, und er hatte offensichtlich Lukas' letzte Worte mitbekommen. Ausgezeichnet sogar, wie er kurz darauf bewies. Die Beschwerde des unzufriedenen Gastes, ließ den alten Mann aufmerksam die Ohren spitzen. Einem Derwisch gleich wirbelte er zur Theke. Die Hände in die umfangreichen Hüften gestemmt, baute er sich gewichtig vor dem Kellner auf und sah den um zwei Köpfe Größeren um eine erklärende Antwort herausfordernd an. Von Seiten des Kellners hatte der Alte aber nichts zu erwarten, was ihn umso mehr ärgerte. Lukas versuchte den zwar sichtlich wütender werdenden, aber immer noch stumm die feisten Backen aufblasenden Cafébesitzer im Vorfeld zu beschwichtigen und machte alles nur noch schlimmer. Es wäre ja nicht so tragisch, beteuerte Lukas eifrig, nass wäre er dank des Regens ja sowieso schon gewesen und die Hose war auch alt, log er dem alten Mann ins Gesicht, ohne dabei Rot zu werden. Alles nicht so schlimm, betonte Lukas noch einmal, damit es der Cafébesitzer auch tatsächlich registrierte, aber der hatte wohl nur 'nass' und 'Hose' verstanden und seine eigenen - wenn auch richtigen - Schlüsse daraus gezogen. Dem Cafébesitzer stieg nun ein wütendes Rot in die Wangen und er flippte vollkommen aus. Er schrie den Kellner an, beschimpfte ihn wie wildgeworden, wobei sich seine Stimme die meiste Zeit vor Aufregung überschlug. Und genau darüber war Lukas dann letztendlich doch recht froh, da es ihm so erspart blieb, zu verstehen, was der Ältere dem armen Kellner gerade an den Kopf warf. Die sehr bildlichen Gesten und die mehr als ausdrucksstarke Mimik, die jeden Theaterschauspieler vor Neid den Beruf aufgeben lassen würde, waren jedoch verständlich genug, um zu wissen, was der alte Mann meinte. Den Kellner konnte der Cafébesitzer mit seinem Redeschwall allerdings nicht sonderlich beeindrucken. Er stand vollkommen desinteressiert neben dem älteren Mann, füllte ein paar leere Zuckerstreuer auf und ließ die lautstarken Vorhaltungen bemerkenswert regungslos über sich ergehen. Es war wohl nicht das erste Mal, dass das geschah... Nach sich endlos hinziehenden fünf Minuten hatte der Inhaber des Cafés auch realisiert, dass er mit seinen vorwurfsvollen Worten bei seinem Angestellten nicht auf offene Ohren stieß, und hörte endlich auf zu jammern und sich die ohnehin schon spärlich wachsenden Haare zu raufen. Der alte Mann wandte sich nun wieder direkt an Lukas, entschuldigte sich vielmals für seinen angeblich unfähigen Kellner und redete sich währenddessen wieder so dermaßen in Rage, dass er zu Lukas' Entsetzen erneut anfing, noch einmal Minutenlang darüber zu lamentieren, was dieser Kellner nicht schon alles zerdeppert und in Brand gesteckt hatte, seit er bei ihm arbeitete. Der Kellner verdrehte bei der nicht gerade schnell vonstatten gehenden Aufzählung aller Schäden genervt die Augen gen Decke und wischte weiter tapfer über die bereits blitzsaubere Theke. "Lassen Sie Ihre Kleider reinigen und bringen Sie uns bitte die Rechnung vorbei", riet der Cafébesitzer Lukas und nickte zu dem scheinbar unbeteiligten Ober hin. "Er wird die Ausgaben dann selbstverständlich begleichen. Von seinem eigenen Lohn!" Der letzte Satz war direkt an den Verursacher des Schadens gerichtet, dem vor Verblüffung die Kinnlade nach unten klappte. "Er hatte den Tisch voller Zettel liegen und es war kaum Platz für den Kaffee. Dass die Tasse dann wegen seines Papierkrams umkippte, ist ja wohl nicht mein Problem!", protestierte der Kellner, aber sein Chef schnitt ihm wütend das Wort ab. "Und ob das Ihr Problem ist!", blökte der seinen Angestellten an, in den nun endlich das Leben zurückzukehren schien - zumindest in seinen Kopf, der sich mit Lichtgeschwindigkeit Lukas zuwandte, um diesen mit seinen feindseligen Blicken zu durchbohren. "Na ja..." Lukas, dem die ganze Szene immer peinlicher wurde, wand sich hilflos unter den giftigen Blicken des Kellners und dem erwartungsvollen Lächeln des Cafébesitzers. Schließlich gewann der ältere Mann die Oberhand, aber nicht, weil Lukas wirklich auf eine Wiedergutmachung bestand, sondern nur, damit dieser nicht wieder über eine auf einer eingeschalteten Herdplatte vergessenen Schürze zu meckern anfing und Lukas endlich aus dem Café nach Hause kam. Die zu besichtigende Wohnung wartete schließlich nicht ewig auf ihn. "Okay, dann bringe die Rechnung vorbei, sobald es geht", versprach Lukas hastig und vermied es danach, den Kellner direkt anzusehen. Der Cafébesitzer nickte zufrieden. "Schönen Tag noch!", blaffte der junge Kellner Lukas zum Abschluss erbost an. Das war wohl das Zeichen, dass er jetzt gehen durfte. Lukas kramte eine Weile in seiner Hosentasche herum und förderte schließlich ein paar Münzen zu Tage, die er vor den Kellner auf die Theke legte. "Vielen Dank für den Service", verabschiedete sich Lukas mit einem süffisanten Grinsen. Am Gesicht des Kellners konnte Lukas bestens sehen, dass dieser ihm das Geld am liebsten nachgeworfen hätte, wenn nicht sein Chef noch in seiner Nähe gestanden hätte. Doch so sagte er nichts und starrte Lukas nur nach. Eigentlich war er ja nicht rachsüchtig, aber das Trinkgeld hatte sich Lukas einfach nicht verkneifen können. Den Triumph, diesen überheblichen Kellner wenigstens einmal sprachlos sehen zu können, gönnte er sich noch. Immerhin war er es, der jetzt mit schmutziger Hose nach Hause laufen durfte. An der Tür angekommen, drehte sich Lukas noch einmal zu dem Kellner um und begegnete dessen Blicken, die, erst noch rätselnd, sich augenblicklich wieder verfinsterten. Der Kellner konnte ruhig so tun, als hätten sie sich noch nie im Leben gesehen, Lukas, das Affengesicht, wusste es besser. Es musste einfach Ben sein. Und er hatte Lukas auch erkannt. Zufrieden trat Lukas hinaus auf die Straße. Ja, er würde tatsächlich wiederkommen und die entsprechende Rechnung mitbringen. Unbezahlte Rechnungen --------------------- Kaum hatte Lukas das Café verlassen, da entledigte sich der Kellner an der Theke seiner Schürze und verließ ungeachtet der Proteststürme seines Chefs das Café Richtung Hinterausgang. Er ging den dunklen Flur entlang bis zu einer geöffneten Tür und setzte sich dort auf die Treppe, die hinaus in einen eingezäunten Innenhof führte. Der Regen war vorüber und die Sonne warf ein paar zaghafte Strahlen zwischen den sich langsam lichtenden Wolkenbergen zur Erde hin. Verdunstendes Wasser waberte in weißen Fetzen über den sich langsam wärmenden Boden. Die Regentropfen, die wie kleine glitzernde Glasperlenschnüre an den Blättern eines alten Kastanienbaumes hingen, tröpfelten leise plätschernd zu Boden. Der junge Mann wandte sein Gesicht der warmen Sonne entgegen, schloss die Augen und atmete die frische Luft ein paar Mal tief ein und aus, bis das flaue Gefühl in seinem Magen nachließ und das Zittern seiner Hände aufhörte. Es musste Zufall sein, dass dieser Gast ihn eben Benny-Bunny genannt hatte. Ja, einfach nur ein dummer, nichtssagender Zufall, das war alles! War das alles...? Der Kellner sah grübelnd zum Kastanienbaum. Warum fiel ihm gleich nachdem dieser Typ ihn Benny-Bunny genannt hatte, ausgerechnet der Name ein, von dem er gedachte hatte, ihn so schnell nicht wieder zu hören? Und warum saß er jetzt hier draußen, die klammen Finger fest ineinander verwoben, damit sie still waren, nicht mehr zitterten, wenn es doch so gar nichts zu bedeuten hatte? "Lukas...", murmelte der junge Kellner unwillkürlich vor sich hin. Er bemerkte den Fehler, biss die Zähne fest aufeinander und schüttelte heftig seinen Kopf, um diese unter Nebelschwaden ruhende Gedanken gleich wieder loszuwerden, ehe sich der trübe Dunst verziehen und sich die darunter versteckten, unscharfen Bilder materialisieren konnten. "Zufall, sonst nichts!", rief er laut als müsse er sich selbst davon überzeugen. Die Tür zur Küche flog auf und ein Kopf erschien im Türrahmen. Hektisch sah sich der neuerschienene Kellner im Flur um, bis er den Gesuchten auf der Treppe zum Hof sitzend vorfand. "Ben, du sollst wieder rein kommen, wenn dir ein gewisser Herr nicht heute zum Feierabend die Kündigung überreichen soll!" Bens Versuche, die Begebenheit mit dem Kaffeebegossenen Gast als Zufallstreffer abzutun, hielten nicht lange an. Die Ungewissheit nagte beharrlich an seiner unerschütterlich geglaubten Überzeugung und machte bald etwas anderem Platz. Der Ungeduld. Ungeduld darüber, die Sinnlosigkeit seiner Hoffnung, Lukas begegnet zu sein, bestätigt zu bekommen. Von diesem Tag an stand Ben zwar wie sonst auch im Café und tat seine Arbeit wie zuvor. Mit einem Unterschied. Er ließ dabei nie die Tür der Eisdiele aus den Augen. Irgendwann musste die Rechnung beglichen werden. Der Gast wollte wieder kommen, musste er ja auch, wenn er die Reinigung der Hose bezahlt haben wollte. Wann das sein sollte, hatte er aber leider nicht gesagt. Doch Bens zwiegespaltene Gefühle waren umsonst. Der junge Mann kam nicht mehr. Etwa fünf Wochen später kündigte kurz vor Feierabend das Windspiel über der Tür des Cafés noch einen späten Gast an. Ben, der eben dabei war eine Espressomaschine mit Kaffeebohnen aufzufüllen, hielt in seiner Arbeit inne, als er erkannte, wer da gerade mit einer Tüte in der Hand die Eisdiele betreten hatte. Und noch etwas ließ Ben stocken. Es war nicht nötig, den Namen auf der Tüte des Gastes zu lesen, das blaue Seifenblasenlogo darauf war unverkennbar. Geräuschvoll warf Ben den Deckel des Kaffeeautomaten zu und übersah den zur Theke kommenden Gast demonstrativ. Lukas legte einen gefalteten Zettel auf den Tresen und wandte sich an den Kellner, der ihn nun wieder mit seinen Blicken aufzuspießen versuchte. Wenigstens hatte der Kellner nicht vergessen, wer Lukas war, freute sich dieser insgeheim. Lukas tippte auf den Zettel. "Ich weiß, dass das nach dem letzten mal wahrscheinlich dreist ist", begann er entschuldigend und wurde gleich von seinem mürrisch dreinschauenden Gegenüber unterbrochen. "Dreist?", fuhr ihn der Kellner sauer an. "Mir fallen da noch ganz andere Worte ein, die das eher treffen!" Welche Worte das waren, verriet er Lukas aber nicht. Es war auch nicht wirklich nötig... So viel unverhohlene Feindseligkeit ließ Lukas erst einmal perplex schlucken. Er wollte den Zettel wieder mitnehmen, überwand aber diesen kurzen Moment. "Die Rechnung", versuchte es Lukas noch einmal vorsichtig und bekam prompt erneut das Wort abgeschnitten. "Ja, vielen Dank dafür!" Mit finsterer Miene nahm der Kellner den Zettel von seinem Gast entgegen. Wie abgebrüht musste dieser Kerl wohl sein, wenn er wirklich den Nerv besaß, hier mit der Rechnung aufzutauchen, dachte Ben empört. Hatte er ihn denn das letzte Mal nicht schon genug gedemütigt?! Dieses Egoschwein würde er jetzt garantiert nicht fragen, ob er zufällig Lukas hieß! Ohne den Zettel eines näheren Blickes zu würdigen, schob ihn Ben in die Kasse. "Muss ich sonst noch behilflich sein?", schnauzte er Lukas an. Eine Antwort wollte er darauf mit Sicherheit nicht haben und so zuckte Lukas nur mit den Schultern. "Das war eigentlich alles, was ich wollte", beendete er sein fruchtloses Anliegen und verließ das Café. Draußen blieb Lukas stehen und schaute durch das Fenster des Cafés. Was fand der Kellner nur so schlimm daran, dass Lukas ihm völlig unverbindlich seine Telefonnummer gegeben hatte? War das zu aufdringlich? Nachdenklich sah Lukas dem Kellner noch etwas beim Abräumen der Tische zu, dann ging er. Er hatte so lange überlegt, ob er das heute tun sollte, aber scheinbar hatten sich der Aufwand und sein Mut doch nicht gelohnt. Und das alles nur, weil er sich einbildete, Ben wiedergefunden zu haben. Augenblick! Lukas hielt abrupt inne. Die Passanten, die hinter ihm gingen, umrundeten das lebende Hindernis schimpfend, doch Lukas achtete nicht weiter darauf. Er war gedanklich wieder im zwei Straßenecken hinter ihm liegenden Café. Der Kellner hatte ja gar nicht auf den Zettel gesehen, sondern ihn nur in die Kasse geschoben! Er hielt das Papier wohl tatsächlich für die Rechnung. Lukas wollte zurück, um den Irrtum aufzuklären, aber dann dachte er sich, dass Ben, wenn er es denn wirklich war, schon früh genug den Inhalt des Zettels erfahren und vielleicht richtig kombinieren würde. Das klingelnde Telefon riss Lukas unsanft aus dem Schlaf. Verärgert schälte er sich aus seiner Decke, rollte sich seitwärts aus dem Bett und schlurfte noch halb schlafend zu seinem penetrant klingelnden Telefon. Normalerweise steckte er das Telefon aus, wenn er von der Doppelschicht nach Hause kam und schlafen wollte, nur manchmal vergaß er es - heute zum Beispiel. Lukas hob den Hörer ans Ohr. "Ziegler", meldete er sich hörbar genervt. Schweigen war alles, was ihn von der anderen Seite der Leitung aus empfing. Lukas hatte Mühe, den bösen Kommentar hinunterzuschlucken, der ihm auf der Zunge brannte. Für solche Scherze war er definitiv noch zu nüchtern. Er war schon im Begriff, den Hörer wieder aufzulegen, als sich doch noch jemand meldete. "Hallo", erklang eine zögerliche Stimme, die Lukas keinem seiner Bekannten zuordnen konnte. "Ich rufe aus dem Café an", sprach der Unbekannte stockend weiter. "Schön", antwortete Lukas müde und gähnte ausgiebig. Einen Kaffee könnte er jetzt auch gebrauchen. "Und warum rufen Sie aus dem Café an?" "Es gab wohl einen Fehler mit der Rechnung der Reinigung." Rechnung? Von einer Reinigung? Aus einem Café? Eine noch dümmere Ausrede als diese lausige Rechtfertigung dafür zu benutzen, dass man fremde Leute am Telefon belästigen konnte, hatte Lukas noch nie gehört. Dennoch strengte Lukas seine völlig übermüdeten grauen Zellen so gut es ging an, aber ihm fiel nichts ein, was mit einer Rechnung zu tun haben könnte. Es war wohl nicht so wichtig, wenn er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Und zum anderen interessierte es ihn gerade sowieso nicht. Sein einladend warmes Bett war viel verlockender. Lukas zog an der Schnur des Telefons, bis sie zu seinem Bett reichte und ließ sich mitsamt des Apparates dort nieder. "Ich habe nur diese Telefonnummer bekommen, aber nicht, wie viel bezahlt werden muss oder auf welches Konto das Geld überwiesen werden soll", informierte der Anrufer etwas irritiert den scheinbar genauso verwirrten Lukas. Geld? Warum sollte er von jemandem, den er nicht kannte, Geld haben wollen? "Nein, danke", nuschelte Lukas verschlafen. Seine Hand, die den Hörer hielt wurde immer schwerer, genau wie seine Augenlider und Lukas musste sich sehr zusammenreißen, um wach zu bleiben. Kurz bevor Lukas der Hörer ganz entglitt und auf die Bettdecke sinken konnte, riss ihn sein Gesprächspartner, der noch immer auf eine befriedigendere Antwort wartete, in die Gegenwart zurück. "Dann war es also nicht Ihre Hose, über die ich den Eiskaffee gekippt hatte? Tut mir leid für die Verwechslung. Auf Wiederhören." Eiskaffee? Hose? Ben! Mit einem Mal war Lukas hellwach. "Doch!", rief er in den Hörer. "Hallo? Sind Sie noch dran?" Lukas schüttelte den Telefonhörer als könne er damit den Anrufer am Einhängen hindern. Ben durfte einfach nicht aufgelegt haben. "Hallo?" Bens Hand schloss sich so fest um den Telefonhörer, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Dieser Typ wollte ihn wohl für dumm verkaufen! "Was denn jetzt?", kam die ungehaltene Rückfrage. "War es Ihre Hose oder nicht?" "Ja, es war meine Hose." Lukas überlief bei der Erinnerung an das eisige Getränk ein kalter Schauder. Diese Rechnung... Lukas hatte sie fast vergessen. Aber er hatte das Geld ja nicht zurückverlangen wollen. Er wollte einfach nur mit dem Kellner reden, um herauszufinden, ob es sich bei ihm um Ben handelte. Eine Weile schwiegen sich beide an. Lukas dachte über die günstigste Formulierung seiner Frage nach dem Namen des Kellners nach und Ben war nicht mehr weit davon entfernt, doch noch aufzulegen. "Wie viel Uhr haben wir eigentlich?", fragte Lukas plötzlich. "Halb Eins mittags", antwortete Ben auf die zusammenhanglose Frage. "Was? Schon so spät?!", brüllte Lukas. Ben hielt den Hörer am ausgestreckten Arm in sicherer Entfernung zu seinem Ohr. Spät? Verdutzt lauschte Ben dem von mehrfachen Schimpfwortintervallen begleiteten Krach, der vom anderen Ende der Telefonleitung zu ihm hinüber tönte. Es polterte noch ein paar mal dumpf, dann war Lukas wieder am Apparat. "Jetzt wäre ich fast zu spät zur Führerscheinprüfung gekommen", lachte er erleichtert. "Vielen Dank fürs Aufwecken." Dann war das Gespräch zu Ende. Ben starrte sprachlos auf den Hörer in seiner Hand, aus dem es monoton tutete. Was war das denn gerade? Wie schaffte es dieser Irre nur jedes Mal, wenn sie miteinander zu tun hatten, dass er sich von diesem verkohlt vorkam, ärgerte sich Ben, als ihm bewusst wurde, dass er jetzt genau so schlau wie zu Anfang des Telefonats war. So sehr sich Ben auch anstrengte, das Telefonat vom Mittag ließ ihm den ganzen Tag keine Ruhe mehr. Selbst als er schon zu Hause war, verfolgte ihn das Telefonat und ganz besonders sein Gesprächspartner. Ben wühlte den Zettel mit der Telefonnummer, den er im Café einfach eingesteckt hatte, aus seiner Arbeitshose hervor. Er faltete das Papier auseinander, legte es auf den Tisch und starrte einige Zeit lang regungslos auf den Namen, der unter der Zahlenreihe stand: Lukas. Jetzt hatte er es Kugelschreiberblau auf Notizzettelweiß vor sich liegen. Der angeblich unbekannte Gast, den er mit Kaffee begossen hatte, war womöglich doch kein Fremder. Der Name auf dem Zettel stimmte auch noch mit dem 'Ziegler' überein, mit dem sich der andere am Telefon gemeldet hatte. Im Café hatte er ihn ein paar Wochen zuvor Benny-Bunny genannt und außer seinem Lukas kannte niemand diesen Spitznamen. Drei Zufälle waren schon zwei zu viel. Aber was, wenn es wirklich Lukas war? Ben knüllte das Papier mit der Telefonnummer zusammen, nur um es gleich wieder zu entfalten. Lukas... Ben glättete das Papier und besah es sich. Er war hin und her gerissen. Zum einen war da die Freude über den wiedergefundenen Freund aus seiner Kinderzeit, mit dem er fast jede freie Minute verbracht hatte und so einige Abenteuer verband, die ihm bis heute noch in Erinnerung geblieben waren. Als sie etwa einmal die Obstbäume eines benachbarten Bauern geplündert hatten und dabei sogar eine volle Stunden still in der Krone eines Kirschbaumes ausharren mussten, weil der Nachbar eben in diesem Moment nebenan das Obst vom Baum pflückte. Auch bei den anderen Dummheiten, die nicht alle so glimpflich ausgegangen waren wie die Sache mit dem Kirschbaum, hatte Lukas Ben nie verraten und einiges auf seine Kappe genommen, wenn sie erwischt worden waren - sogar dann, wenn es für Lukas Stubenarrest bedeutet hatte. Zum anderen gab es da aber auch noch die weniger schönen Kindheitserinnerungen, die Ben mit seinem Auszug von zu Hause zwar räumlich abgeschlossen hatte, aber trotzdem nicht vollkommen ungeschehen machen konnte. Ben schob den Zettel mit der Telefonnummer vor sich auf dem Tisch umher. Er stützte den Kopf auf einer Hand ab und biss nervös auf seinen Fingernägeln herum. Eigentlich hatte Lukas ziemlich viel Ben zuliebe getan und immerhin gehörte er zum positiven Teil dieser Erinnerungen. Aber anrufen und damit vielleicht die Dinge, von denen er sich eingeredet hatte, dass er sie gedanklich abgeschlossen hatte, wieder hervorkramen? Dazu reichte sein Mut nicht. Noch nicht. Ben atmete entschlossen aus. Er griff sich den Zettel, faltete ihn und verstaute ihn sicher in einer Schublade ganz in der Nähe seines Telefons. Für alle Fälle. Lukas, der keinen Schimmer von den Konflikten hatte, in die er Ben mit seiner Telefonnummer manövriert hatte, hatte in der Zwischenzeit seine Führerscheinprüfungen bestanden; die theoretische und auch die praktische. Selbst ein Auto hatte sich Lukas vom letzten Rest seines Ersparten kaufen können. 'Auto' war vielleicht etwas zu hochgegriffen, alte klapprige Rostlaube, die kurz vor dem Auseinanderfallen stand, traf es eher. Der Wagen bot einen erbärmlichen Anblick, was auch die gesammelten Visitenkärtchen irgendwelcher Werkstätten und Abschleppunternehmen bewiesen, die alle paar Tage unter dem Scheibenwischer klemmten. Aber die Hauptsache war, das Auto fuhr. Nur die Wohnungen, die Lukas bis Heute besichtigt hatte, waren allesamt uninteressant für ihn. Dank seiner Eltern hatte er zwar noch zwei Monatsmieten auftreiben können und ihm blieben nun noch mindestens zehn Wochen Zeit, eine andere Wohnung zu finden, bis ihm sein Vermieter aufs Dach stieg, doch die Zeit rann ihm davon. Aber nichts davon konnte Lukas' Freude über das Auto trüben. Nicht einmal Tinos endgültiger Auszug, der im Gegenteil eher noch mehr zu seiner Erleichterung beitrug. Wieder ein Problem weniger. Die noch ausstehende Rechnung, die Lukas dem Cafébesitzer versprochen hatte, war zum zweiten Mal in völlige Vergessenheit geraten, bis eines Tages sein Telefon klingelte. Lukas schnippte die pinkfarbene Karte einer nahegelegenen KFZ-Werkstatt in eine Blechdose, die er extra für seine Visitenkartensammlung abbestellt hatte, und hob den Telefonhörer ab. "Ziegler. Hallo?" "Guten Tag, hier ist wieder das Eiscafé", schallte es aus dem Hörer. "Ich... mein Chef nervt, äh, fragt mich jeden Tag nach der Rechnung. Die Reinigung... wegen des Kaffees auf der Hose..." Treffer! "Ja, ja, ich weiß noch", beteuerte Lukas eifrig. "Gut, und was kostet es nun?" Lukas rieb sich imaginär die Hände. Dieses Mal würde er den Kellner nicht mehr davonkommen lassen, ohne dessen Namen zu erfahren. "Die Nummer war nicht dazu gedacht, um die Rechnung zu begleichen - keine materielle Rechnung jedenfalls." "Oh", klang es nach einer Weile leise aus dem Hörer. "Ja", antwortete Lukas genauso einfallsreich. Wie sollte er jetzt anfangen? Ins kalte Wasser springen? Schwimmen konnte er ja. "Du bist es, oder? Ben? Benjamin Ehlers?" Lukas hörte wie der junge Mann auf der anderen Seite des Telefons die Luft scharf einsog. Er konnte es ihm nur zu gut nachfühlen. "Natürlich bin ich es, du Schnellmerker", kam nach einigem Zögern die erhoffte Antwort. "Aber sag ja nie wieder Benjamin zu mir." Lukas lachte erleichtert auf. Das Gebirge, das ihm gerade vom Herzen fiel, riss die ganzen vergangenen acht Jahre in einer einzigen riesigen Lawine mit sich und kam erst weit genug von Lukas entfernt zum Halten. Endlich! "Hast du mich denn nicht gleich erkannt?", fragte Lukas, nachdem er wieder einigermaßen sprechen konnte. Zu seiner Überraschung bejahte Ben die Frage allerdings. "Zuerst nicht, aber außer dir wagt es sich niemand, Benny-Bunny zu mir zu sagen." "Das war wohl ein Reflex auf das Affengesicht", amüsierte sich Lukas. "Dann gibst du also jedem, der dich beschimpft, deine Telefonnummer?", hakte Ben nach. "Klar", erwiderte Lukas. "Aber das kam bisher nur einmal vor." Bei Tino, um genau zu sein... Lukas verdrängte diese kurz aufblitzende Erinnerung rasch. "Sicher?" Ben kannte den Ernst hinter Lukas' Antwort nicht und scherzte weiter. "Wenn du noch genauso nett wie früher bist, dann haben garantiert noch einige mehr deine Nummer." "Glaub mir, seit dem ersten Mal ist mir das vergangen. Bis eben jetzt zumindest..." Lukas graute es vor der nächsten Frage, aber er musste sie einfach stellen. "Du hast doch nicht die ganze Zeit hier in der Stadt gewohnt, oder?" In Lukas' Magen begann in Erwartung der Antwort eine Ameisenhorde einen Stepptanz aufzuführen. Sollte er auf einmal mit Ben die letzten zwei Jahre praktisch in unmittelbarer Nachbarschaft gelebt haben? Ohne dass sie sich über den Weg gelaufen waren? Die Chancen standen 50 zu 50. "Nein", zerstreute Ben zu Lukas' Erleichterung allerdings dessen Befürchtungen. "Ich bin erst vor ein paar Monaten hierher gezogen." "Gott sei Dank", stieß Lukas ungewollt laut aus. "Ich... ich wollte sagen, es freut mich natürlich nicht, dass du nicht hier gewohnt hast..." "Schon in Ordnung, ich weiß, was du meinst", beruhigte Ben den stotternden Lukas. "Und was ist jetzt mit der Rechnung?" Lukas brauchte eine Weile und Bens anschließendes Lachen, bis er begriff, dass dessen letzter Satz nicht ernst gemeint war. Die Unterhaltung dauerte noch etwas an. Als sie aber immer öfter ins Stocken geriet und weder Lukas noch Ben mehr etwas einfallen wollte, was sie am Telefon besprechen konnten, rang sich Lukas dazu durch, Ben zu einem Treffen einzuladen. "Immerhin hast du wegen des Ärgers, den ich dir mit deinem Chef eingebrockt habe, noch etwas bei mir gut." "Kann man wohl sagen, obwohl das gleiche für dich gilt", warf Ben ein. "Wann treffen wir uns? Und wo? Außer im Café ist mir alles recht..." Lukas lachte über Bens plötzlichen Eifer. Er klang fast wieder wie früher, wenn es darum ging, irgendwelche Dummheiten auszuhecken. "Es gibt sicher noch andere Orte in der Stadt, wo wir einige Kindheitserinnerungen etwas auffrischen könnten." "Okay", stimmte Ben zu. "Wie wäre es, wenn wir zwecks Erinnerungen in den Stadtpark gehen und dort Käfer auf Blättern über den See fahren lassen? Wie früher." "Keine schlechte Idee, das habe ich schon lange nicht mehr gemacht", entgegnete Lukas gutgelaunt. "Gut, dann treffen wir uns nächsten Samstag um Drei Uhr im Park", bestimmte Ben und wunderte sich in der gleichen Sekunde, wie locker ihm das über die Lippen kam. Wo waren die Zweifel von vor etlichen Tagen? Er brauchte etwas Stütze, sonst fiel er am Ende doch noch auf die Nase. "Hast du was dagegen, wenn ich noch jemanden mitbringe?" "Nein, wieso sollte ich was dagegen haben? Bis Samstag Nachmittag dann", verabschiedete sich Lukas. Zwanzig Minuten vor der verabredeten Zeit stand Lukas am besagten Samstag im gut besuchten Park vor einem Brunnen und wartete darauf, dass Ben erschien. Auch wenn er von seinem Stehplatz aus einen ganz guten Rundumblick hatte, versperrte ihm der steinerne Neptun mit seinem marinen Gefolge mindestens zwei Meter Sicht. Und je länger er warten musste, umso unruhiger wurde Lukas. Die einzigen Anhaltspunkte, die er hatte, war die Erinnerung daran, wie der Kellner im Eiscafé ausgesehen hatte. Aber die schwarze Kleidung und die weiße Schürze trug Ben heute sicher nicht. Vielleicht erkannte Lukas ihn ja plötzlich nicht mehr unter all den anderen Leuten hier?! Oder kam Ben etwa aus der anderen Richtung? Lukas setzte sich in Bewegung und schlenderte auf die andere Seite des Brunnens. Nach einem vergeblichen Versuch, Ben dort zwischen den ganzen Besuchern ausfindig zu machen, kam Lukas wieder an seinem Ausgangspunkt an. Ben könnte auch gar nicht kommen, fiel es Lukas siedendheiß ein. Er hatte bei ihrem Telefongespräch selbst in Lukas' Ohren so ungewohnt sorglos geklungen, dass er darüber vielleicht wieder ins Grübeln geraten war. Lukas setzte sich auf den Brunnenrand und fuhr damit fort, jeden einzelnen Spaziergänger ausgiebig zu mustern. Über die andere Möglichkeit dachte er lieber gar nicht erst genauer nach. Dann, zwischen einem älteren Ehepaar, ein paar umhertobenden Kindern und einem Mann, der ein buntes Kinderfahrrad am Lenker vor sich her schob, entdeckte Lukas einen blonden Haarschopf. Der Kellner aus dem Café - nein, Ben! Zielstrebig steuerte Ben, nachdem er Lukas am Brunnen sitzen gesehen hatte, das Wasserspeiende Gebilde an. Alleine. Wo war die Begleitung, von der Ben gesprochen hatte? Lukas reckte den Kopf, besah sich die Leute, die vor und neben Ben hergingen. Von denen konnte ja praktisch jeder zu Ben gehören. Jetzt blieb Ben stehen, er wandte Lukas den Rücken zu und sprach mit jemandem, der sich außerhalb von Lukas' Blickwinkel befand. Unablässig redete Ben auf den für Lukas noch nicht Sichtbaren ein und deutete anschließend in Lukas' Richtung, der die Diskussion nervös verfolgte. Musste Bens Begleiter erst überredet werden, zum Treffpunkt zu gehen? Lukas war kurz davor, aufzustehen und Ben entgegenzugehen, ließ es dann aber doch. Blamieren wollte er sich mit seiner Neugierde ja auch nicht unbedingt. Außerdem hatte Ben den Brunnen fast erreicht. Er winkte Lukas kurz zu und mühte sich gleichzeitig damit ab, etwas hinter sich herzuziehen, das sich noch zu sträuben schien. Als sich das Gewusel der Ausflügler etwas lichtete, sah Lukas endlich, wer neben Ben einher ging und staunte nicht schlecht. Hinfallen & Aufstehen --------------------- "Balu?!", rief Lukas überrascht. Jetzt hielt ihn nichts mehr auf seinem Platz am Brunnen. Er stand auf und ging Ben und Balu entgegen. "Hallo", begrüßte Ben Lukas, der ihm gut gelaunt zunickte. "Ich dachte schon, du kommst nicht." "Ich hätte sogar noch zehn Minuten Zeit", wies Ben Lukas auf die Uhrzeit hin. Lukas ging in die Knie und wandte sich dem grauen Hund zu, der neben Ben einhergetapst kam. Begrüßend hielt er seine Hand Balu hin, der sie neugierig beschnupperte. "Das ist ja wirklich Balu." Lukas strich dem Hund über das struppige Fell. "Ich ohne Balu? Hast du das mal erlebt?" "Kann mich nicht daran erinnern." Ungläubig betrachtete sich Lukas den Hund ganz genau. Dass es Balu noch gab... Er war alt, klar, und ein bisschen dicker um die Hüften, aber eindeutig Bens Balu. "Er hat etwas zugelegt", erklärte Ben und klopfte Balu auf den sichtbar fülliger gewordenen Bauch. "Er sieht auch nicht mehr ganz so gut und ist etwas lahm, aber sonst noch ganz fit", fügte Ben optimistisch hinzu. "Nur zum Laufen muss man ihn öfter drängen. Das ist dann mehr ein Spazierenziehen, als ein Spaziergehen." "Ja, das konnte ich eben sehen." Balu hatte unterdessen sein Kinn in Lukas' Hand gelegt und ließ sich dort kraulen. Seine Augenlider schlossen sich immer weiter und sein Kopf sank schwer in Lukas' Hand. Ob er am Einschlafen war, dachte Lukas schmunzelnd. "Was machst du mit Balu, wenn du im Café arbeitest?" "Ich nehme ihn mit. Er hat im Hausflur seine Decke liegen und schläft dort, bis ich fertig bin." Ben zuckte mit den Schultern. "Balu verschläft eigentlich zwanzig Stunden am Tag, von daher ist es auch kein Problem ihn mitzunehmen." Balu zuliebe gingen Ben und Lukas nicht wie abgemacht um den See herum. Sie setzten sich auf eine der Bänke, die den Brunnen umrandeten und ließen Balu im Schatten schlafen, während sie, nachdem sie sich erst eine Weile angeschwiegen hatten, eine zögerliche Unterhaltung miteinander begannen. Lukas war einfach nur glücklich, Ben wiederzusehen. Und das ließ er Ben auch merken, der sich noch nicht leicht damit tat, die Begegnung mit dem Kinderfreund richtig einzuordnen. Lukas am Telefon zu haben, auf der anderen Seite des Hörers, war das eine, ein Treffen von Angesicht zu Angesicht, wiederum etwas anderes. Hier konnte man seine Stimme nicht so fest und selbstsicher klingen lassen, wie man die Worte, die man sprach, gerne gesagt hätte. Die widersprüchliche Mimik verriet unweigerlich alles, was man lieber für sich behalten hätte. So schwer es Lukas auch fiel, um Bens Willen verzichtete er jedoch darauf, diesen allzu sehr mit Fragen zu dessen momentanem Leben zu bestürmen. Leicht fiel es Lukas nicht, denn in den Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten, war sicher einiges vorgefallen, um das sich Lukas in einer Weise betrogen fühlte. Aber Ben sollte von alleine zu erzählen beginnen, wenn er wollte. So lange konnte Lukas jetzt auch noch warten. In der Zwischenzeit erzählte Lukas seinem wieder gefundenen Freund lieber von vielleicht belanglosen, aber nicht ganz so persönlichen Dingen, die Ben mehr Möglichkeit ließen, etwas zu sagen, ohne sich dazu genötigt zu fühlen. Stumm dankte Ben Lukas dafür, dass dieser ihm die erste Begegnung und die erste, ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner Kindheit überhaupt, mit seinem Humor etwas leichter machte und er selbst nicht so viel reden musste. Ben hatte wegen des Treffens mit seinem früheren besten Freund regelrechte Bauchschmerzen gehabt, so dass er öfter als einmal ernsthaft überlegt hatte, die Verabredung mit Lukas wieder abzusagen. Zum Glück hatte er es nicht getan... Den ganzen Nachmittag verbrachten die Drei im Park. Zu erzählen hatten sie eine Menge, wovon Lukas den Großteil übernahm, obwohl Ben langsam etwas auftaute und sich unbekümmerter am Gespräch beteiligte, aber die Stunden reichten selbst für einen Bruchteil davon bei weitem nicht aus. "Du scheinst ja noch wie früher zu sein. Bis auf die Pflaster jedenfalls", bemerkte Lukas anerkennend. "Vermute ich einfach mal...", fügte Lukas noch stockend hinzu, als er merkte, was er da gerade gesagt hatte. Aber Ben lachte. "Ich klettere ja auch nicht mehr so viel auf Bäume, wie damals." Ben schwieg kurz. "Du bist aber auch wie früher", gab er dann zu. "Stimmt, im Kartenspielen bin ich auch noch immer besser", zog Lukas Ben grinsend auf. "Und im Billard, Dart, und so weiter..." "Das musst du erst mal beweisen", verlangte Ben prompt. "Ja, kann ich gerne tun", nahm Lukas die Herausforderung seines Freundes an. Ben kniff die Augen zusammen. "Und mit was?" "Egal", tat Lukas großzügig. "Mir geht es nur ums Prinzip." Ben fing an zu lachen und weckte damit Balu, der zu den beiden jungen Männern kam und verwirrt von einem zum anderen trottete. Dann erhob sich Ben. Er hakte die Leine an Balus Halsband fest und wandte sich an Lukas, der nun ebenfalls aufgestanden war. "Wir gehen dann jetzt. Aber bilde dir bloß nicht ein, ich würde vergessen, dass du mir noch einen Beweis schuldest", warnte Ben Lukas. "Beim nächsten Mal erinnere ich dich daran." Lukas nickte. "So lange wir uns wiedersehen, kann ich damit leben." "Abwarten", bremste Ben Lukas grinsend, dann gingen er und Balu. Nachdenklich sah Lukas Ben und Balu nach, wie sie gemeinsam auf den Ausgang des Parks zustrebten und ihn verließen. Seit Bens Auszug hatte sich einiges geändert, sinnierte Lukas, so viel Zeit war vergangen, aber Ben war immer noch Ben. Es schien als hätten sie in der Kindheit einfach nur eine Tür geschlossen und beim nächsten Öffnen waren sie beide zwar erwachsen, aber vom Charakter her noch fast wie früher. Ob er Ben davon auch hatte überzeugen können?   Ihr nächstes Treffen fand zu Hause bei Lukas statt. "Hast du an die Karten gedacht?", fragte Ben, kaum dass er mit Balu Lukas' Wohnung betreten hatte. "Natürlich", erwiderte Lukas. Er deutete hinter sich ins Wohnzimmer. "Komm rein und setz dich." Ben sah zu dem niedrigen Tisch, der einsam und verlassen in der Mitte des großen Raumes stand. Außer einem dreibeinigen Hocker gab es im ganzen Zimmer keine weiteren Sitzmöglichkeiten. Lukas, der den ratlosen Blicken seines Freundes gefolgt war, sah sich gezwungen, die peinliche Situation mit einem Scherz aufzulockern. "Such dir aus, wo du sitzen möchtest." Ben lachte auf. "Platz ist ja genug." Er ließ Balu von der Leine, der sich sofort daran machte, die unbekannte Wohnung zu erkunden. Sein Ausflug dauerte allerdings nicht lange und Balu machte es sich bald auf dem Teppich unter dem Wohnzimmertisch bequem, wo er die Beine von sich streckte und einschlief. "Fehlen hier ein paar Möbel oder sollen es so wenige sein?", erkundigte sich Ben verdutzt, während er sich auf den einsamen Hocker setzte. Lukas stand im Türrahmen und grinste beschämt. "Es waren einmal mehr", antwortete er. 'Viel mehr', fügte er bitter in Gedanken hinzu. Die meisten Möbel hatte Tino mitgenommen. Die, die ihm gehörten und die Möbel, von denen er bei seinem letzten Besuch hier in der Wohnung spontan beschlossen hatte, dass sie ab sofort ihm gehörten, ärgerte sich Lukas stumm. Wenn er das gewusst hätte, wäre er nicht jedes mal so feige abgehauen als Tino auszog... Ben sah Lukas' zerknirschtes Gesicht. "Die Wohnung ist trotzdem nicht schlecht. Groß und hell." "Deswegen ziehe ich auch bald aus", seufzte Lukas. "Mir alleine ist sie zu groß." "Warum bist du dann eingezogen?", rief Ben Lukas nach, der eben das Wohnzimmer Richtung Küche verließ. Lukas war froh, dass ihm noch Zeit blieb, darauf zu antworten. So einfach war das für Ben. Wenn du nicht nass werden willst, dann bleib vom Wasser weg. "Ich habe ja nicht alleine hier gewohnt", beantwortete Lukas die Frage, als er wieder zurück ins Wohnzimmer kam. Er brachte ein paar Flaschen und Snacktüten mit und stellte alles auf dem niedrigen Tisch ab. Dann nahm er gegenüber Ben auf dem Boden Platz, öffnete die Flaschen und Tüten und kippte den Inhalt Letzterer in eine Schüssel. "Mein Ex ist auch für den ganzen Möbelschwund verantwortlich", fuhr Lukas so locker wie möglich fort. Ben nickte langsam. "Aha", meinte er knapp. "Dann hat sich ja doch mehr geändert als ich dachte." Lukas hob eine Augenbraue und sah fragend hinüber zu seinem Freund. "Und was?" Bens Mundwinkel bogen sich zu einem breiten Lächeln. "Ich kann mir irgendwie kaum vorstellen, dass jemand freiwillig mit dir zusammenwohnen wollte." Lukas, der erst dachte, Ben spiele auf die Tatsache hin an, dass er mit einem Mann zusammengelebt hatte, kratzte sich verlegen am Kopf. "Genau genommen wollte ja auch niemand freiwillig mit mir zusammenwohnen, sonst stünden hier mehr Möbel als jetzt..." Bens Grinsen war mit einem mal wie aus seinem Gesicht gewischt. "Tut mir leid, so war das nicht gemeint", entschuldigte er sich betreten für seinen achtlos dahingesagten Satz. "Kein Problem", wiegelte Lukas ab. "Du musst auch nicht so tun, als ob du wirklich Mitleid mit mir hättest", zahlte es Lukas Ben scherzend zurück. "Wenigstens habe ich mittlerweile so viel Anstand, dass ich dir nicht mehr auf die Nase schlage, wenn du mich ärgerst", konterte Ben. Lukas pfiff respektvoll. "Darüber bin ich auch echt froh. So mickrig wie früher siehst du nicht mehr aus. Jetzt tut ein Schlag von dir sicher weh." "Als ob sie das früher nicht getan hätten", schnaubte Ben entrüstet. "Klar." Lukas lächelte mild. "So weh halt der Schlag einer Mücke tut..." Sie kabbelten sich noch eine Weile weiter, versuchten den anderen mit großspurigen Übertreibungen zu übertreffen und lachten hinterher darüber. Da Lukas, während sie aßen oder sich unterhielten immer zu Ben aufsehen musste, stand dieser schließlich von seinem Hocker auf und nahm ebenfalls auf dem Boden Platz. "Du hast meinetwegen mehr als einmal auf dem Boden gesessen. Jetzt bin ich dran", erklärte Ben sein Tun. Lukas freute sich still über diese kameradschaftliche Geste. Ben bewies mal wieder Größe; ohne falsches Mitgefühl. Ben blieb, bis Balu gegen Mitternacht aufwachte und zur Haustür trottete. "Das heißt wohl, dass ich gehen muss." Ben nickte zum wartenden Balu hinüber. "Soll ich euch nach Hause bringen?", bot Lukas an. Ben nahm dankend an, da es ihm eine zwanzigminütige S-Bahnfahrt ersparte. Und nachdem Lukas endlich seine Autoschlüssel gefunden hatte, saßen sie bald alle im Wagen. Auf der Fahrt schwiegen Lukas und Ben. Jeder dachte für sich darüber nach, was der vergangene Abend ab jetzt zu bedeuten hatte. Der vor sich hinstotternde Motor des Wagens und Balus leises Schnarchen von der Rückbank her waren fast die einzigen Geräusche, die das Schweigen der beiden jungen Männer nicht ganz so peinlich erscheinen ließ. Belustigt beobachtete Ben Lukas, der öfter einen Blick in den Rückspiegel warf und sich über den schlafenden Balu amüsierte, der alle Viere von sich gestreckt hatte und wie ein Schwein grunzte. Als das Auto vor Bens Wohnung hielt, saßen die jungen Männer noch einige Minuten lang still da. Schließlich wandte sich Ben zur Rückbank. Er pfiff einmal kurz und rief nach Balu, der lediglich faul ein Auge öffnete und es gleich wieder schloss, um selig weiterzuschlafen. Lukas und Ben mussten beide lachen. Die zwanzig Stunden Schlaf, die Ben bei ihrem Treffen im Park erwähnte hatte, waren nicht übertrieben. "Wie es aussieht, darf ich Balu jetzt hochtragen", seufzte Ben. "Der wird frühestens dann richtig wach, wenn er Hunger bekommt." Ben wandte sich zu Lukas um, der schien als wolle er noch etwas sagen, es aber dann doch nicht tat. "Also bis dann", verabschiedete sich Ben. Die kleine Lampe an der Wagendecke flammte auf, als er die Beifahrertür öffnete und ausstieg. Die Tür schloss sich und Lukas saß wieder im Dunkeln. Von Lukas nervös beobachtet, ging Ben zur hinteren Wagentür, um Balu herauszulassen. Lukas wollte Ben gerne nach einem neuerlichen Treffen fragen, war aber mit einem mal ungewohnt gehemmt. Als wären sie daran festgewachsen, umklammerten seine Finger das Lenkrad. Wenn er nicht bald was sagte, war Ben weg. Das zweite Mal flackerte die Deckenlampe auf. Im schummerigen Licht sah Lukas zu, wie sich der wachgewordene Balu von der Rückbank mühte und behäbig auf die Straße stakte. Lukas räusperte sich, aber noch ehe er seine Zunge, die ihm trocken am Gaumen klebte, zum Sprechen bewegen konnte, schloss Ben die Tür und das Licht erlosch erneut. Lukas wollte den Wagen anlassen, als sich die Beifahrertür noch einmal öffnete. Ben beugte sich bis auf Lukas' Augenhöhe hinunter. "Wir haben die Karten vergessen." "Vergessen? Ich wollte nur nicht verlieren", witzelte Lukas unbeholfen. Ben schmunzelte über Lukas. "Ich ruf dich an", nahm er unbewusst Lukas die Frage nach einem weiteren Treffen ab. "Du kommst um den Beweis nicht herum."   Doch Ben blieb Lukas den Beweis vorerst schuldig. Sie trafen sich zwar so oft es ging, mussten einander nicht einmal mehr nach einer Uhrzeit fragen, und nach einer Weile schlichen sich erste winzige Gewohnheiten bei ihnen ein. Balu fing damit an. Er reservierte sich in Lukas' Wohnung das sonnigste und bequemste Plätzchen. Lukas kaufte Balu eine Decke für sein in Beschlag genommenes Fleckchen und auch Ben schien regelrecht darauf versessen zu sein, sich mit Lukas zu treffen. Und dann wiederholte sich das, von dem Lukas sich nach all den Besuchen so sicher war, dass es in Zukunft ausbleiben würde. Ben meldete sich nicht mehr. Er reagierte weder auf Telefonanrufe, noch E-Mails und blieb selbst seiner Arbeit im Café fern.   Als Lukas es einmal geschafft hatte, Ben ans Telefon zu bekommen, wimmelte dieser ihn ohne einen Grund zu nennen knapp ab. Lukas dachte nach. Hatte er trotz aller Vorsicht doch etwas aus der von Ben so gerne gemiedenen Vergangenheit angeschnitten, was Ben hatte vermeiden wollen? Oder war Ben Lukas einfach nur überdrüssig geworden? Wahrscheinlich resultierte das eine aus dem anderen... Lukas nahm sich vor, Ben zu besuchen. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr los; ohne zu wissen, was ihn an seinem Ziel erwartete. Ben? Eine leere Wohnung, wo Ben gewohnt hatte? Lukas bog mit seinem Wagen in die Straße ein, in der Ben wohnte. Hundert Meter noch, dann wusste er, wie Bens Benehmen der letzten Zeit zu deuten war. Fünfzig Meter. Lukas' schwitzende Hände machten es ihm fast unmöglich, das Lenkrad festzuhalten. Zwanzig Meter. Langsam sollte er mal bremsen, wenn er halten wollte. Zehn Meter und Lukas' Fuß wich noch immer keinen Millimeter vom Gaspedal. Dann lag Bens Wohnung hinter ihm. Lukas hatte nicht anhalten können. Er fuhr einfach weiter, bog in die nächste Straße ein und fand sich Minuten später wieder auf dem Weg zu Bens Wohnung. Eine knappe halbe Stunde verging, in der Lukas noch etwa acht Mal an Bens Haus vorbeifuhr und sich mit jedem mal vornahm, auch wirklich anzuhalten. Mittlerweile war er schon zum vierten Mal an ein und dem selben Spaziergänger vorbeigekommen, der nach der fünften Runde stehen blieb und Lukas mehr als befremdlich nachsah. Jetzt hielt er an, beschwor sich Lukas in Gedanken. Jetzt hielt er an, oder er konnte sicher gehen, dass der Spaziergänger von eben die Polizei rief - und spätestens dann musste er den Wagen stoppen... Entschlossen trat Lukas auf die Bremse und schaffte es, das Auto vorschriftsmäßig am Straßenrand zu parken, und das, obwohl seine Hände zitterten und ihm das Lenkrad zu entgleiten drohte. Lukas stieg aus. Während er auf das Gebäude zuschritt, wanderten seine Blicke die helle Hausfront hinauf, bis hin zu den Jalousienverschlossenen Rechtecken; Bens Wohnungsfenstern. Wäre es dunkel, könnte er sehen, ob jemand in der Wohnung war, aber es war helllichter Tag und keine einzige eingeschaltete Lampe verriet etwas über eine eventuelle Anwesenheit des Bewohners. Lukas stand vor der Eingangstür des Mietshauses. Abgeplatzte Farbe. Ein spinnennetzförmiger Riss im Glas. Quietschende Angeln. Der muffige, düstere Flur mit den ausgetretenen Holzstufen. Lukas schüttelte den Kopf. Nein, das hier war nicht das Haus, in dem sie vor fast zehn Jahren gewohnt hatten. Dieses Haus hatte eine große Glastür, die genug Licht in den sauberen, nach Putzmittel riechenden Eingangsbereich ließ. Die Flurwände waren frisch gestrichen. Es gab keine Treppe, deren Stufen mit jedem Schritt knarrten. Stattdessen ging Lukas die graue, spiegelnde Marmortreppe nach oben. Jede Stufe hatte in anderes Muster, und keines glich dem vorangegangenen. Dann stand Lukas vor Bens Wohnungstür. Er wollte klingeln; sein Finger schwebte schon dicht über dem kleinen weißen Klingelknopf. Doch schlagartig war die Ameisenhorde wieder in Lukas Magen und führte dort eine muntere Polka auf. Gleich wusste er, ob sich die Vergangenheit tatsächlich wiederholt hatte. Aber er wollte es eigentlich gar nicht wissen. Lukas setzte sich auf die oberste Treppenstufe. Er könnte einfach gehen. Das ersparte ihm einiges. Ben wollte ihn ja nicht sehen oder mit ihm sprechen. Ein sauberer Schnitt. Nie würde er wissen, warum sich Ben so benahm. Und er kam um das zweite Mal herum, in einer leeren Wohnung stehen zu müssen. Er musste nur aufstehen und gehen. Andererseits - wenn er ging und Ben war noch da? Lukas erhob sich voller Tatendrang. Keine fünf Sekunden später stand er wieder vor Bens Tür und drückte auf die Klingel.   Die Schritte waren kaum zu hören. Die Tür wurde aufgezogen und im Rahmen stand der, den Lukas nicht mehr erwartet hatte. Ben. Ben verdrehte die Augen, als er seinen Besucher sah. Schließlich winkte er Lukas in die Wohnung. Ein Lukas sehr vertrautes Klingeln ertönte. Das Klingeln einer kleinen Steuermarke, die gegen ein messingfarbenes Namensschild schlug. Balu kam um die Ecke getrottet. Schwanzwedelnd watschelte er um Lukas herum und begrüßte den jungen Mann, indem er ihm einen abgenagten Kauknochen vor die Füße warf. "Vielen Dank." Lukas wuschelte Balu über den grauen Strubbelkopf. "Verräter", murmelte Ben, verschwieg aber, wen er damit gemeint hatte. Balu oder Lukas? Balu kümmerte es nicht. Er dackelte zu seinem Körbchen und schleppte eine ziemlich verschlissene Decke an. Einen bunten Deckenzipfel im Maul folgte Balu Lukas und Ben mitsamt seiner Fracht ins Wohnzimmer. Ganz in der Nähe des Sofas ließ Balu die Decke fallen, scharrte noch eine Weile darauf herum, bis sie seiner Meinung nach die bequemste Position eingenommen hatte, und legte sich schließlich darauf. Lukas setzte sich auf das Sofa und wartete, bis Ben, der seit seiner Ankunft noch kein einziges Wort an Lukas gerichtet hatte, es ihm gleichgetan hatte. Ben ließ sich in den Sessel gegenüber von Lukas sinken. Er verschränkte die Arme im Nacken und sah Lukas stumm an. Dabei machte er ein Gesicht, als wäre nicht er es, der etwas zu erklären hätte, sondern Lukas. "Und -?", machte Lukas den Anfang. Einen ziemlich kläglichen Anfang. Aber mehr kam ihm beim besten Willen gerade nicht über die Lippen. Ben hob die Schultern. "Hatte keinen Grund." Lukas nickte. Seine Blicke wanderten zu Balu, der ausnahmsweise mal nicht schlief. "Es hatte einen Grund." Lukas hob den Kopf und sah Ben an. "Es hatte einen Grund, warum ich wieder bin hier in die Stadt gezogen bin." Ben atmete tief ein, dann sprach er weiter und jeder folgende Satz sprudelte nur so aus ihm heraus. "Eigentlich war ich heilfroh, so bald wie möglich von zu Hause ausziehen zu können. Und wohin? Wieder dort hin, wo ich nie mehr hin wollte. Ich habe mir eine Arbeit gesucht, die Wohnung hier und nur, weil ich dachte, dass ich diese Scheißerinnerungen durch neue ersetzen könnte." Ben verstummte Minutenlang, in denen Lukas geduldig wartete. "Ich habe mir eingebildet, dass ich mich an die Angst gewöhnen könnte, wenn ich sie wiederhole; dass ich für das, was war, nur einen Lappen und Wasser bräuchte, als wäre es einfach nur ein schmutziges Fenster." "Dann habe ich wohl auch zu deinem Therapieprogramm gehört, oder?", fragte Lukas. Er klang bitter. Nicht verärgert. Nur enttäuscht. "Ja, wahrscheinlich schon", murmelte Ben. Betreten sah Lukas vor sich hin. Bens Antwort war zwar abzusehen gewesen, tat aber dennoch nicht weniger weh. "Warst du schon dort?" Ohne dass Lukas es aussprach, wusste Ben, was er meinte. Ihr altes Haus. Ben nickte. "Ein paar Mal schon." Lukas Mund bog sich zu einem leichten Lächeln. "Komisch, dass wir uns da nicht schon über den Weg gelaufen sind." Ben horchte auf. Hatte ihn Lukas' Grinsen erst irritiert, fiel gleich darauf bei ihm der Groschen. Lukas hatte ebenfalls ihr altes Haus besucht. Mehrmals. "Wirklich komisch", bestätigte Ben Lukas' Worte. Er schwieg, ging etwas in Gedanken durch. "Es ist, als ob ich davon angezogen werde", fuhr er dann leise fort. "Ich wollte andere Erinnerungen an das Haus haben, als die, die ich noch hatte, aber es hat sich dort nichts verändert. Es ist der gleiche, hässliche Kasten von früher." "Was soll sich denn dort auch großartig verändern, es ist ein Haus", wandte Lukas ein. "Oder hat es dir was gebracht, die Vergangenheit mit heute zu vergleichen?" Bens, auf Lukas' scheinbar ignorante Worte hin verärgerte Miene, entspannte sich, als ihm klar wurde, dass Lukas recht hatte. "Wo ist dir denn diese göttliche Eingebung gekommen?", spottete Ben. "Im Treppenhaus", antwortete Lukas betont ernsthaft. Ben entglitten die Gesichtszüge. Dann brach er in lautes Lachen aus.   ~ Ende ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)